Mathilda Grace
FEUERENGEL
Feuerengel
1. Auflage, September 2018
Impressum
© 2018 Mathilda Grace
Am Chursbusch 12, 44879 Bochum
Text: Mathilda Grace 2016
Foto: Solomon_Barroa; Pixabay
Coverdesign: Mathilda Grace
Korrektorat: Corina Ponta
Web: www.mathilda-grace.de
Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.
Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden.
Feuerengel enthält homoerotische Handlungen.
- Fantasy -
Riley Greene ist ein Träumer, für den die eigene Fantasie so fest zum Leben gehört, wie für andere Menschen das Atmen. Er ist fasziniert von uralten Geschichten und Erzählungen, die er regelmäßig in den Büchern des kleinen Buchladens findet, in dem er arbeitet. Besonders die Legende der Feuerengel hat es ihm angetan, jenen fantastischen Wesen, deren Liebe ewig währt und erst mit dem Tode beginnen soll. Riley hätte zu gern eine Eule als Schutztier, wie es den Feuerengeln nachgesagt wird, doch als aus diesem heimlichen Wunsch plötzlich Wirklichkeit wird, muss Riley erkennen, dass zwischen seiner Fantasie und der Realität tiefe Abgründe liegen.
Kapitel 1
Die kleine Glocke über der Tür begann hell zu bimmeln, als Riley am Morgen den in einer gemütlichen Seitenstraße in Boston liegenden kleinen Laden aufschloss und sich darüber wunderte, dass Mister Jones, sein Boss und auch der Besitzer des Geschäfts, nebst dem dazugehörigem Haus, noch nicht zu sehen war. Rileys Blick wanderte unwillkürlich zu der uralten Kuckucksuhr an der Wand hinter dem Kassentresen, die ihm verriet, dass er heute sogar pünktlich erschienen war, obwohl er sich letzte Nacht nicht von seinem aktuellen Lesestoff hatte losreißen können.
Werwölfe und Vampire, zerrissen in der Jahrhunderte alten Schlacht um die Welt, vereint durch die Liebe zweier Männer, die es eigentlich nicht geben durfte. Und trotz der schon von ihm gelesenen 800 Seiten war kein Ende in Sicht. Riley liebte Mehrteiler und gleichzeitig hasste er sie, denn bei diesem lagen noch zweimal so viele Seiten vor ihm, bis er vielleicht auf ein Happy End hoffen durfte. Wehe, wenn nicht. Nach allem, was der ruhige Werwolf Marton und der unbändige Vampir Hugh bereits durchgemacht hatten, verdienten sie ein gemeinsames und vor allem glückliches Ende.
Riley schloss lächelnd die Tür hinter sich, in Gedanken bei Marton und Hugh, und stolperte auf dem Weg zum Tresen, wo er seinen Rucksack ablegen wollte, beinahe über einen Stapel Bücher, der vor ihm auf dem Boden lag. Stirnrunzelnd ging er in die Hocke und griff nach dem obersten Buch. Der Herr der Ringe? Auf dem Boden? Seltsam. Riley erhob sich und ließ den Blick langsam an überquellenden Bücherregalen und den zwei durchgesessenen Sesseln für Besucher entlanggleiten, doch auf den ersten Blick sah alles aus wie immer. Keine Spuren eines Einbruchs oder Diebstahls, aber warum lagen dann Bücher auf den dunklen Holzdielen, die dringend gefegt werden mussten, und wo war Mister Jones?
Riley fing an sich Sorgen zu machen. Maximilian Jones war nicht mehr der Jüngste und vielleicht sollte er die Hintertreppe nehmen, die den Laden mit dessen gemütlicher Wohnung im Obergeschoss verband, um nach ihm zu sehen. Es sah Mister Jones einfach nicht ähnlich, zu spät zu kommen.
Riley schloss die Ladentür von innen wieder ab, drehte das 'Geschlossen'-Schild um und eilte zur Treppe. Hoffentlich lag sein Boss nicht tot in seiner Wohnung im Bett. Gestorben an einem Herzinfarkt. Oder überfallen von bösen Geistern, einem Dämon oder einem der gefährlichen Nachtalbe, der ihn seiner Lebenskraft beraubt hatte. Vielleicht hatte sich auch ein Vampir seiner bemächtigt oder ein Seelenfresser. Laut einer sehr alten Legende hatten Seelenfresser früher vor allem Schwangere in den Nächten überfallen, um die reine Seele des Ungeborenen zu stehlen. Heute überfielen sie lieber alte Leute am Ende ihres Lebens, weil es weniger auffiel, wenn diese Menschen starben, als wenn in einer bestimmten Gegend mehrere Frauen auf einmal tote Kinder zur Welt brachten.
»Mister Jones?«
Riley klopfte an die Tür und lauschte, doch er bekam keine Antwort. Weder auf sein erneutes Rufen noch auf das weitere zweimalige Klopfen, und da schlug seine Sorge in Angst um. Er wollte keine Leiche finden und vor allem wollte er sich nicht nach einem neuen Job umsehen müssen, sollte Mister Jones wirklich den letzten Gang irdischen Lebens gegangen sein. Er liebte den kleinen Buchladen nicht nur, weil sein Boss nichts dagegen hatte, dass er abends Bücher mit nach Hause nahm, um sich mit ihnen die Nacht um die Ohren zu schlagen und in fremde, faszinierende Welten einzutauchen. Riley mochte den verschrobenen Mann, der sich seit Jahren standhaft weigerte in seinem Geschäft eine neuere Kasse einzubauen oder die Leute mit Kreditkarte zahlen zu lassen.
Maximilian Jones hatte für die meisten Errungenschaften der modernen Welt nicht mehr übrig als einen abfälligen Blick oder ein Schnauben. Soweit Riley wusste, besaß er nicht einmal einen Fernseher oder ein Handy. Und einen Computer gab es nur im Ladenbüro, wegen der Buchhaltung und der Bestellung von Büchern.
Apropos Handy …
Riley zog sein eigenes aus der Tasche und hielt dann ratlos inne. Sollte er wirklich die Polizei rufen? Was, wenn sein Boss nur verschlafen hatte? Man würde ihn auslachen und Mister Jones wäre vermutlich wütend, weil er vollkommen überzogen reagiert hatte. Riley steckte das Handy wieder weg und klopfte erneut. Nichts.
Wahrscheinlich war es sinnlos, aber er versuchte sein Glück dennoch und rüttelte am Türknauf. Riley zuckte erschrocken zusammen, als die Tür überraschend aufschwang und ihm den Blick in ein volles Wohnzimmer freigab, das an allen Wänden vom Boden bis hoch zur Decke mit Bücherregalen zugestellt war. Kein Wunder, dass Mister Jones einen Buchladen führte.
Riley trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er fühlte sich augenblicklich wie im Paradies, nachdem seine Augen über die ersten Buchrücken geglitten waren, um ihre Titel zu entziffern. Fantasyromane, wohin er auch schaute. Es mussten hunderte, tausende sein. Dicke Hardcover, Einbände aus blutrotem Samt oder düsterem schwarz. Dazwischen gab es zerfleddertes, altes Papier, gebunden mit einem Stück Schnur. Oder lose Seiten, an den Ecken eingerissen. Und von überall her strömte der starke Duft von Papier in seine Nase.
Du lieber Himmel, waren das Landkarten? Gerolltes Papier, mit Sicherheit sehr alt, und Riley, eine Hand schon begehrlich erhoben, nahm sie schnell wieder herunter, weil er auf einmal fürchtete, das Papier würde bei seiner Berührung umgehend zu Staub zerfallen.
»Gefällt es dir?«
Rileys Herz setzte einen Schlag aus und er fuhr herum, um gleich darauf erleichtert die Luft auszustoßen, weil er Mister Jones gesund und schmunzelnd in der offenen Tür stehen sah, die nur einige Schritte links von der Wohnungstür entfernt lag und bei seinem Eintreten geschlossen gewesen war.
»Es geht Ihnen gut.«
Mister Jones lachte leise und nickte, um gleich darauf heftig zu niesen. Sein Boss war offensichtlich erkältet. Das war also der Grund für dessen Verspätung. Gott sei Dank hatte er nicht die Polizei gerufen.
»Gesundheit«, sagte er und grinste schief, als Mister Jones abwinkte und sich die Nase putzte. »Entschuldigung, dass ich einfach so reingeplatzt bin, aber niemand hat auf mein Klopfen reagiert und ich habe mir Sorgen gemacht. Sie kommen nie zu spät in den Laden.«
»Ich wollte auch heute pünktlich erscheinen und war schon auf dem Weg nach unten, aber die Viren waren der Meinung, ich solle lieber zu Hause bleiben. Möchtest du einen Tee, wo du schon mal hier bist?«
Deswegen war die Wohnungstür unverschlossen gewesen. Riley nickte, deutete dabei aber gleichzeitig nach unten. »Soll ich nicht lieber den Laden aufmachen?«
Sein Boss winkte erneut ab. »Das kannst du auch noch in einer halben Stunde tun. Ich wollte ohnehin mit dir sprechen.«
»Worüber?« Riley schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Oh mein Gott, Sie hören auf, oder? Sie schließen den Laden, gehen in Rente und verbringen Ihr restliches Leben auf einer uralten Burg drüben in Schottland.«
Sein Boss verschwand lachend in den Gang. »Was sollte ich denn in Schottland? Weißt du, wie kalt es da ist? Vor allem auf diesen zugigen Burgen. Meine alten Knochen würden sich bei mir bedanken. Nein, ich habe vor, nach Hawaii zu ziehen, den Rest meiner Tage am Strand zu liegen und hübschen Mädchen beim Hulatanzen zuzusehen.«
»Hulatanzen?«, echote Riley verdattert und wurde prompt dafür ausgelacht. »Sie veralbern mich.«
»Natürlich tue ich das. Und nun komm her. Lass uns einen Tee trinken und dabei erzähle ich dir, was ich wirklich mit dir besprechen wollte«, sagte Mister Jones und nach einem letzten sehnsüchtigen Blick auf die Bücher, folgte Riley ihm durch den schmalen Gang in eine helle, sehr gemütlich eingerichtete und erstaunlicherweise verdammt ordentliche Küche. »Hättest du nicht gedacht, hm?«, fragte sein Boss bei seinem überraschten Blick verschmitzt und Riley nickte nur, um gleich darauf rot anzulaufen.
»Äh ...«
Mister Jones lachte leise und deutete zum Tisch. »Setz dich. Und wehe, du fragst mich, ob du helfen darfst. Ich bin zwar alt, aber noch lange nicht zu tatterig, um für uns Tee zu kochen.«
Während Riley ein Grinsen verbarg, schaute er sich in der Küche ein bisschen genauer um. Sämtliche Möbel waren aus hellem Holz und schon ziemlich alt, aber sie waren gepflegt und gaben der Küche etwas Heimeliges. Es erinnerte ihn an sein Zuhause, an die bunt zusammengewürfelte Küche seiner Eltern, die nicht im Traum daran dachten, sie durch eine Einbauküche aus dem Katalog zu ersetzen. Er sollte sie mal wieder anrufen. Hören, was es an Neuigkeiten gab und was sein Bruder trieb. Also abgesehen von seiner Arbeit auf dem Familienhof, den er vor fünf Jahren übernommen hatte.
Das hielt ihren alten Herrn zwar nicht davon ab, weiter Tag für Tag bei allen anfallenden Arbeiten in den Ställen und auf den Feldern mitzuhelfen, so gut er konnte, aber die allgemeine Leitung überließ er Rowan und soweit Riley wusste, hatte sein Bruder ihrem Landwirtschaftsbetrieb mit neuen, frischen Ideen einen Aufschwung verpasst, der allen gutgetan hatte.
Zudem hatten sie den zusätzlichen Gewinn jedes Jahr gut gebrauchen können, um dringende Renovierungen zu machen und in neue Gerätschaften zu investieren, die ihnen Zeit und damit am Ende wiederum Geld ersparten.
Mit sechsunddreißig Jahren hatte Rowan sein Lebensziel erreicht und war damit rundum glücklich, während Riley selbst die verschlafene Kleinstadt, in der er und Rowan groß geworden waren, gleich nach der Schule verlassen hatte, um fast ans andere Ende von Massachusetts, nach Boston, zu ziehen. Wieso er unbedingt von daheim weggewollt hatte, wusste er bis heute nicht so genau, aber Riley hatte sich einfach nicht vorstellen können, Farmer zu sein, Kühe zu halten und Felder zu bestellen. Da arbeitete er lieber für den Mindestlohn in Mister Jones' kleinem Buchladen, mit einer unbegrenzten und stetig wachsenden Zahl an neuem Lesestoff. Es gab nichts Schöneres in seinen Augen.
»Warum liegen unten eigentlich Bücher auf dem Boden?«, fiel Riley ein und Mister Jones warf ihm mit gerunzelter Stirn einen irritierten Blick zu. »Der Herr der Ringe unter anderem«, holte er weiter aus und da nickte sein Boss.
»Oh, stimmt. Die wollte ich gestern Abend umräumen, nur kam mir ein letzter Kunde dazwischen, nachdem du gegangen warst. Ich muss sie vergessen haben. Räumst du sie später bitte für mich ein?«
»Na klar. In welches Regal sollen sie denn?«
»Zu den Klassikern, neben der Kasse.«
Riley nickte zufrieden. »Mache ich.«
»Und? Wie weit bist du letzte Nacht mit deinen Werwölfen und Vampiren gekommen?«
Mister Jones mochte alt, krank und langsam wohl auch ein wenig gebrechlich sein, aber er wusste immer, welches Buch er aktuell las. Riley stöhnte übertrieben. »Der Alpha von Marton hat sie erwischt und damit war der Band zu Ende. Ich werde gleich heute Abend den nächsten anfangen.«
Sein Boss gluckste heiter und gesellte sich zu ihm, dabei zwei Tassen auf dem Tisch abstellend, aus denen es wunderbar nach Kräutern roch.
»Danke.« Riley legte seine Hände um die Tasse. »Also? Was liegt an?«
Anstatt zu antworten, trank Mister Jones einen Schluck Tee und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Mit einer Hand strich er über die verblasste Wachstischdecke mit einem Blumenmuster und seufzte leise, ehe er nickte, als würde er sich selbst damit Mut machen wollen, und ihn ansah.
»Du hattest gar nicht so unrecht. Ich möchte aufhören.«
Riley schüttelte den Kopf. »Nein.«
Sein Boss lächelte ihm zu. »Riley, ich bin neunundsiebzig Jahre alt, es ist längst überfällig.«
»Aber Sie lieben Bücher.«
»Natürlich. Das wird sich auch nie ändern, aber ich merke schon seit einigen Jahren, dass ich müde werde, und ich will nicht zu denen gehören, die eines Tages in der Arbeit tot vom Stuhl fallen. Ich möchte in den Ruhestand gehen. Schon länger, ehrlich gesagt. Ich habe es nur so lange vor mir hergeschoben, weil ich nicht wusste, was aus meinem Laden werden soll. Ich will nicht, dass er geschlossen oder eingestampft wird. Darum wollte ich mit dir reden.«
»Mit mir?«, fragte Riley verblüfft.
»Ich möchte, dass du meinen Laden weiterführst.«
Riley blinzelte verdattert. Hatte er sich gerade verhört? Ja, das musste es sein. Er war nämlich ganz sicher kein Mann, der ein Geschäft führte. Wer auf die Idee kam, ihm so eine Aufgabe mit solcher Verantwortung zuzutrauen, musste verrückt sein. Oder alt und verzweifelt, so wie sein Boss.
»Mister Jones ...«
»Nein, sag es nicht«, unterbrach der ihn sofort, als hätte er förmlich auf den Widerstand gewartet. »Buchführung, Steuern, Bestellungen … Man kann alles erlernen, Riley, und ich weiß, dass der Laden bei dir in guten Händen wäre. Du liebst Bücher genauso sehr, wie ich es tue.«
»Mister Jones ...«
»Maximilian.«
Riley lächelte kurz, um danach den Kopf zu schütteln. »Sie und ich wissen, dass das wahnsinnig ist. Maximilian, ich habe keine Ahnung davon, wie man ein Geschäft führt, und ich will es auch gar nicht lernen. Ich wollte nie irgendeine Form von Verantwortung. Ich liebe meinen Job so wie er ist.«
»Weil er dir genug Zeit zum Lesen lässt, ich weiß«, konterte sein Boss belustigt und trank einen weiteren Schluck Tee. »Und ich kann deine Bedenken verstehen, glaub mir, aber es gibt nur dich. Wenn du Nein sagst, verkaufe ich und dann verlierst du deine Arbeit.«
»Scheiße«, platzte aus Riley heraus, doch bevor er sich bei seinem Boss entschuldigen konnte, winkte der ab und lächelte. »Wann wollen Sie denn aufhören?«
»Das Café nebenan will seine Räume erweitern. Sie haben mir ein gutes Angebot gemacht.«
»Und Ihre Wohnung?«, fragte er besorgt, denn wenn diese Leute seinen Boss auf die Straße setzen wollten, würden sie ihn von seiner unfreundlichen Seite kennenlernen.
»Bleibt, wie sie ist, keine Sorge. Sie würden natürlich meine Treppe zum Laden runter abreißen, bieten mir aber zugleich ein lebenslanges Wohnrecht mit einer günstigen Miete an. Ich habe bis Jahresende Zeit, mich zu entscheiden.«
Riley schob die Tasse von sich und fuhr mit beiden Händen über sein Gesicht. Zwei Monate. Wie sollte er in zwei Monaten ausreichend Geld zusammenkratzen, um einen Buchladen zu kaufen? Sofern er sich denn dafür entschied, was er, da war er ehrlich zu sich selbst, überhaupt nicht wollte.
Du lieber Himmel, er wollte wirklich kein Geschäft führen. Er hatte schon den Familienbetrieb niemals führen wollen. Das war nicht im Geringsten seine Welt. Riley war völlig zufrieden damit ein kleiner unbedeutender Angestellter in einem ebenso kleinen Laden zu sein. Die Vorstellung, seinen Job aufgeben zu müssen, um in einem der riesigen, unpersönlichen Buchläden in der Innenstadt hinter der Kasse zu stehen, verursachte ihm Übelkeit.
»Ich habe das Angebot schon seit acht Wochen auf meinem Tisch liegen, ich habe mich nur nicht getraut, es dir zu sagen, weil ich wusste, dass ich dir damit wehtue«, sagte Mister Jones leise. »Du sagst Nein, nicht wahr?«
»Ich ...« Riley brach ab und schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung ... Ich will kein Boss sein.«
»Ich weiß, mein Junge. Du möchtest träumen, genauso wie ich es früher viele Jahre lang getan habe. Es gibt Menschen, die passen einfach nicht gut in diese laute, hektische Welt, und ich glaube, wir beide gehören dazu.«
»Das klingt, als wären wir Exoten.«
»Sind wir das denn nicht?«, fragte Mister Jones trocken und zwinkerte ihm zu, als Riley ihn ansah. »Uns gehen Bücher über alles. Ich habe nicht mal ein Handy oder einen Fernseher. Und ich hätte auch keinen Computer und dieses Internet, wenn ich es nicht für den Laden bräuchte. Ich wäre überglücklich, allein mit meinen Büchern um mich herum.«
»Ich weiß, was Sie meinen.«
»Na ja … Sieh es mal so, du hast zumindest ein Handy und einen Computer zu Hause. Du bist also etwas weniger ein Exot als ich«, erklärte Mister Jones lässig und schmunzelte, als Riley darüber lachte. »Trink deinen Tee und dann öffne den Laden. Nimm dir Zeit, Riley. Schlaf ruhig einige Nächte darüber, ehe du mir eine Antwort gibst. Es hat keine Eile. Du hast noch zwei Monate, also musst du nichts sofort entscheiden. Ich will nur, dass du weißt, wenn du Ja sagst, dann helfe ich dir und bringe dir alles bei, was du wissen musst.«
Kapitel 2
Mitte Dezember war Riley mit seinen Überlegungen nicht einen Schritt vorwärtsgekommen. Sollte er den Laden kaufen oder nicht? Sollte er Geschäftsmann werden oder nicht? Sollte er ins sprichwörtlich kalte Wasser springen, um nicht Anfang Januar gezwungen zu sein, sich einen neuen Job zu suchen? Er wusste es einfach nicht und Mister Jones war ihm bei dieser und allen anderen Fragen leider keine Hilfe, da er ihn nicht zu einer Entscheidung drängen wollte und sie zudem im Laden in den letzten Wochen genug zu tun hatten.
Die bevorstehende Winter- und Weihnachtszeit sorgte jedes Jahr über mehrere Wochen hinweg für einen wahren Andrang von Menschen, die sich mit Büchern für jede Gelegenheit oder einem Weihnachtsgeschenk für ein geliebtes Familienmitglied oder einem guten Freund eindecken wollten.
Vor allem die unzähligen Fans aus der Fantasyecke kamen in Mister Jones' Laden dabei voll auf ihre Kosten. Riley brachte daher den lieben langen Tag damit zu, dicke, dünne, große und kleine Bücher einzutüten oder, wenn Kunden das wünschten, in extra dafür angeschafftes Geschenkpapier zu wickeln. Sein Boss mochte zwar mit der Moderne nichts am Hut haben, aber wenn es um seine Bücher ging und darum, sie bestmöglich für Käufer und Beschenkte zu präsentieren, war er der erste, der in der Vorweihnachtszeit loszog, sobald ihnen wieder einmal das Geschenkpapier ausging.
Ihm selbst wäre die alljährliche Suche nach den passenden Weihnachtsgeschenken normalerweise erspart geblieben, denn in seiner Familie hatte man das ganze Brimborium schon vor langer Zeit abgeschafft. Seine Mutter hatte lieber ihre Familie um sich, als Geschenke einmal quer durch den Bundesstaat zu schicken, und da er der einzige Ausreißer war, der nicht mehr daheim lebte, war es deshalb auch seine einzige Aufgabe, über Weihnachten nach Hause zu kommen.
In den ersten Jahren hatte sich Riley regelmäßig mit einer mehr oder weniger dummen Ausrede davor gedrückt, bis sein Bruder schließlich völlig überraschend bei ihm vor der Tür aufgetaucht war und ihm die Leviten gelesen hatte. Daher fuhr er seit nun mehr acht Jahren pünktlich über die Feiertage nach Hause. Doch seit er dreißig Jahre alt geworden war, ohne zu feiern und ohne Geschenke – abgesehen von der Hardcover-Sonderedition des Herrn der Ringe, die ihm Mister Jones geschenkt hatte –, hatte sich etwas in ihm verändert.
Anfangs war es Riley überhaupt nicht aufgefallen, denn die Veränderung war schleichend gekommen, aber in den letzten Jahren fuhr er gern nach Hause und kaufte sogar gern kleinere Geschenke. Sowohl für seine Familie als auch für seinen Boss, obwohl Mister Jones immer mit ihm schimpfte, wenn er es tat. Aber die leuchtenden Augen in dem faltigen Gesicht gaben ihm jedes Mal recht, dass er das Richtige tat, und aus diesem Grund hatte Riley nicht eine Sekunde gezögert, als er vor einer Woche, auf dem Rückweg vom Einkaufen, eine wunderschöne Schreibfeder entdeckt hatte.
Tiefschwarz, mit goldenen Verzierungen versehen, hatte sie auf einem schmalen Kasten gelegen, der dieselben Ornamente zeigte. Riley hatte bei dem Preis fast der Schlag getroffen, aber er hatte sie gekauft und jetzt lag sie in seiner Wohnung bereit, um am letzten Tag, bevor Mister Jones seinen Laden über die Feiertage schloss, ausgepackt zu werden.
Und die Schreibfeder war nicht das einzige, was er dieses Jahr gekauft hatte. Neben ihr stand mittlerweile ein sehr edler Cognac für seinen Vater, der es liebte, beim Abendessen oder vor dem Fernseher ein Glas zu trinken. Ob Rowan der Wälzer voll mit den neuesten Errungenschaften rund um das Thema Landwirtschaft gefiel, würde sich zeigen, und er hoffte, dass seine Mutter mit dem dreiteiligen Ölgemälde, das eine gemalte wild blühende Wiese zeigte, etwas anfangen konnte. Sie liebte Blumen über alles, was sich leider gar nicht mit ihrem braunen Daumen vertrug. Nicht einmal Kakteen überlebten ihre Pflege, weshalb ihr Haus voller künstlicher Pflanzen war, denn weder sein Vater noch sein Bruder waren bereit gewesen, sich zum Gärtner ausbilden zu lassen.
Riley grinste, als er sich an eine der vielen Diskussionen zu dem Thema erinnerte, denn seine Mutter hatte immer wieder aufs Neue versucht, ihre Männer davon zu überzeugen, dass in einen anständigen Haushalt Pflanzen und Blumen gehörten.
Zumindest an Letzterem mangelte es ihr jedoch nicht, denn soweit er wusste, besorgte sein Vater mindestens einmal in der Woche für sie einen frischen Blumenstrauß, den seine Mutter dann jedes Mal mit viel Liebe und einem glücklichen Lächeln auf dem Küchentisch in einer Vase anordnete.
Seine Eltern liebten sich seit nun mehr vierzig Jahren über alles und Riley fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Rowan und ihm dasselbe Glück eines Tages hold sein würde. Er selbst glaubte nicht mehr daran, aber für seinen Bruder gab es noch Hoffnung, weil er nicht als Einsiedler lebte und einen ganzen Stall voller Freunde und Bekannte hatte. Eines Tages würde er eine Frau sehen, sich verlieben und heiraten, um seinen Eltern ein paar Enkel zu bescheren und Riley Nichten und Neffen.
»Fährst du über Weihnachten wieder nach Hause?«, fragte Mister Jones, als sie den Laden, wie jeden Tag, mittags für eine halbe Stunde schlossen, um etwas zu essen und nebenbei die sich leerenden Regale aufzufüllen.
Riley nickte und folgte seinem Boss ins Lager, wo sie einige Kartons öffneten, die heute Morgen geliefert worden waren. Es gab wieder jede Menge Bücher über Vampire, Gestaltwandler und fremde Welten, die eingeräumt werden wollten, und Riley fand allein beim Lesen der Klappentexte sofort eine Handvoll Geschichten, die er sich auf jeden Fall genauer ansehen würde, wenn Weihnachten vorbei war.
»Na? Was hast du für dich entdeckt?«
Mister Jones lachte, als Riley aufsah und ertappt rot wurde. »Man sieht es dir immer an der Nasenspitze an, wenn du dich in ein Buch verliebst. Nimm dir ruhig zwei mit. Aber nur zwei, verstanden? Sonst schreibt mir deine Mutter irgendwann einen Beschwerdebrief, dass du selbst an Weihnachten von morgens bis abends die Nase in ein Buch steckst.«
»Das würde sie nie tun«, entrüstete sich Riley und grinste, als sein Boss lachte. Er war so erleichtert gewesen, den alten Mann nach seiner Erkältung wieder auf den Beinen zu sehen, dass er das möglicherweise als Zeichen ansehen sollte, was den Buchladen anging, aber er brachte es einfach nicht über sich abzusagen. Jedenfalls nicht heute. In weniger als einer Woche war Weihnachten und vielleicht fand sich bis zum Jahresende doch noch eine Lösung.
»Das ist für Sie.«
Mister Jones sah verdutzt von einer Bestellliste auf und ihn an, bevor er auf das Päckchen schaute, das Riley zuvor neben ihn auf den Tresen gelegt hatte. »Du bist unverbesserlich, weißt du das?«
»Natürlich«, antwortete Riley amüsiert und lachte leise, als sein Boss tadelnd einen Finger hob. »Na los. Auspacken. Sonst beschwere ich mich bei meiner Mum über Sie und dann gibt es den angedrohten Beschwerdebrief in dreifacher Ausführung.«
Mister Jones gluckste heiter und nahm seine Lesebrille ab, um das längliche Päckchen danach genauer in Augenschein zu nehmen. »Es ist so leicht.«
»Aufmachen.«
»Immer diese Ungeduld der Jugend.«
Riley grinste frech. »Irgendeinen Vorteil muss Jugend doch haben, oder nicht?«
»Und ich kann dich nicht mal als frechen Burschen betiteln, dafür bist du eindeutig zu alt«, beschwerte sich Mister Jones und brachte Riley damit zum Lachen, ehe er auf das Päckchen in dessen Fingern tippte.
»Aufmachen. Sonst stehen wir morgen noch hier, dabei will ich gleich nach dem Frühstück losfahren.«
Sein Boss hob fragend den Kopf. »Morgen schon? Fährst du nicht immer erst am 24. Dezember nach Hause?«
Riley zuckte mit den Schultern. »Normalerweise ja, aber ich habe Lust, sie zu überraschen.«
»Sie werden sich freuen.«
»Ich weiß.« Riley lächelte versonnen, bevor er seinen Boss mit einem strengen Blick bedachte. »Aufmachen. Aber dalli!«
»Sehr wohl, Mister Greene«, erklärte Mister Jones amüsiert, doch das feixende Grinsen verging ihm, als er das knisternde Schutzpapier über der Schreibfeder hochhob. »Mein Gott. Du … Riley, das kann ich unmöglich annehmen.«
»Doch, können Sie. Es ist ein Weihnachtsgeschenk.«
»Weißt du, wie teuer die war?«, fragte Mister Jones empört und sichtlich überrascht zugleich.
Riley nickte. »Sicher, ich habe sie gekauft.«
»Aber ...«
»Sagen Sie einfach Danke.«
Ihre Blicke trafen sich und nach ein paar Sekunden war es da, das überglückliche Leuchten in Mister Jones' Augen. Riley lächelte zufrieden.
»Danke, Riley. Vielen, vielen Dank.«
»Gern geschehen.«
»Und jetzt raus aus meinem Laden«, erklärte Mister Jones im nächsten Atemzug und schüttelte den Kopf, als Riley sofort Einspruch erheben wollte. »Ja, ich weiß, wir haben heute noch ein paar Stunden geöffnet, aber wenn du gleich morgen früh losfahren willst, musst du garantiert noch packen, und wie ich dich kenne, hast du mal wieder nicht daran gedacht, jemanden wegen der Post zu fragen und alle verderblichen Lebensmittel aus dem Kühlschrank zu nehmen. Du würdest das jedes Jahr vergessen, würde ich dich nicht daran erinnern.«
Dem konnte er leider nicht widersprechen, daher beließ es Riley bei einem unschuldigen Blick, der seinen Boss nicht zum ersten Mal in dieser Hinsicht zum Seufzen brachte, gefolgt von einem heiteren Lachen.
»Wirf mir einfach deinen Zweitschlüssel in den Briefkasten. Ich sehe nach der Post und rufe dich an, sollte etwas Wichtiges dabei sein.«
»Danke, Mister Jones.«
Massachusetts war wunderschön.
Besonders je tiefer man ins Landesinnere fuhr, denn dort nahm die Bevölkerungsdichte mit jeder weiteren Meile ab, die traumhaften Postkartenlandschaften dafür zu. Allerdings war Riley ziemlich voreingenommen, was das betraf, denn er hatte durch sein großes Herz für alles Fantastische ein Faible für die unzähligen Hügel, Wälder, Flüsse und Seen, die sich durch die gesamte Region zogen.
Schon als Kind, wenn Rowan und er Cowboy und Indianer spielend quer durch die Waldbereiche auf der elterlichen Farm gerannt waren, hatte er sich immer wieder vorgestellt, wie es wohl sein würde, plötzlich durch ein unsichtbares Tor in eine andere Welt zu fallen, mit Bäumen, so gewaltig wie das Empire State Building, oder Seen, in denen Krokodile von der Größe eines Wohnhauses auf Beute lauerten. In seinen Träumen war er der strahlende Jäger mit Pfeil und Bogen gewesen. Oder der mysteriöse Zauberer, dem selbst die wildesten Tiere vertrauten, sobald er mit ihnen sprach.
In der Realität hatte ihm das schon sehr früh den Ruf eines Träumers eingebracht, den er niemals losgeworden war, aber das störte Riley nicht und seiner Familie war es ohnehin egal. Sie liebten ihn so wie er war, und je näher er seinen Eltern und seinem Bruder kam, umso aufgeregter wurde er. Hatte sich im letzten Jahr etwas verändert oder würde alles aussehen, wie er es in Erinnerung hatte? Würden sie wieder einen deckenhohen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer haben? Würde es wieder die selbst gebackenen, leckeren Kekse seiner Mutter geben, die sie Jahr für Jahr mit Händen und Füßen gegen ihre Männer verteidigen musste, um zu verhindern, dass vor Weihnachten alle aufgegessen waren? Würde das Haus wieder nach Kuchen, Zimt, Tannen und Kerzen duften, sobald er durch die Tür trat?
Riley sog unwillkürlich die Luft ein und musste lachen, als er außer einem leichten Geruch von Putzmitteln und seinem eigenen Parfum nichts wahrnehmen konnte.
Natürlich roch der langweilige Wagen, den er sich für die Fahrt nach Hause gemietet hatte, nicht nach den himmlischen Plätzchen seiner Mutter oder nach frischen Tannenzweigen. Er war eindeutig ein Träumer und trotz seiner sechsunddreißig Jahre immer noch nicht erwachsen geworden. Aber er war ein Träumer mit jeder Menge Vorstellungskraft, denn im Kopf sah Riley sein Zuhause förmlich vor sich.
Jenen langen Sand- und Schotterweg, der von der Straße abführte, auf der rechten Seite gesäumt von Laubbäumen und vielen grau-weißen Stämmen dazwischen. Birken – der einzige Baum, von dem er schon als kleiner Fratz den Namen gekannt hatte. Auf der linken Seite begannen direkt neben dem Weg die großflächigen Wiesen und Weiden für ihre Kühe und Pferde, die von einem brusthohen, weiß gestrichenen Holzlattenzaun umschlossen waren, auf dem Riley als Kind oft gesessen und dem leisen, verführerischen Rascheln und Flüstern der Bäume im Wind zugehört hatte.
Er hatte sich immer vorgestellt, dass sie mit ihm sprechen würden, so wie die Baumhirten bei Tolkien. Dass sie ihm allein all ihre Geheimnisse und Sorgen zuflüsterten, genau wie er es immer wieder getan hatte. Vor allem in der Zeit, als man ihn in der Schule dafür auslachte, dass er lieber Bücher las, anstatt Mädchen zu ärgern.
Riley kehrte blinzelnd ins Hier und Jetzt zurück und fuhr gerade rechtzeitig vom Highway runter. Nur noch eine Stunde, dann war er wieder zu Hause. In dem langen, zweistöckigen Farmhaus mit den hellen Wänden und grünen Fensterläden. Er grinste. Und der alten, knorrigen Eiche vor dem Fenster seines Kinderzimmers, mit deren Hilfe Rowan und er sich allgemein mindestens einmal pro Woche aus dem Staub gemacht hatten, um anstehenden Schul- und Hausarbeiten zu entgehen.
Die sie nach ihrer Rückkehr dann natürlich trotzdem hatten machen müssen, zusätzlich zu der Strafarbeit, die sie für ihre Flucht aufgebrummt bekamen. Aber das vorherige Spielen und Toben draußen war es jedes Mal wert gewesen.
Riley hielt an einem kleinen Diner, in dem er sich etwas zu Essen und zu Trinken organisierte, nachdem ihm aufgefallen war, dass er zu Hause vergessen hatte, sich Proviant für die Fahrt einzupacken, und dabei einer Warnung im Radio wegen eines herannahenden Schneesturms lauschte. Sein Blick fiel aus dem Fenster, während er bezahlte. Es schneite schon wieder. Das tat es zwar seit Tagen regelmäßig, aber die Flocken waren in der letzten halben Stunde erkennbar größer und vor allem dichter geworden. Sich zu beeilen, war garantiert keine schlechte Idee, aber vorher musste er unbedingt noch für kleine Jungs.
Der Sturm war schneller, als die Wetterfrösche angegeben hatten. Sehr viel schneller. Etwa auf der Mitte der Strecke war Riley sich sicher gewesen, es noch rechtzeitig zum Mittagessen zu schaffen, doch jetzt, eine knappe Viertelstunde von seinem Elternhaus entfernt, konnte er durch den starken Wind, der die Flocken in dichten Wellen vor sich hertrieb, kaum noch die Landstraße erkennen. Riley fluchte. Er hatte schon mehrmals den Fuß vom Gaspedal genommen, um nicht aus Versehen in einer Schneewehe oder an einem der vielen Bäume zu landen, die die Straße zu beiden Seiten dicht an dicht säumten, und mittlerweile fuhr er nur noch im Schneckentempo. Mehr traute er sich nicht zu, weil er weder einen Schaden am Mietwagen riskieren noch seine Fahrkünste überstrapazieren wollte.
In Boston brauchte er kein eigenes Auto, da er sowohl den Buchladen als auch seine bevorzugten Einkaufsläden zu Fuß oder mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichen konnte. Riley setzte sich nur hinters Steuer, wenn Mister Jones ihn darum bat oder er seine Familie besuchte, weil er keine Lust hatte, für die knapp drei Stunden Fahrzeit Bus oder Bahn zu nehmen. Allein schon wegen seines Gepäcks war ein Mietwagen allgemein die bessere Entscheidung, doch diese Bequemlichkeit könnte ihm jetzt zum Verhängnis werden.
Hochgradig nervös und mit verschwitzten Händen, klebte Riley fast mit der Nase an der Frontscheibe, in der Hoffnung, dass er ein auftauchendes Hindernis auf der Straße erkannte, bevor er dagegen prallte.
Seine Angst rettete ihm das Leben.
Er sah etwas langes, dunkles auf sich zukommen und trat instinktiv auf die Bremse, als es auch schon krachte. Riley riss das Lenkrad herum, sein Kopf prallte gegen das Seitenfenster, dann hörte er ein dumpfes Geräusch von einer Seite und der Wagen stoppte so abrupt, dass er mit dem Sicherheitsgurt nach links gerissen wurde und schmerzhaft aufstöhnte, weil er mit einem Ellbogen gegen die Scheibe knallte.
Stille.
Nur durchbrochen von einer Warnlampe, die auf einmal in seinem Armaturenbrett aufleuchtete und ihm leider gar nichts sagte. Aber sie erinnerte Riley daran, den Motor auszustellen, was er dann auch tat. Im Auto wurde es dunkel und eine Weile hörte Riley nur seinen abgehackten Atem, der viel zu schnell ging. Aber das war okay, denn solange er atmete, lebte er. Auch wenn das hieß, dass sein Kopf wehtat und sein Ellbogen sich anfühlte, als hätte ihn jemand abgehackt.
Was jetzt? Ach ja, Bestandsaufnahme. Mögliche Schäden an sich selbst und am Wagen begutachten, Hilfe rufen, abwarten, bis besagte Hilfe eintraf, und dann ab nach Hause.
Oder besser zu einem Arzt, korrigierte sich Riley, denn was er unter seinem Pullover etwas unterhalb des Ellbogens fühlte, war nicht gut. Er hatte genug über Verletzungen gelesen, um zu wissen, dass ein Knochen nicht so dicht unter der Haut fühlbar sein sollte. Außerdem konnte er seinen Arm nicht ohne Schmerzen bewegen. Gebrochen, sagte ihm sein Instinkt, und ob er damit recht hatte oder nicht, er würde den Arm auf jeden Fall ruhig stellen.
Er versuchte den Wagen zu starten. Nichts passierte. Auch nicht bei den weiteren drei Versuchen, ehe er frustriert aufgab und sich stattdessen suchend nach seinem Handy umsah, das er schließlich unten im Fußraum entdeckte. Riley musste die Zähne zusammenbeißen, um es zu holen, denn sein verletzter Arm protestierte heftig gegen jede Form von Bewegung. Doch darauf konnte er im Augenblick keine Rücksicht nehmen, er brauchte sein Handy und er brauchte vor allem Hilfe.
»Verdammt!«, fluchte er, nach einem Blick auf das Display, weil es keinen Empfang anzeigte.
Und wie sollte er jetzt nach Hause kommen? Wenn er in diesen Schneesturm hinausging, würde er sich mit Sicherheit verlaufen und sterben. Aber hierbleiben konnte er auch nicht, das war genauso gefährlich. Verdammt, einmal im Jahr nach Hause zu kommen, war zu wenig, um sich an all die schmalen Schleichwege zu erinnern, die es neben der Straße gab und mit deren Hilfe er den Rückweg hätte abkürzen können. Er musste also auf der Landstraße bleiben und das Beste hoffen.
Riley fluchte erneut, weil ihm klar war, dass er keine Wahl hatte. Ohne tatkräftige Hilfe bekam er den Mietwagen nie aus der Schneewehe heraus, und um diese Hilfe zu finden, musste er sein Glück zu Fuß versuchen, denn falls er nichts tat, würde er spätestens morgen früh tot sein. Erfroren in einem billigen Mietwagen auf einer menschenleeren Landstraße, auf dem Weg in den Weihnachtsurlaub mit seiner Familie, die keine Ahnung hatte, dass er einen Tag früher als abgesprochen kam.
Nein, so wollte er nicht enden. Riley atmete ein letztes Mal tief durch und machte sich ans Werk. Jacke anziehen, Mütze, Schal, Handschuhe. Da er nur einen Arm zur Verfügung hatte, dauerte es ewig und Riley sog mehr als einmal schmerzhaft die Luft ein, weil der gebrochene Arm höllisch wehtat, von seinem Brummschädel ganz zu schweigen. Außer der Geldbörse und seinem Handy, in der Hoffnung, vielleicht unterwegs wieder Empfang zu bekommen, nahm er nichts mit, als er schließlich ausstieg und sich in einem heftigen Schneesturm wiederfand.
Der Wind pfiff Riley um die Ohren und trieb Unmengen an Schnee gegen seinen Körper und in sein Gesicht. Die Bäume ächzten und knackten überall um ihn herum und das, wegen dem er auf die Bremse getreten war, entpuppte sich als ein einige Meter langer Ast, der zur Hälfte über seiner Motorhaube lag, während der andere Teil tief im Schnee feststeckte. Genau wie das Auto.
»Scheiße«, murmelte Riley und wandte sich kopfschüttelnd ab, um loszugehen. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken, ob der Mietwagen hinüber war. Er wollte nur noch hier weg.
Die Hand des verletzten Armes in die Tasche seiner dicken Winterjacke geschoben, versuchte Riley mit der anderen Hand das Gesicht so gut es ging vom eisigen Wind und dichten Schnee abzuschirmen und dabei auf der Straße zu bleiben. Alle paar Minuten stoppte er und warf einen Blick auf sein Handy. Ohne Erfolg. Der Sturm störte den Empfang hier draußen, ihm blieb nichts weiter übrig als weiterzugehen.
Riley verlor jedes Zeitgefühl und nach und nach wurde der Schnee tiefer. War er überhaupt noch auf der Straße? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, aber da er noch nicht gegen einen Baum oder etwas anderes gelaufen war, ging er einfach weiter, immerzu gegen den Schnee blinzelnd, der sein Gesicht zu einer starren Maske hatte werden lassen. Seine Nase und die Ohren fühlten sich bereits seit einer Weile taub an und der Schmerz in seinem Arm war einem steten, dumpfen Pochen gewichen, das sich ganz gut ertragen ließ.
Etwas Weiches schlug mit einem lauten und sehr empörten Kreischen gegen sein Bein und Riley stolperte erschreckt einen Schritt nach hinten. Was zum …?
Er kniff seine Augen ein wenig zusammen und schirmte sie dabei zusätzlich wieder mit seiner Hand vor Schnee und Wind ab, um überhaupt etwas erkennen zu können.
Riley stutzte. Als nächstes gaffte er seinen überraschenden Weggefährten sprachlos an. Eine Eule. Eine riesige, weiße Eule, die überall auf ihrem Federkleid schwarze Streifen und Tupfen hatte. Sie verschmolz förmlich mit dem Schnee, deshalb hatte er sie nicht gesehen, bis er fast auf sie getreten war. Die Eule breitete ihre Schwingen aus und brachte ihn damit wieder zur Besinnung. Er betrachtete das Tier genauer. Verletzt schien sie nicht zu sein, aber wieso hockte sie dann auf dem Boden?
»Wo kommst du denn her?«, rief er gegen den heulenden Wind an und setzte sich in Bewegung. Ganz langsam, weil er das Tier nicht unnötig aufschrecken wollte, ging er in einem Bogen um sie herum. »Wir sollten besser verschwinden … Das gilt auch für dich, Süße.«
Wieso er ausgerechnet auf die Idee kam, den Vogel für ein Weibchen zu halten und sie als Süße zu betiteln, wusste Riley zwar nicht, aber es brachte ihn zum Kichern, als die Eule hinter ihm einen Laut von sich gab, der irgendwie beleidigt klang. Das Lachen verging ihm jedoch, als sich das Tier kurze Zeit später wieder vor ihm niederließ und ihn mit einem bedrohlichen Schnabelklappern bedachte, als er sich ein weiteres Mal an ihr vorbeischleichen wollte.
»Das kann ich gerade echt nicht brauchen«, murmelte Riley unruhig, wich aber sicherheitshalber etwas nach links aus, weil er keinen Bock hatte, von einer wild gewordenen Eule in einem Schneesturm angegriffen zu werden.
Das Spiel trieben sie noch einige Male, wobei der Vogel ihn eindeutig nach links abdrängte, aber Riley war schlichtweg zu kaputt, um sich dagegen zu wehren, und auf einmal wurde der Boden unter seinen Füßen spürbar härter, was ihn innehalten ließ. Das konnte gar nicht sein, dachte er, aber diese Eule hatte ihn eindeutig zur Straße zurückgeführt.
Riley drehte sich zu ihr, doch bevor er etwas sagen konnte, flog sie davon und Riley blieb der Mund offenstehen, weil sich der Schnee plötzlich vor ihm verdunkelte und dann ein Abbild seiner selbst freigab, das ihn überrascht ansah.
Eine Eule, die ihm das Leben zu retten versuchte, und jetzt bekam er offensichtlich auch noch Halluzinationen. Dieser Tag wurde immer besser.
»Mein Gott, Riley ...« Die Fata Morgana drehte sich um und brüllte los. »Dad! Sheriff Jackson! Ich habe ihn gefunden!«
»Ist er okay?«
»Er steht zumindest auf seinen eigenen Beinen.«
»Gott sei Dank«, kam durch die undurchsichtige Wand aus Schnee zurück und dann erkannte Riley weitere Schatten, die auf ihn zukamen und seltsamerweise wie Menschen aussahen.
»Riley, kannst du mich hören?«
Ja, er konnte die Fantasiegestalt hören, aber er konnte nicht mehr antworten, weil sein Mund auf einmal vollkommen taub war, so wie alles andere an ihm. Riley stöhnte nur und schloss die Augen, während er sich in eine mehr als willkommene Bewusstlosigkeit fallen ließ, begleitet vom lauten Ruf einer Eule.
Kapitel 3
Riley betrachtete das schmale Gesicht, das seinem eigenen so ähnlich war, aus halb geschlossenen Augen und mit einem inneren Lächeln.
Rowans braunes Haar war um einiges länger, als Riley es von seinem letzten Besuch in Erinnerung hatte, und seine Statur war auch immer noch um einiges breiter als seine eigene, was ihn jedes Mal aufs Neue neidisch aufseufzen ließ, weil er leider nie irgendeinen Ansatz von Muskeln entwickelt hatte. Dazu kam der übliche Schalk in Rowans dunkelbraunen Augen, der in einen belustigten Blick überging, als sein Bruder ihn beim Starren ertappte. Riley zuckte leicht zusammen und Rowan lachte leise.
»Erwischt, Bruderherz.«
Riley schnaubte. »Willst du dir Zöpfe wachsen lassen? Und was soll das Gestrüpp in deinem Gesicht darstellen?«
»Sally mag meine Haare und das ist ein Bart, Blödmann.«
»Eher ein Bärtchen«, stichelte Riley und kicherte albern, als sein Zwilling stöhnend die Augen zur Decke verdrehte und die Zeitung zur Seite legte, in der er bis eben gelesen hatte.
»Wir hätten dich im Schnee liegenlassen sollen«, grollte Rowan gespielt finster und erhob sich aus dem Stuhl, der zu Rileys ehemaligen Schreibtisch gehörte und den sie an sein Bett geschoben haben mussten, um sich stattdessen neben ihn auf die Bettkante zu setzen. Die Belustigung verschwand aus Rowans Blick, als er fragte: »Wie geht’s dir, Riley?«
»Müde.«
Sein Bruder nickte. »Kein Wunder. Als wir den Mietwagen endlich entdeckt hatten und du nicht drin gesessen hast, ging Dad und mir der Arsch auf Grundeis. Wir haben eine Weile gebraucht, um dich zu finden.«
»Warum habt ihr mich überhaupt gesucht?«, fragte Riley, denn das konnte er sich einfach nicht erklären. Sie hatten doch gar nicht gewusst, dass er auf dem Weg war.
»Warum wohl?«, fragte Rowan mürrisch und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Erleichterung und Ärger. »Mister Jones hat uns angerufen. Er wurde unruhig, als er von dem Schneesturm hörte und du bei seinem Kontrollanruf nicht ans Handy gegangen bist. Er wollte sichergehen, dass du heil bei uns angekommen bist. Stell dir bitte unsere Überraschung vor, als er uns erzählte, dass du unterwegs bist und nicht an dein Handy gehst. Wir haben sofort den Sheriff angerufen und sind losgezogen, um dich zu suchen.«
Riley seufzte und dankte Mister Jones im Stillen dafür, dass der ihm schon vor Jahren für Notfälle die Telefonnummer von zu Hause abgeschwatzt hatte. »Ich muss ihn anrufen.«
»Hat Mum schon erledigt, keine Sorge«, wehrte Rowan ab und kletterte über ihn auf die freie Bettseite, um sich neben ihn zu legen. »Und bevor du fragst, es ist immer noch der 23., das Mittagessen hast du allerdings um einige Stunden verpasst.«
»Abendessen?«, fragte Riley hoffnungsvoll, als sein Magen sich prompt mit einem lauten Grummeln meldete. Rowan legte lachend eine Hand auf den Deckenberg, unter dem er lag, und Riley war zufrieden. »Wie geht’s Mum? Hat sie standesgemäß auch alle verrückt gemacht?«, fragte er nach einiger Zeit in die angenehme Stille hinein, und warf Rowan einen Blick zu, der schmunzelnd nickte.
»Du kennst sie doch. Sie hat Sheriff Jackson einen langen Vortrag darüber gehalten, was sie alles mit ihm anstellen wird, wenn er nicht sofort Doc Martin herholt, weil der Schneefall zu dicht war, um dich ins Krankenhaus zu bringen. Allerdings war Martin da schon längst auf dem Weg und konnte sie dann beruhigen. Dein Sturschädel ist zäh wie eh und je und du bist unterkühlt, deswegen haben wir alle Decken auf dich gepackt, die wir finden konnten. Das Warme an deinen Füßen ist Mums Wärmflasche«, erzählte Rowan und Riley nickte verstehend, weil er sich doch etwas gewundert hatte, was das war. »Deinen gebrochenen Arm hat er erst mal provisorisch geschient. Das muss ausreichen, bis der Sturm nachlässt, damit wir dich in die Klinik bringen können.«
Riley zog eine Grimasse. »Will nicht ins Krankenhaus.«
»Du gehst ins Krankenhaus und wenn ich dich an deinen Haaren selbst hinschleifen muss, kapiert?«, brauste Rowan auf und sah ihn finster an. »Jag mir nie wieder so einen Schrecken ein, du Idiot.«
»Schrei mich nicht an, ich habe Kopfschmerzen«, nörgelte Riley. »Und dir habe ich ein Geschenk gekauft. Verdient hast du es ganz sicher nicht.«
Sein Bruder lachte wieder und strich ihm über die Wange. »Ich weiß. Lucas, Officer Templeton, er ist neu hier, hat deinen Mietwagen gefunden und deine Taschen geholt. Mum hat sich gar nicht mehr einbekommen, als sie die Geschenke entdeckte. Sie liegen unter dem Weihnachtsbaum und sie hat Dad Schläge angedroht, wenn er es wagen sollte, sich dem Cognac bis auf Armlänge zu nähern. Du hättest die Flasche einpacken sollen, anstatt eine Schleife drumzubinden. Dad hatte ganz glänzende Augen, als er sie in der Hand hielt, ehe Mum sie ihm mit einem tadelnden Klaps weggenommen hat.«
Riley lachte und griff sich umgehend an den Kopf. »Aua.«
»Das Lachen solltest du in den nächsten Tagen vermeiden, meinte Doc Martin. Er sitzt unten und möchte noch mal nach dir sehen, bevor er und Lucas wieder fahren.«
Irgendetwas an der Formulierung machte Riley stutzig und er sah fragend zu Rowan.
»Ja, die beiden haben was am Laufen«, sagte der daraufhin und grinste. »Was mich anfangs ziemlich irritiert hat, das gebe ich zu. Immerhin ist unser Doc nicht mehr der Jüngste. Scheint Lucas allerdings nicht zu stören.« Rowan zuckte die Schultern. »Wo die Liebe hinfällt, sage ich nur.«
Apropos, dachte Riley und räusperte sich. »Rowan?«
»Hm?«
»Wer ist Sally?«
Sein Zwillingsbruder drehte sich auf die Seite und sah ihn mit einem Blick an, der Riley alles sagte, was er wissen musste. Hatte er nicht erst vor einigen Tagen über genau dieses Thema nachgedacht? Riley begann zu schmunzeln. »Verstehe. Hast du sie schon Mum und Dad vorgestellt?«