Mathilda Grace 

LIEBE IST JENSEITS VON GUT UND BÖSE

 

 

Liebe ist jenseits von Gut und Böse

2. Auflage, November 2018

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

© 2018 Mathilda Grace

Am Chursbusch 12, 44879 Bochum

Text: Mathilda Grace 2009

Foto: Mirekis; Pixabay

Coverdesign: Mathilda Grace

 

Web: www.mathilda-grace.de

 

Alle Rechte vorbehalten. Auszug und Nachdruck, auch einzelner Teile, nur mit Genehmigung der Autorin.

 

Sämtliche Personen und Handlungen sind frei erfunden.

 

 

Danksagung

 

Für die Fans meiner Ostküsten-Reihe, die sich immer wieder gedruckte Taschenbücher für ihre Bücherregale von mir gewünscht haben.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Drama & Romance

 

 

Liebe Leserin, Lieber Leser,

 

ohne deine Unterstützung und Wertschätzung meiner Arbeit könnte ich nicht in meinem Traumberuf arbeiten.

 

Mit deinem Kauf dieses E-Books schaffst du die Grundlage für viele weitere Geschichten aus meiner Feder, die dir in Zukunft hoffentlich wundervolle Lesestunden bescheren werden.

 

Dankeschön.

 

Liebe Grüße

Mathilda Grace 

 

 

Sie hatten ihn zerbrochen. Zu einem Häufchen Elend gemacht, das allein nicht mehr lange überleben würde. Er war zu einem Schatten seiner Selbst geworden, gefangen in einer Welt voller Gefahren, wo hinter jeder Straßenecke seine ganz persönlichen Monster lauerten.

 

 

Prolog

 

 

 

 

Tagebucheintrag, 11. Juli 2009

 

The Queen City, wie die kleine Stadt von ihren Einwohnern liebevoll genannt wird, soll im Sommer wunderschön sein. Zumindest, wenn man sich in der Stadt auskennt und weiß, wohin man gehen muss. Davon bin ich weit entfernt. Von der Stadt kenne ich bisher nur die Bushaltestelle, einen ständig redenden Taxifahrer und das Motel, in dem ich wohnen werde, bis mein Haus etwas außerhalb der Stadt bezugsfertig ist.

Eigentlich sollte es bei meinem Eintreffen fertig sein, aber in dieser Stadt läuft das Leben ein wenig gemütlicher ab, als ich es gewohnt bin. Jedenfalls kommen die Maler erst in ein paar Tagen und die bestellte Küche Anfang der nächsten Woche. Das und noch mehr, woran ich mich dank Jetlag und Müdigkeit nicht mehr genau erinnere, erzählte mir die Verkäuferin des Hauses am Telefon. Eine höfliche alte Dame, die drei Kinder und sieben Enkel hat, von denen einige noch zu vergeben sind.

Ich habe ihr Verkupplungsangebot auf später verschoben, so wie alles andere auch, bevor ich in meinem vorübergehenden Domizil die erste Dusche seit drei Tagen nahm und danach ins Bett verschwand, um mich nach langer Zeit endlich wieder einmal auszuschlafen.

Auch wenn ich die Nächte ohne Tabletten noch nicht überstehe, gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass es mir eines Tages wieder gelingen wird.

Das Motel ist in Ordnung. Keine 5-Sterne-Herberge, aber auch kein Rattenloch. Mein Zimmer ist sauber, die Miete erschwinglich. Ich werde jedenfalls nicht unter einer Brücke schlafen müssen.

Auch wenn das sicherer wäre, in Anbetracht der Tatsache, dass ich ständig über meine Schulter schaue, aus Angst, ihre Gesichter hinter mir zu entdecken.

Ich hatte früher nie Angst. Jedenfalls nicht so. Ich war ein normaler Mensch, mit normalem Schulabschluss und einer normalen Ausbildung als Bankkaufmann. Ich hatte einen guten und vor allem sicheren Job, ein eigenes Haus und eine Katze als Haustier. Es war ein schönes, ruhiges Leben – mehr hatte ich nie gewollt.

Dann tauchten sie auf und heute besteht mein Leben aus einer vollgestopften Reisetasche, einem Laptop und 27.548 Dollar.

Ich habe das Haus verkauft und meinen gesamten restlichen Besitz zu Bargeld gemacht, bevor ich meine Katze im Tierheim abgab, wo es ihr hoffentlich gut geht, und meiner Heimat den Rücken zukehrte, um in dieser kleinen Stadt in Maryland neu anzufangen.

Ob es funktioniert, weiß ich noch nicht. Ich bin weder im Besitz einer Greencard noch eines Jobs und soweit ich weiß, braucht man in diesem Land wenigstens eines von Beidem, um nach Ablauf des Touristenvisums nicht irgendwann verhaftet und abgeschoben zu werden. Aber darum werde ich mich erst kümmern, wenn es zu einem Problem wird. Vorerst will ich einfach nur meine Ruhe haben und sollte mir das Glück hold sein, was ich bezweifle, vergesse ich in der Zwischenzeit vielleicht, was mir passiert ist.

Heute rede ich mir ein, dass das Ganze für irgendetwas gut war. Erfahrungen prägen und aus seinen Fehlern lernt man, heißt es doch immer. Aber müssen sie deswegen so schmerzvoll sein?

Nun, ich bin zum Teil selbst schuld, denn ich hätte »Nein« sagen können. Zumindest anfangs. Später war es ihnen völlig egal, was ich sagte oder wollte, und am Ende wollte ich nur noch tot sein. Aber ich habe überlebt und irgendwann werde ich die Vergangenheit akzeptieren und wieder normal leben können. Zumindest hoffe ich das. Doch noch ist es dafür zu früh. Noch ist meine Angst zu groß, dass sie mich eines Tages finden.

Die Flucht über den großen Teich war das einzig Richtige. Wäre ich geblieben, wo ich herkomme, wäre ich mittlerweile von einer Brücke gesprungen. Der Gedanke an Selbstmord ist immer noch da, aber nicht mehr so stark wie zu Anfang.

Ich frage mich oft, wieso ich ihnen blind vertraut habe, denn ich weigere mich zu glauben, dass Sex allein so viel Macht haben kann. War ich wirklich so naiv und dumm, wie ich mich heute fühle?

Zu begreifen, dass man nur ein ...

Ich weiß nicht, wie ich beschreiben könnte, was ich in dem Augenblick fühlte, als ich verstand, dass ich nur ein Spielzeug für sie war. Ein kleiner Schwachkopf, mit dem man es ja machen konnte. Ich weiß nicht, was schlimmer war; meine eigene Scham oder die Erkenntnis, wie gefühllos sie in Wirklichkeit sind.

Dass Menschen die Worte »Ich liebe Dich« über die Lippen bringen, obwohl sie nicht das Geringste dabei empfinden, habe ich durch sie gelernt. Früher glaubte ich an die große Liebe. Heute weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll.

»Es war doch alles nur ein Spiel.«

Was habe ich diese Worte hassen gelernt. Für mich ist Liebe kein Spiel. Mir bedeutet sie etwas und ich spreche die berühmten drei Worte nicht leichtfertig aus. Im Augenblick denke ich, dass ich sie nie wieder aussprechen werde. Ganz schön zynisch für jemanden, der erst 28 Jahre alt ist, nicht wahr?

Meine Narben verheilen, aber verschwinden werden sie niemals. Ich habe sehr viele Narben. Sichtbare und unsichtbare. Sie haben einen anderen Menschen aus mir gemacht und der gefällt mir nicht. Ich möchte wieder so naiv sein wie früher, denn mein Leben war so bedeutend einfacher. Aber das wird nicht passieren. Ich bin nicht so dumm, das zu glauben.

Was würde ich darum geben, einfach aus der Tür dieses kleinen Zimmers in die Welt hinaustreten zu können, ohne dabei panische Angst zu haben. Ohne eine geladene Waffe unter der Jacke zu tragen und das Pfefferspray in der Jackentasche mit den Fingern fest zu umklammern. Statt unbeschwert zu leben, wäge ich jeden Schritt genau ab und kontrolliere alles doppelt und dreifach.

Ich bin sehr vorsichtig geworden, gebe mein Vertrauen und meine Sicherheit nicht mehr in fremde Hände. Deswegen weiß auch niemand aus meinem alten Leben wo ich bin und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dafür zu sorgen, dass es so bleibt.

 

 

1. Kapitel

 

 

 

 

Irgendetwas musste der Sommer in diesem Jahr falsch verstanden haben. Regen im Juli war zwar kein Weltuntergang, aber dass er seit zwei Wochen anhielt und die warme Luft dadurch mit jedem Tag drückender wurde, machte allein das tägliche Aufstehen langsam zu einer Qual.

Es war nicht so, dass Daniel unbedingt nach draußen gemusst hätte, die Notwendigkeit Nahrung zu sich zu nehmen wurde seiner Meinung nach sowieso überbewertet. Aber wenn er schon alle zwei Tage seine Panik überwand und sein kleines Motelzimmer verließ, um in diesem amerikanischen Diner auf der anderen Straßenseite etwas zu essen, wollte er dabei nicht jedes Mal klitschnass werden.

Der Regen ging ihm auf die Nerven. Und sein Haus war immer noch nicht fertig, was ihn zusätzlich ärgerte. Wenigstens hatte sich die höfliche Stimme der Hausverkäuferin am Telefon als nette alte Dame herausgestellt, die wollte, dass er sie Charlie nannte und heute zu ihr zum Essen kam. Das war ihre Art sich für die nicht geplante Wartezeit wegen des Hauses zu entschuldigen. Daniel hatte ihre Einladung abgelehnt, aber Charlie war hartnäckig geblieben und schlussendlich hatte er nachgegeben, um seine Ruhe zu haben. Ein Essen würde er schon irgendwie überstehen. Außerdem war die alte Frau über Achtzig und keine Gefahr für ihn.

Das redete er sich jedenfalls seit zehn Minuten ein, während der warme Regen unablässig auf seinen Schirm tropfte und ihn jeder Schritt ein bisschen näher zur Wohnung der alten Dame brachte.

Ein Privatverkäufer stellte weniger Fragen, als eine öffentliche Immobilienfirma. Deswegen hatte er von Beginn an nach einer Bleibe in Privatbesitz gesucht. Er hatte sein neues Haus von dem Gewinn aus dem Verkauf seines vorherigen bezahlt und den Rest seines Geldes auf mehrere Konten unter verschiedenen Namen verteilt. Viel war nicht übrig. Der Flug nach Baltimore, seine neuen und falschen Papiere, das Busticket, die Arztrechnungen, das Hotelzimmer, seine Waffe, das Pfefferspray – heutzutage gab es nichts umsonst, schon gar nicht, wenn man sich von der Polizei fernhalten wollte.

Er wurde in diesem Land nicht gesucht und dabei sollte es auch bleiben. In seiner alten Heimat hatte man ihn vermutlich schon als vermisst gemeldet, aber das kümmerte ihn nicht. Er wollte einfach keine Aufmerksamkeit erregen und sie so möglicherweise doch noch auf seine Spur führen.

Ein blauer Pick-up fuhr an ihm vorbei und erwischte dabei eine große Pfütze am Straßenrand. Das Wasser schoss in einer Fontäne nach oben und traf ihn mit voller Breitseite. Fluchend und schimpfend sprang Daniel beiseite und verlor dabei seinen Schirm.

»Du Vollidiot!«, schrie er dem Wagen nach und wischte sich ein paar blonde Haarsträhnen aus der Stirn, bevor er an sich hinunterblickte.

So konnte er unmöglich bei der alten Dame auftauchen. Die Jeans war dreckig bis zum Knie und auch sein graues Shirt hatte einige Dreckspritzer abbekommen. Der Regen lief ihm in Sturzbächen in den Kragen seiner Jacke und über seine restliche Kleidung, und durchnässte ihn bis auf die Haut, was die Narben auf seinem Körper mit einem spürbaren Brennen quittierten.

»Mist«, fluchte er leise und griff nach dem Schirm. Ein Fehler, denn der Stoff seines Shirts rieb dadurch über die Narben auf seinem Rücken. Mit einem schmerzvollen Zischlaut richtete er sich wieder auf. Das er auch nie daran dachte.

»Alles okay?«

Die tiefe Männerstimme erschreckte Daniel so sehr, dass er aufs Heftigste zusammenzuckte und dabei herumwirbelte, während er zurückwich, bis die rot getünchte Mauer einer Buchhandlung seinen Rückzug abrupt stoppte. Er konnte den schmerzhaften Laut, der in seiner Kehle aufstieg, nur mit Mühe und Not unterdrücken.

»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Das mit der Pfütze tut mir leid, ich war in Gedanken. Aber ich bezahle die Reinigung, mein Wort drauf. Du bist Daniel Hanson, oder? Grandma hat erzählt, dass du zum Essen kommst.«

Wie? Was? Wer?

Daniel blinzelte, um den Regen aus seinen Augen zu bekommen, damit er sein Gegenüber richtig sehen konnte und schob nebenbei erneut eine störrische Haarsträhne beiseite. Er brauchte dringend einen Haarschnitt.

Der Mann vor ihm allerdings auch. Er war groß, ziemlich groß sogar, komplett in schwarz gekleidet und hatte Muskeln, die mit Sicherheit dem Fitnessstudio entstammten. Scheiße, dachte Daniel, und konnte sich nur schwer davon abhalten, die Flucht anzutreten. Vor ihm stand ein Arnold-Schwarzenegger-Verschnitt, nur dass er durch seine Größe besser proportioniert war. Mehr in die Richtung von Vin Diesel und den hatte er sich im Kino immer gern angesehen.

»Wovon redest du überhaupt? Wer bist du eigentlich?«, fragte er, nachdem er seine Stimme wiedergefunden hatte.

Sein Gegenüber begann zu lächeln. Ein echtes Lächeln, das auch die hellblauen Augen erreichte, was Daniel ein wenig beruhigte. Er konnte sehr genau unterscheiden, wenn ein Mensch wirklich lächelte oder nur so tat als ob.

»Oh, sorry. Ich bin Connor Bennett. Grandma Charlie ist ganz begeistert von dir. Deshalb hat sie dich zum Essen eingeladen. Sie sagt, wenn jemand so nett aussieht und eine Stimme wie ein Sänger hat, muss er der Richtige sein. Ist mir zwar ein Rätsel, wie sie das anhand eines Fotos und ein paar Telefonaten wissen kann, aber so ist Grandma eben.«

Der Typ redete ohne Punkt und Komma, da konnte doch keiner mithalten. Zwischen Verwirrung und Misstrauen hin und her schwankend, sah Daniel sein Gegenüber fragend an. »Der Richtige?«

»Für ihr Haus«, antwortete Connor und steckte die Hände in die Hosentaschen, so als wüsste er, dass Daniel einen Handschlag zur Begrüßung nicht erwidert hätte. »Seit Grandpa tot ist, sucht sie einen Käufer, der zu ihrem Haus passt. Allein ist es ihr zu groß, deshalb ist sie auch in die Wohnung hier in der Stadt gezogen. Tja, jetzt hat sie ihn wohl gefunden.«

»Äh ...« Daniel hatte keine Ahnung, was er sagen sollte, daher schloss er den Mund wieder, was Connor mit einem Lachen quittierte.

»Ja ja, das ist Grandma. Komm, ich nehme dich mit. Du musst aus dem Regen raus und ich auch. Mal sehen, ob bei ihr noch Sachen von Tristan herumliegen, die müssten dir sogar passen. Er sieht auch immer halb verhungert aus.«

Connor drehte sich um und ging zu seinem Pick-up zurück. Daniel starrte ihm verblüfft nach. Was war das denn jetzt? Die alte Dame war die Großmutter von diesem Riesen? Und wer, zum Kuckuck, war Tristan?

»Kommst du?«

Daniel nickte automatisch und erst als Connor den Pick-up wieder auf die Straße lenkte, registrierte er, wo er sich gerade befand und mit wem. Daniel versteifte sich unwillkürlich und wich auf dem Sitz so weit zur Seite wie möglich. Es war trotzdem zu wenig Platz zwischen ihm und Charlies Enkel, aber er konnte den Mann schlecht bitten wieder anzuhalten, weil er vor lauter Panik am liebsten aus dem Wagen gesprungen und zu Fuß gegangen wäre.

»Du redest nicht viel, kann das sein?«, fragte Connor und hielt an einer Ampel.

»Du dafür umso mehr«, konterte Daniel impulsiv und hätte seine Stirn im nächsten Moment am liebsten gegen das vollgekramte Armaturenbrett geschlagen. Himmel, wie konnte er nur? »Sorry.«

Connor grinste ihn amüsiert an. »Kein Problem. Ich kann einfach nicht anders. Stört es dich? Weißt du, ich rede gern und viel. Laut meiner Familie mache ich den ganzen Tag lang nichts anderes und vergesse gelegentlich sogar das Luftholen. Tristan behauptet, ich würde sogar nachts reden, wenn ich es könnte. Er ist auch so ruhig wie du. Macht nichts, bleibt mehr Zeit zum Reden für mich.«

Daniel konnte nicht anders und sah Connor genauer an. Dieser Typ schien ein wandelndes Klischee zu sein. Zumindest kam es ihm im Moment so vor. Seit wann quatschte ein Mann so viel? Das war doch im Allgemeinen Frauensache. Und hieß es nicht immer, dass Männer nur dann solche Muskeln ansetzten, wenn sie etwas kompensieren wollten? Fehlende Intelligenz zum Beispiel?

Hallo Vorurteil, dachte Daniel, entsetzt über sich selbst und lief rot an. Seit wann traf er so vorschnelle Urteile? Das hatte er früher nie getan.

»Nanu? Habe ich etwas Falsches gesagt oder warum bist du auf einmal so verlegen? Männer in Strumpfhosen sind zwar nicht gerade jedermanns Sache, aber ...«

Männer in Strumpfhosen? Daniel hatte keine Ahnung, wovon Connor sprach. Statt dem Mann zuzuhören, hatte er lieber unfeine Gedanken gewälzt. Das passierte ihm ständig, wenn er nervös war. »Was?«

Connor stutzte kurz, dann grinste er wieder. »Erwischt. Du hast mir nicht zugehört.«

»Äh ...«

»Schon gut«, winkte der Riese gut gelaunt ab. »Aber von Tristans Theaterkarriere wird man definitiv nicht rot. Es sei denn, man erstickt fast bei einem Lachanfall, wie dieser verrückte, reiche Schnösel bei der Uraufführung von Robin Hood. Sachen gibt’s. Aber egal. Also, wo warst du gerade mit deinen Gedanken?«

»Ist nicht wichtig.«

Daniel verschränkte seine Arme vor der Brust, presste die Lippen zusammen und sah auf die Straße. Ein eindeutiges Zeichen, ihn jetzt besser in Ruhe zu lassen. Bei den ganzen Ärzten, Psychologen und anderen Menschen, mit denen er in der letzten Zeit zu tun gehabt hatte, hatte das immer funktioniert, aber entweder kannte Connor diese Geste nicht oder er war dermaßen gutmütig, dass es ihn nicht kümmerte.

»Hm, du hast sicher recht. Ich würde einem Typen, der mich erst total einsaut und danach auch noch zuquatscht, auch nicht gleich meine Lebensgeschichte erzählen.«

Daniel stöhnte innerlich auf. Konnte der Typ nicht einfach seine Klappe halten? »Und was machst du dann gerade?«

Connor schwieg verblüfft, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Verdammt, ich bin ertappt. Aber wir sind gleich da. Sag am besten »Halt die Klappe!«, wenn ich dir zu viel rede, okay?«

»Halt die Klappe.«

Connor lachte unterdrückt und zwinkerte ihm dann fröhlich zu. »Hatte ich erwähnt, dass ich nicht dafür garantieren kann, dass es funktioniert?«

Daniel stöhnte, was mit einem weiterem Lachen beantwortet wurde. Der Typ war unmöglich und offenbar durch nichts zu erschüttern. Ob es helfen würde, wenn er ihm den Mund zuklebte? Die Vorstellung war ziemlich verlockend, gestand er sich ehrlich ein, aber vorerst begnügte sich Daniel damit, den Mann neben sich einfach reden zu lassen.

Hoffentlich waren sie bald da.

 

Daniel konnte sich nicht daran erinnern, jemals so froh gewesen zu sein, aus einem Auto herauszukommen. Und das hatte dieses Mal ausnahmsweise nichts mit seiner Angst zu tun. Nach einem Blick auf die Uhr schüttelte er den Kopf und setzte Connor nach, der bereits mit langen Schritten auf ein rotes Backsteinhaus zuhielt. Die Autofahrt hatte nur zwanzig Minuten gedauert und ihm klingelten die Ohren. Wenn Connors Großmutter genauso viel redete, würden sie spätestens heute Abend abgefallen sein.

Bevor Daniel sich weitere Schauergeschichten inklusive ekliger Details ausmalen konnte, wurde abrupt die Haustür aufgerissen und im ersten Augenblick hatte er die verrückte Assoziation einem Gnom gegenüberzustehen. Einem ziemlich bunten Gnom. War das dieselbe Frau, die mit ihm mehrere Wochen lang knallhart über den Kaufpreis ihres Hauses und zusätzliche Konditionen verhandelt hatte? Daniel blinzelte irritiert.

»Hi Grandma.«

Connor umarmte die zierliche Frau, die ein Tuch um ihr Haar gewickelt hatte, das genauso bunt gemustert war wie das Kleid, welches sie trug. Grandma Charlie war vielleicht über Achtzig, aber körperlich keinesfalls so alt, wie Daniel erwartet hatte. Im Gegenteil. Die alte Dame erschien ihm putzmunter, so wie sie ihrem Enkel neckend in die Hüfte zwickte, bevor sie ihn in Augenschein nahm.

»Also auf dem Foto war aber mehr an dir dran, Daniel Hanson«, erklärte sie und stemmte die Hände in die Hüften. Daniel lief erneut rot an, was sie kichern ließ. »Entschuldige, wir necken uns ständig. Das liegt der ganzen Familie im Blut. Kommt endlich rein, ihr beiden. Was für ein Sauwetter. Hat Connor dich unterwegs aufgegabelt? Ach du meine Güte, deine Sachen. Ihr werdet duschen, bevor wir essen, keine Widerrede. Connor, du gehst zuerst. Du weißt ja, wo du trockene Sachen findest. Und beeil dich.«

»Ja, Grandma.«

»Na dann, hopp hopp. Nicht, dass unser Gast noch krank wird.«

Connor ging mit einem amüsierten Funkeln in den Augen den Flur entlang und verschwand hinter einer Tür, während sich Charlies Aufmerksamkeit ein weiteres Mal auf ihn richtete. Nach einer kurzen Musterung seiner Person begann sie sich nachdenklich gegen die volle Unterlippe zu tippen. Daniel räusperte sich unbehaglich.

»Du hast ziemlich stark abgenommen. Wie alt ist denn das Foto, das du mir geschickt hast? Na, mal sehen, wir finden schon etwas zum Anziehen für dich. Ansonsten musst du beim Essen meinen rosa Bademantel tragen.«

Rosa Bademantel?

»Wie bitte?« Daniel versuchte sein Entsetzen zu verbergen. Es misslang ihm gründlich, denn die alte Dame lachte erneut.

»Das war ein Scherz, mein Junge. Und wenn ich recht überlege, müssten im Gästezimmer noch ein paar Sachen von Tristans letztem Besuch herumliegen. Die könnten dir passen. Ich sag dir, der Junge ist so schusselig, der vergisst eines Tages noch seinen Kopf.«

Und wenn Grandma Charlie so weiter redete, fing seiner gleich an zu qualmen. Daniel war mit der Situation gelinde gesagt völlig überfordert. so viel auf einmal hatte man das letzte Mal vor über einem Jahr mit ihm gesprochen und da hatte der Großteil auch nur aus dem lauten Geschrei der Ärzte bestanden, die alles versucht hatten, um ihn am Leben zu erhalten.

Wann hatte er zuletzt eine normale Konversation geführt? Daniel konnte sich nicht daran erinnern. Er räusperte sich. »Sie müssen sich keine Umstände machen. Wirklich nicht.«

»Ach was, das macht keine Umstände. Und nenn mich Charlie, das habe ich dir doch schon am Telefon gesagt«, meinte sie schlicht und lief, sehr behände für ihr Alter, den Flur entlang, um in einem anderen Zimmer zu verschwinden. »Schau dich ruhig ein wenig um, bis Connor fertig ist. Ah, hier sind sie ja. Das müsste gehen. Connor? Beeil dich mal ein bisschen.«

»Ja, Grandma«, schallte Connors hörbar amüsierte Stimme in den Flur.

»Sag nicht immer »Ja, Grandma.«, sondern mach es auch. Zeit ist Geld, und von beidem kann man nie genug haben.«

 

Ein paar Minuten später stand Daniel stocksteif in einem mit Wasserdampf vernebelten Badezimmer und überlegte, ob er, ohne es zu merken, in einem Irrenhaus gelandet war. Zwar einem mit äußerst höflichen Insassen, aber trotzdem ein Irrenhaus. Hatte er solche offenen und herzlichen Menschen früher auch gekannt? Er war sich nicht sicher. Irgendwie kam es Daniel immer mehr so vor, als hätte sein Leben erst vor einem Jahr begonnen.

Seine Familie war jedenfalls nicht so gewesen, das wusste er. Es hatte ihm nie an etwas gemangelt, auch nicht an der Zuneigung von der Seite seiner Eltern, aber sie hatten einfach nicht akzeptieren können, dass er ihnen niemals Enkel schenken würde. Nach seinem Outing war ihr Verhältnis abgekühlt und als er in die Großstadt gezogen war, hatten sie sich nur noch an Geburtstagen und Weihnachten gesehen. Für beide Seiten die beste Entscheidung, das wusste Daniel, trotzdem war es immer schmerzhaft gewesen.

Dann waren seine Eltern gestorben und er hatte ein Haus geerbt, das ihm heute nicht mehr gehörte. Daniel schüttelte den Kopf und begann seine Jacke auszuziehen. Er konnte die Vergangenheit nicht ändern, es wurde Zeit, sich damit abzufinden.

In einem hatte Charlie recht, entschied er, als ihm auffiel, wie sehr er vor Kälte zitterte. Eine heiße Dusche war notwendig, denn krank zu werden konnte er nicht gebrauchen.

Sich aus seinen restlichen Sachen zu schälen, war allerdings gar nicht so einfach, stellte Daniel zum wiederholten Male fest. Die Kleidung klebte überall an seiner Haut und mehr als einmal stieß er zischend den Atem aus, wenn der nasse Stoff über eine seiner Narben rieb. Früher hatte er ausgiebige Bäder geliebt, am liebsten zu zweit. Heute war er froh, wenn er es zehn Minuten unter dem Duschstrahl aushielt. Duschgel war ein zusätzliches Problem. Daniel benutzte nur wenig, an manchen Tagen auch gar keines. Je nachdem, wie gut oder schlecht er sich allgemein fühlte.

Hier, in einer fremden Wohnung, mit fremden Leuten, entschied er sich für das Kurzprogramm. In die Duschkabine stellen, das Wasser aufdrehen, Zähne zusammenbeißen und bis sechzig zählen. Danach war er fix und fertig und stand erst mal einige Minuten auf dem weichen Vorleger vor der Duschkabine, bis seine Haut aufhörte sich anzufühlen, als würde jemand mit heißen Nadeln auf ihn einstechen.

Die Tür zum Badezimmer wurde aufgestoßen. »Hey, Dan, hier hast du ...«

Daniel zuckte erschrocken zusammen und wirbelte herum, um nach einem der Badetücher zu greifen, die auf einem ordentlichen Stapel im Regal neben der Dusche lagen. »Kannst du nicht anklopfen?«, blaffte er und ärgerte sich tierisch, weil seine Stimme zitterte, während er sich in das Badetuch wickelte. »Verschwinde, Connor. Ich will mich anziehen.«

Doch der schwieg, stand einfach nur da, die Türklinke in einer Hand, frische Kleidung für ihn in der anderen, und starrte ihn an. Daniel erkannte Entsetzen, wenn er es vor sich sah und Connor war entsetzt. So entsetzt, dass er tatsächlich den Mund hielt. Was für ein Erfolg, dachte Daniel schnippisch. Er wusste wie sein Körper aussah und wie der Anblick auf andere wirkte. Im Krankenhaus hatte er oft genug erlebt, dass ein Pfleger oder eine Schwester ihn fassungslos angestarrt hatte.

Er hatte ihre Blicke hassen gelernt, genauso wie er seine Narben selbst hasste. Die wulstigen, roten Linien auf seiner Haut waren so empfindlich, dass selbst die leichteste Berührung mit Schmerzen verbunden war. Ob beim Schlafen, während einer Dusche oder beim Anziehen, es tat immer weh. Eine Sensibilisierung der Nerven hatte sein Arzt im Krankenhaus gesagt und ihn dabei mitleidig angesehen. Ob das jemals wieder vergehen würde, wusste niemand.

»Woher hast du die?«, wollte Connor wissen und trat ein, um die Tür hinter sich zu schließen und die Sachen für ihn auf dem Toilettendeckel abzulegen.

Daniel wich unwillkürlich zurück, weil Charlies Badezimmer für sie beide eindeutig zu klein war. »Geht dich das etwas an?«, fragte er giftig, als Connor ihn forschend ansah. Er war nicht wie Connor oder Charlie, die mit Fremden schon nach zwei Minuten Freundschaft schlossen und dann aus dem Nähkästchen plauderten. »Kannst du gefälligst mal abhauen, damit ich mich anziehen kann?«

Connors Augen weiteten sich erstaunt, dann wich er langsam zur Tür zurück. »Ich verspreche, dass ich dir nichts tun werde.«

Woher ...?

Daniel schnappte schockiert nach Luft. Connor wusste Bescheid. Obwohl er keine Ahnung hatte, wieso er sich dessen so sicher war, aber er war es. Die Panik, dass sein Geheimnis keines mehr war, überflügelte seine Angst vor zu viel Nähe.

Er musste hier raus.

Sofort!

Daniel ließ das Badetuch fallen, trat vor und griff nach der Hose. Dass er noch nass war, hatte er dank Connor leider vergessen und eine frisch gewaschene Jeans war beim Kontakt mit Nässe nicht sehr kooperativ. Je heftiger er versuchte den störrischen Stoff über seine Beine zu zerren, umso weniger gelang es ihm, und am Ende war er so wütend über die Jeans und sich selbst, dass er die Hose mit Tränen in den Augen in die Ecke pfefferte und sich danach auf die kalten Fliesen sinken ließ.

Es war nicht sein erster Anfall, zumindest nannte Daniel diese Attacken so, seit er im Krankenhaus vor einem Pfleger, der ihm nur beim Waschen hatte helfen sollen, regelrecht ausgeflippt war.

»Connor? Daniel? Ist alles in Ordnung da drin?«

Daniel zuckte erneut zusammen und zog seine Beine an den Körper, um sich so klein wie möglich zu machen. Charlie. Das fehlte ihm gerade noch, dass die alte Dame ihn so sah.

»Ja, Grandma. Alles okay. Wir kommen gleich.«

»Ich setze schon mal den Tee auf. Pfefferminze ohne Zucker, wie du ihn liebst.«

Dieser Baum von einem Kerl liebte Pfefferminztee? Würde er nicht gerade mitten in einer Panikattacke stecken, wäre ihm jetzt wohl ein amüsiertes Lachen entglitten. So aber saß er zitternd auf dem kalten Boden und stieß sich den Hinterkopf an der Wand, als Connor ihn plötzlich am rechten Unterschenkel berührte und damit fast zu Tode erschreckte.

»Nimm deine Pfoten weg!«

Seine Worte sollten bedrohlich und einschüchternd wirken, aber da er vor lauter Angst nicht mehr wusste, wo er hin sollte, klang seine Stimme unnatürlich hoch. Außerdem wusste Daniel, dass man in seinen Augen im Moment genauso leicht lesen konnte, wie in einem aufgeschlagenen Buch.

Connor wich auf Armlänge vor ihm zurück. In seinen Augen stand kein Mitleid, wie Daniel es erwartet hatte, nur echtes Mitgefühl. »Ich werde nicht fragen, wer dir das angetan hat. Noch nicht. Ich möchte nur wissen, ob du es schaffst, dich anzuziehen und mit nach hinten zu kommen.«

»Nach hinten?«

»Ins Gästezimmer. Da wartet ein junger Hund auf dich, der ein Zuhause braucht. Grandma wollte dich mit ihm überraschen, weil sie der Meinung ist, dass jeder einen vierbeinigen Freund braucht, der in deinem Fall auch gleich noch das Haus bewachen kann. Aber ich glaube, es stört sie nicht im Geringsten, wenn ihr beide jetzt schon Freundschaft schließt. Ist das okay für dich?«

Ein Hund? Charlie schenkte ihm einen Hund? Einfach so? Zwischen Angst und Verblüffung schwankend, war Daniel zu keinem Wort fähig, daher nickte er nur.

»Normalerweise würde ich dir jetzt meine Hand anbieten, um dir aufzuhelfen, aber ich fürchte, wenn dich heute noch irgendjemand anfasst, drehst du völlig durch.«

Die Hartnäckigkeit musste Connor von seiner Großmutter haben, über den Rest wollte Daniel lieber nicht nachdenken. Jeder andere wäre einfach gegangen, hätte ihn für verrückt abgestempelt und nie wieder ein Wort mit ihm gewechselt. Ganz in seinem Sinne also. Nur Connor schien andere Pläne zu haben.

Daniel war sich nicht sicher, was er davon halten sollte.

 

»Das ist Zeke. Grandma hat ihn so genannt, keine Ahnung wieso«, sagte Connor leise und eindeutig amüsiert. »Du kannst ihn aber umbenennen, wenn du willst.«

Daniel hörte nicht wirklich zu. Er war zu sehr von einem Paar schwarzer Knopfaugen abgelenkt, die einem beigefarbenen Labrador gehörten, der ihn gerade von einem großen, sehr weich aussehenden Kissen her anschaute. Als Connor sich neben den Kleinen hockte, um ihn zu streicheln, jaulte der Welpe leise.

»Er ist ein wenig schüchtern«, erklärte Connor und lachte leise, als Zeke ihm die Hand ableckte. »Das macht er allerdings dauernd. Willst du ihm Hallo sagen, Dan?«

Daniel stand immer noch in der Tür des Gästezimmers. Connor hatte ihn allein gelassen und war vorgegangen, damit er sich in Ruhe anziehen konnte. So als hätte er gewusst, dass er jetzt ein paar Minuten für sich brauchte. Aber wie sollte er nun reagieren, nachdem Connor ihn so gesehen hatte?

Seine Gedanken spielten völlig verrückt. Er musste irgendetwas sagen oder etwa nicht? Connor eine Erklärung für sein Verhalten liefern. Aber erwartete der das von ihm? Es sah zwar nicht so aus, doch alle anderen hatten es erwartet, wann immer er in der Klinik zusammengeklappt war. Seine Reaktion war daraufhin meistens stures Schweigen gewesen. Heute erschien ihm das nicht richtig, denn bislang hatte Connor nichts von ihm verlangt. Im Gegenteil.

Trotzdem. Irgendetwas musste er doch jetzt sagen. Das gehörte sich so. Oder? Verdammt. Daniel ärgerte sich über sich selbst, vor allem über seine verfluchte Unsicherheit.

»Du musst mir nichts erklären, Dan«, murmelte Connor plötzlich und sah zu ihm hoch. »Und du brauchst dir auch keine Geschichte auszudenken, nur um mir nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Es ist okay für mich, wenn du nichts sagen willst. Sag stattdessen Hallo zu Zeke, der freut sich.«

War es wirklich so einfach? Anscheinend schon, wenn er Connors Lächeln richtig einschätzte. Daniel zögerte noch einen Augenblick, dann gab er sich einen Ruck, trat ins Zimmer und ging vor dem Kissen in die Hocke. Der Welpe spitzte neugierig die Ohren und beschnüffelte ihn. Nach einmal Bellen und einem weiteren Jaulen war er akzeptiert.

Daniel lachte, als der Welpe vom Kissen auf seinen Schoß kletterte und an ihm herumzulecken begann. Er würde dieses kleine Fellknäuel ohne Ende verwöhnen, wie er es mit allen Haustieren gemacht hatte, die in seinem bisherigen Leben gekommen und wieder gegangen waren.

»Tja, das nenne ich Liebe auf den ersten Blick«, murmelte Connor und räusperte sich leise. »Lass dir Zeit, Dan. Komm nach, wenn du soweit bist. Ich gehe wieder zu Grandma.«

Daniel hob alarmiert den Kopf. »Erzählst du es ihr?«

»Nein«, versprach Connor ohne zu zögern. »Ich sagte ihr vorhin, dass du dich schon mit Zeke anfreunden willst, weil du ihn vom Bad aus gehört und mich dann gefragt hast. Dabei bleibt es.«

»Danke.«

 

 

2. Kapitel

 

 

 

 

»Wer ist eigentlich dieser Tristan?«, fragte Daniel, als Connor vier Stunden später endlich Luft holte.

Das war natürlich übertrieben, aber seit dem Essen redete Connor in seinen Augen ununterbrochen. Und wenn er zwischendurch wirklich einmal schwieg, übernahm Charlie das Ruder. Die beiden hatten ihm so viel über die Stadt und die Menschen hier erzählt; Daniel hatte schon lange den Anschluss verloren. Trotzdem machte es Spaß ihnen zuzuhören, und das erstaunte ihn am meisten.

Wegen des Vorfalls im Badezimmer hatte er eigentlich vorgehabt, sich nach dem Essen höflich für die Einladung zu bedanken, Zeke zu nehmen, der mittlerweile neben seinem Stuhl auf dem Küchenboden lag und leise schnarchte, und schnell zu gehen.

Dann war Connor eingefallen, dass das Motel vermutlich gar keine Hunde akzeptierte, was Grandma Charlie nach einem Anruf dort bestätigt hatte. Also war eine Diskussion darüber ausgebrochen, wo Zeke bleiben sollte, bis das Haus fertig war, und Connor hatte geredet und geredet und geredet.

Und irgendwann hatte Daniel nicht mehr gehen wollen.

Charlie sah ihn kurz verdutzt an, dann lachte sie fröhlich und stupste ihrem Enkel gegen den von der Sonne gebräunten Unterarm. »Du hast im Auto auch ohne Punkt und Komma geredet, was?«

»Nein, er hat mir nicht zugehört«, wehrte sich Connor und grinste ihn an.

»Kein Wunder«, erklärte Grandma Charlie amüsiert. »Du schreibst zwar wunderschöne Bücher, mein Junge, aber beim Reden solltest du wirklich ab und zu eine Pause einlegen. Sonst fällst du eines Tages wegen Luftmangels vom Stuhl oder rauscht beim Autofahren gegen einen Baum.«

Connor schrieb Bücher? Das hatte er bisher nicht erwähnt. Daniel sah sein Gegenüber erstaunt an, was der mit einem frechen Zwinkern quittierte, das ihm selbst ein lässiges Schulterzucken entlockte. Muskeln hin oder her, ihm gegenüber saß definitiv ein wandelndes Klischee. Obwohl er es nicht wollte, Daniel war fasziniert.

»Ich bin ein guter Fahrer.«

»Von wegen. Was ist noch mal aus dem grünen Volvo geworden?«

»Grandma, da war ich sechzehn und die Straße durch den Eisregen am Vorabend spiegelglatt«, empörte sich Connor.

»Deswegen hättest du auch nicht fahren dürfen.«

Connor stöhnte und sah ihn Hilfe suchend an. »Da siehst du mal, was ich ständig aushalten muss. Kein Wunder, dass ich den ganzen Tag über rede. Und alles nur wegen dem Weihnachtsbaum, der den kleinen Crash mit der Straßenlaterne leider nicht überstanden hat.«

Die alte Dame verdrehte theatralisch die Augen zur Küchendecke. »Es war das einzige Weihnachten in meinem Leben ohne Baum. Edwina hat noch sechs Monate später darüber gelacht.«

»Wer ist Edwina?« Langsam sah Daniel bei den ganzen Namen überhaupt nicht mehr durch.

»Edwina Murphy, die Vorsitzende des städtischen Kochclubs und die beste Freundin von Trude Duffy, unserer Oberklatschbase. Ihr gehört der Buchladen neben dem Café von Patty Goldstein.« Sie sah zu Connor. »Oh, das habe ich ganz vergessen. Trude hat vorletzte Woche nach dir gefragt. Sie würde sich freuen, wenn du bei ihr aus deinem neuesten Buch vorliest, sobald es erschienen ist. Ruf sie doch einfach mal an. Ihr beide erzählt gleich gern.«

»Pah. Das ist eine schamlose Unterstellung«, brummelte Connor, doch in seinen Augen leuchtete deutlich sichtbar der Schalk. Daniel schmunzelte.

»Weißt du«, wandte sich Charlie an ihn, »Connor hat schon immer gern geredet. Seitdem er gelernt hat aus Buchstaben Wörter zu bilden, hört er nicht mehr damit auf. Ich weiß wirklich nicht, wo er die Energie dafür hernimmt, aber es ist faszinierend. Meine Älteste hatte ihm nach der Uni empfohlen, die Wörter in seinem Kopf in Zukunft einfach aufzuschreiben, statt sie weiter ungehemmt auszusprechen. Reine Selbsterhaltung, sagte sein Vater damals. Es hat nicht viel geholfen. Jetzt macht er nämlich beides, schreiben und reden.«

»Wie hält man das aus?«, fragte Daniel.

Charlie lachte laut auf. »Das frage ich mich auch jedes Mal, wenn er bei mir hereinschneit, um sich ein Essen zu schnorren. Mein lieber Enkel hat vom Kochen nämlich genauso wenig Ahnung, wie vom Gelübde des Schweigens. Aber ansonsten ist er ein toller Bursche.«

»Grandma ... Fang bitte nicht damit an.«

Daniel fiel förmlich der Unterkiefer herunter, als er mitbekam, wie sich Connors Blick verlegen auf den Tisch richtete und er rote  Wangen bekam. Es war gar nicht so einfach, bei diesem Anblick nicht zu lachen. Connor Bennett konnte seine Gesichtsfarbe also genauso schnell wechseln wie er selbst, man musste nur das richtige Thema ansprechen. Und Grandma Charlie schien noch nicht damit fertig zu sein, ihren Enkel in Verlegenheit zu bringen.

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst.« Die alte Dame lächelte unschuldig und zwinkerte ihm dann zu. »Er ist ein wenig schüchtern. Kaum zu glauben bei dem Aussehen, was? Ein Wink mit dem Finger und die Männer liegen ihm reihenweise zu Füßen. Und er sieht das gar nicht.« Sie seufzte leise. »Seit dieser Banker aus Baltimore ihm das Herz gebrochen hat, will er ja unbedingt Single bleiben.«

»Grandma, muss das sein?«

Connors Einspruch wurde schlichtweg ignoriert und Daniel wusste nicht, ob er ihn deswegen bemitleiden oder darüber lachen sollte. Er verkniff sich einen Kommentar dazu und dass er vor seiner Flucht ebenfalls im Bankwesen gearbeitet hatte, ging niemanden etwas an. Um sich abzulenken, weil er ahnte, wo dieses Gespräch hinführte, goss er sich frischen Tee ein.

»Single, stell dir das vor? Mit 29 Jahren. Die Jugend von heute hat für die Liebe keine guten Augen mehr. Manchmal ist eine Brille eben doch für etwas gut, aber hört er auf mich? Nein. Ganz wie der Vater. Der ist genauso stur. Aber so wahr, wie ich auf diesem Stuhl sitze, ich werde es erleben, dass er sich wieder verliebt. Du bist nicht zufällig frei, Daniel?«

Daniel verschluckte sich an dem gerade getrunkenen Schluck Tee und begann heftig zu husten. Er hatte es ja geahnt. Aber in diesem Punkt würde er die alte Dame enttäuschen müssen, denn er hatte weder vor sich mit Connor, noch irgendeinem anderen Mann näher zu befassen. Woher wusste Grandma Charlie überhaupt, dass er, wenn er die Wahl hatte, lieber Männer bevorzugte? Vermutlich besaß sie durch ihren Enkel einen Blick dafür. Er würde nicht nachfragen.

»Grandma, jetzt ist aber genug«, brummte Connor in dem Moment und ein leichter Anflug von Ärger schwang in seiner Stimme mit. »Lass Daniel doch erst einmal hier heimisch werden, bevor du ihn verkuppelst.«

Daniel nutzte die Gunst der Stunde, um zu seiner eigentlichen Frage zurückzukehren, denn die Themen Liebe und Beziehungen wollte er keinesfalls weiter erörtern. Außerdem würde er nie erfahren, wer der bislang so ominöse Tristan war, wenn er zuließ, dass die beiden wieder zu einem anderen Thema abschweiften, was sie perfekt beherrschten.

»Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, aber wer ist denn nun dieser Tristan?«

Grandma Charlie begann zu kichern. »Ups.«

»Mein älterer Bruder«, lüftete Connor daraufhin endlich das Geheimnis. »Er schauspielert am Theater in Baltimore.«

Ein Schauspieler also. Das wurde immer interessanter. Connor war Autor, sein Bruder beim Theater. Ob der Rest der Familie auch in künstlerischen Bereichen tätig war?

»Hast du noch mehr Geschwister?«, fragte Daniel daher nach.

Er war neugierig und solange Connor und seine Großmutter redeten, musste er wenigstens keine Fragen beantworten oder etwas über sich erzählen. Daniel wollte die beiden aus einem ihm unerklärlichen Grund nicht belügen, doch genau das würde er tun müssen, wenn sie die falschen Fragen stellten.

»Violett Grace.« Grandma Charlie seufzte verzückt. »Sie ist das Nesthäkchen. Zehn Jahre jünger, als der Bursche hier. Das Mädchen kann malen, da fallen mir jedes Mal vor Staunen die Augen aus dem Kopf. Wunderschön, sag ich dir. Seit einem Jahr studiert sie nun Kunst und wird bestimmt mal eine ganz große Malerin.«

Die Bennetts schienen wirklich eine Künstlerfamilie zu sein. Daniel hätte gern gewusst, was Connors Eltern machten, traute sich aber nicht nachzufragen, um nicht als zu neugierig abgestempelt zu werden. Eines musste er aber unbedingt noch wissen.

»Seid ihr zufällig Einwanderer oder haben deine Eltern nur ein Faible für ungewöhnliche Namen?«, fragte er an Connor gewandt. »Connor, Tristan und Violett. Das sind nicht gerade die typischen amerikanischen Namen, soweit ich weiß.«

»Nein, wir sind keine Einwanderer«, antwortete der und grinste breit. »Mum liebt, seit sie ein ganz kleines Mädchen war, schnulzige Liebesromanzen, die im Mittelalter spielen. Am besten ist es, wenn sie in Schottland oder Irland angesiedelt sind. Dad schüttelt zwar immer den Kopf darüber, konnte ihr aber noch nie etwas abschlagen. Tja, und deswegen haben wir Kinder alle Namen von Buchhelden bekommen.«

»Romantisch, nicht wahr?« Grandma Charlie lachte leise.

Daniel grinste nur.

 

Als Connor am späten Abend seinen Pick-up vor dem kleinen Motel parkte, nahm Daniel seinen gesamten Mut zusammen, um die Frage zu stellen, die ihm seit Stunden durch den Kopf ging.

»Wieso hast du das getan?«

Connor sah ihn an. »Was meinst du?«

Daniel schüttelte den Kopf und stieg aus. Er wartete, bis Connor es ihm nach tat. »Das weißt du ganz genau.«

»Was hätte ich sonst tun sollen?«

Daniel war verblüfft. Was für eine seltsame Frage. Ihm fielen Unmengen an Möglichkeiten ein, aber keine einzige beinhaltete das, was Connor für ihn getan hatte. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, daher schob er das Ganze beiseite. »Danke.«

»Wofür?«, fragte Connor daraufhin erstaunt.

Über Daniels Lippen huschte ein zögerliches Lächeln. Der Mann konnte wirklich verdammt merkwürdige Fragen stellen. Außerdem war er auf einmal so einsilbig und wirkte dadurch richtig schüchtern. Ein krasser Gegensatz zu dem Connor, der den ganzen Tag den Mund nicht hatte halten können. Daniel zuckte die Schultern.

»Für deine Verschwiegenheit, das Essen, Zeke, den Tag – einfach alles.«

Connors Gesicht hellte sich auf, als er sein Lächeln erwiderte. »Gern geschehen, Daniel Hanson. Vielleicht könnten wir irgendwann mit Zeke mal spazieren gehen oder so?«

»Oder so«, gab Daniel zurück.

Er wollte nicht zusagen, aber das Angebot ablehnen konnte er ebenfalls nicht. Beides schien falsch zu sein. Im Moment wollte er nur noch dieser sonderbaren Situation entfliehen, die ihm langsam aber sicher Unbehagen bereitete. Da fiel ihm etwas ein.

»Oh, ich gebe Tristans Sachen so schnell es geht zurück.«

Connor winkte gelassen ab. »Gib sie Grandma, wenn du Zeke besuchst. Mein Bruder vermisst sie sowieso nicht.«

»Okay.« Daniel sah zum Hotel und dann in den Himmel. Er war sternenklar und trotz der Straßenlampen, die die Umgebung in schummriges Licht tauchten, konnte er viele Sterne erkennen. »Der Regen hat aufgehört.«

»Hm. Hoffentlich hält das Wetter länger als diese Nacht. Magst du die Sterne?«

Irgendwie schien Connor sich genauso wenig losreißen zu können wie er. Das war lustig und auch verrückt, gleichzeitig verstärkte sich seine Beunruhigung mit jedem Augenblick, den er an Connors Seite blieb. Daniel wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Er kam sich gerade vor wie ein Teenager.

»Wo ich herkomme, hat man sie meist nur gesehen, wenn man die Innenstadt verließ oder auf ein Hochhaus kletterte.«

»Großtstadtpflanze?«, fragte Connor schmunzelnd.

Daniel nickte. »Und du?«

Connor deutete auf die Umgebung. »Das hier ist mein Leben.«