Der neue Sonnenwinkel
– 24 –

Sie fiel aus allen Wolken

Wer ist dein unbekannter Verehrer, Roberta?

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-794-3

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Dr. Roberta Steinfeld, die junge Ärztin, stand mitten im Leben, und sie wusste, wo es längs ging. Sie kam mit jeder Situation nicht nur zurecht, sondern sie konnte sie auch meistern. Was sie gerade erlebte, das überforderte sie. Sie hielt die Türklinke in der Hand und starrte den unverhofften Besucher an wie einen Geist. Sie konnte nichts sagen, und nach einer gefühlten Ewigkeit brachte sie nicht mehr als ein krächzendes »Du?«, heraus.

Der Besucher hatte diese Probleme nicht, er strahlte sie an und rief: »Ja, ich, mein Liebes. Und du hast doch hoffentlich nichts dagegen, dass ich gekommen bin?« Er hielt ihr eine Flasche Rotwein entgegen und erkundigte sich: »Trinken wir ein Glas Wein miteinander?«

Roberta erwachte allmählich aus ihrer Erstarrung, die Vergangenheit holte sie ein, vermischt mit einer wundervollen Gegenwart.

So hatte es mit ihnen angefangen, da war er auch plötzlich mit einer Flasche Wein unter dem Arm aufgetaucht, der Lars Magnusson mit seinen unglaublich blauen Augen, der Mann, der sich von der ersten Sekunde an in ihr Herz geschlichen hatte. Und nun war er wieder da, als sei es die selbstverständlichste Sache von der Welt, ganz so, als käme er gerade mal von nebenan, nicht von der Arktis, wo er sich mit dem Leben von Eisbären beschäftigt hatte.

»Lars …, mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet …, ich weiß nicht …, warum hast du nicht angerufen …, ich hätte dich doch vom Flughafen abgeholt …, wenn du …«

Roberta redete und redete und war nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Satz zu beenden.

Er schob sie von der Tür weg, ging an ihr vorbei ins Haus, stellte die Weinflasche ab, und dann nahm er sie einfach in seine Arme.

»Roberta, Liebes, du ahnst nicht, wie sehr du mir gefehlt hast, wie sehr ich mich auf diesem Augenblick gefreut habe. Ich habe dich ja so vermisst.«

Seine Arme umschlossen sie ganz fest, sie fühlte sich so unglaublich geborgen. Und als er sie küsste, wünschte sie sich, die Welt möge stehen bleiben. Wie sehr sie sich nach ihm, seiner Nähe, seiner Zärtlichkeit gesehnt hatte.

Dann konnte sich an überhaupt nichts mehr denken, sie gab sich seinen Küssen hin, die anfangs sanft und zärtlich waren, danach immer fordernder und leidenschaftlicher wurden.

Sie verloren jegliches Gefühl für die Zeit, es gab nur noch sie und sonst überhaupt nichts auf der Welt. Irgendwann lösten sie sich voneinander, und dann gingen sie in Robertas gemütliches Wohnzimmer. Und da er sich in ihrem Haus sehr gut auskannte, holte er wie selbstverständlich die Gläser, öffnete die Flasche. Sie saßen nebeneinander, Roberta kuschelte sich ganz eng an ihn, sie spürte seine Wärme, nahm einen herben, männlichen Duft nach Zitrus und Hölzern wahr, der ihr so vertraut war und den sie ebenfalls so sehr vermisst hatte.

Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätten sie jetzt überhaupt nicht miteinander reden müssen. Ihr hätte seine Präsenz schon gereicht. Er war wieder da! Allein dieser Gedanke beherrschte sie. Anfangs hatte sie Mühe, ihm zuzuhören, doch allmählich wurde ihr bewusst, dass sie sich jetzt nicht an ihm festklammern musste aus Angst, er könne sich in Luft auflösen und wieder verschwinden.

Lars hatte seine Mission erfüllt, die letzten Unklarheiten waren beseitigt, er konnte an seinem Buch über Eisbären für National Geographic die nächsten Kapitel schreiben. Und das bedeutete, dass er im Sonnenwinkel bleiben würde, in seinem kleinen Haus am See, in dem sie so viele wundervolle Stunden miteinander verbracht hatten und das sie kaum während seiner Abwesenheit betreten konnte, weil dann die Sehnsucht nach ihm übermächtig geworden war.

Er hielt ihre Hand, streichelte sie sanft, dann sagte er: »Du hast viel Verwirrung in mein Leben gebracht. Früher habe ich mich nie nach einer beendeten Expedition auf die Rückreise gefreut. Diesmal konnte ich es kaum erwarten, und ich habe sogar auf das Treffen mit dem Expeditionsleiter verzichtet, der mich gern noch einmal gesehen hätte. Du hast mich verzaubert. Es ist so schön, dass es dich gibt. Roberta, ich liebe dich über alles.«

Solche Worte gingen herunter wie Öl, und die waren es ja auch, die Sehnsüchte in ihr erweckt hatten. Sehnsüchte nach mehr, nach einer Heirat und Kindern.

Nein!

Es war ja furchtbar, wohin ihre Gedanken sich schon wieder verirrten. Er war da, sie spürte seine Nähe, die innige Vertrautheit war wieder da. Das musste erst einmal reichen.

Um sich von dem, das in ihr war wie ein süßes Gift, abzulenken, erkundigte sie sich: »Warum hast du nicht Bescheid gesagt? Ich hätte dich doch am Flughafen abgeholt.«

»Ich wollte dich aber überraschen.«

»Ich hätte nicht daheim sein können«, konterte sie.

Da lachte er.

»Liebes, ganz unvorbereitet war ich nicht. Ich habe mit Alma telefoniert, die war meine Verbündete, hat mich über alles informiert, und sie hat sogar ein paar köstliche Tapas für uns in den Kühlschrank gestellt, falls wir irgendwann einmal hungrig werden.«

Roberta war ganz gerührt.

So war sie, ihre Alma. Sie umsorgte sie, und es war schön, dass Alma und Lars sich so gut miteinander verstanden. Roberta hatte sich gewundert, warum Alma es so eilig gehabt hatte, zu verschwinden, nun hatte sie die Erklärung.

Roberta erzählte ihm von Almas künstlerischen Talenten, dass sie für ein Jahr in eine Künstlerkolonie hätte gehen können, es aber nicht gewollt hatte.

Irgendwann hielt er ihr den Mund zu.

»Liebes, morgen ist auch noch ein Tag, dann kannst du mir alles erzählen, was sich während meiner Abwesenheit ereignet hat, und wenn du magst, dann erzähle ich dir auch alles über die Eisbären. Heute möchte ich davon nichts hören, heute möchte ich nur deine Nähe genießen, dich. Habe ich dir schon gesagt, was für eine unglaubliche Frau du bist? Und du wirst immer schöner. Ich bin wirklich ein Glückspilz, irgendwie kann ich es noch immer nicht fassen, dass du mich genommen hast. Und es ist großartig, dass du verstehst, dass ich kein Mann für die traute Zweisamkeit am Herd bin, dass ich meinen Freiraum brauche, immer wieder mal eine Auszeit. Das rechne ich dir hoch an. Die meisten Frauen wollen heiraten, Heimchen am Herd spielen. Da bekämen wir schon Probleme, aber du hast einen so tollen Beruf, der dich ausfüllt, da kommst du überhaupt auf keine komischen Gedanken.«

Roberta musste schlucken.

Sie kannte seine Grundeinstellung, doch sie waren auch schon weiter gewesen. Da hatte er gesagt, dass man niemals nie sagen durfte. Hatte er das vergessen? Hatte die Zeit in der Arktis ihm bewusst gemacht, dass er die Herausforderung liebte und brauchte? Dass er immer so etwas wie ein einsamer Wolf bleiben würde?

Roberta freute sich wahnsinnig, dass er gekommen war, er war ihr vertraut, da war nichts Fremdes zwischen ihnen, und sie zweifelte auch nicht daran, dass er sie liebte.

Aber ihre Träume, die rückten immer weiter in die Ferne. Und das machte schon etwas mit ihr.

Lars spürte die Veränderung in ihr, und er erkundigte sich besorgt: »Liebes, was hast du? Habe ich etwas gesagt, was dir nicht gefällt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich freue mich, dass du da bist.«

Das war nicht gelogen, und er war auch sofort wieder beruhigt.

»Ich freue mich auch«, sagte er, und dann küsste er sie erneut, und das war so schön, dass all ihre trüben Gedanken verflogen. Sie konnte doch glücklich und zufrieden sein, er liebte sie, sie liebte ihn, und es war so wundervoll, dass er endlich wieder daheim war.

»Ich liebe dich über alles«, murmelte er, und sie schloss die Augen und gab sich ihren Gefühlen hin.

*

Ihr Leben bekam wieder einen ganz anderen Rhythmus, seit Lars wieder da war. Und das genoss sie erst einmal, ohne sich Gedanken zu machen. Aber das Leben war jetzt auch ein wenig schwieriger. Sie musste sorgsam mit der ihr verbleibenden Zeit umgehen, und es blieb einiges auf der Strecke, was sie sonst noch so ganz nebenbei erledigt hatte. Roberta dämmerte es, dass es nicht so einfach war, Beruf und Privatleben unter einen Hut zu bringen. Man könnte seine Wünsche und Träume haben, doch die Realität sah anders aus. Und als sie sich die Frage stellte, ob sie für Mann und Kinder ihren Beruf aufgeben würde, so war die Antwort ganz eindeutig nen. Mutter und Ärztin, das war man nicht so nebenbei. Beides erforderte die ganze Aufmerksamkeit.

Sie begann darüber nachzudenken, dass sie nicht mehr jammervoll sein musste, weil Lars eine Ehe nicht für notwendig hielt und über Kinder noch nicht nachgedacht hatte, sondern sie sollte sich freuen, weil es so war.

Wie wäre es denn, wenn er sie deswegen in Bedrängnis brachte?

Jedes Ding hatte zwei Seiten, da war etwas Wahres dran. Und es kommt, was kommt. Das stimmte ebenfalls.

Roberta spürte, wie sie sich entspannte, und das brachte noch mehr Qualität in ihre Beziehung. Lars Magnusson war ihr Traummann, ihr Mr Right, und dafür musste sie dankbar sein.

Roberta freute sich über jeden Tag, über jede Nacht, die sie miteinander verbringen konnten. Aber sie freute sich auch unendlich, in ihrer Praxis ihrer Arbeit nachgehen zu können, die mehr war als das, sie war ihre Berufung.

Das, was zwischen ihnen war, das war geradezu perfekt! Daran wollte sie jetzt wirklich nicht mehr rühren. Sie musste Lars auch manchmal absagen, weil beruflich etwas dazwischenkam, und da machte er ihr keine Vorwürfe, sondern nahm es hin. Andere Männer würden vielleicht Theater machen, er nicht.

Roberta wurde wieder sie selbst. Das konnte auch ein wenig daran liegen, weil Roberto Andoni mit seiner Susanne und vor allem mit der kleinen Valentina, diesem herzigen Baby, in die Toscana gezogen war. Seit diesem Zeitpunkt hatte Roberta nicht mehr das Bild einer glücklichen Familie vor Augen, und der kleine Sonnenschein erweckte keine Sehnsüchte mehr in ihr. Es war alles gut so, wie es war!

Sie und Lars liebten einander immer mehr, er wurde ihr immer vertrauter. Es war so unglaublich schön, wie sie miteinander reden, aber auch lachen konnten. Sie bewegten sich auf der gleichen Wellenlänge, waren Partner auf Augenhöhe. So etwas fand man nicht an jeder Straßenecke.

Welch ein Glück, dass sie damals aus Unachtsamkeit mit ihrem Wagen in seinen hineingefahren war. Es hatte so sein müssen, ihre Freundin Nicki würde jetzt sagen, dass sei Vorbestimmung gewesen. Auch wenn Roberta nicht daran glaubte, bei Lars und ihr kamen Zweifel auf. Das war kein Zufall gewesen.

Ein glückliches Lächeln huschte über Robertas Lippen, als sie an ihn dachte, ihren Lars. Doch dann schob sie alle Gedanken an ihn beiseite und konzentrierte sich noch einmal auf die Unterlagen der Patientin, die gleich ins Behandlungszimmer kommen würde, und die ihr ein Kollege geschickt hatte, weil er nicht wusste, wie er mit dieser Patientin umgehen sollte, die eigentlich zu einem Psychotherapeuten gehörte, was sie allerdings strikt ablehnte.

Es hatte sich um Kollegenkreis längst herumgesprochen, dass Roberta ein Händchen für besonders schwierige Fälle hatte.

Zaubern konnte sie allerdings nicht. Für sie hatte diese Patientin ein sogenanntes Broken-­Heart-Syndrom, davon sprach man, wenn infarktähnliche Schmerzen hervorgerufen wurden. Das geschah meistens nach einem starken emotionalen Stress, der dem Organismus Druck verursacht. Auch der Herzmuskel wird mit Stresshormonen versorgt, die dann diese Symptome verursachen. An einem derartigen Krankheitsbild konnte man deutlich erkennen, wie eng Körper und Seele miteinander verflochten sind.

Diese Patientin hatte Stress ohne Ende. Sie hatte sich von ihrem Ehemann nach langjähriger Ehe scheiden lassen, um mit einem wesentlich jüngeren Mann glücklich zu werden. Leider hatte sie nicht lange etwas von ihrem neuen Glück, das auf Sand gebaut war. Nachdem dieser Mann eine hübsche, sehr junge Frau kennengelernt hatte, hatte er ihre Patientin eiskalt verlassen. Da musste man sich eigentlich überhaupt nicht wundern. Vielleicht waren da manche Menschen schadenfroh und freuten sich, weil sie der Meinung waren, dass es der Frau recht geschah. Es holte einen alles ein im Leben.

Natürlich sah Roberta das nicht so. Sie wollte der Patientin helfen und wünschte sich von ganzem Herzen, dass ihr das auch gelingen möge.

Roberta hatte bereits ein langes Gespräch mit der Patientin geführt, und es waren auch alle Laboruntersuchungen gemacht worden, die allesamt unauffällig waren.

Wegen ihrer Schmerzen hatte die Frau sich erneut kardiologisch untersuchen lassen wollen, doch weil das in der Praxis nicht möglich war, hatte sie darauf verzichtet. Die Patientin war jetzt auf Roberta fixiert, wollte in keine andere Praxis mehr gehen. Das war für Roberta kein leichtes Unterfangen. Sie konnte helfen, aber keine Erwartungshaltungen erfüllen.

Die Patientin kam in den Behandlungsraum, Roberta begrüßte sie. Frau Zenker war eine sympathische Frau mittleren Alters, die einen sehr gepflegten Eindruck machte. Irgendwie war nicht vorstellbar, dass diese Frau wegen eines jungen Mannes aus einer Ehe ausgebrochen war. Sie wirkte bodenständig und solide.

Vermutlich war es gerade das, weswegen sie so vollkommen neben der Spur war. Einer im Umgang mit Männern erfahreneren Frau wäre das vermutlich nicht passiert, die hätte sich auf ein derartiges Abenteuer nicht eingelassen.

Frau Zenker hatte ein Gesichtslifting hinter sich, und an ihr hatte man auch mit Botox gearbeitet. Hatte sie das alles auf sich genommen, um ihren jungen Liebhaber zu halten? Das wäre natürlich mehr als bitter.

Roberta würde niemals etwas an sich machen lassen. Es sei denn, es sei aus gesundheitlichen Gründen erforderlich. Und sie färbte auch ihre Haare nicht. Da zeigte sich bereits das eine oder andere graue Haar bei ihr, das lag in der Familie, ihre Mutter war schon sehr früh grauhaarig gewesen. Roberta konnte damit umgehen. Außerdem sah man das grau in ihren blonden Haaren nicht sofort. Und wenn doch, das machte ihr wirklich nichts aus. Und sie glaubte auch nicht, dass Lars sie deswegen verlassen würde.

Nachdem Frau Zenker sich gesetzt hatte, sprach Roberta mit ihr alle Laborergebnisse einzeln durch.

»Frau Zenker, ich kann nur noch bestätigen, was Herr Dr. Schmitt Ihnen bereits gesagt hat. Organisch ist bei Ihnen alles in Ordnung.«

Frau Zenker hatte etwas anderes hören wollen. Sie erkundigte sich ein wenig ungehalten: »Und meine Schmerzen? Die bilde ich mir doch nicht ein.«

Jetzt kam es darauf an, die richtigen Worte zu finden. »Nein, Frau Zenker, die Schmerzen bilden Sie sich nicht ein.«

Dann versuchte sie, ihrer Patientin zu erklären, was es mit einem Broken-Heart-Syndrom auf sich hatte. Roberta fand offensichtlich die richtigen Worte, denn Frau Zenker begann zu weinen, sie war emotional sehr bewegt.

»Ich habe ihn so sehr geliebt«, brach es aus ihr heraus. »Und er hat mir nur etwas vorgemacht. Er hat feudal auf meine Kosten gelebt, und nachdem ich all seine Wünsche erfüllt hatte, hat er sich eine andere genommen. All seine Worte waren nichts als Lügen gewesen …, ich weiß wirklich nicht, was ich schlimmer finden soll, dass er meine Gefühle so sehr mit Füßen getreten hat, oder dass ich so dumm war, für eine Seifenblase mein schönes, sicheres Leben aufzugeben …, es …, es fühlt sich alles so schrecklich an …, und ich …, ich schäme mich ja so sehr. Vermutlich lacht er sich mit seiner Neuen über mich kaputt.«