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Für Gabi, meine wunderbare Frau,
und für Luisa Sophie und Marie Elen,
meine mutigen Töchter

INHALT

VORWORT

DIE KRIEGSENKEL-ERFAHRUNG

Manifest der Kriegsenkel

Die Geschichte unter unseren Füßen

Ein Babyboomer-Thema par excellence

Geahnte Wahrheiten

Pioniere

Bis ins vierte Glied …

Doppelte Entwurzelung: Kriegsenkel in den neuen Ländern

DER WEG DER KRIEGSENKEL

Den Schleier heben

Nebeljahre

Vom Überleben im Flachland

Die Chronifizierung der Vorläufigkeit

Das Tor der Erkenntnis öffnet sich

Die große Entdeckung: das transgenerationale Erbe

Der Prozess der Transformation

Die Geburt der entschlossenen Generation

WIE KRIEGSENKEL DEUTSCHLAND VERÄNDERN

Manifest der Freien

Die stille Revolution

Ankommen im europäischen Horizont

Abschied von der Angst

Ganz Mensch sein

Verantwortung und Schuld

Weitergehen

LITERATURAUSWAHL

VORWORT

Wichtige Entwicklungen bereiten sich oftmals im Stillen vor. Das ist auch bei diesem Thema so, das vor einigen Jahren scheinbar plötzlich mit großer Dynamik und publizistischer Wucht auf unserer gesellschaftlichen Agenda erschienen ist: das Thema Kriegsenkel. Inzwischen meinen die meisten zu wissen, was unter »Kriegsenkel« zu verstehen ist. Dabei ist der Begriff selbst sehr plakativ und keineswegs eindeutig. Die Faszination, die er auf viele Menschen auszuüben scheint, hat aber möglicherweise gerade mit dieser Unschärfe zu tun.

In diesem Buch geht es um das Phänomen »Kriegsenkel«. Und es geht um die Generation, die mit dem Thema am stärksten verbunden ist: die Babyboomer, die Generation der geburtenstarken Jahrgänge. Es ist die mittlere Generation, die in Deutschland heute an den Schalthebeln der Macht in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst steht. Aber es ist auch eine Generation, die über Jahrzehnte hinweg kein kongruentes Gefühl für sich selbst entwickeln konnte. Sie verstand sich selbst einfach nicht. Ihre Angehörigen litten unter unklaren Gefühlslagen, merkwürdigen Stimmungen und seltsamen Regungen – Disko und Punk, Schmidt und Kohl, Wackersdorf und Aids: Das eigene Profil, ein spezifischer Generationenauftrag, war einfach nicht zu finden – oder, vielleicht auch: nicht einfach so, nicht einfach beiläufig zu finden. Tiefer und ausdauernder zu graben, das war offensichtlich die Aufgabe für die Babyboomer.

Und sie nahmen diese Aufgabe entschlossen in Angriff und machten sich auf die Suche nach dem Kern ihrer generationalen Identität.

Die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge in Deutschland waren die Ersten, die den Verdacht äußerten, die Erfahrungen ihrer eigenen Eltern im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg, vor allem wenn sie traumatischer Natur waren, könnten möglicherweise auch etwas mit ihrem eigenen Leben zu tun haben. Ab der Jahrtausendwende begannen sie, einen vergessenen Wirkungszusammenhang zu untersuchen, der seit Jahrtausenden zum Wissensbestand der Menschheit gehört: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden«, so heißt es schon im Alten Testament.

Sie fingen irgendwann nach der Jahrtausendwende damit an, behutsam die Terra incognita ihres transgenerationalen Erbes zu erkunden und eine Sprache für ihr Erbe zu formulieren. Und sie fanden eine neue Selbstbezeichnung und nannten sich fortan »Kriegsenkel«. Zahlreiche Kriegsenkel haben ihre Erkenntnisse in Gesprächskreisen und Seminaren öffentlich gemacht, sie haben sich in Foren und Kriegsenkel-Gruppen zu ihrem Leben und ihrer Familiengeschichte geäußert und ihren Erfahrungsweg in vielen Büchern beschrieben.

Zwar ist jede Kriegsenkel-Biografie individuell einzigartig, dennoch existieren typische Elemente und Aspekte, gibt es vergleichbare Entwicklungsmuster und Strukturen, die sich innerhalb der jeweils persönlichen Erkenntnisarbeit finden. So können wir von einer spezifischen Kriegsenkel-Erfahrung sprechen, die sich als ein dynamischer autobiografischer Erkenntnisprozess abbildet, den ich Kriegsenkel-Weg nenne. Dieser Weg kennt einen Anfang und ein Ziel, auf das er sich zubewegt, und er bringt Resultate hervor, die sich sowohl auf den Einzelnen auswirken, der ihn beschreitet, als auch auf sein Umfeld und die Gesellschaft, in der er lebt.

Was macht das Phänomen Kriegsenkel aus? Dieser Frage gehe ich im vorliegenden Buch nach, das in drei Teile gegliedert ist.

Im ersten Teil, »Die Kriegsenkel-Erfahrung«, beschreibe ich die Entwicklung des Themas von den Anfängen bis heute. Was ist damit gemeint, wenn wir Kriegsenkel sagen? Gegen welche Widerstände und Tabus musste angekämpft werden? Warum ist gerade dieses Thema so bedeutsam geworden, und zwar heute und in dieser Zeit? Deutschland ist im Hinblick auf das Thema immer noch ein geteiltes Land, und in den neuen Ländern kommt die Auseinandersetzung damit erst langsam in Gang. Welche Gründe gibt es dafür?

Im zweiten Teil, »Der Weg der Kriegsenkel«, beschreibe ich den Prozess, der sich in der Kriegsenkel-Erfahrung ausdrückt. Dabei gehe ich von den konkreten zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen der Babyboomer in Kindheit, Jugendzeit und Erwachsenenalter aus und zeige, durch welche gesellschaftspolitischen und sozialen Umstände Babyboomer zu Kriegsenkeln wurden. Ich beschreibe die innere Dynamik ihres Weges und stelle die entscheidenden Schritte dar, die schließlich in die alles befreiende, transformierende Einsicht münden – die Entdeckung des transgenerationalen Erbes. Wieder zeigt sich, dass die einzelnen Aspekte der Kriegsenkel-Erfahrung und die jeweiligen Phasen des Kriegsenkel-Weges einem Muster folgen, das kulturgeschichtlich vielfach überliefert ist, nämlich dem Mythos der Heldenreise.

Der dritte Teil dieses Buches, »Wie Kriegsenkel Deutschland verändern«, beschreibt die verändernden Potenziale des Kriegsenkel-Weges, sowohl für das persönliche Leben derjenigen, die ihn gegangen sind, wie auch für unser Land.

Die Babyboomer sind die eigentlichen Pioniere dieses Themas. Sie sind wahre Entdecker, die nicht selten unter hohem persönlichem Einsatz das Wagnis einer Reise in die Vergangenheit eingegangen sind. Sie haben Licht in einen dunklen Keller gebracht, der noch von den Trümmern eines längst vergangenen Krieges verschüttet war. Sie haben sich an ein noch unbearbeitetes Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte herangewagt und dort nach Wahrheit gesucht. Und nicht selten war das unwegsame Land, in das sie sich hineinbegeben mussten, mit Fallen und Minen bestückt.

Diese Pioniere haben oft jahrelang um die Legitimität ihrer Hypothesen und Einsichten in das transgenerationale Erbe ringen müssen. Heute ist ihre Erkenntnis Allgemeingut geworden. Die Wege, die sie gebahnt haben, stehen nun allen offen. Auf ihnen ist Heilung zu finden, neues Selbstvertrauen und Vertrauen in das Leben, die Fähigkeiten zu akzeptieren und zu lieben. Und die Fähigkeit, sich gesellschaftlich einzubringen. Alle, die den Kriegsenkel-Weg gehen, können wissen: Er ist zu schaffen. Dieser Weg hat einen Anfang, und er hat ein Ende.

DIE KRIEGSENKEL-ERFAHRUNG

Ich bin geboren und aufgewachsen in einer Welt voller Hass, in einer Zeit, in der die beißenden Rauchwolken des Krieges sich erst seit recht kurzer Zeit verflüchtigt hatten. Ich machte meinen Weg, und wo ich auch hinkam, spürte ich das Erdreich zittern … Ich konnte zwar mit den Augen nichts wahrnehmen, doch ich spürte, welche unerträgliche Spannung in der Luft lag: Menschen, die ihr Leben lebten und sich dabei selbst fremd waren. Entweder sie reagierten in ganz unangemessenen Ausbrüchen von Gefühlen, oder sie zogen sich in Apathie zurück.

Susanna Tamaro

MANIFEST DER KRIEGSENKEL

Wir suchen den einen Ton,
den Ton unseres Lebens,
auf den wir gestimmt sind,
von Anfang an.
Den Stimmton unserer Existenz
im universellen Einklang des Lebens.

Wir wollen verstehen,
warum wir sind, was wir sind.
Aber wir stoßen an Grenzen und kommen nicht weiter.
Was steht im Weg?
Das müssen wir begreifen.

Unsere Lebensreise gleicht einer Expedition in ein
unbekanntes, wegloses Land.
Antworten suchend,
auf Erklärungen hoffend:
Warum spüre ich den Boden unter meinen Füßen nicht?
Warum habe ich das Gefühl, weniger wert zu sein,
woher dieses Lebensgefühl in Moll,
so voller Unsicherheiten und Ängste
vor allem und jedem?

Warum empfinde ich so?
Wer bin ich?

Unser Leben gleicht einem Purgatorium.
Wir tragen die Stigmata einer dunklen Vergangenheit an
Körper, Geist und Seele.

Wir können nicht entrinnen,
indem wir wegschauen.
Wir müssen unseren Weg gehen,
wie schwer er auch sein mag.

Wir sind eine Generation an der Schnittstelle der Gezeiten unserer Geschichte.
Mit uns endet das Alte, das noch nicht ganz vergangen ist – ein Erbe, das uns ungefragt zugefallen ist.
Und mit uns will etwas Neues beginnen.
Also müssen wir das Erbe austragen, damit dieses Neue zur Welt kommen kann.

Auch uns hat Pontius Pilatus verurteilt, den Kreuzweg zu gehen.

Auch uns ist die Schuld anderer aufgeladen worden.

Wir sind Sühneopfer für Verbrechen,
die in der Jugend unserer Mütter und Väter begangen wurden.

Aber unser Kreuz zerfällt schon,
kaum dass wir begonnen haben, es zu tragen.
Krümelt zu Humus neuen Lebens
im Frühling Europas.

DIE GESCHICHTE UNTER UNSEREN FÜSSEN

Auf der Insel Usedom, am nordöstlichsten Zipfel Deutschlands, erhebt sich ein Hügel, der Golm. Inmitten der ansonsten weitgehend flachen Küstenlandschaft der mecklenburg-vorpommerschen Ostseeküste ist der Golm schon eine Besonderheit. Mit seinen knapp 70 m Höhe stellt er die höchste Erhebung auf Usedom dar und bietet ein einzigartiges Panorama über diesen Abschnitt des Küstenlandes. Für Tausende Besucher, Anwohner wie Urlauber, ist er Jahr für Jahr ein beliebtes Ausflugsziel, aber der Golm ist kein gewöhnlicher Berg.

Am 12. März 1945 wurde die nahe gelegene Hafenstadt Swinemünde von einem verheerenden Luftangriff getroffen. Swinemünde war Stützpunkt der Kriegsmarine und 1945 Auffanglager für etwa 100 000 Flüchtlinge, die aus Ostpreußen vor der Roten Armee geflohen waren und sich auf Schiffen im Hafen, in Notquartieren und im übrigen Stadtgebiet drängten. Etwa 20000 Menschen, überwiegend Flüchtlinge, aber auch Einwohner der Stadt Swinemünde kamen bei diesem Angriff ums Leben. Fast alle wurden in Massengräbern auf dem Golm bestattet, der schon zuvor als Soldatenfriedhof für Heer und Marine Verwendung gefunden hatte.

Der Golm ist heute eine der größten Kriegsgräber- und Kriegsopferstätten in Deutschland. Bis 1945 gehörte er zur Hafenstadt Swinemünde und war schon damals ein gern besuchtes Naherholungsgebiet. Heute liegt er auf dem Gebiet der Gemeinde Garz, unmittelbar an der Grenze zu Polen. Die Toten aber, sie blicken weiterhin auf ihre alte Heimatstadt, die immer noch zu ihren Füßen, nun aber in einem anderen Land liegt und fern erscheint. Swinemünde gehört heute zu Polen und heißt Świnoujście.

Der Luftangriff auf diese Hafenstadt war jahrzehntelang aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Die Grenzverschiebungen nach 1945 und die politischen Verhältnisse im Osten Deutschlands ließen in Mittel- und Osteuropa keine adäquate Gedenkkultur entstehen. Dies änderte sich erst mit der Wende 1989/90. Mittlerweile findet am Jahrestag der Angriffe auf Swinemünde, am 12. März, regelmäßig eine Gedenkveranstaltung auf dem Golm statt.

Nicht allen, vor allem wahrscheinlich vielen Urlaubern nicht, ist die besondere Geschichte dieses Ortes vertraut. Im Grunde befinden sie sich auf einem riesigen Grabhügel, an dessen Flanken Menschen bestattet sind, die früher in der angrenzenden, heute polnischen Stadt lebten. Sie stehen auf einem Boden voller Geschichte und Geschichten, auf einem gewaltigen Gräberfeld, dessen Tote nur zu einem kleineren Teil namentlich bekannt sind.

So steht der Golm am nordöstlichsten Zipfel Deutschlands paradigmatisch für die Situation in diesem Land. Die Menschen in ihm bewegen sich, wo auch immer sie gehen oder stehen, über den Abgründen der Zeit. Nur ein klein wenig unter der Krume, die an der Oberfläche den Wechsel der Jahreszeiten und damit so etwas wie Beständigkeit, Verlässlichkeit, aber auch Normalität bedeutet. Dort ist die Vergangenheit weiter präsent. Dort lebt die Geschichte unseres Landes weiter.

Dies ist nicht nur sinnbildlich gemeint, denn die Vergangenheit macht sich bemerkbar, führt uns ihre Gegenwärtigkeit in vielerlei Hinsicht beständig vor Augen, ganz materiell, aber auch in geistiger Hinsicht. In regelmäßigen Abständen müssen überall in Deutschland Innenstädte und Industrieanlagen geräumt werden, weil bei Bauarbeiten Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt worden sind und entschärft werden müssen. Auf den Schlachtfeldern dieses Krieges werden bis heute gefallene Soldaten exhumiert, manchmal Angehörige der Wehrmacht und der Roten Armee dicht nebeneinanderliegend wie auf den Seelower Höhen östlich von Berlin.

Und wer wüsste nicht, wie lebendig die geistigen Hinterlassenschaften der nationalsozialistischen Ideologie noch immer sind, deren Gespenster uns ganz aktuell unter den Stichworten »NSU« und »Pegida«, aber auch in Gestalt grassierender Fremdenfeindlichkeit in einer nie da gewesenen Anschlagswelle auf Flüchtlingsunterkünfte begegnen.

Besuchern, die den Golm erstiegen haben, eröffnet sich ein großartiges Panorama auf die Stadt Świnoujście. Wie in einem Brennglas steht der weithin sichtbare Hügel für die Überlagerung historischer Räume in der Mitte Europas. Swinemünde und sein Aussichtsberg gehörten bis 1945 so selbstverständlich zum Deutschen Reich wie Breslau und Berlin. Wohl niemand hätte sich zu dieser Zeit ausmalen können, dass sich nicht nur die Stadtgrenzen dieser Hafenstadt weiter nach Osten, in Richtung Zentrum verschieben könnten, sondern dass einmal eine Staatsgrenze von Norden nach Süden durch die Stadt laufen würde, ähnlich wie in Berlin zur Zeit der Mauer. Die Westverschiebung Polens, von den Alliierten im Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta endgültig beschlossen, führte dazu, dass die Grenze der Volksrepublik Polen plötzlich unmittelbar westlich der Stadt entlangführte.

Nachdem das sogenannte Großdeutsche Reich seinen Untergang selbst herbeigeführt hatte, lag der Golm an der nordöstlichen Grenze der SBZ, der sowjetischen Besatzungszone, und ab 1949 in der DDR. Die Wende und die darauf folgende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten machten diese Grenze wieder durchlässig. 2004 wurde Polen in die Europäische Union aufgenommen. Eine Staatengrenze zwischen der Stadt Świnoujście und ihrem früheren Hausberg existiert zwar noch, aber sie ist für die Menschen in dieser Gegend und Besucher kaum noch wahrnehmbar. Heute sind beide Teile des alten Swinemünde im supranationalen Organismus der Europäischen Union wiedervereinigt.

Die Toten im Boden unter unseren Füßen, nicht nur diejenigen, die auf den großen Kriegsgräberstätten ihre letzte Ruhe gefunden haben, sondern auch die unzählbaren, die noch ungeborgen in der Erde ruhen, sie alle stehen für die Abgründigkeit der deutschen Geschichte und für das damit verbundene Trauma der Weltkatastrophe in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Zahlen sprechen Bände: Im Jahr 2014 (!) wurden vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge 31 698 Gefallene des Zweiten Weltkriegs exhumiert, überwiegend in Weißrussland, Russland, der Ukraine und Polen. 2015 sollten ca. 29 000 Kriegstote umgebettet, das heißt exhumiert und neu bestattet werden.

Am ersten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2016 wurden in Augsburg 54 000 Menschen aus ihren Häusern und Wohnungen evakuiert, damit eine britische Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg geborgen und entschärft werden konnte. Die große Zahl der Evakuierten war notwendig geworden, weil die Bombe des Typs HC 4000 LB mit einem Gewicht von 1,8 t zu den Luftminen mit der größten Zerstörungskraft der Royal Air Force gehörte. Für die Stadt Augsburg bedeutete dies die größte Evakuierungsaktion seit dem Ende des Krieges. Die Süddeutsche Zeitung vom 20. Dezember 2016 listete einige der Entschärfungsaktionen auf, die es zuvor gegeben hatte: Am 27. November 2016 mussten 8000 Menschen in Osnabrück in Sicherheit gebracht werden, um eine 250-kg-Fliegerbombe entschärfen zu können. Am 6. Dezember wurden in Berlin 2600 Personen wegen einer 50-kg-Bombe evakuiert; am 7. Dezember mehr als 1000 Menschen in München wegen einer 250-kg-Fliegerbombe und am 12. Dezember 1100 Menschen in Köln wegen einer 500-kg-Bombe.

Experten schätzen, dass zwischen 5 und 15 Prozent der über deutschen Großstädten abgeworfenen Bomben nicht explodierten. Etwa 100 000 Blindgänger liegen immer noch im Erdreich der Städte, unmittelbar unter der Oberfläche, unter Gebäuden, Straßen und Plätzen. Eine systematische Suche nach ihnen gibt es nicht. Wenn solche Blindgänger entdeckt werden, dann meist zufällig bei Bauarbeiten. Die Kosten gehen jährlich in die Millionen, die Fachleute der Kampfmittelräumdienste schätzen, dass diese Art der Vergangenheitsbewältigung noch Jahrzehnte weitergehen wird.

Der Boden Europas ist von der katastrophalen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts buchstäblich durchtränkt, nicht nur in Deutschland ist das so. Man muss nur genau hinschauen, dann zeigt sich eine andere Geschichte als die, die uns die Oberfläche unserer Gegenwart präsentiert.

Der Direktor des Humboldtforums im neu aufgebauten Berliner Stadtschloss, der Brite Neil MacGregor, organisierte in seiner früheren Funktion als Direktor des British Museum in London eine furiose Ausstellung unter dem Titel »Deutschland – Erinnerungen einer Nation«. In seinem gleichnamigen Buch findet sich das Bild eines Kanaldeckels aus Kaliningrad. Nun möchte man meinen, dass Kanaldeckel vielleicht nicht unbedingt zu den bevorzugten Objekten eines derart renommierten Hauses wie des British Museum gehören sollten. Doch dieser Kanaldeckel trägt – mitten in der lange unzugänglichen russischen Enklave und nach der gründlichen stalinistischen Auslöschung der preußischen Vergangenheit – die Aufschrift: »1937 – Königsberg«. Er ist ein stummer Zeuge der deutschen Geschichte von Kaliningrad, die 1945 ihr Ende gefunden hatte.

In der Hauptstadt der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien, Wroclaw, wurde kürzlich mit der Restaurierung eines alten Straßenbahnwagens Baujahr 1915 begonnen. Der ramponierte Wagenkasten hatte die Zeitläufte bis heute wundersamerweise überdauert. Vor dem gotischen Rathaus der Stadt wurde auf großen Tafeln auf das Restaurierungsprojekt des dortigen Verkehrsbetriebes hingewiesen. Eine Zeichnung zeigte das demnächst wieder in den historischen Originalzustand zurückversetzte Fahrzeug mit der Nummer 325 und der Eigentümerkennung der »Breslauer-Straßen-Eisenbahn-Verkehrsgesellschaft«.

Im Fußgängertunnel unter den Bahnsteigen des Hauptbahnhofs, Wroclaw Glowny, findet sich die Gravur »Ausgang Flurstraße« – auf Deutsch.

Wir leben in einem Land, das eine sichtbare, begreifliche Gegenwart und eine unsichtbare, unbegreifliche Tiefe besitzt. Seine Gestalt heute bildet weder seine Geschichte noch seine Entwicklung in ihrer ganzen Tiefendimension ab. Bedeutende und weniger bedeutende deutsche Geschichtsorte befinden sich außerhalb seiner Grenzen. Breslau, Danzig, Königsberg sind heute keine deutschen Städte mehr und liegen in anderen Staaten. Wir haben uns über viele Jahre, bedingt durch den Kriegsausgang, den Kalten Krieg und die ideologische Konfrontation von Ost und West, nicht mehr für ihr Schicksal interessiert.

Da die Orte immer mehr in die Ferne rückten, übersahen wir lange auch das Schicksal ihrer früheren Bewohner. Aber diese Bewohner waren unsere Mütter und Väter, manchmal auch unsere Geschwister, sie waren unsere Großmütter, Großväter, Onkel und Tanten. Und plötzlich, mit dem Fall der Grenzen in Europa vor einem Vierteljahrhundert, waren diese Städte und Regionen wieder da. Und mit ihnen forderte das Schicksal unserer Angehörigen unsere Aufmerksamkeit.

EIN BABYBOOMER-THEMA PAR EXCELLENCE

Wir bahnen, wandern unseren Weg,
an Gestaden hin durch Schatten, von Erscheinungen bedrängt.

Walt Whitman

Angesichts der wachsenden Bedeutung, die das Thema Kriegsenkel derzeit erfährt, stellt sich nicht nur die Frage nach seiner Relevanz für die individuelle Biografiearbeit. Die Frage stellt sich auch, warum Begriff und Thema gerade jetzt, zu dieser Zeit, wichtig geworden sind. Ist es ein Zufall, dass nach dem Kriegskinder-Thema ab den 1990ern seit etwa zehn Jahren auch das Interesse an diesem Thema zunimmt und weiter steigt?

In diesem Buch werden keine individuellen Kriegsenkel-Biografien vorgestellt. An Veröffentlichungen über Kriegsenkel, ihre Erfahrungen und Probleme herrscht inzwischen kein Mangel mehr. Schon die ersten populären Bücher zum Thema, Anne-Ev Ustorfs »Wir Kinder der Kriegskinder« von 2008, Sabine Bodes »Kriegsenkel – die Kinder der vergessenen Generation«, das 2009 erschienen ist, führten uns einzelne Lebensgeschichten und Kriegsenkel-Schicksale vor Augen. Silke Satjukow mit ihrer Anthologie »Kinder von Flucht und Vertreibung«, Hilke Lorenz’ Reportage »Weil der Krieg unsere Seelen frisst«, das Buch von Anne Drescher und ihren Mitautorinnen »Bis ins vierte Glied«, die literarisch angelegte Anthologie von Rosemarie Zens und Roswitha Schieb, »Zugezogen«, und andere Veröffentlichungen setzen diese Reihe fort.

Auch autobiografisch inspirierte Titel haben das transgenerationale Thema mehrfach aufgegriffen. Katharina Ohanas »Ich, Rabentochter«, Ulrike Draesners Generationenroman »Sieben Sprünge vom Rand der Welt«, Sabine Rennefanz’ »Die Mutter meiner Mutter«, Matthias Lohres »Das Erbe der Kriegsenkel« oder aktuell Raimund Ungers »Die Heimat der Wölfe« variieren den Facettenreichtum des Kriegsenkel-Komplexes.

Der Tagungsband »Die dritte Generation und die Geschichte«, der 2016 vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg herausgegeben wurde und die Laupheimer Gespräche des Vorjahres resümiert, legt schließlich einen interessanten weiteren Aspekt unseres Themas offen, nämlich die Erfahrung jüdischer Kriegsenkel. Die Beschäftigung mit den generationenübergreifenden Folgen der Shoa für die Nachkommen der Opfer setzte bereits in den 1980er-Jahren und damit zwei Jahrzehnte früher ein, bevor das Thema auch in Deutschland von einer breiteren Öffentlichkeit aufgegriffen wurde. In »Die dritte Generation und die Geschichte« fragen jüdische Kriegsenkel nicht mehr nur nach den transgenerationalen Folgen der Shoa, sondern verstärkt auch nach ihrer Identität im heutigen Deutschland, das ja immer noch das Land der Täter ist.

Es gibt gemeinsame Aspekte, die diejenigen miteinander verbindet, die sich mit dem Thema Kriegsenkel auseinandersetzen: Besonderheiten der Eltern-Kind-Beziehung, die Haltung zum Beruf, die Wahrnehmung von Beziehung und eigener Familie, Kinder – all dies und mehr deutet auf verwandte Konstanten in den verschiedenen Biografien hin. Das Thema entfaltet sich vor dem Hintergrund von Familienzusammenhängen, die vom Nationalsozialismus und von der von ihm ausgelösten Weltkatastrophe geprägt worden sind. Der historische Horizont ist bei jedem, für den das Thema relevant geworden ist, derselbe.

Diese Gemeinsamkeiten sind der Gegenstand des vorliegenden Buches, auf sie beziehe ich mich, wenn ich den Terminus »Kriegsenkel-Erfahrung« verwende. Die Kriegsenkel-Erfahrung ist folglich eine Abstraktion der vielen individuellen Erfahrungen, die mit dem Thema verbunden sind. Es geht mir darum, Typisches zu zeigen, um die tiefer liegenden Strukturen und Wirkmechanismen dieser besonderen Erfahrung offenzulegen, an der viele Menschen in Deutschland partizipieren.

Warum gehe ich diesen Weg? Würde es nicht reichen, weiterhin individuelle Fallstudien zu präsentieren? Nein! Heute muss niemand mehr Belege dafür sammeln, dass ein psychologischer Vorgang namens »transgenerationale Weitergabe« tatsächlich existiert. Dies war der Zweck der zuerst veröffentlichten Sammlungen von biografischen Fallstudien, nämlich zunächst einmal ein Bewusstsein für das Vorhandensein und die individuelle Relevanz einer Kriegsenkel-Erfahrung herzustellen. Inzwischen ist dies gut belegt, u.a. durch die sozialpsychologische Forschung.

Mittlerweile geht es darum, den nächsten Schritt zu gehen. Wenn wir verstanden haben, dass das Erbe von Diktatur und Krieg generationenübergreifend weiterwirkt, dann stellt sich natürlich auch die Frage, wie es auf der gesellschaftlichen Ebene wirkt, also nicht nur im persönlichen Leben des Einzelnen, sondern kollektiv. Darauf spielt der Untertitel des vorliegenden Buches an: »Kriegsenkel verändern Deutschland«. Die Auseinandersetzung mit dem innerhalb der Familien in Deutschland virulenten nationalsozialistischen Erbe trägt Früchte. Welche dies sind, in welcher Hinsicht und in welchen Bereichen sich die familienbiografische Arbeit der mittleren Generation in unserem Land auswirkt, auch darum geht es in diesem Buch.

Zuvor jedoch gilt es zu verstehen, worin das Wesen jener Erfahrung besteht, die ich als Kriegsenkel-Erfahrung bezeichne. Was macht die Kriegsenkel-Erfahrung in ihrem Kern aus? Welche Aspekte und welche Merkmale gehören zu ihr? Gibt es immanente Strukturen und Komponenten, die wesensmäßig zu dieser Kriegsenkel-Erfahrung gehören? Wie lässt sich das Gemeinsame beschreiben, das allen individuellen Erfahrungen innewohnt? Was ist ihre Essenz, ihr Wesenskern?

Um diese Fragen zu beantworten, untersuche ich das Zustandekommen und die Entwicklung der Kriegsenkel-Erfahrung. Da sich Erfahrungen aber nicht im gesellschaftsfernen, leeren Raum einstellen, sondern von den jeweils herrschenden Zeitbedingungen abhängen, ist die jeweilige Zeitgeschichte mein Bezugsrahmen.

Dafür unterteile ich sie in die biografischen Abschnitte Adoleszenz (Nebeljahre), Weg in die Selbstständigkeit (Überleben im Flachland), Zeit bis zur Lebensmitte (Chronifizierung der Vorläufigkeit) und zeichne schließlich den Weg bis zur Entdeckung des transgenerationalen Erbes nach. Ich frage jeweils nach den Besonderheiten der zeitgeschichtlichen Entwicklungen, in die jede Phase eingebettet ist, um die einzelnen Aspekte der Kriegsenkel-Erfahrung herauszuarbeiten. Betrachtet man diese Phasen in ihrer chronologischen Abfolge, dann entsteht das, was ich als den Kriegsenkel-Weg bezeichne. Ihn interpretiere ich anschließend mithilfe des in der Kulturgeschichte reichlich belegten Mythos von der Heldenreise, bevor ich der Frage nachgehe, wie sich die Kriegsenkel-Erfahrung auf unser Land und unsere Gesellschaft auswirkt.

Das Kriegsenkel-Thema ist das Babyboomer-Thema par excellence. Die geburtenstarken Jahrgänge haben als Erste die Beziehung zu ihren Eltern untersucht und nach Verbindungslinien zwischen ihrer eigenen Lebensgeschichte und den Erfahrungen ihrer Kriegskinder-Eltern in den dunklen deutschen Jahren gefragt. Hier findet keine partikulare Weltsicht einer Minderheit ihren Ausdruck, sondern ein Lebensgefühl, das viele Deutsche inzwischen teilen. Der Begriff Kriegsenkel bringt auf den Punkt, was von zahlreichen Menschen in diesem Land für wesentlich gehalten wird.

Aber auch viele jüngere Menschen, die nicht mehr den geburtenstarken Jahrgängen angehören, bezeichnen sich als Kriegsenkel. Sie müssen nicht mehr den mühsamen und langen Weg gehen, den die Babyboomer ihnen vorausgegangen sind, sondern sie können von dem bereits Erreichten und von den vielfach kommunizierten Erkenntnissen profitieren. Dennoch waren es die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge in Deutschland, die heute etwa 40- bis 60-Jährigen, die die Sprache für den transgenerationalen Wirkungszusammenhang entwickelt und diese mit ihren Erfahrungen aufgeladen haben. Sie haben das Wort geschliffen und das Thema gesetzt. Ihre Einsichten und ihr Lebensgefühl drücken sich im Begriff Kriegsenkel aus.

Sie sind die Wegbereiter, die das Thema nicht nur sich selbst, sondern auch kommenden Generationen erschlossen haben. Deshalb gehe ich von der Lebensgeschichte der Babyboomer aus und befrage die Jahrzehnte ihrer Lebenszeit nach den charakteristischen Elementen der Kriegsenkel-Erfahrung.

Mir geht es nicht um eine Reduktion der biografischen Vielfalt von Kriegsenkel-Identitäten, auch nicht um die Einebnung ihrer individuellen Bedeutung. Mein Ziel ist es vielmehr, eine vergessene Dimension menschlicher Existenz in ihrer universellen Bedeutung aufzuzeigen. Indem ich die Kriegsenkel-Erfahrung anhand der geburtenstarken Jahrgänge beschreibe, zeige ich zugleich etwas Allgemeingültiges. Die generationenübergreifenden Wirkungszusammenhänge, die wir hier an diesem Beispiel erkennen können, finden auch anderswo statt. Gewaltregime, Kriege, erzwungene Flucht und Vertreibung, die durch sie hervorgerufenen Traumatisierungen beschädigen nicht nur die Opfer selbst. Sie entfalten eine Wirkung weit über die Betroffenengeneration hinaus und erreichen auch das Leben ihrer Kinder und Enkel, das sie belasten und in seiner guten Entwicklung beeinträchtigen können.

Die Flucht und Vertreibung der Deutschen als zentraler Kriegsenkel-Faktor

In meiner Darstellung nehme ich immer wieder Bezug auf die Flucht und Vertreibungserfahrung und die damit verbundenen Folgen für die deutsche Zivilbevölkerung am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Mehrzahl der Kriegsenkel hat einen solchen familiären Hintergrund. Die Zahl der Betroffenen ist in der Tat gewaltig: 12 bis 15 Millionen Menschen wurden zu Heimatvertriebenen, zwei Millionen überlebten die Flucht nicht. Die Bombardierung deutscher Städte, die den Durchhaltewillen der Bevölkerung brechen sollte, forderte weitere 500000 Opfer. Die Zahlen zeigen: Flucht und Vertreibung sind ein zentrales Kriegsenkel-Thema.

Über die Anzahl der von Soldaten der Roten Armee vergewaltigten Frauen und Mädchen am Ende des Krieges liegen keine genauen Daten vor, man geht von hunderttausend bis maximal zwei Millionen Betroffenen aus. Hinzu kamen Millionen traumatisierter Soldaten der deutschen Wehrmacht, die nicht nur das Grauen der Front erlebt, sondern auch die Kriegsgefangenschaft hinter sich hatten.

Am Thema Flucht und Vertreibung lassen sich die inneren Zusammenhänge und die Essenz der Kriegsenkel-Erfahrung anschaulich herausarbeiten. Es zeigt, worum es im Wesentlichen geht. Die gewonnenen Erkenntnisse sind deshalb für den gesamten Themenkomplex Kriegsenkel relevant, mithin also auch für diejenigen, in deren Familienhintergrund weder eine dramatische Flucht noch eine dramatische Fronterfahrung zu finden ist, sondern »nur« der Alltag unter dem Hakenkreuz.

Die Folgen der dramatischen Gebietsverschiebungen und -verluste nach dem Zweiten Weltkrieg betreffen alle Deutschen, ob sie einen Vertriebenenhintergrund besitzen oder nicht. Ebenso betrifft uns alle die moralische Verantwortung für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Eine Folge für unser Land ist, dass prägende Kultur- und Geschichtsräume für Deutschland verloren gegangen sind. Auch vor diesem Hintergrund ist es wichtig, den Gesichtspunkt von Flucht und Vertreibung in einer Phänomenologie der Kriegsenkel-Erfahrung besonders auszuleuchten, weil die Auseinandersetzung mit dem transgenerationalen Erbe heimatvertriebener Eltern auch den Blick ihrer Kinder auf deren Herkunftsorte erforderlich macht. Dies führt schließlich zu einer neuen, von den Dämonen der Vergangenheit befreiten Begegnung mit dem historischen Deutschland im heutigen Europa, wie ich im dritten Teil dieses Buches zeigen werde.

GEAHNTE WAHRHEITEN

Damit ich mich ein bisschen besser verstehen kann, muss ich um die Vergangenheit wissen. Nur dann kann ich in der Gegenwart leben. Und nur dann wird Zukunft möglich.

Andrea Schwarz

Für die historische Zeitempfindung gilt im Grunde das Gleiche wie für die individuelle Zeitwahrnehmung. Wir unterscheiden zwischen der objektiven und der subjektiven Zeit. Die objektive Zeit, das ist diejenige, die wir mit unseren Uhren messen. Sie folgt, wo auch immer wir uns aufhalten, den gleichen physikalischen Prozessen. Sie verläuft immer gleichmäßig im Stunden-, Minuten- und Sekundentakt. Völlig anders die subjektive Zeit. Sie ist stark an die Intensität unseres Lebens gekoppelt und verläuft in schönen Momenten viel zu schnell und in anderen, die wir als weniger schön oder unangenehm empfinden, zäh und viel zu langsam ab. Wir sagen dann: Die Minuten dehnen sich zu Stunden, obwohl die Uhr an unserem Armgelenk weiter in ihrem gleichmäßigen Takt schlägt.

Auch unsere subjektive Wahrnehmung historischer Zeiten folgt nicht dem ebenmäßigen Takt der Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte. Schüler in Mitteldeutschland, die nach der Wende geboren wurden, empfinden die DDR oft als so weit weg wie den Dreißigjährigen Krieg. Ähnlich ging es vielen Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge, was die Nazizeit und den Zweiten Weltkrieg betrifft. In ihrer Kindheit, manchmal auch noch als junge Erwachsene, schien ihnen diese Vergangenheit »ewig her« zu sein, so weit weg wie das deutsche Kaiserreich und die napoleonischen Kriege. Erst spät wurde ihnen klar, dass das Kriegsende 1945 gerade einmal 10, 15 oder 20 Jahre zurücklag, als sie auf die Welt kamen.

Mit zunehmendem Alter wird die Einschätzung immer präziser, wie vergangen die Vergangenheit denn wirklich ist. Was in Kindheit und Jugend noch unendlich weit weg schien, rückt in späteren Jahren viel näher an das Bewusstsein heran, erscheint viel weniger vergangen, als es lange empfunden wurde. Das hat damit zu tun, dass die Vergangenheit in Gestalt der eigenen Familiengeschichte bzw. der Geschichte der eigenen Nation auf einmal Relevanz für das eigene Leben gewinnt; Wir begreifen allmählich, dass diese Geschichte Aspekte enthält, die die eigene Biografie konkret und nachweisbar beeinflussen.

Die Vergangenheit ist niemals wirklich vergangen, sondern sie wirkt in tausenderlei Facetten in die Gegenwart hinein. Diese Erkenntnis ist nicht neu, sie ist Bestandteil der menschlichen Erfahrungsgeschichte durch alle Zeiten. In den Jahren und Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde sie auch für uns Deutsche zu einer vertrauten Konstante unseres Selbstverständnisses.

Neu ist das Bewusstsein, dass die Einflüsse und Wirkkräfte der Geschichte nicht abstrakt und anonym im Raum des Kollektiven verbleiben, sondern einen konkreten, nachweisbaren Einfluss auf die Lebensgeschichte des Einzelnen ausüben können und dass diese Einflüsse auch dort existieren, wo Aspekte der Geschichte lange Zeit ausgeblendet wurden. Dieses Bewusstsein begann sich in Deutschland spürbar ab Mitte des vergangenen Jahrzehnts zu entwickeln.

Ein neuer Generationenbegriff entsteht

Es ist die mittlere Generation in Deutschland, der immer klarer wird, dass sie ein untrennbarer Teil der Geschichte des Landes ist, in dem sie aufgewachsen ist, und dass dessen Geschichte in ihr individuelles Leben hineinwirkt – fundamentaler, stärker, prägender, als dies noch vor wenigen Jahren zu vermuten gewesen wäre. Als Sinnbild für diese Entwicklung und als prägender Inbegriff hat sich »Kriegsenkel« durchgesetzt. Schon ist von einer »Generation Kriegsenkel« die Rede, manche sprechen auch von einer »Kriegsenkel-Bewegung«.

Der Begriff Kriegsenkel selbst hat eine enorme Identifikationskraft entfaltet. Noch vor etwa zehn Jahren war er nur Insidern geläufig, und wer davon hörte, der konnte meinen, es handele sich eher um eine esoterische Angelegenheit, zumal sich seine genaue Bedeutung dem Uneingeweihten nicht auf den ersten Blick erschließt. Inzwischen hat er sich aber auf breiter Ebene etabliert, gilt als seriös und wird in fachlichen Zusammenhängen ebenso verwendet wie in Presse, Funk und Fernsehen.

Wer ist mit »Kriegsenkel« gemeint?

Es ist nicht einfach, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem der Begriff »Kriegsenkel« zum ersten Mal in Erscheinung getreten ist. Klar ist, dass er von »Kriegskinder« abgeleitet wurde, einem Terminus, der schon in den 1990er-Jahren aufkam. Im Gegensatz zum noch zu beschreibenden Bedeutungsgehalt des Wortes Kriegsenkel verfügt dieser über eine – ich will es so nennen – größere Verwurzelung im Faktischen, weil es konkrete historische Prozesse selbst waren, nämlich NS-Diktatur und Krieg, die das Leben und Schicksal der Kriegskinder prägten.

Kriegsenkel sind also ihrerseits die Kinder, nämlich die unmittelbaren Nachkommen der Kriegskinder. Als Kriegskinder werden Menschen bezeichnet, die während des Nationalsozialismus, im Krieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch im Kindes- oder Jugendlichenalter waren. Aufgrund ihres Alters waren sie in ihrer großen Mehrheit zwar Mitglied in den entsprechenden Parteiorganisationen, »Jungvolk«, »Bund deutscher Mädel«, »Hitlerjugend«, aber wohl kaum an den Verbrechen der Nationalsozialisten oder an Kriegshandlungen beteiligt. Dies ist eine im Hinblick auf die sozialpsychologische Diagnostik der Nachkriegsgenerationen wichtige Aussage. Altersbedingt wurden sie stattdessen tendenziell eher Opfer der damaligen Zeitumstände, weil sie der Gewalt und dem Krieg, aber auch den Entbehrungen während der Flucht und Vertreibung nur wenig entgegenzusetzen hatten.

Die Kriegskinder ordnet man meist den Geburtsjahrgängen zwischen 1930 und 1945 zu. Verschiedentlich ist aber auch zu hören, dass diese Zeitspanne variabler ausfallen könnte und um einige Jahre nach hinten bzw. nach vorne verlängert werden sollte. So würden auch die Weltwirtschaftskrise in der Weimarer Republik und die chaotischen Nachkriegsjahre sowie die furchtbaren Vertreibungswellen von 1946 bis 1948 in die Geburtsspanne der Kriegskinder mit einbezogen werden.