Cover

Das Buch

Seit er sich erinnern kann, lebt der Waisenjunge Fletcher in einem kleinen Dörfchen weit im Norden von Hominum, fast an der Grenze zum Elfenland. Obwohl der gutmütige Schmied Berdon ihn wie seinen eigenen Sohn aufgezogen hat, ist Fletcher immer ein Außenseiter geblieben. Eines Tages bekommt er von einem Gaukler ein Buch über Dämonenbeschwörungen geschenkt, und obwohl er eigentlich nicht an diesen Unsinn glaubt, schleicht er sich in der Nacht auf den kleinen Dorffriedhof und rezitiert eine der Beschwörungsformeln. Kaum hat er die letzte Silbe gesprochen, erscheint wie aus dem Nichts ein kleiner, Feuer spuckender Dämon namens Ignatius! Als Fletcher kurz darauf eines Verbrechens angeklagt wird, das er nicht begangen hat, müssen er und Ignatius fliehen. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zu einer geheimnisvollen Akademie, auf der Fletcher zum Dämonenkrieger ausgebildet werden soll, denn Orks drohen, die Welt der Menschen zu überfallen, und einzig die Dämonenkrieger können sie aufhalten. Für Fletcher ist es der Beginn eines atemberaubenden und lebensgefährlichen Abenteuers …

Der Autor

Taran Matharu wurde 1990 in London geboren und entdeckte schon früh seine Leidenschaft für Geschichten. Nach seinem BWL-Studium und einem Praktikum bei Random House UK schrieb er 2013 seinen ersten Roman Die Dämonenakademie, der auf der Leserplattform Wattpad innerhalb kürzester Zeit zum Publikumsliebling avancierte. Seither widmet sich Taran Matharu ganz dem Schreiben. Der Autor lebt und arbeitet in London.

TARAN MATHARU

DIE
DÄMONEN
AKADEMIE

DIE SAGA IN EINEM BAND

Aus dem Englischen übersetzt
von Michael Pfingstl

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der Originalausgaben:
THE SUMMONER
THE INQUISITION
THE BATTLEMAGNE


Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Redaktion: Joern Rauser

Copyright © 2015, 2016, 2017 by Taran Matharu

Copyright © 2019 dieser Ausgabe und der Übersetzungen
by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München

Umschlagillustration und Karte: Małgorzata Gruszka

Illustrationen Dämonenlexikon: David North

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

ISBN 978-3-641-24393-7
V001
www.heyne-fliegt.de

Band 1

Der Erwählte

1

JETZT ODER NIE. Falls Fletcher danebenschoss, musste er hungrig ins Bett. Es dämmerte schon, und er war spät dran. Wenn er es nicht rechtzeitig zurück zum Dorf schaffte, wäre das Tor bereits verschlossen, und dann müsste er entweder die Wachen mit Geld bestechen, das er nicht hatte, oder im Wald schlafen.

Gerade hatte sich der Elch an einer mächtigen Kiefer den Flaum vom Geweih geschabt. An der Größe und Statur sah Fletcher, dass es sich um ein Jungtier handelte – ein prachtvolles Exemplar mit glänzenden, klugen Augen, das dieses Jahr sein erstes Geweih trug. Fletcher schämte sich beinahe, einem so schönen Geschöpf nachzustellen. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sich schon jetzt auszumalen, wie viel er dafür bekäme. Das dicke Fell würde bei den Händlern einen guten Preis einbringen, vor allem jetzt im Winter. Bestimmt fünf Schilling oder noch mehr. Das Geweih war in hervorragendem Zustand, wenn auch ein wenig klein. Vier Schilling, wenn er Glück hatte. Am meisten hatte er es jedoch auf das rote, saftige Fleisch abgesehen. Fletcher konnte beinahe hören, wie das Fett zischend ins Kochfeuer tropfte.

Dichter Nebel hing in der Luft, der sich wie Tau auf seiner Kleidung niederschlug. Im Wald war es ungewöhnlich still. Normalerweise fuhr der Wind raschelnd durch die Äste und übertönte jedes Geräusch, das er beim Pirschen machte, im Augenblick aber traute sich Fletcher kaum zu atmen. Er nahm seinen Bogen von der Schulter und legte einen Pfeil auf die Sehne. Es war sein bester, der Schaft schön gerade, mit einer Befiederung aus echten Gänsefedern, nicht dem billigen Truthahnzeug, das es auf dem Markt zu kaufen gab. Er nahm einen flachen Atemzug und spannte die Sehne. Sie fühlte sich glitschig an. Fletcher hatte sie mit Gänsefett eingeschmiert, um sie vor der feuchten Luft zu schützen.

Er spähte am Schaft entlang und richtete die Spitze auf den Elch aus. Fletcher kauerte etwa zehn Schritt entfernt im hohen Gras, es war ein schwieriger Schuss, aber bei Windstille würde zumindest keine Böe den Pfeil aus der Bahn wehen.

Er ließ vollkommene Ruhe in Körper und Geist einkehren, wie er es durch mühselige Erfahrung gelernt hatte, atmete dann aus und ließ los. Fletcher hörte das Schwirren der Sehne und schließlich das dumpfe Klatschen, mit dem der Pfeil einschlug.

Es war ein großartiger Schuss, genau in die Brust. Die Spitze drang durch die Lunge und mitten ins Herz. Der Elch brach zusammen und wühlte in seinen Todeszuckungen den Waldboden ringsum auf.

Fletcher spurtete los und zog noch im Laufen sein Häutemesser aus der Oberschenkelscheide, aber das Tier war bereits tot, bevor er es erreichte. Ein schneller, sauberer Tod, wie Berdon gesagt hätte. Aber Töten war nie sauber. Das schaumige Blut, das aus dem Maul des Elchs quoll, zeigte es in aller Deutlichkeit.

Vorsichtig zog Fletcher den Pfeil heraus. Der Schaft war noch heil, nicht einmal die Spitze aus Feuerstein war an den Rippen des Tiers gesplittert. Fletcher war zwar ein guter Pfeilmacher, aber die Zeit, die es ihn jedes Mal kostete, ärgerte ihn. Viel lieber arbeitete er in Berdons Schmiede und schlug mit dem Hammer ein glühendes Eisen in Form. Vielleicht mochte er einfach die Hitze dort und den befriedigenden Schmerz in den Muskeln nach einem Tag harter, ehrlicher Arbeit. Oder es lag an dem Geld, das Berdon ihm bezahlte. Die schweren Münzen fühlten sich in Fletchers Taschen gut an.

Der junge Elch war schwer, aber bis zum Dorf war es nicht weit. Das Geweih bot sich als praktischer Griff an, und der Kadaver ließ sich ohne allzu große Mühe über das feuchte Gras ziehen. Das einzige Problem waren jetzt noch die Wölfe und Wildkatzen. Immer wieder kam es vor, dass sie einen Jäger auf dem Heimweg um seine Mahlzeit brachten, manchmal sogar um sein Leben.

Fletchers Jagdgründe lagen auf den Hängen der Bärenzahnberge. Der Name rührte von den zwei charakteristischen spitzen Gipfeln her, die wie Reißzähne aussahen. Das Dorf lag in dem Joch genau dazwischen, den einzigen Zugang bot eine steile Schotterstraße, die vom Tor aus gut einzusehen war. Die gesamte Siedlung wurde von einer hohen, hölzernen Palisade umfasst, aus der in regelmäßigen Abständen Wachtürme ragten, aber Überfälle waren selten. Während der fünfzehn Jahre, die Fletcher nun schon auf der Welt war, hatte es nur einen einzigen gegeben. Glücklicherweise hatte es sich damals lediglich um eine kleine Bande Banditen gehandelt, nicht um einen Überfall der Orks, die sich so hoch im Norden und weit entfernt vom Dschungel nur selten blicken ließen. Dennoch nahm der Rat die Bewachung des Dorfes sehr ernst, und wer nach der neunten Glocke am Tor auftauchte, bekam ernsthafte Schwierigkeiten, wenn er noch eingelassen werden wollte.

Fletcher stapfte durch das dichte Gras neben der Straße und schleifte den Elch hinter sich her. Auf keinen Fall wollte er das wertvolle Fell beschädigen. Pelze und Tierhäute gehörten zu den wenigen Handelsgütern, die sein Dorf zu bieten hatte. Sie hatten ihm auch seinen Namen gegeben: Pelz.

Der Weg bergauf war steil und mühsam, vor allem bei hereinbrechender Dunkelheit. Die Sonne war bereits hinter einem Kamm verschwunden, und Fletcher wusste, dass die Glocke jeden Augenblick läuten würde. Er biss die Zähne zusammen und beschleunigte seinen Schritt, rutschte prompt aus und schlug sich das Knie auf. Dann fluchte er laut, erst recht, als er das Tor sah: Es war geschlossen. Die Nachtwache hatte bereits ihre Laternen entzündet. Offensichtlich hatten die nichtsnutzigen Büttel früher Schluss gemacht und waren schon auf dem Weg in die Taverne.

»Ihr faulen Hunde, die neunte Glocke hat noch nicht mal geläutet«, rief Fletcher und ließ das Elchgeweih los. »Lasst mich rein! Ich werde nicht hier draußen übernachten, nur weil ihr es nicht erwarten könnt, euch um den Verstand zu saufen!« Er trat mit dem Stiefel gegen das Tor.

»Schon gut, Fletcher, immer mit der Ruhe. Hier drinnen gibt es brave Bürger, die jetzt gern schlafen würden«, ertönte eine Stimme von oben. Das war Didric. Mit einem hinterhältigen Grinsen auf dem rundlichen Gesicht lehnte er sich über die Brüstung.

Fletcher zuckte zusammen. Ausgerechnet Didric Cavell, der Schlimmste von allen, musste heute Nachtwache haben. Er war fünfzehn, also genauso alt wie Fletcher, führte sich aber auf wie ein Erwachsener. Fletcher mochte ihn nicht. Didric war ein Fiesling und immer auf der Suche nach der nächsten Gelegenheit, seine Macht auszuspielen.

»Ich habe die Tagwache heute früher nach Hause geschickt. Ich nehme meine Pflichten nämlich sehr ernst, musst du wissen. Morgen kommen die Händler, da kann man nicht vorsichtig genug sein. Man weiß nie, was für Gesindel da draußen herumschleicht.« Didric amüsierte sich königlich über die kleine Spitze.

»Lass mich rein, Didric. Wir wissen beide, dass die Tore bis zur neunten Glocke geöffnet bleiben müssen«, erwiderte Fletcher. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da ertönte sie auch schon, so laut, dass sie im ganzen Tal unterhalb widerhallte.

Didric hielt sich eine Hand ans Ohr. »Was sagst du? Ich kann dich nicht hören!«

»Ich habe gesagt, du sollst mich reinlassen, du Idiot. Was du tust, ist gegen das Gesetz! Wenn du nicht sofort öffnest, werde ich es dem Rat sagen müssen!« Wütend funkelte er den blassen Nichtsnutz oben auf der Palisade an.

»Ja, das wäre dein gutes Recht. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden wir allerdings beide bestraft werden, und was hätten wir dann davon? Warum treffen wir nicht eine Abmachung: Du gibst mir den Elch, und ich bewahre dich davor, die Nacht draußen im Wald verbringen zu müssen.«

»Du kannst dir deine Abmachung sonst wohin schieben!«, schrie Fletcher. Eine so unverfrorene Erpressung hätte er nicht einmal Didric zugetraut.

»Komm schon, Fletcher, sei vernünftig. Jetzt im Winter wird nicht mal dein Lagerfeuer die Wölfe und Wildkatzen abhalten. Wenn sie kommen, kannst du entweder die Beine in die Hand nehmen oder dich ihnen als Appetithäppchen zum Fraß vorwerfen. Und selbst wenn du überleben solltest, morgen früh wirst du so oder so mit leeren Händen durch dieses Tor gehen. Lass mich dir doch helfen.« Seine Stimme klang beinahe freundlich, als tue er Fletcher einen Gefallen.

Dessen Gesicht brannte vor Zorn. So etwas hatte er nie zuvor erlebt. Ungerechtigkeiten waren im Dorf an der Tagesordnung, und Fletcher hatte längst hingenommen, dass er in einer Welt, die in Reich und Arm unterteilt war, auf jeden Fall zur zweiten Gruppe gehörte. Aber was der Sohn eines der reichsten Männer in ganz Pelz da gerade versuchte, war glatter Diebstahl. »Du hältst dich wohl für besonders schlau?«, knurrte er wütend.

»Von uns beiden halte ich nun mal das bessere Blatt in Händen und tue nur, was die Vernunft mir gebietet.« Das ganze Dorf wusste, dass Didric Sprechunterricht bekam, damit er sich möglichst geschwollen ausdrücken konnte. Sein Vater hoffte, Didrics Chancen auf einen Posten als Richter in einer der größeren Städte Hominums auf diese Weise zu verbessern.

»Aber eins hast du dabei vergessen«, murrte Fletcher. »Bevor ich dir meinen Elch überlasse, schlafe ich lieber draußen im Wald.«

Didric lachte. »Ha, das wollen wir doch mal sehen! Ich hab noch die ganze Nacht Zeit. Wird bestimmt unterhaltsam, dir dabei zuzusehen, wie du versuchst, dir die Wölfe vom Leib zu halten.«

Fletcher wusste, dass er Didric nur einen Gefallen tat, wenn er sich auch noch ärgerte. Also schluckte er seine Wut hinunter und versuchte es ein weiteres Mal. »Du bekommst den Elch nicht. Das Fell allein ist fünf Schilling wert, das Fleisch bringt noch mal drei ein. Jetzt lass mich rein, und wir vergessen das Ganze. Ich werde dich auch nicht anzeigen«, schlug er vor, obwohl er innerlich immer noch kochte.

»Sieh es doch mal so: In Anbetracht der Situation kann ich dich gar nicht reinlassen, ohne dass dabei für mich was rausspringt. Aber da ich heute meinen großzügigen Tag habe, werde ich mich mit dem Geweih zufriedengeben. Dann bekommen wir beide, was wir wollen, und können uns endlich Gute Nacht sagen.«

Didrics Dreistigkeit war nicht zu fassen. Fletcher rang einen Moment lang mit sich selbst, gab aber schließlich doch nach. Die vier Schilling, die er verlor, wenn er das Geweih hergab, waren eine Nacht in seinem sicheren warmen Bett durchaus wert. Auch wenn es für Didric nur ein Taschengeld sein mochte. Mit einem Seufzer zog er sein Häutemesser heraus. Es war zwar äußerst scharf, aber zum Absägen des Geweihs nun mal nicht geeignet. Das prächtige Tier so zu verstümmeln war eine Schande, doch Fletcher blieb wohl nichts anderes übrig, als dem Elch den Kopf abzuschneiden.

Kurz darauf hatte er, wenn auch mit einiger Mühe, den Hals samt Wirbelsäule durchtrennt. Zu spät sah Fletcher, dass das Blut aus der frischen Wunde seine Mokassins vollgetropft hatte. Er verzog das Gesicht und hielt den Kopf mit dem prächtigen Geweih hoch. »Siehst du? Jetzt komm und hol ihn dir«, rief er zu Didric hinauf und schwenkte die grausige Trophäe.

»Ich glaube kaum, dass du ihn freiwillig rausrücken wirst, wenn du erst mal drinnen bist. Wirf ihn mir zu, jetzt!«, erwiderte Didric.

»Was?« Fletcher blinzelte ungläubig.

»Wirf ihn herauf, oder unsere Abmachung ist null und nichtig. Ich will dir das Geweih nicht mit Gewalt abnehmen müssen und mir dabei die schöne Uniform versauen.«

Fletcher stöhnte und holte aus. Als er warf, spritzte weiteres Blut aus dem durchtrennten Hals, und zwar geradewegs auf seine Tunika. Der Elchkopf segelte über Didric hinweg und landete mit einem Klatschen in seinem Rücken.

Didric machte keinerlei Anstalten, sich danach zu bücken. »War mir ein Vergnügen, mit dir Geschäfte zu machen, Fletcher. Wir sehen uns dann morgen. Und viel Spaß im Wald!«, rief er gut gelaunt.

»Warte!«, schrie Fletcher zurück. »Was ist mit unserer Abmachung?«

»Die ist vollauf erfüllt. Du hast doch vorhin selbst behauptet, du würdest lieber draußen im Wald übernachten, als mir den Elch zu überlassen. Bitte schön. Du hast, was du wolltest, und ich habe, was ich wollte. Wir können uns endlich Gute Nacht sagen. In Zukunft solltest du besser auf den genauen Wortlaut einer Vereinbarung achten, Fletcher. Es ist das Erste, was man an der Richterschule lernt.« Didric machte Anstalten zu gehen.

»Das war überhaupt nicht die Abmachung! Lass mich rein, du fieser Wurm!« Fletcher trat erneut gegen das Tor.

»Tut mir leid, keine Zeit. Im Gegensatz zu dir erwartet mich nämlich ein schönes, warmes Bett«, erklärte Didric lachend und drehte sich weg.

»Du hast Nachtwache, du kannst jetzt nicht nach Hause!«, brüllte Fletcher. Wenn der Kerl tatsächlich seinen Posten verließ, würde er es ihm heimzahlen und ihn anzeigen. Eigentlich war er keine Petze, aber für Didric würde er eine Ausnahme machen.

»Aber nein, ich hab gar keinen Wachdienst«, ertönte Didrics Stimme von der Treppe, die auf der anderen Seite der Palisade hinunterführte. »Habe ich auch nie behauptet. Ich hab Jakov lediglich angeboten, seinen Posten zu übernehmen, während er seine Blase erleichtert. Er müsste gleich zurück sein.«

Fletcher ballte die Fäuste. Das Ausmaß von Didrics Niedertracht war nicht zu fassen. Sein Blick wanderte von dem geköpften Elch zu seinen besudelten Mokassins, während sein Gesicht feuerrot anlief, und während ihm die Galle hochstieg, hatte er nur einen einzigen Gedanken: Die Sache würde ein Nachspiel haben, und was für eins!

2

»RAUS AUS DEN FEDERN, FLETCHER. Heute ist der Tag im Jahr, an dem du mal nicht verschlafen darfst. Ich kann mich nicht um den Stand kümmern und gleichzeitig die Zugpferde beschlagen.«

Fletcher öffnete die Augen, sah Berdons rötliches Gesicht im Türrahmen und zog sich stöhnend die Felldecke über den Kopf. Es war eine lange Nacht gewesen – gestern. Jakov hatte ihn eine Stunde lang vor dem Tor warten lassen und dann nur unter der Bedingung ins Dorf gelassen, dass er ihm beim nächsten Mal in der Taverne ein Bier ausgab. Und dann hatte Fletcher noch den Elch häuten, das Fleisch in Streifen schneiden und sie zum Räuchern in den Kamin hängen müssen, bevor er sich endlich hinlegen konnte.

Fletcher hatte sich nur ein einziges saftiges Stück gegönnt und es halb roh verschlungen, weil er nicht abwarten konnte, bis das Fleisch durch war. Im Winter war es ratsam, möglichst viel davon aufzuheben, weil man nie wusste, wann es wieder welches geben würde.

»Jetzt, Fletcher! Und wasch dich. Du stinkst wie ein Iltis, ich möchte nicht, dass du die Kundschaft verscheuchst. Niemand kauft was bei einem Landstreicher.« Berdon zog ihm die Decke weg, dann ließ er Fletcher allein und kehrte in die Schmiede zurück.

Fletcher schnitt eine Grimasse und setzte sich auf. Im Zimmer war es wärmer, als er erwartet hatte. Berdon musste die ganze Nacht am Ofen gestanden und für den Markttag geschmiedet haben. Fletcher hatte sich längst daran gewöhnt, zu dem Lärm von Hammerschlägen, dem Fauchen des Blasebalgs und dem Zischen des glühenden Metalls im Abschreckbecken einzuschlafen.

Er schlurfte durch die Schmiede zu dem kleinen Brunnen hinter dem Haus, holte den Eimer herauf und schüttete sich nach kurzem Zögern das eiskalte Wasser über den Kopf. Seine Tunika und die Hose bekamen auch einiges davon ab, was aber nicht schadete, da sie vom gestrigen Jagdausflug immer noch blutverschmiert waren. Mehrere Eimer voll und eine tüchtige Abreibung mit dem Bimsstein später kehrte Fletcher in die Schmiede zurück. Er zitterte am ganzen Körper und presste sich die Arme an die Brust.

»Lass dich mal ansehen.« Berdon lehnte im Durchgang zu seinem Zimmer, der Schein des Schmiedefeuers ließ sein langes Haar noch röter erscheinen. Er war mit Abstand der größte Mann im Dorf, die vielen Stunden am Amboss hatten seine Schultern breit werden lassen, sein Brustkorb hatte den Umfang eines Weinfasses. Neben ihm sah Fletcher, der für sein Alter ohnehin dünn und klein war, noch winziger aus.

»Dachte ich’s mir doch. Du brauchst eine Rasur. Selbst meine Tante Gerla hat einen dichteren Bart als du. Schneid dir den Flaum von der Oberlippe, bis du dir einen richtigen Bart wachsen lassen kannst – so wie ich.« Mit blitzenden Augen zwirbelte er die Enden seines imposanten roten Schnauzers.

Fletcher wusste, dass er recht hatte. Heute kamen die Händler, viele hatten ihre Töchter dabei. Sie waren alle in der Stadt geboren und aufgewachsen, trugen lange Faltenröcke und kunstvoll geflochtene Frisuren. Auch wenn er aus Erfahrung wusste, dass die meisten bei seinem Anblick nur die Nase rümpfen würden, konnte es nicht schaden, wenn Fletcher zumindest einigermaßen vorzeigbar aussah.

»Ab jetzt mit dir. Während du dich rasierst, lege ich dir was zum Anziehen raus. Und keine Widerrede! Je adretter du aussiehst, desto besser fürs Geschäft.«

Die Schmiede befand sich gleich neben dem Tor, und die Palisade führte nur wenige Meter hinter der Rückwand von Fletchers Zimmer vorbei. In dem Zwischenraum stand ein Waschzuber, daneben lag ein kleiner Spiegel. Dorthin ging Fletcher nun, kehrte in die klirrende Kälte zurück und schabte sich mit seinem Häutemesser den schwarzen Flaum aus dem Gesicht. Dann begutachtete er das Ergebnis im Spiegel.

Er war so blass wie die meisten in Pelz. Die Sommer hier waren kurz, nicht mehr als ein paar glückliche Wochen, während derer die Jungen auf Forellenfang gingen und Haselnüsse über dem Feuer rösteten. Es war die einzige Zeit des Jahres, zu der Fletcher sich nicht wie ein Außenseiter fühlte.

Sein Gesicht war kantig, er hatte hohe Wangenknochen und dunkelbraune Augen, die vielleicht einen Hauch zu tief in den Höhlen saßen. Sein Haar war pechschwarz und so dicht, dass Berdon es mit der Schere für die Schafe schnitt, wenn es gar zu lang und wild wurde. Fletcher wusste zwar, dass er nicht hässlich war, aber im Vergleich zu den reichen, wohlgenährten Söhnen mit ihren roten Wangen und dem blonden Haar war er eben auch nicht hübsch. Kaum jemand hier oben im Norden hatte dunkles Haar. Dass Fletcher so herausstach, war jedoch kein Wunder: Er war ein Findelkind gewesen, das jemand vor dem Tor von Pelz ausgesetzt hatte. Noch so etwas, das ihn von allen anderen Einwohnern unterschied.

Berdon hatte ihm eine blaue Tunika und leuchtend grüne Hosen aufs Bett gelegt. Als Fletcher sie sah, lief er kreidebleich an, verkniff sich unter Berdons strengem Blick aber jeden Kommentar. Außerdem war die gewagte Farbkombination am Markttag nichts Ungewöhnliches. Die Händler kleideten sich oft noch viel schriller.

»Umziehen kannst du dich ja alleine«, sagte Berdon mit einem Grinsen und verschwand.

Fletcher wusste, diese kleinen Sticheleien waren Berdons Art, seine Zuneigung zu zeigen, also nahm er sie sich nicht zu Herzen. Fletcher war ohnehin kein geselliger Typ. Er redete nicht viel und behielt seine Gedanken meist für sich, und Berdon nahm das so hin. Sie waren ein seltsames Paar: Fletcher, der stille Lehrling, und Berdon, der ruppige, aber gutmütige Junggeselle. Doch sie kamen zurecht. Außerdem war ihm Fletcher bis in alle Ewigkeit dankbar, weil er sich als Einziger im Dorf bereit erklärt hatte, das Findelkind aufzunehmen.

Ohne Korb und ohne Windel hatte er nackt vor den Toren im Schnee gelegen und sich die Lunge aus dem Leib geschrien. Die hochnäsigen Reichen wollten ihn nicht haben, und die Armen konnten sich keinen zusätzlichen Esser leisten. Es war damals der härteste Winter aller Zeiten und die Nahrung entsprechend knapp gewesen. Schließlich hatte Berdon angeboten, ihn aufzunehmen – er hatte ihn ja auch gefunden. Berdon war nicht reich, aber er hatte niemanden zu versorgen und außerdem das ganze Jahr über Arbeit. Insofern war er der ideale Kandidat.

Von seiner Mutter wusste Fletcher gar nichts, nicht einmal ihren Namen, und er hasste sie zutiefst. Was für ein Mensch ließ das eigene Kind zum Sterben im Schnee liegen? Schon immer hatte er sich gefragt, ob seine Mutter vielleicht aus Pelz stammte und ihn aus irgendwelchen Gründen nicht hatte großziehen können … oder wollen. Oft musterte er verstohlen die Gesichter der Dörflerinnen und verglich sie mit seinem eigenen. Dabei wusste er selbst nicht weshalb: Keine der Frauen sah ihm auch nur entfernt ähnlich.

Der Stand mit den schimmernden Schwertern und Dolchen war bereits aufgebaut. Er befand sich direkt an der Hauptstraße, die vom Tor aus quer durchs ganze Dorf führte. Und er war nicht der einzige. Der ganze Weg war von weiteren Ständen gesäumt, die Felle und Fleisch verkauften, Möbel aus dem Holz der großen Kiefern, die an den Hängen des Bärenzahns wuchsen, und silberne Bergblumen für die Gärten der reichen Städterinnen.

Außerdem war Pelz für seine Lederwaren bekannt. Die hervorragend gearbeiteten und oft schön bestickten Jacken und Wämser waren im ganzen Land gefragt, und Fletcher hatte es auf eine ganz bestimmte abgesehen. Während des Jahres hatte er den Großteil seiner Felle an andere Jäger weiterverkauft und mittlerweile über dreihundert Schillinge für diese eine zusammengespart. Von hier aus konnte er sie sogar sehen, ein Stück weiter die Straße entlang. Die Schneiderin Janet hatte mehrere Wochen gebraucht, um sie anzufertigen. Falls sie am Markttag keinen besseren Preis dafür bekam, konnte er sie für dreihundert Schilling haben, hatte sie ihm versprochen.

Die Jacke war großartig. Das Futter bestand aus flauschigem, grauem Berghasenfell mit haselnussfarbenen Sprenkeln. Das mahagonibraune Leder war glatt wie Seide, aber robust und zudem wasserdicht. Die Farbe bekam nicht so leicht Flecken, und das Leder würde auch den Dornen im Unterholz widerstehen, wenn Fletcher auf Pirsch ging. Die Schließen bestanden aus einfachen Schlaufen und Holzknebeln, oben an der Jacke befand sich eine spitze Kapuze. Fletcher sah sich bereits, wie er damit im Regen mit einem Pfeil auf der Sehne im Gestrüpp kauerte, ohne zu frieren.

Berdon saß gleich hinter ihm vor der Schmiede, neben ihm der Amboss und ein Haufen Hufeisen. Die Waffen und Rüstungen, die er machte, waren von bester Qualität, aber er hatte festgestellt: Mit dem Beschlagen der Zugtiere der Händler ließ sich ebenfalls gutes Geld machen. Die lange und anstrengende Reise an den abgelegenen Dörfern am Fuß des Bärenzahns entlang nahm hier erst ihren Anfang.

Letztes Jahr, als die Händler vorbeikamen, war Fletcher den ganzen Tag beschäftigt gewesen. Nachdem alles verkauft war, hatte er schließlich noch die Schwerter der Kunden geschärft. Damals hatten sie ihnen die Waffen förmlich aus der Hand gerissen. Hominum hatte den Elfen den Krieg erklärt und damit eine zusätzliche Front an der Nordseite des Bärenzahns eröffnet. Die Elfen hatten sich geweigert, ihre jährliche Steuerzahlung zu leisten, die Hominum als Gegenleistung für den Schutz vor den Orks aus dem Süden verlangte. Nach der Kriegserklärung hatten die Händler vermehrte Überfälle vonseiten der Elfen befürchtet und sich entsprechend bewaffnet. Allerdings war es nur zu ein paar kleineren Scharmützeln gekommen. Die beiden Kriegsparteien einigten sich bald darauf, die Gewalt nicht unnötig eskalieren zu lassen. Denn in einem waren sich Hominum und die Elfenclans doch einig: Der eigentliche Feind waren die Orks.

»Werde ich dieses Mal ein bisschen Zeit haben, mich umzusehen?«, fragte Fletcher.

»Ich denke schon. Zurzeit braucht kaum jemand neue Waffen. Die Garnison hier besteht zwar hauptsächlich aus Greisen und Krüppeln, aber die Händler scheinen überzeugt zu sein, dass allein die Anwesenheit der Truppen genügt, um Strauchdiebe abzuschrecken. Das Schlimmste ist, dass sie damit wahrscheinlich sogar recht haben und kaum jemand eins von unseren Schwertern kaufen wird. Wenigstens wissen wir seit deinem Ausflug an die Front vor neun Monaten, dass das Heer meine Schwerter auch weiterhin kaufen wird.«

Die Erinnerung an den Gewaltmarsch zu dem jenseits des Gebirgskamms gelegenen Fort jagte Fletcher einen Schauer über den Rücken. Es war nicht gerade schön dort. Alle harrten nur aus und warteten darauf, dass ihre Dienstzeit zu Ende ging. Die Elfenfront war so etwas wie eine Müllhalde: Jeder, den das Heer nicht mehr gebrauchen konnte, endete dort – die Hungrigen und Ausgebrannten, die keinen Augenblick länger in der Lage waren zu kämpfen.

Die Spreu vom Weizen trennen, so hatten die Soldaten im Fort es genannt. Manche schätzten sich dennoch glücklich, weit entfernt von den grässlichen Grabenkämpfen im Süden zu sein. An der Orkfront starben die Männer zu Tausenden. Ihre Köpfe wurden zu Trophäen, die man am Rand des Dschungels auf Lanzen spießte.

Die Orks waren ein wildes, hirnloses Volk. Sie kannten keine Gnade, nur Grausamkeit, doch auch die Elfenfront hatte ihre Schrecken: elender Hunger aufgrund zu kleiner Rationen, endloses Exerzieren zum Gebrüll gelangweilter Offiziere, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wussten, während die Generäle in ihren beheizten Hütten saßen und die Männer draußen froren.

Der Quartiermeister hatte eigentlich kein Geld ausgeben wollen, aber nachdem ein neues Kontingent Soldaten eingetroffen war, brauchte er doch mehr Waffen. Die Versorgung über den Bärenzahnpass war mehr als spärlich. Also war Fletcher mit einem Bündel Schwerter auf dem Rücken losmarschiert und hatte sie zu einem weit höheren Preis an ihn verkauft, als sie eigentlich wert waren. Der Sack voller Silberschillinge, mit dem er den Rückweg antrat, war beinahe genauso schwer wie die Schwerter, die er über den Pass geschleppt hatte. Hätte er dem Quartiermeister Musketen verkauft, wäre er sogar in Goldtalern bezahlt worden. Berdon hoffte, dass er seine Schmiedewaren bei den Händlern vielleicht gegen solche Feuerwaffen eintauschen konnte, um sie dann im nächsten Jahr teuer an den Quartiermeister weiterzuverkaufen.

Als Fletcher in jener Nacht in einer der Baracken auf einer fremden Pritsche lag und auf den Sonnenaufgang wartete, damit er endlich nach Pelz zurückkehren konnte, schwor er sich, nie an einem solchen Ort zu enden, selbst wenn er Soldat werden sollte.

»He du, Junge, schaff deinen Stand da aus dem Weg. Die Händler kommen ja gar nicht durchs Tor, so nah bist du an der Straße dran«, riss ihn eine unfreundliche Stimme aus seinen Gedanken.

Sie gehörte Didrics Vater Caspar. Er war schlank und groß und trug feinste Gewänder aus goldbesticktem, purpurrotem Samt. Caspar funkelte ihn an, als empfinde er bereits Fletchers bloße Existenz als Beleidigung. Didric stand grinsend neben ihm, das blonde Haar mit Wachs zu einer Scheitelfrisur an den Kopf gekleistert.

Fletchers Blick wanderte zu dem benachbarten Stand, der noch ein ganzes Stückchen näher an der Straße war als seiner.

»Ich sag es dir nicht noch mal. Gehorche, oder ich hol die Büttel«, bellte Caspar.

Fletcher schaute Berdon an, aber der zuckte lediglich die breiten Schultern und nickte. Im Großen und Ganzen bedeutete es keinen Unterschied. Jemand, der Waffen kaufen wollte, würde den Stand so oder so sehen.

Didric zwinkerte und machte eine scheuchende Handbewegung.

Fletcher stieg die Zornesröte ins Gesicht, aber er gehorchte. Didrics Vater mochte ein mächtiger Mann sein, aber Fletcher würde seine Rache schon noch bekommen. Als Geldverleiher hatte Caspar praktisch das gesamte Dorf in der Tasche. Wenn ein Neugeborenes Medizin aus der Stadt brauchte, war Caspar zur Stelle. Wenn die Jagdsaison schlecht ausfiel oder ein Haus abbrannte, war Caspar zur Stelle. Wie sollten die Dörfler, die kaum ihren Namen unter einen Vertrag setzen konnten, auch die Klauseln durchschauen, in denen von Zins und Zinseszins die Rede war? Erst wenn es zu spät war, stellten sie fest, dass sie sich Caspars Kredite gar nicht leisten konnten. Dennoch genoss der Halsabschneider hohes Ansehen im Dorf, und das machte Fletcher wütend.

Während er sich abmühte, den Stand von der Straße wegzuziehen, und die ersten polierten Dolche von der Schaufläche in den Morast fielen, ertönte die Dorfglocke. Die Händler waren da!

3

ES BEGANN WIE JEDES MAL: mit dem Knarren der Wagenräder und dem lauten Knallen der Peitschen. Die Schotterstraße, die zum Tor hinaufführte, war steil und uneben. Auf dem letzten Stück trieben die Händler ihre Zugpferde unbarmherzig an, um einen Platz möglichst nahe am Dorfzentrum zu ergattern. Die letzten bekamen stets nur einen unmittelbar am Tor – und damit zu weit entfernt vom geschäftigen Treiben im Herzen von Pelz.

Caspar stand am Tor, winkte sie durch und nickte den Fahrern lächelnd zu. Fletcher musterte die Pferde: Ihre Flanken glänzten von Schweiß, die Augen waren stumpf und müde. Ein schuldbewusstes Lächeln trat auf sein Gesicht, denn er wusste, Berdon würde alle Hände voll zu tun bekommen. Fletcher hoffte nur, dass sie genügend Hufe hatten, um sie alle neu zu beschlagen.

Auf den letzten Wagen, der das Tor passierte, folgten zwei Reiter mit dichten blonden Schnauzbärten und Schirmmützen. Ihre Pferde waren keine Ackergäule wie die Zugtiere der Händler, sondern schwere Schlachtrosse mit mächtigem Brustkorb und Hufen, so groß wie Teller. Mit klirrendem Zaumzeug trabten sie durch das Tor auf das unebene Pflaster der Dorfstraße.

Fletcher hörte Berdon leise fluchen. Die Musketen und pechschwarzen Uniformen mit den Messingknöpfen machten die Reiter weithin als Pinkertons erkennbar, Gesetzeshüter aus der Stadt. Aus ihren Satteltaschen ragten metallbeschlagene Knüppel, unter deren Wucht Arm- und Beinknochen wie Zweige brachen. Die Pinkertons unterstanden dem König direkt und waren bekannt dafür, ihre Waffen ohne Zögern einzusetzen. Fletcher konnte sich zwar nicht vorstellen, was sie bei der Karawane verloren haben mochten, aber ihre Anwesenheit bedeutete zumindest, dass die Händler auf ihrer Reise gut beschützt waren. An Fletchers Stand würde es ein ruhiger Tag werden.

Beide hatten blonde Locken und kalte, graue Augen. Sie sahen einander so ähnlich, als wären sie Brüder. Nachdem sie abgestiegen waren, kam der größere der beiden mit seiner Muskete in der Hand geradewegs auf Fletcher zu. »Junge, die Pferde brauchen Wasser und Futter. Bring sie zum Dorfstall.«

Fletcher sah ihn nur blinzelnd an. Der barsche Ton des Mannes verschlug ihm die Sprache. Der Pinkerton deutete ungeduldig auf die Pferde, doch Fletcher wollte seinen Stand nicht unbeaufsichtigt lassen.

»Macht Euch nichts draus. Er ist nicht der Hellste«, mischte sich Caspar ein. »Hier gibt es keinen Dorfstall, aber mein Sohn wird sich um Eure Pferde kümmern. Didric, bring sie zu unserem Anwesen, und sag dem Stalljungen, er soll sich ganz besonders gut um sie kümmern.«

»Aber, Vater, ich wollte …«, erwiderte Didric bettelnd.

»Jetzt! Und beeil dich!«, schnitt ihm Caspar das Wort ab.

Didric wurde rot und warf Fletcher einen finsteren Blick zu, dann nahm er die Zügel der Pferde und führte sie die Straße entlang davon.

»Nun, was verschafft uns die Ehre Eures Besuchs? Wir haben seit Wochen keine unbekannten Gesichter in der Gegend gesehen, falls Ihr auf der Suche nach Gesetzlosen seid«, sprach Caspar weiter und streckte dem Pinkerton die Hand hin.

Der groß gewachsene Gesetzeshüter schüttelte sie zögernd. Nun, da sein Pferd in Caspars Obhut war, musste er sich wohl oder übel benehmen. »Unser Auftrag führt uns an die Grenze zum Reich der Elfen. Der König wünscht, verurteilte Verbrecher für sein Heer zu verpflichten. Im Gegenzug werden sie begnadigt. Wir werden mit den Generälen sprechen, um zu sehen, was sie davon halten.«

»Interessant. Selbstverständlich wusste ich, dass die Truppenaushebungen in letzter Zeit weniger ergiebig waren, und dennoch ist dies eine Überraschung. Was für eine elegante Lösung für das Problem«, erwiderte Caspar mit einem starren Lächeln. »Vielleicht könnten wir uns beim Abendmahl und einem Becher Weinbrand ein wenig genauer über die Angelegenheit unterhalten? Unter uns gesagt, das Dorfwirtshaus ist eine heruntergekommene Kaschemme. Ich würde mich glücklich schätzen, Euch beiden nach dieser anstrengenden Reise ein bequemes Bett für die Nacht anbieten zu können.«

»Das Angebot nehmen wir gern an. Wir kommen direkt aus Corcillum. Der Weg war weit, seit beinahe einer Woche haben wir nicht mehr auf einem sauberen Laken geschlafen«, erwiderte der Pinkerton und lupfte die Kappe.

»Dann werde ich Wasser für ein heißes Bad bereitstellen und Euch ein ausgiebiges Frühstück servieren lassen. Mein Name ist Caspar Cavell, ich bin so etwas wie der Dorfvorsteher hier …«, erklärte Caspar und führte die Männer davon.

Während das Gespräch allmählich in der Ferne verhallte, dachte Fletcher über das Gehörte nach. Auf die Idee, verurteilte Verbrecher zum Militärdienst zu verpflichten, wäre er niemals gekommen. In letzter Zeit hatte es immer wieder Gerüchte gegeben, dass schon bald alle jungen Männer eingezogen würden. Die Vorstellung ängstigte und faszinierte ihn zugleich. Das letzte Mal hatte es während des Zweiten Orkkriegs Zwangsverpflichtungen gegeben, und das war jetzt zwei Jahrhunderte her. Das junge Königreich Hominum hatte den Krieg angefangen, um den marodierenden Orkbanden das Handwerk zu legen. Sie stahlen das Vieh und brannten ganze Siedlungen nieder. Hunderte Dörfer waren ihnen zum Opfer gefallen, bevor es Hominum gelang, sie zurück in den Dschungel zu treiben.

Diesmal war die Aggression jedoch von Hominum ausgegangen. Man hatte begonnen, den Dschungel zu roden, um den immensen Holz- und Rohstoffbedarf für all die neuen Gebäude, Maschinen und Erfindungen zu decken. Sieben Jahre währte dieser Krieg nun schon, und ein Ende war nicht in Sicht.

»Wenn ich solche Musketen anfertigen könnte, bräuchten wir den Stand mit den Schwertern nicht mehr«, brummte Berdon.

Fletcher nickte. An der Front waren Musketen hochgefragt, aber nur die Zwerge in Corcillum wussten, wie man sie baute. Den geraden Lauf und den komplizierten Auslösemechanismus herzustellen war ein Geheimnis, das sie eifersüchtig hüteten. Seit die Waffen vor Kurzem im Heer eingeführt worden waren, brachten sie viel Geld ein. Von Pfeilen ließen sich Orks in der Schlacht kaum aufhalten, von Musketensalven allerdings schon.

Noch während Fletcher sinnierte, fiel sein Blick auf einen Mann, der gerade als Letzter durchs Tor kam. Es war ein grauhaariger Soldat mit unrasiertem Gesicht. Seine abgewetzte rot-weiße Uniform war von der Reise mit Schlamm und Dreck bespritzt. Mehrere der Messingknöpfe fehlten oder hingen nur noch an einem letzten Faden. Er schien unbewaffnet, was für einen Soldaten, der eine Handelskarawane begleitete, reichlich ungewöhnlich war.

Er hatte weder Pferd noch Wagen, lediglich ein Maultier, das mit schweren Satteltaschen bepackt war. Seine Stiefel waren in einem jämmerlichen Zustand, die Sohlen hatten Löcher und schmatzten bei jedem wackligen Schritt. Fletcher beobachtete, wie er sein Maultier an einem Eckpfosten des Stands gegenüber festband und dem Besitzer einen finsteren Blick zuwarf, noch bevor dieser protestieren konnte. Dann legte der Soldat eine Decke auf den Boden und breitete den Inhalt seiner Satteltaschen darauf aus. Höchstwahrscheinlich war er auf dem Weg zur Elfenfront – zu alt für den Kampf und zu unqualifiziert, um zum Offizier befördert zu werden. Als hätte er Fletchers Blick gespürt, wandte er ihm ganz plötzlich das grinsende Gesicht zu.

Fletcher sah, dass sein Gebiss ähnlich löchrig war wie die Stiefel, und reckte den Hals, um die Ware des Neuankömmlings zu bestaunen: Pfeilspitzen aus Feuerstein, so groß wie seine Hand und mit grässlichen Widerhaken versehen. Halsketten, von denen Zähne und abgeschnittene Ohren baumelten, legte der Soldat aus, als seien es teure Schmuckstücke. Ein Rhinozeroshorn mit metallener Spitze stellte er in die erste Reihe seiner Sammlung. Die Hauptattraktion war jedoch ein riesiger Orkschädel, den er in die Mitte der Decke legte. Mindestens zweimal so groß wie der eines Menschen, war er glatt poliert und von der Sonne gebleicht, der Knochenwulst über den Augen ragte unnatürlich weit aus der Stirn hervor. Die Eckzähne im Unterkiefer waren um einiges größer, als Fletcher sich solche Eckzähne je vorgestellt hätte. Mindestens so lang wie seine Zeigefinger. Offensichtlich handelte es sich bei der Ware um Kriegs-Souvenirs, die der Soldat hier im Norden, weit entfernt von der Orkfront zu einem guten Preis an den Mann zu bringen hoffte.

Fletcher drehte sich um und warf Berdon einen flehenden Blick zu, doch der schüttelte den Kopf. Mit einem Seufzen wandte sich Fletcher also wieder seinem eigenen Stand zu. Es würde ein langer, fruchtloser Tag werden.

4

EINE KLEINE MENSCHENTRAUBE hatte sich vor dem Stand des Soldaten versammelt, hauptsächlich waren es Kinder, aber auch ein paar Büttel aus dem Dorf, die weder etwas zu verkaufen noch Geld zum Ausgeben hatten.

»Kommt, kommt nur alle! Alles, was ihr hier seht, ist echt. An jedem dieser Gegenstände hängt eine Geschichte, die euch das Blut in den Adern gefrieren lassen wird. Wenn ihr sie hört, werdet ihr eurem Glücksstern danken, dass ihr hier oben im Norden geboren wurdet!«, verkündete der Mann mit überschwänglicher Geste. Er warf eine Speerspitze senkrecht in die Höhe, ließ sie sich mehrmals in der Luft überschlagen und fing sie geschickt wieder auf.

»Wie wär’s mit dem Lendenschurz eines Kobolds oder einem Orknasenring? Was meint Ihr, Herr?«, sagte er zu einem nasebohrenden Knaben, der viel zu jung für die höfliche Anrede war.

»Was ist ein Kobold?«, fragte der Junge mit großen Augen.

»Die Orks halten sie als Sklaven. Man könnte sie mit den Knappen der Ritter von einst vergleichen, die sich um alles kümmerten. Sie sind die geborenen Diener und zum Kämpfen kaum zu gebrauchen. Außerdem werden sie gerade einmal so groß wie mein Unterschenkel.« Zur Demonstration hielt er eine Hand auf Höhe seines Knies.

Fletcher horchte auf. Selbst hier im Norden hatten die meisten Leute zumindest eine vage Vorstellung davon, wie Kobolde aussahen. Sie hatten zwei Beine – so wie die Orks – und kleideten sich stets nur mit einem um die Hüfte gewickelten Fetzen Stoff. Ihre fledermausartigen Ohren und die großen krummen Nasen machten sie genauso unverkennbar wie die langen dünnen Finger, mit denen sie Schnecken aus ihren Gehäusen zogen und Insekten aus verrottenden Baumstämmen puhlten. Ihre Haut war ebenso grau wie die der Orks, und sie hatten große, vorstehende Augen mit riesigen Pupillen.

»Wo hast du all das her?«, erkundigte sich der Knabe weiter und kniete sich neugierig vor die Decke.

»Von den Toten, mein Junge. Wo sie hingehen, können sie diese Dinge nicht mehr gebrauchen. Also sammle ich sie ein, um euch zu zeigen, wie es im Krieg so aussieht.«

»Bist du auf dem Weg zur Elfenfront?«, erkundigte sich einer der Dorfbüttel.

Als Fletcher sah, dass es sich um Jakov handelte, ging er eilig hinter seinem Stand in Deckung. Wenn Jakov ihn bemerkte, würde er ihm noch das Geld für das Bier abknöpfen, das er ihm schuldete. Aber Fletcher brauchte jeden Schilling für die Jacke.

»Das bin ich, aber nicht, weil ich nicht mehr kämpfen könnte, ganz bestimmt nicht. Ich bin der einzige Überlebende meiner Einheit. Wir wurden mitten in der Nacht aus dem Hinterhalt überfallen, gerade als wir auf Erkundung waren. Keine Chance und kein Entkommen.« Ein Hauch von Trauer stahl sich in seine Stimme, dennoch hatte Fletcher Zweifel, ob die Geschichte wirklich stimmte.

»Was ist passiert?«, hakte Jakov nach und musterte den Mann skeptisch.

»Ich möchte nicht darüber reden«, murmelte der Soldat mit gesenktem Blick. »Die Erinnerung ist zu schlimm.«

Die Zuhörer buhten, und die Traube vor dem Stand löste sich allmählich auf. Spätestens jetzt hielten alle den Kerl für einen Lügner.

»Schon gut, schon gut!«, rief er, als er seine Kundschaft davonlaufen sah. Wahrscheinlich war Pelz der letzte Halt auf seiner Reise, und die Soldaten an der Front dürften sich kaum für seine Ware interessieren, da sie selbst allzu vertraut damit waren.

»Unser Befehl war, das vorausliegende Gelände zu erkunden«, begann er, und die Menge kehrte prompt zurück. »Den Dschungel in unserem Rücken hatten wir bereits gesäubert, also wollten die Offiziere die Front weiter nach vorn verlegen.«

Er wurde merklich selbstsicherer, und Fletcher erkannte einen geborenen Geschichtenerzähler in ihm.

»Die Nacht um uns herum war finsterer als das Fell einer schwarzen Katze, nicht mal der Mond beleuchtete unseren Weg. Als wir uns durchs Dickicht schlugen, haben wir einen Lärm veranstaltet – wie ein angreifendes Rhinozeros. Es war ein Wunder, dass die Orks nicht sofort über uns hergefallen sind«, fuhr er mit glasigen Augen fort, als durchlebte er die Schrecken jener Nacht noch einmal.

»Weiter!«, rief ein Junge von ganz hinten, was ihm sofort böse Blicke von den anderen einbrachte, die gebannt lauschten.

»Unser Schlachtmagier führte uns. Sein Dämon konnte nachts gut sehen. Das erleichterte das Vorwärtskommen ein bisschen, während wir anderen damit beschäftigt waren, unsere Musketen nicht versehentlich abzufeuern oder in der verfluchten Dunkelheit auf die Schnauze zu fallen. Ein Selbstmordkommando, wie man sich kein schlimmeres vorstellen kann, war das«, sprach der Soldat weiter und ließ die Speerspitze zwischen seinen Fingern kreisen.

»Sie haben euch einen Dämonenbändiger mitgegeben? Was für eine Verschwendung. Ich dachte, wir hätten nur wenige Hundert davon?«, fragte Jakov, mittlerweile weit mehr gefesselt als skeptisch.

»Der Einsatz war wichtig, aber stümperhaft geplant. Ich kannte unseren Magier kaum, aber er war ein guter Kerl, wenn auch nicht besonders mächtig. Die Schamanen der Orks begeisterten ihn, er löcherte die Soldaten nur so mit Fragen über sie und deren Dämonen. Ständig kritzelte er in seinem Buch. In den Dörfern, die wir eroberten, begutachtete er alles ganz genau und schrieb die Runen ab, die die Orks auf ihre Hütten gemalt hatten.« Der Soldat merkte, wie sein Publikum das Interesse verlor, weil er zu weit abschweifte.

»Wie dem auch sei«, fuhr er hastig fort, »schon bald zogen Wolken auf und verdeckten die Sterne, an denen wir uns orientiert hatten, sodass wir uns nun verliefen. Als dann der Regen einsetzte, war unser Schicksal besiegelt. Hat einer von euch schon mal versucht, mit nassem Schießpulver eine Muskete abzufeuern? Es ist eine Katastrophe, kann ich euch sagen!«

Er ließ die Speerspitze fallen und ballte ohnmächtig die Fäuste.

»Die Hauptwaffe der Orks ist der Wurfspieß. Wenn dich so ein Ding erwischt, reißt es dich von den Beinen – wie eine Kanonenkugel. Wenn der Spieß dich und deinen Hintermann nicht glatt durchschlägt, nagelt er dich auf den Boden oder an den nächsten Baum. Wie die Regentropfen kamen nun die Wurfspieße geflogen, und meine Kameraden gingen zu Boden wie die Grashalme unter der Sense eines Bauern. Wir sahen kaum, aus welcher Richtung die Spieße kamen, und schon nach der ersten Salve war die Hälfte von uns tot. Unser Magier nahm die Beine in die Hand, und ich habe mich an ihn drangehängt. Wenn irgendjemand die Chance hatte, hier lebend wieder rauszukommen, dann er. In wilder Panik rannten wir durch die Nacht und folgten dem Gezirpe seines Dämons.«

»Was für ein Dämon war das?«, fragte Jakov und rang vor Aufregung die Hände.

»Ich konnte ihn im Dunkeln nicht richtig sehen, aber er sah wie ein hässlicher, kleiner Käfer aus. Dennoch bin ich dem Biest zutiefst dankbar, denn ohne den Dämon wäre ich jetzt tot, so wie alle anderen. Irgendwann fiel der Bändiger plötzlich hin, und ich sah einen Speer aus seinem Rücken ragen. Er blutete wie ein aufgespießtes Schwein. Ich konnte nicht das Geringste für ihn tun, aber der Dämon weigerte sich stur, ihn zurückzulassen, also legte ich mir den Bändiger über die Schulter und rannte weiter. Der Ärmste muss längst tot gewesen sein, als wir die Schanzgräben erreichten, trotzdem führte mich sein Dämon den ganzen Weg zurück. Nicht mal, als ich den Offizieren die Leiche übergab, wich der kleine Tunichtgut von seiner Seite. Sie wollten mich wegen Feigheit vor dem Feind drankriegen, aber ich sagte, ich hätte doch nur den Verwundeten zurückgebracht. Da meine Einheit ausgelöscht war und ich nicht mehr der Jüngste bin, wussten sie nicht, was sie mit mir tun sollten, also haben sie mich hierher abkommandiert. Mein einziger Lohn war das Gepäck unseres toten Beschwörers, das ihr hier vor euch ausgebreitet seht. Den größten Schatz habe ich euch allerdings noch gar nicht gezeigt …«

Während der Soldat seine Satteltaschen durchwühlte, begriff Fletcher, dass er es wahrscheinlich in jedem Dorf so machte: Zuerst wickelte er seine Zuhörer mit einer Geschichte um den Finger, um dann zum Schluss das teuerste Stück seiner Sammlung zu präsentieren.

Doch was der Mann schließlich mit theatralischer Geste hervorzog, war weder ein Schrumpfkopf noch ein konservierter Dämon, wie Fletcher erwartet hatte. Es war ein in dickes Leder gebundener Stapel von Pergamentseiten: das Buch des Dämonenbändigers!