Der neue Landdoktor
– 84–

Wir sind Seelenverwandte

Doch du liebst eine andere …

Tessa Hofreiter

Impressum:

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Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-913-7

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Constantin Wächter stand an der Rezeption des traditionsreichen Hotels Sonnenblick und bezahlte seine Rechnung für den kurzen Urlaub, den er im Allgäu verbracht hatte. Er war ein gut angezogener, groß gewachsener Mann von Anfang Dreißig. Modisch geschnittene, dunkelblonde Haare umgaben sein Gesicht mit den grünen Augen und dem sympathischen Grübchen im Kinn. Constantin sah nicht nur gut aus, er war auch höflich und freundlich im Umgang mit Menschen. Kein Wunder, dass ihm Dorit, die junge Rezeptionistin, ein besonders strahlendes Lächeln schenkte.

»War alles zu Ihrer Zufriedenheit, Herr Wächter? Hat es Ihnen bei uns in Bergmoosbach gefallen?«, fragte sie.

»Sehr«, antwortete Constantin aufrichtig. »Die Landschaft ist herrlich, und Ihr schöner Ort hat einen ganz eigenen Charakter. Es ist erstaunlich, wie viel den Besuchern geboten wird, ohne dass das Dorf im Tourismusrummel untergeht. Ich werde jetzt noch eine kleine Abschiedsrunde drehen, ehe ich mich für die Heimfahrt ins Auto setze. Es macht Spaß, durch den Ort zu bummeln und die Blicke wandern zu lassen.«

»Das klingt, als ob Sie wiederkommen würden«, erwiderte Dorit sichtlich erfreut.

Constantin steckte seine EC-Karte wieder ins Portemonnaie, faltete die Rechnung und nickte. »Ja, genau das habe ich vor«, antwortete er freundlich.

»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Heimreise nach Regensburg. Servus, Herr Wächter«, verabschiedete Dorit ihn.

Er grüßte charmant zurück und verließ das gemütliche Hotel. Auf Constantin warteten im Augenblick keine wichtigen Termine, er konnte sich den Tag über noch Zeit lassen und ließ sich entspannt durch die hübschen Straßen Bergmoosbachs treiben. In Regensburg führte er gemeinsam mit zwei Freunden eine Anwaltskanzlei, und die freien Tage im Allgäu hatten ihm gut getan. Seine Gedanken waren von den Forderungen und Nöten seiner Mandanten zu sattgrünen Wiesen, duftenden Wäldern und schweigenden Seen umgeschwenkt. Er hatte jeden Tag ausgedehnte Wanderungen unternommen, auch eine geführte Bergtour, die ihm sehr gefallen hatte. Constantin wusste schon jetzt, dass ihm der Aufenthalt in der Natur fehlen würde, wenn er erst wieder in Regensburg hinter seinem Schreibtisch saß. Er beschloss, noch eine große Runde am Sternwolkensee zu drehen, an dessen Ufer Bergmoosbach lag.

Er wollte sich gerade auf den Weg zum Marktplatz machen, den er auf dem Weg zum See überqueren musste, als sein Blick auf zwei besonders schöne und geschmackvoll dekorierte Schaufenster fiel. Sie gehörten zum Geschäft für Brautmoden ›Das Kleine Weiße‹. Aufmerksam geworden, trat er näher heran und besah sich die Auslagen.

Auf den ersten Blick konnte man erkennen, dass es hier nicht um Masse, sondern um Klasse ging. Tüll und Spitze waren zurückhaltend verarbeitet worden, und es gab kein Übermaß an Rüschen und Glitzersteinchen. Das Geschäft selbst war in zarten perlgrauen und cremefarbenen Tönen gehalten, die wunderbar zu dem alten Holzfußboden passten. Neben einem geschmackvollen Blumenstrauß schweb­te ein edler Brautschleier mit einer außergewöhnlichen Spitzenkante. Cons­tantin erkannte sofort, dass es sich hierbei um eine kostbare Handarbeit handelte und nicht um ein Industrieprodukt. Bewundernd folgte sein Blick den zarten Bögen der Spitzenkante, die eine Girlande aus Edelweiß und Enzian bildete.

Er war so von diesem Meisterwerk alter Handarbeitskunst beeindruckt, dass er die junge Frau gar nicht richtig wahrnahm, die sich mit einem gemurmelten »’tschuldigung!« an ihm vorbeidrängte. Er sah nur noch eine wehende Mähne von langen, dunklen Haaren, die über einen schmalen Rücken im blauen Kleid fielen, und hörte eine helle Stimme, die rief: »Johanna, hier ist der Spitzeneinsatz für Carolas Kleid. Ist sie schon hier? Bin ich zu spät?«

»Nein, alles in Ordnung, der Termin ist doch erst um zehn Uhr«, erklang eine andere Frauenstimme, dann schloss sich die Haustür, und Cons­tantin konnte nichts mehr hören. Er sah, wie die Dunkelhaarige einen eingewickelten Gegenstand aus ihrem Korb holte und auf einen alten Tisch legte, der als Tresen diente. Eine blonde Frau im elegant-schlichten schwarzen Kleid, offensichtlich die Besitzerin des Geschäftes, hielt den Gegenstand in die Höhe, und ihr Gesicht leuchtete begeistert auf. Constantin beobachtete, wie sie den herrlichen Spitzeneinsatz in den tiefen Rückenausschnitt eines weißen Seidenkleides mit kurzer Schleppe heftete. Das Kleid war schlicht und wurde durch den außergewöhnlich schönen Rücken zu etwas sehr Edlem.

»Die Frau, auf welche dieses Hochzeitskleid wartet, hat sich für etwas Ausgefallenes entschieden«, murmelte er unbewusst halblaut vor sich hin. Beeindruckt von dem Besonderen, das dieses Geschäft zu bieten hatte, wandte er sich ab und schlenderte weiter. Constantin überquerte den Marktplatz mit seinem steinernen Brunnen und folgte den malerischen Gassen, die sich zum Sternwolkensee hinunter zogen.

Allmählich verwandelte sich der heiße Sommer in einen sanften Herbst. Das Laub der Bäume und Sträucher begann sich zu verfärben und schwebte durch die Luft, blanke Kastanien und Eicheln bedeckten die Wege. Pilze sprossen aus dem Boden, und bald würde der Wald vom feuchten, würzigen Herbstgeruch erfüllt sein. Constantin fand es viel zu schade, sich jetzt schon ins Auto zu setzen. Er genoss die Wärme der Sonne, die klare Luft, die vom See über den Uferweg wehte, und das Bunt der Sträucher mit ihren roten und blauschwarzen Beeren, zwischen denen die Spatzen lärmten.

Langsam hatte der Mann den breiten Uferweg hinter sich gelassen, der am Hotel Steg-Haus und gepflegten Anlagen vorüberführte. Er ging jetzt auf einem schmaleren Pfad, der auf der Landseite von niedrigen Sträuchern gesäumt wurde. Auf der Seite zum See wuchs Schilf, das sich leise raschelnd im Wind wiegte. Constantin schaute in den blauen Himmel, über den weiße Wolken zogen, und konnte sich kaum sattsehen an der stillen Schönheit des Sees, über dem sich in der Ferne die majestätischen Alpen erhoben. Er blieb stehen, um mit seiner Handykamera die Atmosphäre dieses Herbsttages festzuhalten.

Die Aufnahmen waren wundervoll geworden. Mit einem zufriedenen Lächeln wollte er gerade sein Handy wieder in die Hosentasche schieben, als wie aus dem Nichts plötzlich ein Mann auf seinem Rennrad auftauchte. Ohne Rücksicht auf die Spaziergänger schoss er den Weg entlang, warnte niemanden und verminderte nicht sein absurd hohes Tempo.

»He!«, war alles, das der überraschte Constantin noch hervorbringen konnte, dann hatte der abgewinkelte Ellbogen des Rasers ihm schon einen Stoß versetzt, der ihn zur Seite riss.

Constantin verlor den Boden unter den Füßen und landete der Länge nach im Gebüsch. Der Aufprall war hart und entriss ihm einen überraschten Aufschrei. Instinktiv hatte er versucht, sich im Sturz abzustützen, und war leider so unglücklich aufgekommen, dass er den Daumen der linken Hand böse verstauchte. Zum unsanften Aufprall kam jetzt noch der heftige Schmerz in seiner lädierten Hand, die sofort anschwoll. Constantin konnte nicht anders, er stieß einen saftigen Fluch aus.

»Mei, das hat er aber auch verdient, der damische Radler«, sagte eine resolute Frauenstimme direkt neben ihm.

Überrascht schaute Constantin sich um. Neben ihm inmitten der Sträucher stand eine ältere Frau mit silbergrauen Haaren und flinken, dunklen Augen, die ihn aufmerksam musterten. Sie trug ein hellgrünes Dirndl mit einer blauen Schürze und hielt einen gut gefüllten Korb mit Pilzen in der Hand.

»Kann ich Ihnen helfen? Hat dieser Rüpel Sie verletzt?«, fragte sie besorgt. Sie streckte Constantin ihre Hand entgegen und half ihm vom Boden auf.

»Danke«, brummte er und wischte mit der unverletzten Hand Blätter und Zweige von seiner Kleidung. »Ich glaube, es ist nichts weiter passiert, außer dass ich mir den Daumen verstaucht habe.«

»Jesses, das schaut aus, als ob es ziemlich wehtut«, sagte die Frau mitfühlend. »Damit sollten Sie gleich zu unserem Landdoktor gehen. Wer weiß, ob nicht doch etwas gebrochen ist.«

Constantin bewegte die Hand. »Nein, ich glaube nicht«, antwortete er. »Eigentlich gehe ich wegen solcher Kleinigkeit nicht gleich zum Arzt, aber ich habe noch eine längere Autofahrt vor mir. Vielleicht sollte ich doch die Beweglichkeit der Hand untersuchen lassen.«

»Das ist recht so. Unser Doktor Seefeld wird dafür sorgen, dass die Schmerzen und die Schwellung Sie nicht zu sehr beim Fahren ablenken. Wissen Sie, wo das Doktorhaus ist, oder sind Sie ein Tourist?«, fragte die Frau ganz direkt.

»Ich hab hier ein paar Tage Urlaub gemacht«, erwiderte Constantin.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen den Weg zeige? Ihn zu erklären wäre jetzt zu umständlich«, sagte die Frau. »Ich bin übrigens die Maria Höfer.«

»Constantin Wächter«, stellte er sich leicht amüsiert vor. »Es ist zwar nett von Ihnen, mich zu begleiten, aber wollten Sie nicht eigentlich in die Pilze?« Er deutete auf ihren Korb.

»Für heute habe ich genug«, erwiderte Maria bestimmt. »Ihre Hand sollte versorgt werden, und außerdem haben Sie eine böse Schramme direkt am rechten Augenwinkel, da muss ein Schlehenzweig Sie erwischt haben. Unser Doktor sollte das desinfizieren.«

»Oh, das habe ich noch gar nicht bemerkt«, erwiderte Constantin. Er fasste sich an die Schläfe und spürte den Riss. »Dann wollen wir uns also jetzt auf den Weg zu Ihrem Landdoktor machen.«

»Auf geht’s«, nickte Maria und ging mit festen Schritten in die Richtung, aus der er gekommen war.

Keiner von beiden hatte das Handy bemerkt, das ebenfalls in hohem Bogen ins Gebüsch geflogen und jetzt inmitten von Moos und welken Gräsern liegengeblieben war.

Constantin fühlte sich ein wenig seltsam. Einerseits amüsierte ihn die resolute Hilfsbereitschaft der fremden Frau ein wenig; er wäre gut allein zurechtgekommen, mochte ihr Angebot aber nicht ablehnen. Andererseits fühlte es sich überraschend gut an, mit solch altmodischer Fürsorge behandelt zu werden. Maria Höfer kam ihm wie die liebevolle, resolute Großmutter vor, die er selbst nicht gehabt hatte.

»Sind hier alle Leute so nett und hilfsbereit wie Sie?«, fragte er.

Maria lachte auf. »Mei, das ist doch selbstverständlich«, lautete ihre kurze Antwort.

Auf dem Weg zurück in den Ort unterhielten sich Constantin und die freundliche Pilzsammlerin angeregt. Maria freute sich, dass er Bergmoosbach ins Herz geschlossen hatte und konnte Interessantes über das Dorf erzählen. Die Zeit verging wie im Flug, und fast bedauerte Constantin es, als die Frau stehenblieb und mit der Hand in eine hübsche Straße wies, die sich über eine kleine Anhöhe erstreckte.

»Am Ende der Straße finden Sie die Auffahrt zum Doktorhaus. Können Sie gar nicht verfehlen, dort steht eine große Ulme mit einer Rundbank vor dem weißen Haus«, erklärte Maria freundlich. »Ich wünsche gute Besserung, Herr Wächter, und kommen Sie sicher heim.«

»Danke vielmals, Frau Höfer, Sie waren sehr nett zu mir. Sie haben mir nicht nur einfach geholfen, sondern trotz dieser blöden Anrempelei einen schönen Abschied aus Bergmoosbach geschenkt«, sagte er aufrichtig.

»Das passt schon«, nickte Maria bedächtig und wandte sich mit einem letzten freundlichen Winken zum Gehen. »Servus.«

»Servus«, erwiderte er lächelnd und ging dann in die angegebene Richtung.

Doktor Sebastian Seefeld war ein gut aussehender Mann Anfang Vierzig, der nicht umsonst bei seinen Patienten so beliebt war. Er nahm sich Zeit, konnte gut zuhören und gab den Menschen das Gefühl, ihre Beschwerden ernst zu nehmen. Dabei war es egal, ob es sich um einen störrischen Splitter im Bein oder um einen drohenden Herzinfarkt handelte.

Von Constantins verlegener Entschuldigung, nur wegen eines verstauchten Fingers in die Praxis zu kommen, wollte der Arzt nichts hören. Er ließ sich den Unfallhergang genau schildern und untersuchte Cons­tantin gründlich, um weitere Verletzungen auszuschließen. Der Riss an der Schläfe wurde desinfiziert und mit einem winzigen Zugpflaster versehen.

»Sie hatten Glück, Herr Wächter, das hätte buchstäblich ins Auge gehen können«, sagte Sebastian ernst. »Schade, dass niemand diesen rücksichtslosen Radler anhalten konnte.«

»Ja, dem hätte ich gern ein paar Worte gesagt«, erwiderte Constantin kämpferisch.

Die Untersuchung der Hand zeigte, dass tatsächlich nichts gebrochen, aber der Daumen übel verstaucht war. Alles war stark geschwollen, und ein dunkler Bluterguss begann sich abzuzeichnen. Sebastian Seefeld stellte den Daumen und das Daumengrundgelenk mit einer speziellen Bandage ruhig und verschrieb ein Schmerzmittel.

»Werde ich damit Auto fahren können?«, erkundigte Constantin sich besorgt. »Zum Glück ist es die linke Hand, mit der ich nicht schalten muss.«

»Das wird gehen, und das Schmerzmittel ist nicht so stark, dass es Ihre Fahrtüchtigkeit einschränkt«, beruhigte Sebastian ihn. »Mehr als zwei Tabletten sollten Sie allerdings nicht schlucken, ehe Sie zu Hause sind.«

»Das geht in Ordnung«, antwortete Constantin und verabschiedete sich von dem freundlichen Arzt.

»Ich hoffe, dieses unangenehme Erlebnis hat Ihnen die Freude an Bergmoosbach nicht gänzlich verdorben«, sagte Sebastian, als er dem anderen Mann die Tür öffnete.

»Nein, zum Glück gibt es andere, sehr schöne Eindrücke, die bleiben. Die Natur, wunderschöne Geschäfte mit traditioneller Handwerkskunst und beeindruckende Menschen. An die alte Dame, die mir so freundlich geholfen hat, werde ich mich gern erinnern«, antwortete Constantin mit Wärme. Dann ging er zu seinem Wagen zurück, der noch beim Hotel parkte, und machte sich auf den Heimweg nach Regensburg.