DREI
Warum der Jäger durch die Nacht pirschte
Danny beobachtete durch das Fenster, wie die Skyline von Hongkong im Bogen vorbeiglitt. Je höher das Flugzeug stieg, desto kleiner wurden die dunkelgrünen Hügel, und am Ende verschwanden sie vollständig unter den Wolken. Laura, die sich schon in die Arbeit gestürzt hatte, nuckelte entweder am Stift oder schrieb etwas in ihre Recherchekladde.
Sie warf ihm einen Blick zu. »Ich muss die Details festhalten, solange sie noch frisch sind. Verlass dich nie auf die Erinnerung, denn sie hat die Eigenart, die Dinge so hinzubiegen, wie man sie gern haben möchte.«
Danny war in Gedanken ganz woanders. »Weißt du, was Sing Sing auf dem Festland erledigen muss?«
»Ich schätze, du kennst sie besser als ich.«
»Sie wollte reden, glaube ich. Über ihre Vergangenheit. Aber sie hat sich gleichzeitig dagegen gesträubt.«
»So ist das oft. Vor allem, wenn es um schmerzhafte Erfahrungen geht.«
»Ich habe mitbekommen, wie der Major mit ihr geredet hat, und es klang nach einer wichtigen Diskussion.«
»Puh, was weiß ich?«, sagte Laura, die seinem Blick etwas zu schnell auswich und dadurch verriet, dass sie ihm etwas verheimlichte.
Danny fiel das sofort auf und er beschloss, nicht lockerzulassen. »Und zu dir hat er gesagt: ›Du wirst es ihm erzählen müssen.‹ Was musst du mir erzählen?«
»Gar nichts. Ehrlich.«
»Du sagst nicht die Wahrheit, Tante Laura. Das merke ich!«
Laura seufzte. »Oh, Mann! Kein Grund, auf Zamora sauer zu sein, Danny. Er wollte dich nicht beunruhigen, das ist alles.«
Danny winkte genervt ab. »Ich habe langsam genug davon, dass ihr mir nie erzählt, was los ist. Vor allem, wenn es mich betrifft!«
»Ja, schon klar. Du hast bereits erwähnt, dass du kein kleines Kind mehr bist. Aber – rein formal und vor dem Gesetz – bist du immer noch minderjährig, Daniel.«
»Worum geht es?«
Laura sah ihm in die Augen, deren Farben – das Aufblitzen des Grüns, das unergründliche Braun – durch das Licht in dieser großen Höhe etwas Fragendes und Forschendes ausstrahlten. Irgendwie rastlos und energiegeladen zugleich.
»Na gut – du hättest es sowieso bald herausgefunden. Das Mysterium erlebt einen Neuanfang. Zamora, Rosa und Darko Blanco haben mit den anderen Mitgliedern der Truppe gesprochen. Deshalb ist der Major nach Barcelona gereist. Er will dort proben …«
Danny war im ersten Moment so vor den Kopf gestoßen, dass es ihm die Sprache verschlug.
»Aber das geht nicht! Jedenfalls nicht ohne mich!«, stotterte er. »Nicht ohne Mama, meine ich, und nicht ohne Papa!«
»Zamora war der Meinung, dass es für dich zu schmerzhaft sein könnte …«
»Es ist noch viel schlimmer. Ich muss dabei sein.« Laura würde das sicher verstehen!
»Zuerst müssen wir eine Schule für dich finden und den Polizeischutz organisieren …«
»Ich gehöre zum Mysterium …«
»Ich weiß, dass dich alle dort sehr mögen, Danny. Aber genau genommen gehörst du nicht zur Zirkustruppe. Mir ist schon klar, dass du immer wieder geholfen hast, und ich weiß auch, wie viel dir das bedeutet …«
»Aber …« Er hatte stets gehofft, eines Tages ein vollwertiges Mitglied der Truppe zu sein. Wenn er doch nur eine richtige Nummer beisteuern könnte.
»Keine Diskussion!«, fauchte Laura. »Wir brauchen grünes Licht von Ricard und müssen die Gewissheit haben, dass die Neunundvierzig nur Theaterdonner ist, den ein paar übergeschnappte Triaden-Idioten veranstalten. Das habe ich deinem Vater versprochen. Und deiner Mama auch.«
Danny öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, wusste aber, dass es sinnlos wäre. Und was konnte er zehntausend Meter über China schon ausrichten?
Das Schlimmste daran war, dass all das im Widerspruch stand zu dem, was Zamora damals in Berlin, an jenem langen und eisigen Abend der Beerdigung, zu ihm gesagt hatte. Danny erinnerte sich an den endlosen, erstickenden Schneefall und auch daran, wie sehr er darum gekämpft hatte, sich nicht von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen, sich nicht vorzustellen, wie seine Eltern in ihren Särgen aussahen. »Du kannst immer auf mich bauen, Danny«, hatte Zamora gesagt. »VERTRAU mir.«
Genau das konnte Danny offensichtlich nicht. Schon gar nicht angesichts dieses … Verrats! Es gab kein anderes Wort dafür. Er ließ die Faust gegen das Fenster knallen und senkte den Blick auf die dicken Wattewolken.
»Und wie nennen sie die Show?«, fragte er nach einigen Minuten brütenden Schweigens.
»Mysterium Redux. Das wiedergeborene Mysterium. Vielleicht in Anlehnung an die LP von Velvet Underground.«
»Seit wann planen die das?«
»Das musst du sie schon selbst fragen. Wir werden jedenfalls erst einmal Paris genießen. Das habe ich verdammt nötig.«
In der schmalen Metallröhre des Flugzeugs fühlte sich Danny plötzlich beengt, geradezu eingesperrt. Er wünschte sich verzweifelt an die frische Luft und auf weite, offene Flächen, um wieder selbst über sich bestimmen zu können. Er konnte die Landung kaum erwarten, wollte so rasch wie möglich ins Internet, um die neuen Fährten zu verfolgen, auf die er in Hongkong gestoßen war.
In Paris wurden sie von einem Unwetter begrüßt. Bleigraue Wolken ließen Hagelkörner auf das Dach des Taxis prasseln, als sie vor ihrem Hotel gegenüber dem Friedhof Père Lachaise hielten, dessen herbstliche Farben in dem dichten weißen Nebel nur verschwommen zu erkennen waren. Laura warf einen Blick aus dem Fenster und zog eine Grimasse.
»So ein Mist. Komm, wir machen es uns im Hotel gemütlich und schauen uns die Stadt morgen an. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht.«
»Nein«, erwiderte Danny erleichtert. »Passt schon. Kann ich das neue iPad benutzen?«
»Aber klar. Ich haue mich eine Weile aufs Ohr.«
Laura hatte kaum ausgepackt, da schlief sie schon tief und fest in einem Sessel, ohne sich umgezogen zu haben. Im Gegensatz dazu verflog Dannys Müdigkeit schlagartig und wich, während er die Verpackung des iPads aufriss und das Aufladekabel des Geräts mit der Steckdose verband, Ungeduld und Zorn. Der Gedanke, dass das Mysterium in Kürze zu neuem Leben erwachen würde, war zwar gewöhnungsbedürftig, spornte ihn aber an.
Er trat ans Fenster.
Draußen dämmerte der Abend. Der Friedhof war von schmelzenden Hagelkörnern bedeckt, die Dunkelheit kroch wie träges schwarzes Wasser um Bäume und Grabmäler auf Danny zu. Sie weckte die – sehr unangenehme – Erinnerung daran, dass er im Südchinesischen Meer beinahe ertrunken wäre. Er zog rasch die Vorhänge zu.
Warum warten, bis das Ding aufgeladen ist?, dachte er, schnappte sich das iPad und hackte das Wi-Fi-Passwort des Hotels in die Tasten. Seine Finger flogen über den Bildschirm, tippten: »MYSTERIUM + BARCELONA.« Über 960 000 Treffer in 0,36 Sekunden. Er holte tief Luft und klickte den ersten Eintrag an.
Sofort überkam ihn ein Gefühl von Vertrautheit! Ein Artikel auf Spanisch mit einem Foto, das Darko Blanco und Aki zeigte – den japanischen Clown –, der auf dem Dach eines alten Straßenbahnwagens eine der Trapezkünstlerinnen in die Höhe stemmte. Das Mädchen (Beatrice oder Izzy, er konnte die Zwillinge nie auseinanderhalten) spie eine lange, lodernde, orangefarbene Flamme. Die Überschrift des Artikels lautete: En Barcelona El Mysterium respira de nuevo. In Barcelona beginnt das Mysterium wieder zu atmen. Danny hatte durch Zamora genug Spanisch aufgeschnappt, um diese Worte mehr oder weniger problemlos übersetzen zu können.
Es stimmte also tatsächlich! Und niemand hatte ihm Bescheid gesagt! Andererseits war es nur logisch. Barcelona war der Geburtsort des Mysteriums – dort hatte sein Vater Zamora und Rosa kennengelernt, dort hatten sie die ersten, bescheidenen Vorstellungen gegeben, und dorthin waren auch alle anderen gereist, um sich vorzustellen und zu proben. Ja, es leuchtete ein – aber es schmerzte Danny sehr, dass er jetzt nicht dabei sein konnte.
Sein Blick gleitet über die anderen Suchergebnisse.
Noch ein Treffer – www.mysteriumredux.com – vielleicht die neue Website der Truppe? Er spürte, wie sein Herz zu rasen begann, als er auf den Bildschirm tippte – die wunderschönen Buchstaben des Wortes MYSTERIUM erstrahlten vor einem mitternachtsblauen Hintergrund. Nachdem er auf das Wort geklickt hatte, lief ein Video in Endlosschleife: Rosa, die ihre punkige Zirkusdirektorinnen-Uniform trug, führte die Nummer vor, bei der sie einen Fisch schluckte – die Schwanzflosse einer Makrele ragte aus ihrem Mund, ihre Wangen waren kugelrund, ihre Augen weit aufgerissen –, und Danny las die Worte: »Tauchen Sie ein in die Welt von Mysterium Redux.« Darüber gab es Rubriken für Geschichte Mysterium, Videos und Neue Show in Kürze. Eine gut gestaltete Website, fand Danny, mit vielen Unterseiten, ohne »Baustellen«. Die Truppe hatte also nicht erst gestern wieder zusammengefunden, sondern das Ganze schon eine ganze Weile geplant. Während er in Ballstone verschimmelte, hatten sie einander E-Mails geschrieben, Webseiten entworfen und geprobt!
Danny klickte auf Veranstaltungsort und erkannte das Gebäude, das den ganzen Bildschirm ausfüllte, auf Anhieb: Die Türme und Kräne der Kathedrale Sagrada Família mit ihrer außergewöhnlichen Architektur, die sich geradezu organisch in den Himmel schraubte – wie gewaltige Korallen oder gigantische Baumstämme. Er konnte sich daran erinnern, einmal dort gewesen zu sein – vor vielen Jahren –, und wusste noch, wie sehr die verrückte Schönheit dieser Kathedrale seinen Vater begeistert hatte. Seit hundert Jahren wurde daran gebaut und sie war noch immer nicht vollendet. Was für ein Veranstaltungsort!
Dannys Finger kreisten über dem Bildschirm. Seine Entdeckung hatte ihn so begeistert, dass das Gefühl des Verrats fast verflogen war. Nun holte es ihn wieder ein. Sollte er versuchen mehr herauszufinden? Oder sollte er die Sache auf sich beruhen lassen, vielleicht sogar ganz abhaken, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen? Wenn er in Barcelona nicht erwünscht war – sogar Zamora hatte ihn nicht in dieses Geheimnis eingeweiht –, dann wäre es vielleicht besser, nicht mehr in der Vergangenheit zu wühlen, sondern sich mit Hilfe von Laura und Ricard in einer neuen Schule und in einem neuen und sicheren (aber öden) Leben einzurichten. Vielleicht sollte er die anderen tatsächlich mit dieser Wiedergeburt des Mysteriums weitermachen lassen und der ganzen Sache den Rücken kehren.
Nein. Nein! Er schüttelte wild entschlossen den Kopf.
Das ist auch meine Geschichte. Ich kann meinen Platz darin wieder einnehmen. Außerdem, dachte er, muss die Erklärung dessen, was meinen Eltern widerfahren ist – und mir selbst! – bei der Zirkustruppe liegen. Wenn es eine Lösung für dieses Rätsel gibt, dann dort.
Seine Finger bewegten sich wieder – als hätte der Körper schneller entschieden als sein Gehirn – und er tippte instinktiv die Worte: NEUNUNDVIERZIG + BARCELONA. Zuvor hatte sein Herz heftig gepocht, doch als er den Blick auf die Ergebnisse senkte, raste es.
Auf den ersten paar Seiten mit Suchergebnissen fiel ihm bis auf Nachrichtenfetzen nichts Besonderes ins Auge: »Neunundvierzig illegale Einwanderer in Barcelona verhaftet.« »Messi erzielt neunundvierzigstes Tor in laufender Saison.«
Wie hieß neunundvierzig auf Spanisch? Cuarenta y nueve. Er hackte die beiden Wörter in das Suchfenster und drückte auf Return.
Das Bild, das daraufhin erschien, ließ seine Finger über dem leuchtenden Bildschirm des Tablets erstarren. Er betrachtete das Foto ungläubig und erschrocken: eine Leiche mit trotzig oder schmerzhaft verrenktem Kopf, die in der Tür einer altmodischen Jahrmarktattraktion lag, einem plumpen roten Flugzeug, das über eine Metalltreppe zu erreichen war. Durch das Blitzlicht war der nackte Oberkörper deutlich zu erkennen – auf dem Rücken die vertrauten neunundvierzig Punkte.
Auf jeden Fall etwas, das diesem Muster sehr ähnlich sah.
Konnte das wirklich sein?
Danny beugte sich tief über das iPad, doch je stärker er das Foto vergrößerte, desto mehr verschwamm das Muster und löste sich in Pixel auf, bis die Punkte fast verschwanden. War dieser eine Punkt auf der linken Seite umkringelt worden – näher an der Mitte als bei den anderen Mustern, die er in der Vergangenheit gesehen hatte? Danny, in dessen Ohren das Blut pochte, kniff die Augen zusammen, um das verwischte Bild besser erkennen zu können. Wie konnte er sich vergewissern?
Er ließ den Zeigefinger über den Text gleiten – und da stand es, im dritten Absatz: »Cuaranta y nueve puntos quemado en la espalda.« Puntos hieß Punkte, aber der Rest? Er kopierte den Satz in eine Übersetzungsseite und las: »Neunundvierzig Punkte auf den Rücken gebrannt.«
Danny suchte das Datum des Zeitungsartikels – er war erst drei Tage alt. Die Gefahr musste also real sein. Ob dies bedeutete, dass man nicht nur seine Eltern – oder ihn selbst – im Visier hatte, sondern die ganze Truppe? Oder nur Zamora? Vielleicht war dies der heiß ersehnte Beweis dafür, dass ein Mitglied des Mysteriums – wahrscheinlich ein Khaos Klown – bis zum Hals in dieses Komplott verwickelt war. Ich muss unbedingt dorthin, dachte Danny. Und zwar sofort …
Er überlegte – kurz und nicht ernsthaft – Laura zu wecken, um ihr von dem Foto zu erzählen, wusste aber, dass sie die Sache runterspielen und ihm raten würde, die Angelegenheit den Experten zu überlassen, also Interpol und Inspektor Ricard.
Niemals!
Danny packte leise seine Sachen, suchte im Internet nach Zügen, notierte sich dieses und jenes und machte sich dann aus dem Staub – huschte über verlassene Hintertreppen aus dem Hotel, kletterte eine Feuerleiter hinunter und lief durch eine leere, hallende Garage.
Es war schon Nacht und eisig kalt. Der geschmolzene, in den Gossen liegende Hagel gefror wieder, und die Straßenlaternen vermochten die vom Friedhof aufwallende Dunkelheit nicht zu durchdringen. Danny zog sich die Kapuze des schwarzen Pullovers der Mysterium-Truppe über den Kopf, warf einen letzten Blick über die Schulter und verschmolz mit den Schatten. Über den Bäumen und Gräbern stand das Sternbild des Orion auf einem Bein am Himmel; eine riesige, über der schlafenden Stadt aufragende Gestalt.
Der Jäger – lauernd und bereit zuzuschlagen.