Bereits von Julian Sedgwick bei Aladin erschienen:
Mysterium. Der schwarze Drache

Alle deutschen Rechte bei Aladin Verlag GmbH, Hamburg 2015
nbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden
www.aladin-verlag.de

Originalcopyright Text © Julian Sedgwick, 2014
Originalverlag: Hodder Children’s Books
a division of Hachette Children’s Books
First published in Great Britain in 2014
Originaltitel: Mysterium. The Palace of Memory
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor
Bildelemente Umschlag:
Junge: shutterstock/ayakovlevcom
Seil: shutterstock/SCOTTCHAN
Feuer: shutterstock/Olga Nikonova
Sagrada Família: shutterstock/Genova
Hintergrund/Rahmen: shutterstock/Christophe BOISSON
Karte Vor- und Nachsatz: Christian Schneider
Lektorat: Nina Horn
Layout und Herstellung: Steffen Meier. Lithografie: Margit Dittes Media, Hamburg

E-Book-Erstellung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 978-3-8489-6022-4

Für Isabel
2707 13616 0712

PROLOG

Der Körper wird noch warm sein. Das weiß sie.

Sie weiß das, weil sie es war, die die Augen des Mannes schloss. Weil sie es war, die seine Leiche in dem alten Karussell auf dem Rummelplatz versteckte. Weil sie es war – La Loca –, die aus einer Pistole mit Schalldämpfer drei tödliche Schüsse auf ihn abfeuerte.

Poff, Poff, Poff – die Daunenfüllung quoll aus den Einschusslöchern im Parka, er schaute zuerst überrascht und dann entsetzt drein, danach trübte sich sein Blick ein. Dieser Taschendieb und Kleinganove hat seine armselige Existenz für eine viel bedeutsamere Welt zurückgelassen, denkt sie. Aber so ist das Leben nun mal: zur falschen Zeit am falschen Ort – Ende der Geschichte.

Sie duckt sich in die Schatten. Sie weiß, wann die Angestellten das blutrote Avió-Karussell öffnen und die Leiche entdecken werden. Sie kennt jeden Schritt ihres Fluchtwegs, weiß genau, wie lange es dauert, bis der junge Mann von der Todesstarre erfasst wird. All das weiß sie, weil sie es schon oft miterlebt hat. Weil sie Profi ist und die Stunden, Minuten und Sekunden vor einem Mord haargenau plant. Und auch die Zeit danach.

Tief unten liegt Barcelona im fahlen Licht der Novembersonne, die Häuser ballen sich vor der blauen Wand des Mittelmeeres zusammen. Ihr Blick bleibt an den hohen, verspielten Türmen der Kathedrale Sagrada Família hängen, an den gelben Kränen mit ihren spinnwebartigen Stahlgerüsten. Schon seit hundert Jahren wird an dieser Kathedrale gebaut und noch immer ist kein Ende in Sicht, die Arbeiten schreiten wie in Zeitlupe voran. Da soll noch einer sie für »verrückt« erklären!

Der beißende Gestank, der ihr in die Nase stieg, als sie das Muster der neunundvierzig Punkte mit einer Zigarette auf den Rücken der Leiche brannte, hängt immer noch in der Luft. Tja, sie tut, was man von ihr verlangt, denn der Kunde ist König. Außerdem konnte sie so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – ein paar gefälschte Hinweise hinterlassen, um die Polizei zu täuschen und ein Problem zu lösen, das sie mit ihrem Komplizen hat.

Sie holt eine Streichholzschachtel aus der Tasche, betrachtet das Bild des angriffslustig lauernden Tigers und legt sie dann neben die Zigarettenpackung in das Zwielicht.

Danach verlässt sie den Rummelplatz auf einem vergessenen Pfad, schlängelt sich in ihrem hellgrünen Mantel zwischen Kiefern und Kakteen zur Stadt durch. Unterwegs entfernt sie mit Handschuhen Herz und Hirn aus dem Handy ihres Opfers – Akku und SIM-Karte – und wirft alles in das tote Laub, das die Erde bedeckt.

EINS

Warum der Zirkus nicht wartet

Sechsunddreißig Stunden später.

Danny rennt durch dunkle Pariser Seitenstraßen zur Seine. Seine Füße sind leicht, sie fliegen über den Bürgersteig, der Rucksack klatscht gegen seinen Rücken.

Er bleibt kurz stehen. Sein Atem wölkt in der kalten Luft, als er in die Nacht späht, die nächste Ecke nach möglichen Gefahren absucht, nach dunklen Schemen, die sich vor dem Schein der Straßenlaternen in eine Ecke ducken, er spitzt die Ohren und strengt die Augen an, sein Herz hämmert. Muss gut aufpassen. Vielleicht wissen sie schon, wo ich bin. Aber wie sollten sie?

Er schaut auf die Uhr. Fünf Minuten. Noch fünf kostbare Minuten bis zur Abfahrt des Nachtzuges nach Barcelona.

Darf ihn nicht verpassen. Denn was sollte ich dann tun? Mit gesenktem Kopf ins Hotel zurückschleichen? Den Morgen abwarten, nur um von der Polizei aufgegriffen zu werden – und danach mit Tante Laura diskutieren und bitten und betteln zu müssen? Nein, keine Chance. Das kommt nicht in Frage.

Eine Stimme aus der Vergangenheit flüstert ihm etwas ins Ohr – Rosa, die Zirkusdirektorin des Mysteriums, die der Truppe auf einer großen und lange zurückliegenden Tournee Beine macht: Schneller, Kätzchen, schneller! Der Zirkus wartet nicht! Diese Erinnerung gibt Danny neue Kraft, und er rennt weiter. Seine Sinne sind so geschärft, dass er den Fluss riechen kann, bevor dieser in Sicht kommt.

Er hat keine Fahrkarte. Und kaum Geld – nur die vierzig Euro, die er sich von Laura »geliehen« hat. Furcht und Anspannung durchströmen ihn und spülen die Müdigkeit aus seinem Körper. Er denkt an seine Tante, die nach dem ersten Tag ihres Zwischenstopps in Paris im Hotel schläft, erschöpft vom Jetlag. Was wird Laura unternehmen, wenn sie nach dem Aufwachen merkt, dass er weg ist? Wird sie die Polizei alarmieren? Oder Major Zamora zwingen, ihn sofort wieder zurückzubringen?

Ich kann nur hoffen, dass ich durch meinen Brief ein bisschen Zeit gewinne, denkt Danny, und dass Laura mich mein Ding machen lässt – wenigstens für ein paar Tage. Ich kann nur hoffen, dass ich mein Selbstvertrauen nicht verliere. Ich kann es schaffen, das bilde ich mir jedenfalls ein. Immerhin wird mir Zamora zur Seite stehen.

Und da ist noch etwas, das für Gelassenheit sorgt und seine Schritte weiter beflügelt: Er wird zum Mysterium zurückkehren, wenn auch nur kurz – vielleicht nur »für eine unheimliche, aber wunderbare Nacht!« –, er wird durch das magische Portal des Vorhangs in eine Welt treten, die er für immer verloren glaubte. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht.

Ich laufe weg, weil ich zum Zirkus will! Oder besser: weil ich in den Zirkus zurückwill. Früher hätte ich das wohl als Heimkehr aufgefasst, aber das trifft inzwischen nicht mehr zu. Was wird das Mysterium ohne meine Eltern für mich sein? Sicher nicht der Ort, den er kannte und liebte, sondern etwas, das beschädigt, traurig und in die Jahre gekommen ist …

Sein Lächeln verfliegt.

Konzentrier dich, Idiot, murmelt er. Immer ein Schloss nach dem anderen. Ich bin der Neunundvierzig wieder auf der Spur und muss Zamora unbedingt warnen – vielleicht rette ich ihm dadurch das Leben. Das reicht wohl fürs Erste. Zum Glück fühle ich mich wieder fit und bereit für alles, was auf mich zukommt. Ja, ich renne. Aber zum ersten Mal seit Wochen und Monaten – seit Jahren – renne ich nicht vor den Schwierigkeiten davon, sondern darauf zu.

Er verengt entschlossen die Augen, als wollte er ein fernes Ziel ins Visier nehmen, und sprintet zum Nachtzug.

ZWEI

Warum manche Mädchen sich nicht verabschieden

In Hongkong – nach dem Kampf auf dem gekaperten Frachter, der triumphalen Rückkehr in den Hafen –, hatte Danny sich gefragt, ob er sich jemals wieder normal fühlen würde. Kopf und Körper vibrierten nicht nur von den Schlägen, die er kassiert hatte, sondern auch von dem ständigen Auf und Ab des Adrenalinspiegels, und er brauchte lange, um sich zu erholen.

Während er in seinem Bett im Pearl Hotel lag, wurde er immer wieder von Spätfolgen der Gehirnerschütterung und des Schocks eingeholt, die er erlitten hatte. Seine Träume wurden von den Erinnerungen an das dunkler werdende Meer und seinen Kampf um das Überleben überlagert. Kurz bildete er sich ein, sein Vater würde neben seinem Bett sitzen und versuchen, ihm aus der Zwangsjacke zu helfen, und dabei mit der leisen Brummstimme auf ihn einreden, mit der er früher gesprochen hatte, wenn er seinen Sohn in Geheimnisse einweihen wollte. Aber Danny konnte kein einziges Wort verstehen. Und seine Mutter war plötzlich auch da! Sie hatte den Blick auf einen unsichtbaren point de mire – einen Fixpunkt – gerichtet und tanzte leichtfüßig auf einem Seil über ihn hinweg. Wohin auch immer. Vielleicht ins Nirgendwo.

»Mama!«

Er richtete sich kerzengerade im Bett auf und versuchte im Zwielicht nach den Erscheinungen zu greifen – aber sie waren verschwunden. Das Zimmer war leer und still bis auf das Summen der Klimaanlage. Danny sank zusammen und schloss die Augen.

Zamora, Sing Sing, Tante Laura – sogar Inspektor Ricard – leisteten ihm während jener ersten Tage abwechselnd Gesellschaft: Laura schritt im Zimmer auf und ab wie ein Tier, das man in einen zu engen Käfig gesperrt hat; Zamora, die kurzen, krummen Beine fest auf dem Boden, betrachtete den Hafen; Ricard saß nachdenklich im Lehnstuhl, das Kinn auf die langen Finger gestützt.

Wenn sie glaubten, er würde schlafen, versammelten sie sich manchmal zu zweit oder zu dritt am Fußende seines Bettes und führten hektische Gespräche im Flüsterton. Der halb weggetretene Danny nahm nur Bruchstücke wahr. Wörter, die einerseits keinen Sinn ergaben und andererseits an ihm zerrten, als wollten sie seine Aufmerksamkeit erzwingen.

Zamora zu Sing Sing: »… ruf mich an, sobald du dich entschieden hast. Ich rede dann mit den anderen. Versprechen kann ich allerdings nichts …«

Sing Sing zu Zamora: »Aber du könntest fragen. Tu mir den Gefallen!«

Zamora zu Laura: »… will den Jungen jetzt auf keinen Fall beunruhigen. Du wirst es ihm erzählen müssen.«

Worauf Laura wütend flüsterte: »Na, besten Dank! Für dich hat der Schutz mal wieder oberste Priorität.«

Danny rollte sich unter der Bettdecke herum wie ein Schwimmer am Ende einer Bahn, schnappte einen Gesprächsfetzen auf. Danach tauchte er wieder in seinen Wassertraum ein. Er würde später noch genug Zeit haben, um mehr herauszufinden. Jetzt musste er weiterschwimmen. Um nicht unterzugehen. Um nicht zu ertrinken.

Drei Tage, nachdem er sich aus dem Kühlschrank befreit hatte, wurde er von Zamora unsanft aus dem Schlaf gerüttelt. Die Vorhänge waren geöffnet, der Abend ergoss sein bläuliches Licht auf Hongkong, und die Neonreklamen rings um den Hafen leuchteten vor den tief hängenden, drückenden Wolken.

»Aufwachen, Mister Danny! Ich muss los, amigo

Danny bemühte sich die Worte zu verstehen.

»Los? Wohin?«

»Ich muss einen Flieger erwischen. Habe daheim ein wichtiges Treffen – in Barcelona. Im guten alten Katalonien!«

»Ich muss unbedingt mit dir reden, Major …« Danny rieb sich Schlaf aus den Augen, blinzelte, versuchte zu begreifen, was los war.

»Das werden wir bald nachholen«, sagte der Major, der Danny auf keinen Fall beunruhigen wollte. »Ich bin so lange wie möglich geblieben, um sicherzugehen, dass du wieder ganz auf dem Damm bist.« Er lächelte. »Und ich werde endlich auf dem neuesten Stand der Technik sein. Wir können skypen oder wie das heißt.«

»Ich … ich …« Danny suchte nach Worten, aber er war noch so benebelt, dass er sie nicht fand.

»Muss abzwitschern, amigo. Das Taxi wartet. Andernfalls würde ich die Leute hängen lassen und du weißt, wie sehr ich das verabscheue.«

»Aber …«

»Du ruhst dich aus. Bis du ganz auf dem Posten bist. Dann reden wir. Adiós, mein Freund.«

Zamora wandte sich ab und ging mit gewohnt flotten Schritten zur Tür. Auf halber Strecke blieb er stehen, drehte sich noch einmal um und schenkte Danny ein strahlendes Lächeln.

»¡Carajo! Sie hatten keine Chance gegen uns, no?!«

Nach diesen Worten verschwand er.

»Major!«

Danny wollte die dicke Bettdecke abschütteln und aufstehen, aber seine Beine waren wie verknotet und gehorchten ihm nicht. Als er endlich erschöpft auf der Bettkante saß, schwirrte ihm der Kopf, und er versuchte verzweifelt letzte Kraftreserven anzuzapfen, um den Major zurückzurufen.

Seine Bemühungen wurden durch ein lautes Klopfen an der Tür unterbrochen. War Zamora umgekehrt?

»Ja?«

Die Tür ging auf und Inspektor Ricard kam herein.

Der Interpolbeamte wirkte erholt. Sein weißer Anzug war wie üblich makellos, aber die Sorgenfalten in seinem langen Gesicht schienen noch tiefer geworden zu sein.

»Du solltest liegen bleiben, Danny«, sagte er. »Du brauchst auf jeden Fall noch einen Tag Ruhe. Und wir müssen uns unterhalten.«

»Ich will mit Zamora reden …«

»Immer hübsch der Reihe nach. Außerdem ist Zamora abgereist.«

Dann analysierte Ricard auf eine geradezu forensische Art jedes Detail über Kwan, die Entführung und den Schwarzen Drachen. Er lauschte aufmerksam Dannys Antworten und machte sich währenddessen Notizen. Am Ende blies er enttäuscht die Backen auf.

»Tja, wer weiß. Vielleicht ist der Fall hiermit abgeschlossen. Ich habe bis jetzt keine Spur entdeckt, die über Kwan und den Drachen hinausweisen oder zu einer anderen, tatsächlich existierenden Organisation führen würde.«

»Warum hat Kwan dann gesagt, sein Boss wolle mich umbringen?«

»Wäre es möglich, dass du dich verhört hast, mon ami? Immerhin hast du unter starkem Stress gestanden …«

»Und die neunundvierzig Punkte in der Schule?«

»Der Schwarze Drache war dir wahrscheinlich schon damals auf den Fersen. Vielleicht wollte er Laura abschrecken.«

»Und warum wiederholen sie Papas gescheiterten Entfesselungsversuch im Wassertank?«

»Ein kranker Witz? Je ne sais pas.«

»Können Sie mir mehr über meinen Vater erzählen?«, fragte Danny, der sich nach Erklärungen für das ringsumher immer weiter wachsende Chaos sehnte. »Und über die Aufträge, die er für Sie erledigt hat?«

Ricard breitete entschuldigend die Arme aus und zuckte mit den Schultern.

»Wie schon gesagt, Danny – das würde ich gern tun, aber es ist mir unmöglich.«

Na schön! Dann behalte ich meine Geheimnisse auch für mich, dachte Danny: Das Bild des immer noch nicht identifizierten Khaos Klowns, der zusah, wie Papa aus dem zerschlagenen Wassertank geschwemmt wurde, das kurze Aufblitzen roter Farbe, das eine Sabotage nahelegte. Ich werde zunächst einmal auf eigene Faust nachforschen. Und sobald ich mir sicher bin, dass ich Recht habe, erzähle ich es Ricard. Oder ich tausche meine mühsam gewonnenen Erkenntnisse gegen seine Informationen ein.

»Du hast meine Karte, Danny. Du kannst mich jederzeit anrufen, Tag und Nacht.« Ricard erhob sich. »Und halte dich bitte an die Anweisungen deiner Tante. Ich weiß, wie dickköpfig dein Vater sein konnte. Deine Mutter genauso! Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass dieser Charakterzug in der Familie liegt …«

Danny nickte. Darauf kannst du wetten!, dachte er.

Nach Zamoras Abreise war Danny enttäuscht gewesen, dass aber auch Sing Sing verschwunden und ohne eine einziges Wort in der Stadt abgetaucht war, diese Nachricht hatte ihn zwei Tage später regelrecht niedergeschmettert. Ohne sich anständig von ihm zu verabschieden!

Sie hatten kurz über Kung-Fu und Zirkuskünste gesprochen, aber jedes Mal, wenn Danny mehr über ihre Kindheit hatte erfahren wollen – und über den Verlust ihrer Eltern –, reagierte sie mit schlechten Witzen oder mit eisernem Schweigen.

Er hatte es ein allerletztes Mal versucht und ihr dabei tief in die Augen geschaut: »Charlies Tod tut mir echt leid. Ich habe das Gefühl, zum Teil dafür verantwortlich zu sein. Hast du denn überhaupt keine anderen Angehörigen?«

»Nee. Schauen sich alle die Radieschen von unten an«, sagte sie gezwungen fröhlich, aber Danny spürte, dass die Gefühle ihr die Kehle zuzuschnüren drohten. »Menschen wie Charlie werden oft von ihrer Vergangenheit eingeholt.«

»Dann erzähl mir von deiner Mutter.«

»Auf. Gar. Keinen. Fall«, sagte Sing Sing, die jedes Wort mit einer so abgehackten Handbewegung unterstrich, als wollte sie weitere Fragen abschmettern.

Besser nicht nachhaken, dachte Danny. Will nicht die erste echte Freundin vergraulen, die ich seit vielen Jahren gefunden habe. Er sah ihr in die dunklen und wachsamen, entschlossen funkelnden Augen und versuchte, nicht daran zu denken, wie sehr er sie vermissen würde, wenn er wieder nach England zurückkehrte. Er malte sich kurz aus, wie es wäre, wenn sie in derselben Stadt wohnen und dieselbe Schule besuchen würden, wie es wäre, wenn er die starke und kluge Sing Sing ständig an seiner Seite hätte … Ja, der Abschied würde ihm schwerfallen.

Vielleicht spürte sie das und versuchte deshalb, ihm die Sache zu erleichtern. Am nächsten Tag entdeckte er einen Umschlag, adressiert an Mister Danny Woo, den jemand unter der Tür seines Hotelzimmers durchgeschoben hatte.

Der Umschlag enthielt eine Postkarte mit einem Bild der Hongkonger Seilbahn, auf deren Rückseite in ungestümer Handschrift zu lesen stand:

Ich mag keine Abschiede und deshalb sage ich nicht Tschüss. Wir sehen uns wieder. Ich muss los, um auf dem Festland ein paar Dinge zu regeln.
Sing Sing

Keine Telefonnummer, keine E-Mail-Adresse, keine Anschrift.

Zuerst Zamora, jetzt Sing Sing. Danny wurde immer frustrierter, während er die Karte zum zweiten Mal las und sich dabei wünschte, dass sie mehr verraten würde. Alle Menschen, die ihm wichtig waren, schienen möglichst schnell verschwinden zu wollen oder ihm – angeblich zu seinem eigenen Besten – Dinge vorenthalten zu müssen …

Vielleicht bin ich ihr ja auch vollkommen gleichgültig, dachte er und fühlte sich noch elender.

Er schleppte sich zum Fenster, ohne die Postkarte loszulassen, und sah zu, wie die Schiffe ihre rätselhaften Botschaften in die Wellen schrieben.

Hier ist so viel passiert, dachte er – zuerst bin ich vor dem Golden Bat im Regen erwacht, und schließlich bin ich wie verrückt um Luft ringend aus dem Meer aufgetaucht. Irgendetwas hat sich verändert – und ich habe endlich wieder das Gefühl, lebendig zu sein. Quicklebendig. Ich will mich auf gar keinen Fall wieder so wie im Internat in Ballstone fühlen, unter Schock, abgestumpft, traurig. Ich will wieder schöne Tage erleben – wie im Frühling, wenn man beim ersten Licht erwacht und die Luft von dem Gezwitscher der Vögel oder dem Brummen und Dröhnen einer unbekannten Stadt erfüllt ist – wenn man das Gefühl hat, dass alles – wirklich alles – möglich ist.

Ich werde mein Leben selbst in die Hand nehmen und niemand wird mich daran hindern. Ich werde die Fährte der Neunundvierzig sogar dann aufnehmen, wenn ich ganz auf mich allein gestellt bin. Ich werde ihr folgen, bis ich herausfinde, was Mama und Papa widerfahren ist. Und mir selbst.

Als Laura erschien, um ihm einen guten Morgen zu wünschen, war er schon angezogen, und seine Augen strahlten unternehmungslustig.

»Zamora ist weg. Sing Sing ist weg. Wann reisen wir endlich ab, Tante Laura?«

»Die Polizei hat mir gerade grünes Licht gegeben. Hast du Lust, in Paris Station zu machen? Eine Verschnaufpause würde uns guttun, und außerdem wüsste niemand, dass wir uns dort aufhalten …«

»Kaufst du wie versprochen das iPad?«

»Ja, im Duty-free-Shop. Warum?«

»Ich muss Sachen erledigen.«

DREI

Warum der Jäger durch die Nacht pirschte

Danny beobachtete durch das Fenster, wie die Skyline von Hongkong im Bogen vorbeiglitt. Je höher das Flugzeug stieg, desto kleiner wurden die dunkelgrünen Hügel, und am Ende verschwanden sie vollständig unter den Wolken. Laura, die sich schon in die Arbeit gestürzt hatte, nuckelte entweder am Stift oder schrieb etwas in ihre Recherchekladde.

Sie warf ihm einen Blick zu. »Ich muss die Details festhalten, solange sie noch frisch sind. Verlass dich nie auf die Erinnerung, denn sie hat die Eigenart, die Dinge so hinzubiegen, wie man sie gern haben möchte.«

Danny war in Gedanken ganz woanders. »Weißt du, was Sing Sing auf dem Festland erledigen muss?«

»Ich schätze, du kennst sie besser als ich.«

»Sie wollte reden, glaube ich. Über ihre Vergangenheit. Aber sie hat sich gleichzeitig dagegen gesträubt.«

»So ist das oft. Vor allem, wenn es um schmerzhafte Erfahrungen geht.«

»Ich habe mitbekommen, wie der Major mit ihr geredet hat, und es klang nach einer wichtigen Diskussion.«

»Puh, was weiß ich?«, sagte Laura, die seinem Blick etwas zu schnell auswich und dadurch verriet, dass sie ihm etwas verheimlichte.

Danny fiel das sofort auf und er beschloss, nicht lockerzulassen. »Und zu dir hat er gesagt: ›Du wirst es ihm erzählen müssen.‹ Was musst du mir erzählen?«

»Gar nichts. Ehrlich.«

»Du sagst nicht die Wahrheit, Tante Laura. Das merke ich!«

Laura seufzte. »Oh, Mann! Kein Grund, auf Zamora sauer zu sein, Danny. Er wollte dich nicht beunruhigen, das ist alles.«

Danny winkte genervt ab. »Ich habe langsam genug davon, dass ihr mir nie erzählt, was los ist. Vor allem, wenn es mich betrifft!«

»Ja, schon klar. Du hast bereits erwähnt, dass du kein kleines Kind mehr bist. Aber – rein formal und vor dem Gesetz – bist du immer noch minderjährig, Daniel.«

»Worum geht es?«

Laura sah ihm in die Augen, deren Farben – das Aufblitzen des Grüns, das unergründliche Braun – durch das Licht in dieser großen Höhe etwas Fragendes und Forschendes ausstrahlten. Irgendwie rastlos und energiegeladen zugleich.

»Na gut – du hättest es sowieso bald herausgefunden. Das Mysterium erlebt einen Neuanfang. Zamora, Rosa und Darko Blanco haben mit den anderen Mitgliedern der Truppe gesprochen. Deshalb ist der Major nach Barcelona gereist. Er will dort proben …«

Danny war im ersten Moment so vor den Kopf gestoßen, dass es ihm die Sprache verschlug.

»Aber das geht nicht! Jedenfalls nicht ohne mich!«, stotterte er. »Nicht ohne Mama, meine ich, und nicht ohne Papa!«

»Zamora war der Meinung, dass es für dich zu schmerzhaft sein könnte …«

»Es ist noch viel schlimmer. Ich muss dabei sein.« Laura würde das sicher verstehen!

»Zuerst müssen wir eine Schule für dich finden und den Polizeischutz organisieren …«

»Ich gehöre zum Mysterium …«

»Ich weiß, dass dich alle dort sehr mögen, Danny. Aber genau genommen gehörst du nicht zur Zirkustruppe. Mir ist schon klar, dass du immer wieder geholfen hast, und ich weiß auch, wie viel dir das bedeutet …«

»Aber …« Er hatte stets gehofft, eines Tages ein vollwertiges Mitglied der Truppe zu sein. Wenn er doch nur eine richtige Nummer beisteuern könnte.

»Keine Diskussion!«, fauchte Laura. »Wir brauchen grünes Licht von Ricard und müssen die Gewissheit haben, dass die Neunundvierzig nur Theaterdonner ist, den ein paar übergeschnappte Triaden-Idioten veranstalten. Das habe ich deinem Vater versprochen. Und deiner Mama auch.«

Danny öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, wusste aber, dass es sinnlos wäre. Und was konnte er zehntausend Meter über China schon ausrichten?

Das Schlimmste daran war, dass all das im Widerspruch stand zu dem, was Zamora damals in Berlin, an jenem langen und eisigen Abend der Beerdigung, zu ihm gesagt hatte. Danny erinnerte sich an den endlosen, erstickenden Schneefall und auch daran, wie sehr er darum gekämpft hatte, sich nicht von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen, sich nicht vorzustellen, wie seine Eltern in ihren Särgen aussahen. »Du kannst immer auf mich bauen, Danny«, hatte Zamora gesagt. »VERTRAU mir.«

Genau das konnte Danny offensichtlich nicht. Schon gar nicht angesichts dieses … Verrats! Es gab kein anderes Wort dafür. Er ließ die Faust gegen das Fenster knallen und senkte den Blick auf die dicken Wattewolken.

»Und wie nennen sie die Show?«, fragte er nach einigen Minuten brütenden Schweigens.

»Mysterium Redux. Das wiedergeborene Mysterium. Vielleicht in Anlehnung an die LP von Velvet Underground.«

»Seit wann planen die das?«

»Das musst du sie schon selbst fragen. Wir werden jedenfalls erst einmal Paris genießen. Das habe ich verdammt nötig.«

In der schmalen Metallröhre des Flugzeugs fühlte sich Danny plötzlich beengt, geradezu eingesperrt. Er wünschte sich verzweifelt an die frische Luft und auf weite, offene Flächen, um wieder selbst über sich bestimmen zu können. Er konnte die Landung kaum erwarten, wollte so rasch wie möglich ins Internet, um die neuen Fährten zu verfolgen, auf die er in Hongkong gestoßen war.

In Paris wurden sie von einem Unwetter begrüßt. Bleigraue Wolken ließen Hagelkörner auf das Dach des Taxis prasseln, als sie vor ihrem Hotel gegenüber dem Friedhof Père Lachaise hielten, dessen herbstliche Farben in dem dichten weißen Nebel nur verschwommen zu erkennen waren. Laura warf einen Blick aus dem Fenster und zog eine Grimasse.

»So ein Mist. Komm, wir machen es uns im Hotel gemütlich und schauen uns die Stadt morgen an. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht.«

»Nein«, erwiderte Danny erleichtert. »Passt schon. Kann ich das neue iPad benutzen?«

»Aber klar. Ich haue mich eine Weile aufs Ohr.«

Laura hatte kaum ausgepackt, da schlief sie schon tief und fest in einem Sessel, ohne sich umgezogen zu haben. Im Gegensatz dazu verflog Dannys Müdigkeit schlagartig und wich, während er die Verpackung des iPads aufriss und das Aufladekabel des Geräts mit der Steckdose verband, Ungeduld und Zorn. Der Gedanke, dass das Mysterium in Kürze zu neuem Leben erwachen würde, war zwar gewöhnungsbedürftig, spornte ihn aber an.

Er trat ans Fenster.

Draußen dämmerte der Abend. Der Friedhof war von schmelzenden Hagelkörnern bedeckt, die Dunkelheit kroch wie träges schwarzes Wasser um Bäume und Grabmäler auf Danny zu. Sie weckte die – sehr unangenehme – Erinnerung daran, dass er im Südchinesischen Meer beinahe ertrunken wäre. Er zog rasch die Vorhänge zu.

Warum warten, bis das Ding aufgeladen ist?, dachte er, schnappte sich das iPad und hackte das Wi-Fi-Passwort des Hotels in die Tasten. Seine Finger flogen über den Bildschirm, tippten: »MYSTERIUM + BARCELONA.« Über 960 000 Treffer in 0,36 Sekunden. Er holte tief Luft und klickte den ersten Eintrag an.

Sofort überkam ihn ein Gefühl von Vertrautheit! Ein Artikel auf Spanisch mit einem Foto, das Darko Blanco und Aki zeigte – den japanischen Clown –, der auf dem Dach eines alten Straßenbahnwagens eine der Trapezkünstlerinnen in die Höhe stemmte. Das Mädchen (Beatrice oder Izzy, er konnte die Zwillinge nie auseinanderhalten) spie eine lange, lodernde, orangefarbene Flamme. Die Überschrift des Artikels lautete: En Barcelona El Mysterium respira de nuevo. In Barcelona beginnt das Mysterium wieder zu atmen. Danny hatte durch Zamora genug Spanisch aufgeschnappt, um diese Worte mehr oder weniger problemlos übersetzen zu können.

Es stimmte also tatsächlich! Und niemand hatte ihm Bescheid gesagt! Andererseits war es nur logisch. Barcelona war der Geburtsort des Mysteriums – dort hatte sein Vater Zamora und Rosa kennengelernt, dort hatten sie die ersten, bescheidenen Vorstellungen gegeben, und dorthin waren auch alle anderen gereist, um sich vorzustellen und zu proben. Ja, es leuchtete ein – aber es schmerzte Danny sehr, dass er jetzt nicht dabei sein konnte.

Sein Blick gleitet über die anderen Suchergebnisse.

Noch ein Treffer – www.mysteriumredux.com – vielleicht die neue Website der Truppe? Er spürte, wie sein Herz zu rasen begann, als er auf den Bildschirm tippte – die wunderschönen Buchstaben des Wortes MYSTERIUM erstrahlten vor einem mitternachtsblauen Hintergrund. Nachdem er auf das Wort geklickt hatte, lief ein Video in Endlosschleife: Rosa, die ihre punkige Zirkusdirektorinnen-Uniform trug, führte die Nummer vor, bei der sie einen Fisch schluckte – die Schwanzflosse einer Makrele ragte aus ihrem Mund, ihre Wangen waren kugelrund, ihre Augen weit aufgerissen –, und Danny las die Worte: »Tauchen Sie ein in die Welt von Mysterium Redux.« Darüber gab es Rubriken für Geschichte Mysterium, Videos und Neue Show in Kürze. Eine gut gestaltete Website, fand Danny, mit vielen Unterseiten, ohne »Baustellen«. Die Truppe hatte also nicht erst gestern wieder zusammengefunden, sondern das Ganze schon eine ganze Weile geplant. Während er in Ballstone verschimmelte, hatten sie einander E-Mails geschrieben, Webseiten entworfen und geprobt!

Danny klickte auf Veranstaltungsort und erkannte das Gebäude, das den ganzen Bildschirm ausfüllte, auf Anhieb: Die Türme und Kräne der Kathedrale Sagrada Família mit ihrer außergewöhnlichen Architektur, die sich geradezu organisch in den Himmel schraubte – wie gewaltige Korallen oder gigantische Baumstämme. Er konnte sich daran erinnern, einmal dort gewesen zu sein – vor vielen Jahren –, und wusste noch, wie sehr die verrückte Schönheit dieser Kathedrale seinen Vater begeistert hatte. Seit hundert Jahren wurde daran gebaut und sie war noch immer nicht vollendet. Was für ein Veranstaltungsort!

Dannys Finger kreisten über dem Bildschirm. Seine Entdeckung hatte ihn so begeistert, dass das Gefühl des Verrats fast verflogen war. Nun holte es ihn wieder ein. Sollte er versuchen mehr herauszufinden? Oder sollte er die Sache auf sich beruhen lassen, vielleicht sogar ganz abhaken, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen? Wenn er in Barcelona nicht erwünscht war – sogar Zamora hatte ihn nicht in dieses Geheimnis eingeweiht –, dann wäre es vielleicht besser, nicht mehr in der Vergangenheit zu wühlen, sondern sich mit Hilfe von Laura und Ricard in einer neuen Schule und in einem neuen und sicheren (aber öden) Leben einzurichten. Vielleicht sollte er die anderen tatsächlich mit dieser Wiedergeburt des Mysteriums weitermachen lassen und der ganzen Sache den Rücken kehren.

Nein. Nein! Er schüttelte wild entschlossen den Kopf.

Das ist auch meine Geschichte. Ich kann meinen Platz darin wieder einnehmen. Außerdem, dachte er, muss die Erklärung dessen, was meinen Eltern widerfahren ist – und mir selbst! – bei der Zirkustruppe liegen. Wenn es eine Lösung für dieses Rätsel gibt, dann dort.

Seine Finger bewegten sich wieder – als hätte der Körper schneller entschieden als sein Gehirn – und er tippte instinktiv die Worte: NEUNUNDVIERZIG + BARCELONA. Zuvor hatte sein Herz heftig gepocht, doch als er den Blick auf die Ergebnisse senkte, raste es.

Auf den ersten paar Seiten mit Suchergebnissen fiel ihm bis auf Nachrichtenfetzen nichts Besonderes ins Auge: »Neunundvierzig illegale Einwanderer in Barcelona verhaftet.« »Messi erzielt neunundvierzigstes Tor in laufender Saison.«

Wie hieß neunundvierzig auf Spanisch? Cuarenta y nueve. Er hackte die beiden Wörter in das Suchfenster und drückte auf Return.

Das Bild, das daraufhin erschien, ließ seine Finger über dem leuchtenden Bildschirm des Tablets erstarren. Er betrachtete das Foto ungläubig und erschrocken: eine Leiche mit trotzig oder schmerzhaft verrenktem Kopf, die in der Tür einer altmodischen Jahrmarktattraktion lag, einem plumpen roten Flugzeug, das über eine Metalltreppe zu erreichen war. Durch das Blitzlicht war der nackte Oberkörper deutlich zu erkennen – auf dem Rücken die vertrauten neunundvierzig Punkte.

Auf jeden Fall etwas, das diesem Muster sehr ähnlich sah.

Konnte das wirklich sein?

Danny beugte sich tief über das iPad, doch je stärker er das Foto vergrößerte, desto mehr verschwamm das Muster und löste sich in Pixel auf, bis die Punkte fast verschwanden. War dieser eine Punkt auf der linken Seite umkringelt worden – näher an der Mitte als bei den anderen Mustern, die er in der Vergangenheit gesehen hatte? Danny, in dessen Ohren das Blut pochte, kniff die Augen zusammen, um das verwischte Bild besser erkennen zu können. Wie konnte er sich vergewissern?

Er ließ den Zeigefinger über den Text gleiten – und da stand es, im dritten Absatz: »Cuaranta y nueve puntos quemado en la espalda.« Puntos hieß Punkte, aber der Rest? Er kopierte den Satz in eine Übersetzungsseite und las: »Neunundvierzig Punkte auf den Rücken gebrannt.«

Danny suchte das Datum des Zeitungsartikels – er war erst drei Tage alt. Die Gefahr musste also real sein. Ob dies bedeutete, dass man nicht nur seine Eltern – oder ihn selbst – im Visier hatte, sondern die ganze Truppe? Oder nur Zamora? Vielleicht war dies der heiß ersehnte Beweis dafür, dass ein Mitglied des Mysteriums – wahrscheinlich ein Khaos Klown – bis zum Hals in dieses Komplott verwickelt war. Ich muss unbedingt dorthin, dachte Danny. Und zwar sofort …

Er überlegte – kurz und nicht ernsthaft – Laura zu wecken, um ihr von dem Foto zu erzählen, wusste aber, dass sie die Sache runterspielen und ihm raten würde, die Angelegenheit den Experten zu überlassen, also Interpol und Inspektor Ricard.

Niemals!

Danny packte leise seine Sachen, suchte im Internet nach Zügen, notierte sich dieses und jenes und machte sich dann aus dem Staub – huschte über verlassene Hintertreppen aus dem Hotel, kletterte eine Feuerleiter hinunter und lief durch eine leere, hallende Garage.

Es war schon Nacht und eisig kalt. Der geschmolzene, in den Gossen liegende Hagel gefror wieder, und die Straßenlaternen vermochten die vom Friedhof aufwallende Dunkelheit nicht zu durchdringen. Danny zog sich die Kapuze des schwarzen Pullovers der Mysterium-Truppe über den Kopf, warf einen letzten Blick über die Schulter und verschmolz mit den Schatten. Über den Bäumen und Gräbern stand das Sternbild des Orion auf einem Bein am Himmel; eine riesige, über der schlafenden Stadt aufragende Gestalt.

Der Jäger – lauernd und bereit zuzuschlagen.