Shahar Arzy ∙ Moshe Idel

Der Dibbuk im Gehirn

Kabbala und Neurowissenschaft

Aus dem Englischen von
Eva-Maria Thimme und Jürgen Schröder

Jüdischer Verlag

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Kabbalah. A Neurocognitive Approach to Mystical-Experiences bei Yale University Press, New Haven und London.

eBook Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe 2016.

© der deutschen Ausgabe Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Copyright © 2015 by Shahar Arzy und Moshe Idel

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Leonora Carrington, Janan, Lithographie, 1974, © VG Bild-Kunst Bonn, 2016

Foto: Mixografia® Workshop

eISBN 978-3-633-74898-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

Zur Transliteration hebräischer Namen und Begriffe

Einleitung

I Warum es sinnvoll ist, sich unter neurokognitivem Aspekt mystischen Erfahrungen anzunähern

1. Vier Hauptansätze

2. »Von unten nach oben« – ein anderer Weg, mystischen Erfahrungen näherzukommen

3. Erfahrungen, Ausstrahlungen und kognitive Techniken

4. Technischer Konstruktivismus aus dem Innern des Gehirns: Grenzen dieser Methode

II Mystischen Erfahrungen näherkommen

1. Ekstase und subjektive Erfahrung

2. Ekstase im Judentum

3. Vier Stufen der Ekstase in der jüdischen Mystik

4. Vier Typen ekstatischer Erfahrung in der jüdischen Mystik

5. Ekstase und die kognitive Neurowissenschaft vom menschlichen Selbst

III Von dem da draußen
Phänomene der Autoskopie in der jüdischen Mystik

1. Ex-stasis: Außer-sich-sein

2. Phänomene der Autoskopie

3. Phänomene der Autoskopie in der ekstatischen Kabbala

4. Berichte von mystischen Erfahrungen

5. Analyse der mystischen Erfahrungen

6. Ekstasen von Autoskopie, Aufstieg und Vereinigung:
Unterschiedliche kabbalistische Strömungen, verschiedene Hirnmechanismen

7. Zusammenfassung

IV Der Daimon im Gehirn:
Trance und Besessenheit in der jüdischen Mystik

1. Dissoziative Trance-Störungen

2. Maggid und Dibbuk

3. Der Maggid und seine Induktion

4. Persönliche Berichte von Erfahrungen mystischer Dissoziation

5. Maggid, Dibbuk und das Gehirn

6. Maggid und Dibbuk: Zwei Selbst in einer Person

Schlußfolgerungen

1. Abschließende methodologische Bemerkungen

2. Die ekstatische Kabbala – eine wegweisende Erforschung des menschlichen Selbst

Anhang A
Die Außen- und die Innenwelt: Funktionelle Netzwerke im menschlichen Gehirn

1. Weiträumige Netzwerke im menschlichen Gehirn: Funktion und Anatomie

2. Die Außen- und die Innenwelt

3. Die Integration von Informationen im Gehirn

4. Verkörperlichung, Subjektivität und Integration

5. Schlußfolgerung

Anhang B
Der Mystiker Abraham Abulafia, seine Theorie und seine Techniken

Anmerkungen

Bibliographie

Dank

Vorwort

Nicht selten stellt sich heraus, daß Antworten auf uralte Fragen genauso alt sind wie diese selbst.

In diesem zum Nachdenken anregenden Werk weisen Shahar Arzy und Moshe Idel überzeugend nach, daß eine Schar jüdischer, allesamt der Kabbala zuzurechnender Mystiker seit Jahrhunderten bereits Techniken beherrschten, mit denen sie die Geheimnisse vom Bewußtsein, von Geist und Körper des Menschen, seiner Selbstwahrnehmung und ekstatischen Erfahrungen erforschten und möglicherweise auch aufdeckten.

Das durch die kabbalistischen Mystiker in seinem wesentlichen Bestand überlieferte und im vorliegenden Buch untersuchte Wissen ergänzt und erweitert in beträchtlichem Maße die aus anderen Quellen gewonnenen Einblicke in diese Phänomene. So verweisen die Autoren darauf, daß beispielsweise Personen im Zusammenhang mit ihren epileptischen Anfällen von ähnlichen Erfahrungen zu berichten wußten. Fjodor Dostojewski schilderte seine Anfälle folgendermaßen: »Für einige Augenblicke […] verspüre ich ein solches Glücksgefühl, wie es unter gewöhnlichen Umständen kaum möglich ist und von dem andere sich keine Vorstellung machen können. Ich empfinde eine vollkommene Harmonie in mir und in der Welt, und dieses Gefühl ist so stark, so süß, daß man für wenige Sekunden solcher Wonne zehn Jahre seines Lebens, vielleicht gar das ganze Leben geben möchte.«1 Solche Momente äußersten Glücksgefühls wurden ebenfalls von Personen ausführlich beschrieben, die regelmäßig meditieren und keineswegs in der Tradition der Kabbala stehen.

Werden wir also, wie die Autoren nahelegen, mit diesem von ihnen entdeckten, unermeßlich wertvollen Schatz den seit Jahr und Tag erörterten, faszinierenden Fragestellungen näherkommen? Können wir tatsächlich »die Mechanismen des Gehirns und die Vorgänge in ihm entziffern«, indem wir die Methoden und Erfahrungen der Mystiker durch die Prismen sowohl der modernen neurologischen und kognitiven Wissenschaften als auch unserer Weltanschauungen in Augenschein nehmen?

Vielleicht – freilich wird das, soll es mit der Kabbala übereinstimmen, Geduld und Fleiß erfordern.

Steven C. Schachter

Zur Transliteration hebräischer Namen und Begriffe

Zahlreiche Namen und Begriffe sind in den deutschen Wortschatz eingegangen und werden in ihrer gängigen Form zitiert, beispielsweise Kabbala, Israel, Levi bzw. Leviticus, Sohar.

Sonst wird der Lesbarkeit zuliebe folgende Umschrift verwandt:

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Einleitung

Körper und Selbst des Menschen spielen in der Mystik eine herausragende Rolle.1 Mystiker ganz unterschiedlicher Richtungen bemühten sich, ein verändertes körperliches Befinden zu erlangen, etwa das Gefühl, ihr Körper wachse über seine physischen Grenzen hinaus, sie »vergäßen« ihn oder »etwas« füllte ihn aus.2 Einige berichteten, daß sie das Gefühl hatten, verdoppelt, emporgehoben oder halbdurchlässig zu sein, andere schilderten ein Empfinden, als vereinige sich ihr Selbst mit der dinglichen Welt, daß es sich teile oder daß sie sich in ungewöhnlichen Körperhaltungen befänden.3 Dieses veränderte Körpergefühl brachte die Mystiker im weiteren dazu, die Grenzen von Geist, Bewußtsein und Selbst zu erforschen, waren es doch die körperlichen Veränderungen, von denen aus auf die verborgenen geistigen Funktionen neuerlich Licht geworfen werden konnte. So entwickelten insbesondere jene Mystiker, die sich regelmäßig Ekstaseübungen unterzogen, komplizierte Verfahren bezüglich der Symbolik, der Transformation und Konzentration des Bewußtseins, um eine Veränderung ihrer psycho-mentalen Befindlichkeit herbeizuführen. Mit Hilfe solcher Techniken vermochten die Mystiker, ihre Vorstellungen, ihr Staunen gleichsam in eine Fassung zu bringen, die dazu angetan war, auf ihr Selbst, ihr Bewußtsein und ihren Geist zu schließen.

Selbst, Bewußtsein und Geist sind seit geraumer Zeit zu zentralen Forschungsthemen in dem ständig sich erweiternden Bereich der kognitiven Neurowissenschaft geworden. Zunächst befaßte sie sich im wesentlichen mit solchen Funktionen wie Gedächtnisleistung, Lernen, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, bevor sie ihren Radius erweiterte und nicht nur der Frage nach bestimmten Funktionen nachging, sondern überdies nach dem System forschte, das diesen Funktionen zugrunde liegt – nämlich dem Selbst des Menschen. Bei diesen Forschungen geht man hauptsächlich von Patientenuntersuchungen aus. Es waren insbesondere Patienten mit veränderter Körperwahrnehmung, die auf die Notwendigkeit eines speziellen Forschungsbereichs – dem des körperlichen Bewußtseins – aufmerksam machten, während Patienten in dissoziativen Zuständen – bei denen die Einheit oder Kontinuität von Bewußtsein, Identität und Körperhaltung gestört ist – uns darauf hinweisen, wie wichtig diese Integration in unser geistiges Umfeld ist.

In diesem Buch untersuchen wir die Phänomenologie, Neurologie und ekstatischen Erfahrungen zugrunde liegenden Mechanismen, wie sie in den Schriften von Mystikern der Hauptströmungen der Kabbala geschildert werden, wobei auch die prophetische Kabbala und die Lehre Isaak Lurias, der Sabbatianismus und der Chassidismus berücksichtigt werden. Diese Mystiker gelangten zu ihren spektakulärsten mystischen Erfahrungen vermittels praktischer Ekstasetechniken, die ihre Wahrnehmung von Körper und Selbst veränderten.

Wir gehen im einzelnen auf die Erfahrungen, Techniken, Berichte und Anweisungen ein, wie sie von den Mystikern selbst beschrieben wurden. Diese werden mit ähnlichen Phänomenen verglichen, die man heutzutage bei Patienten der Neurologie feststellt oder im Labor bei gesunden Personen untersucht und induziert. Unser Anliegen ist, mit Hilfe von neurologischen und neuropsychologischen Untersuchungen, Analysen von Hirnverletzungen, mittels der experimentellen Psychologie, der Neurophysiologie und des Neuroimaging die neurokognitiven Mechanismen und Prozesse zu entziffern, die diesen mystischen Erfahrungen zugrunde liegen. Das eröffnet die Möglichkeit, nicht allein die mystischen Techniken, sondern auch die ekstatischen Erfahrungen und deren unterschiedliche Zusammenhänge zu verstehen.

In den vergangenen Jahren wurde verschiedentlich der Versuch unternommen, die Verbindungen zwischen mystischen Erfahrungen in unterschiedlichen Kulturen und den Neurowissenschaften zu erforschen. Im Zentrum unserer Untersuchung stehen hier zum einen die jüdischen ekstatischen Mystiker, zum anderen die autoskopischen und dissoziativen Erfahrungen. Leser, die sich für breiter angelegte Studien zum Thema religiöse Erfahrung und Hirnforschung interessieren, sollten allgemeinere Werke konsultieren, beispielsweise Patrick McNamaras The Neuroscience of Religious Experience.

Das erste Kapitel stellt die wichtigsten Ansätze religionswissenschaftlicher Untersuchungen von mystischen Erfahrungen vor und erörtert Vor- und Nachteile unseres phänomenologischen Vorgehens, das speziell die mystischen Techniken berücksichtigt und von der Hirnforschung ausgeht. Im zweiten Kapitel wird die zentrale Rolle der Ekstase in der Mystik hervorgehoben, und die vier wichtigsten kabbalistischen Ekstase-Erfahrungen werden vorgestellt: Autoskopie, Aufstieg bzw. Himmelsreise, Vereinigung, Dissoziation. Das dritte Kapitel analysiert die drei ersten Ekstaseformen, wobei hier sowohl hinsichtlich der phänomenologischen Merkmale als auch der zugrunde liegenden neurokognitiven Mechanismen unterschieden wird. Thema des vierten Kapitels ist die dissoziative Ekstase, wobei hier zwischen Trance und dissoziativer Besessenheitsstörung unterschieden und ihre neurokognitiven Korrelate charakterisiert werden. Appendix A möchte Leser ansprechen, die mit Neurologie und kognitiven Hirnwissenschaften nicht so vertraut sind, und stellt die Informationsverarbeitung im Gehirn dar, erläutert die wichtigsten funktionalen Netzwerke im Gehirn sowie die spezialisierten hochstufigen Hirnaktivitäten, die in diesem Buch von Bedeutung sind. Appendix B wendet sich an Leser, die religionswissenschaftlichen Forschungen eher fernstehen, und macht sie mit der zentralen mystischen Persönlichkeit dieses Buchs bekannt – Abraham Abulafia.

Wohlgemerkt geht es in diesem Buch nicht darum, die mystische Erfahrung auf ein »simples« neurokognitives Muster zurückzuführen. Vielmehr ist unser Anliegen, mit Hilfe genauer phänomenologischer und technischer Analysen sowie deren Abgleichung mit neuesten Forschungsergebnissen in der kognitiven Neurowissenschaft die Komplexität der mystischen Erfahrung zu entschlüsseln, und zwar indem wir die zugrunde liegenden neurokognitiven Mechanismen herausarbeiten. Ausgehend von diesen Grundelementen könnten weitere Forschungen unternommen werden – beispielsweise der Vergleich unterschiedlicher mystischer Zirkel oder die Rekonstruktion von Ritualen, Techniken und Lehren. In ihrem Bemühen um ein tieferes Verständnis von Geist, Bewußtsein und Selbst könnten – so unsere Vermutung – diese Mystiker zumindest teilweise das gleiche Interesse wie die heutigen Spezialisten auf dem Gebiet der kognitiven Neurowissenschaft haben. Daher hoffen wir, daß die vorliegenden Analysen zur Vertiefung unseres Verständnisses der subjektiven Erfahrung beitragen, welche die kabbalistischen Mystiker hervorzurufen und zu erforschen unternahmen. Ein solcher Ansatz könnte auch Bewußtseinsforschungen und dem neurokognitiven Verständnis des »Selbst« zugute kommen. Als Philosoph vertritt Thomas Metzinger die These, daß »unsere traditionelle, volkstümlich-phänomenologische Vorstellung von ›Seele‹ durchaus ihren Ursprung in präzisen und wahrheitsgetreuen Selbstaussagen über den auf eigener Erfahrung beruhenden Inhalt einer spezifischen neurophänomenologischen Zustandsklasse haben könnte.«4

Anders gesagt: Unsere zeitgenössischen Überlegungen zu Bewußtsein, Selbst und Geist könnten möglicherweise von der älteren Vorstellung dessen herrühren, was »Seele« oder »Proto-Begriff des Geistes« heißt, das seinerseits von der introspektiven Erfahrung hergeleitet wurde, die Menschen veranlaßte, über ihr »Ich«, über Bewußtsein und Geist nachzudenken. In diesem Sinne könnte man die Mystiker der ekstatischen Kabbala als avantgardistische Erforscher des Selbst, von Bewußtsein und Geist des Menschen bezeichnen.

I
Warum es sinnvoll ist, sich unter neurokognitivem Aspekt mystischen Erfahrungen anzunähern

1. Vier Hauptansätze

So bedeutend sie für Mystiker und Geistliche einerseits, für Spezialisten auf dem Gebiet der Mystik andererseits auch sind, entziehen sich mystische Erfahrungen doch weitgehend der Erforschung. Ein Hauptproblem ist hier, daß schriftliche wie mündliche Berichte kaum imstande sind, diese höchst intimen und persönlichen Erfahrungen des menschlichen Geistes adäquat zu beschreiben. Hinzu kommt, daß diese Zeugnisse oftmals Terminologien, theologische Konzeptionen und gelegentlich Formen wirklicher Dinge beinhalten, die von der alltäglichen Mentalität und religiösen Kultur abweichen. Dagegen werden zahlreiche theologische Gelehrte jedoch anführen, daß die Tradition so wirkmächtig ist, daß sie die Wiederholung der paradigmatischen Erfahrungen der Vorfahren – selbst Jahrtausende nach dem Erleben – bewahrt und ermöglicht. Diese Beispiele zu wiederholen oder ihnen zumindest zu folgen, könnte in der Tat neues Licht auf die intimen Erfahrungen werfen, von denen die Mystiker zu berichten wußten.

Es sind vor allem vier unterschiedliche Ansätze, die sich um das Verständnis mystischer Erfahrungen bemühen.

Der ältere und bei weitem vorherrschende ist der theologische Ansatz.1 Ihm zufolge bieten die Berichte und Praktiken der Mystiker die Möglichkeit, etwas über das Wesen jener Entität zu erfahren, die sich im mystischen Erleben offenbart: Gott oder Engel, dann und wann die Welt der Dämonen. Dabei ist es weniger die Botschaft an sich, als vielmehr deren Quelle, auf die es ankommt. Für diejenigen, die irgendeine Art von Kenntnis über die Natur der Gottheit zu erlangen suchen, indem sie die Offenbarungsberichte ausloten, wird die Botschaft in der Darstellung der ansonsten verborgenen Natur des Höchsten Wesens übermittelt. Ein solches Procedere zeigt sich anschaulich am Beispiel der zentralen Schrift des Judentums, der hebräischen Bibel. Sehr viel eher ein mythologisches als ein theologisches Werk, bildete die hebräische Bibel die Grundlage zahlloser Spekulationen über Gott und die himmlisch-göttliche Welt, die später zu einem wesentlichen Bestandteil der westlichen Theologie wurden. Diese Theologisierung der Bibel wirkt sich nicht nur auf biblische Studien aus, sondern betrifft auch die Art und Weise, wie die moderne Erforschung der jüdischen Mystik vorgeht.2 Indessen spiegelt der theologische Ansatz nicht notwendigerweise die Innenwelt desjenigen wider, der sich der Erfahrung unterzieht, auch nicht sein persönliches Interesse an mystischer Aktivität.3 Der Leser mag sich daher fragen, warum der Mystiker so viel Mühe und Energie in Vorbereitung und Ausführung mystischer Erfahrungen steckt, anstatt sie unmittelbar aus einer allgemein anerkannten Quelle wie der Bibel zu schöpfen.

Ein zweiter, stärker wissenschaftlicher Ansatz befaßt sich mit der sozialen Rolle des Mystikers, mit seiner Position innerhalb der Gesellschaft, und stellt die Aussage der Offenbarung als einer an die Gesellschaft gerichteten Botschaft hintan. Diesem soziologischen Ansatz zufolge stellt die mystische Botschaft den gesellschaftlichen »Geist« dar, und zwar hinsichtlich Sprache, ethischen Normen, Sitten und Gebräuchen. Mystische Erfahrungen werden demzufolge zu einer Methode, kollektive Werte in eine irgendwie neue Botschaft umzuwandeln, welche die Gesellschaft, in der der Empfänger der Offenbarung lebt, zugleich reflektiert und formt. Theologisch-religiöse Zeugnisse werden so zu anthropologischen, soziologischen und historischen Dokumenten, die den Eindruck erwecken, etwas über eine Gesellschaft und die Interaktion zwischen dieser und einer bestimmten Elite angehörenden Personen abbilden zu können, die Verfasser dieser Schriftstücke sind.4 Kurz gesagt – dieser Ansatz läßt die ganz eigene, die Innenwelt des Mystikers oder seine persönliche Motivation völlig außer acht.

Der dritte Ansatz geht psychoanalytisch vor. Grundsätzlich sehen Psychologen der psychoanalytischen Schule in der religiösen Erfahrung eine Form inneren Erlebens, das von der ganz persönlichen Geschichte des Individuums geprägt ist, das diese Erfahrung durchläuft. Nun dürften Psychoanalytiker durchaus imstande sein, interne oder psychische Aspekte der mystischen Erfahrung herauszuarbeiten, allerdings betrachten sie einschlägige religiöse Zeugnisse hauptsächlich unter dem Blickwinkel, mittels dieser Texte allgemeine Kenntnis über das Geistesleben des Menschen zu erlangen. Das könnte vermutlich der Grund sein, warum sich Sigmund Freud und C. G. Jung so häufig zu religiösen Texten bzw. Themen äußerten: Sie waren auf der Suche nach den verborgenen geistigen Mechanismen, wie sie sich in Mythen und Symbolen widerspiegelten, die Erfahrungen aus grauer Vorzeit zum Ausdruck brachten, zugleich aber auch ihre Spur in der Gegenwart hinterließen. Um es noch einmal zu betonen – in diesen Fällen steht nicht die Natur des Höchsten Wesens oder einer Gesellschaft im Mittelpunkt der Untersuchung, vielmehr geht es um die Entschlüsselung von Texten, um in das Unbewußte, in den Archetyp, in die zugrunde liegenden Mythen einzudringen, die in den Berichten der Mystiker über ihre Erfahrungen wahrscheinlich verschlüsselt wurden. Doch beziehen sich diese auf Menschen im allgemeinen und nicht auf das ureigenste Anliegen der Mystiker selbst.

Ein vierter Ansatz schließlich wurde von dem amerikanischen Psychologen und Philosophen William James eingeführt. In seinem Werk Varieties of Religious Experience analysierte James die Schilderungen sowohl prominenter theologischer Gelehrter als auch von Laien anstelle von Lehrmeinungen und Theorien, um jene Fähigkeiten des menschlichen Geistes besser zu verstehen, von denen es gemeinhin heißt, sie seien schwierig zu erforschen. James unterscheidet zwischen »der Religion des gesunden Geistes«, der mit positiven Gefühlen und innerer »Harmonie« einhergeht, und den Erfahrungen der »kranken Seele«, die von negativen körperlichen und geistigen Empfindungen begleitet sind. So wertvoll dieses Werk auch als Pionierleistung auf dem Gebiet der Erforschung autobiographischer Berichte ist, so dominiert hier doch eine allgemeine psychopathologische Klassifikation zu ungunsten des Bestrebens, die mystische Erfahrung so zu begreifen, wie sie sich im Geist des Mystikers selbst vollzogen hat.

Die vier hier umrissenen Hauptansätze verstehen die Texte über mystische Erfahrung als Spiegel einer ganzen Reihe von Vorgängen, die ansonsten unzugänglich sind. Die Einzelheiten dieser Schilderungen werden als bedeutsam eingeschätzt, allerdings nicht hinsichtlich ihrer Aussage, sondern mehr als detailgetreue Spiegel denn als literarische Zeugnisse, deren Absicht, Genre, Symbolik und linguistische Schichten die Botschaft in demselben Maße formen wie den emotionalen und kognitiven Inhalt, der sich in ihnen widerspiegelt. Nun werden Erfahrungen, untersucht man sie an Hand von schriftlichen Dokumenten, nicht einfach berichtet, sondern werden unvermeidlich von der Komplexität des Erlebens und dem Umstand, daß sich dieses der Beschreibung entzieht, verzerrt, desgleichen auch von später zugefügten Elementen oder vom linguistischen und literarischen Netzwerk, in dessen Verbund die religiösen Zeugnisse entstehen. Wie in zahlreichen anderen mentalen und kognitiven Fällen, transportiert die Sprache – gleichsam als reines Gefäß verstanden – nicht bloß den Inhalt der Erfahrung, sondern greift in deren Formulierung ein – sei es, daß neue, von außen herangeführte Begriffe eingefügt werden, sei es, daß die diffusen Gegebenheiten des Erlebens in Termini zum Ausdruck kommen, die in einer bestimmten Umgebung oder Kultur gang und gäbe sind. Mystische Erfahrungen werden von einer Vielzahl Elemente geprägt, die sowohl dem Erleben selbst vorausgehen, als auch von Faktoren aus der Zeit danach, beispielsweise andere Terminologien und Begriffsstrukturen, welche die Schilderungen dieser Erfahrungen formen.5 Ein Ansatz, der den theologischen oder gesellschaftlichen Inhalt eines Berichts zu ermitteln sucht, kann daher aufgrund von derlei externen Faktoren fehlgehen. Ein genauerer Ansatz vermag den Grundelementen in einer Schilderung nachzugehen, die so weit wie möglich von linguistischen oder anderen von außen herangetragenen Faktoren frei ist.

2. »Von unten nach oben« – ein anderer Weg, mystischen Erfahrungen näherzukommen

Anstelle der akademischen Vorgehensweise, die »oben« ansetzt und nach »unten« führt, also mit allgemeinen Aspekten – Theologie, Gesellschaft, Archetypen oder Psychopathologie – als den entscheidend wichtigen Fragestellungen hinsichtlich der persönlichsten Erfahrung beginnt, die ein Mensch überhaupt erlangen kann, möchten wir hier mit den Erfahrungen selbst einsetzen und dem, was Mystiker unternehmen, um zu diesem Erleben zu kommen. Wir legen den Akzent auf die stärkeren Erfahrungskomponenten des mystischen Erlebens und die Mechanismen, mit denen sie in Gehirn und Geist des Mystikers verarbeitet werden, statt über das Wesen einer bestimmten ekstatischen Vereinigung gemäß deren allgemein theoretischem Ausgangspunkt zu befinden. Oder um es noch einmal anders zu sagen: Anstatt das Objekt der mystischen Vereinigung und dessen Wesen als Teil eines theologischen oder allgemeinen, von oben nach unten geführten Diskurses hervorzuheben, konzentrieren wir uns auf jene mit der Erfahrung unmittelbar selbst verbundenen Ausdrucksformen – nämlich den zum Ziel führenden mystischen Techniken, deren behaupteter Wirkmächtigkeit und den zugrunde liegenden kognitiven, psychologischen und neurophysiologischen Mechanismen.6 Indem der Fokus von der Überbetonung des Gegenstands der Erfahrung abgewendet und auf die Erfahrung selbst gerichtet wird, bleibt es nicht aus, daß sich Untersuchung und Verständnis des mystischen Erlebens entscheidend ändern. Statt mit äußerlichen Faktoren zu arbeiten, um den inhaltlichen Gehalt dieses oder jenes Ausdrucks festzustellen, spüren wir jenen Formulierungen nach, die mit der Herbeiführung der mystischen Erfahrung und ihren kognitiven und neurophysiologischen Wirkungen unmittelbar verbunden sind oder, anders und deutlich gesagt, wir legen neurokognitive Mechanismen frei, die Mystikern den Zugang zu diesen Erfahrungen ermöglichten. Diese Verschiebung des Fokus schließt durchaus auch Erfahrungsberichte ein, deren mystischer Gegenstand nicht die höchste Gottheit, sondern das Selbst oder der Körper des Mystikers ist. Überdies ermöglicht dieser »von unten nach oben« verlaufende Forschungsansatz eine wichtige und stichhaltige Verallgemeinerung im Hinblick auf die Übereinstimmung von Traditionen und – unter gewissen Aspekten – sogar Identität mit dem Subjekt der Erfahrung: dem menschlichen Gehirn. Infolge dieser phänomenologischen, von Gehirnfunktionen ausgehenden Herangehensweise an mystische Äußerungen7 kommt es weniger darauf an, ob der christliche Mystiker seine Vereinigung mit Christus oder Gottvater beschreibt, ob der Sufi von seinem Erleben des Hidr und nicht Allahs berichtet, ob ein jüdischer Mystiker darauf aus ist, sich mit einer unteren Sefira oder gar dem intellectus agens und nicht dem Unendlichen zu vereinigen.8 Die vom Mystiker beschriebene Art und Intensität des mystischen Erlebens kann weit belangvoller für das Wesen der Erfahrung sein als der theologische Rang des Inhalts.9 Mit dieser Einschätzung soll natürlich nicht gesagt werden, daß allgemeinen Faktoren keinerlei Bedeutung zukomme, wohl aber, daß sie per definitionem nicht sämtliche Hauptaspekte der mystischen Erfahrung an sich vorschreiben können.

3. Erfahrungen, Ausstrahlungen und kognitive Techniken

Der hier verfolgte, von unten nach oben verlaufende neurokognitive Forschungsansatz ermöglicht uns überdies, ausführlicher auf die Ausstrahlung des Erlebens einzugehen, d. h. auf die Auswirkung der mit der mystischen Erfahrung verbundenen Vorstellungen auf die religiöse Struktur. Jede Weltreligion weist mehrere unterschiedliche Strukturen auf, die mystische Komponenten enthalten können. Diese wiederum können entscheidende Auswirkungen auf spätere Entwicklungen dieser oder jener Religion haben, die daher nicht bloß an Hand ihrer eigenen, folgerichtig konstruierten theologischen Doktrinen verstanden werden kann.

Nun können allerdings, wenn man sich beim Erforschen der Mystik aufmerksamer mit der Rolle mystischer Techniken und ihren kognitiven Auswirkungen auf den Mystiker beschäftigt, weitere entscheidend wichtige Fragen auftreten: Was veranlaßte den Mystiker, sich der Induktion dieser Verfahren zu widmen? Lohnten sich seine Bemühungen im Hinblick auf die gewonnene Erfahrung? Oder interagierten vielleicht Vorstellungen – wie die mystische Vereinigung – signifikant mit anderen Begriffen und Praktiken von Bedeutung, die derlei Wechselwirkungen modifizieren oder von diesen modifiziert werden? Es liegt uns also daran, solchen wechselseitigen Auswirkungen zwischen Schlüsselbegriffen bestimmter mystischer Traditionen nachzuspüren. Diese Vorgehensweise läßt uns auch leichter die Frage beantworten, ob das Vorkommen gewisser mystischer Formeln lediglich der Konvention geschuldet ist oder ob es sich darum handelt, in dieser oder jener Tradition geläufige Modewörter zu übernehmen und zu verwenden, und zwar auf keiner spezifischen Erfahrungsgrundlage, oder ob dieses Phänomen eine tiefere Erfahrung widerspiegelt, der mystische Wege und Techniken10 und folglich auch ähnliche neurokognitive Vorgänge gemeinsam sind.

Tatsächlich könnten auch die erwähnten, von oben nach unten vorgehenden Forschungsansätze vom Einblick in die Ausstrahlungen, zentralen Techniken und neurokognitiven Prozesse profitieren, die mystischen Erfahrungen eigentümlich sind. So kann man beispielsweise im Zusammenhang mit der Identifizierung neurokognitiver, für eine bestimmte zentrale mystische Vorstellung verantwortlicher Mechanismen – etwa der unio mystica – andere Vorgänge ins Spiel bringen, die zu einer Haupttätigkeit ganz anderer Art wie dem Befolgen der Gebote führen. Ferner spricht die Einführung der unio mystica als einer Grundvoraussetzung mystischen Vorhabens während des Ausführens bestimmter Vorschriften mit theurgischer Absicht und dem Ziel, den erstrebten Einfluß zu erlangen, für eine neue Zusammensetzung mystischer Techniken und könnte womöglich zu einer richtigen mystischen Erscheinung führen. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Die Wahrscheinlichkeit, daß eine bestimmte verbindend-gemeinsame Formulierung für mehr als die Wiederholung eines Klischees steht, vielmehr ein tatsächliches Erleben widerspiegelt, nimmt zu, wenn ein und derselbe Mystiker betont, daß diese Formulierung aus seiner eigenen Erfahrung mit Praktiken wie Konzentrationsübungen und Buchstabenkombinatorik, aus Einsamkeit oder Abgeschiedenheit und Gleichmut hervorging.11 Es scheint daher unangemessen, einzig und allein auf der Grundlage wiederkehrender aussagestarker Begriffe über Ort und Rolle des mystischen Phänomens in einer bestimmten Literatur zu urteilen; es ist durchaus möglich, auf diese oder jene Weise der konkreten Bedeutung äußerst starker mystischer Formulierungen näherzukommen, und zwar nicht nur, indem man die einfache Semantik der Redewendung untersucht, sondern auch, indem man die von dem Mystiker oder seinem Kreis angewandten Techniken entschlüsselt. Die Erforschung dieser Techniken und ihres Einflusses auf Vorgänge im Gehirn kommen einem tieferen Verständnis der Aussagen über diese Verfahren hinsichtlich der Erfahrungen und Schilderungen des Mystikers zugute.12

Überdies ist zu bedenken, daß die Übertragung einer allgemeinen Klassifizierung auf herausragende Persönlichkeiten unser Verständnis ihrer ganz einzigartigen, höchst persönlichen Interessen einschränkt oder zumindest in die falsche Richtung lenken könnte. Was beispielsweise die Theologie betrifft, so kannten vermutlich die gelehrtesten unter den Mystikern mehr als eine theologische Lehre – die zum Teil erheblich voneinander abwichen. Das folgende Beispiel mag das Problem veranschaulichen: Abraham Abulafia, ein ekstatischer Mystiker aus dem 13. Jahrhundert, war zusätzlich zum biblischen und rabbinischen Schrifttum auch mit Maimonides’ neoaristotelischer Theologie, mit der Synthese aus anthropomorpher und mehr spekulativer Theologie der »Chassidej Aschkenaz« des frühen 13. Jahrhunderts, mit der Sefirot-Theosophie der katalanischen Kabbalisten, mit arabischer und scholastischer Philosophie bestens vertraut (vgl. Anhang B zu Abulafias Lehre). Ganz offensichtlich studierte er etliche dieser theologischen bzw. philosophischen Lehren vor seinen ersten mystischen Erfahrungen, und die Art, wie er diese zum Ausdruck bringt, berücksichtigt eine Vielfalt an Elementen dieser unterschiedlichen Denkrichtungen. Seine Erfahrungen sind also nicht durch einen zugrunde liegenden theologischen oder philosophischen Ansatz vereinheitlicht oder charakterisiert, vielmehr sind sie von den umfänglichen und komplizierten Techniken, deren er sich bediente, und ihrem Einfluß auf bestimmte Hirnfunktionen affiziert. Man mag Abulafia als Ausnahme betrachten, doch dasselbe gilt – wenn auch in geringerem Maße – für zahlreiche Fälle innerhalb der vielschichtigen jüdischen Kultur, als das Judentum sich als Minderheitenreligion in einer Vielzahl kultureller Umfelder entwickelte: mehr als eine Theologie war den Mystikern bekannt, zugänglich oder zumindest erreichbar. Ein Ansatz, der den Akzent auf eine spirituelle Disziplin legt, insofern diese wesentlich von den technischen Auslösern der Erfahrung und den ausgelösten neurokognitiven Mechanismen abhängig ist, könnte die unterschiedlichen Quellen in ein vergleichsweise kohärentes Gerüst integrieren.

4. Technischer Konstruktivismus aus dem Innern des Gehirns: Grenzen dieser Methode

Zwar können die von oben nach unten verlaufenden theologischen, archetypischen oder psychopathologischen Konstruktionsansätze problematisch sein – die von unten nach oben operierende Methode könnte wiederum die Gefahr des technischen Konstruktivismus heraufbeschwören. Mit diesem Begriff verweisen wir auf die von den Techniken in ihren einzelnen Bestandteilen ausgeübte Wirkung auf die Struktur der Theologie. Gleichwohl besteht ein gewisser wesentlicher Unterschied zwischen den zwei Konstruktionsmodellen: während die »Top-down«-Methoden tendenziell exklusiv und inhibierend sind, kann man den technischen Konstruktivismus als inklusiv ansehen. Vielfältige Erfahrungen können an Hand ein und desselben mystischen Verfahrens induziert werden – wenn man die Diversität der spirituellen Physiognomie der Mystiker einerseits, Einflüsse des sozio-kulturellen Umfelds andererseits berücksichtigt –, und in einigen Fällen stehen innerhalb eines einzigen mystischen Systems eine ganze Reihe von Techniken zur Verfügung. Hinzu kommt, daß es zwar durchaus möglich ist, eine gewisse Affinität zwischen der Art der Techniken und dem von diesen induzierten inhaltlichen Ergebnis der Erfahrung festzustellen, diese Techniken aber zu unerwarteten Erfahrungen führen können.13 Außerdem ist den konservativen »Top-down«-Ansätzen zufolge der Mystiker Repräsentant einer bestimmten Religion oder Gesellschaft, desgleichen die Natur der Erfahrung ein Derivat dieser Religion oder Gesellschaft, womit der Kreis sich schließt. Wenn wir jedoch eine Affinität von Bedeutung zwischen den mystischen Erfahrungen, den mystischen Techniken und den zugrunde liegenden neurokognitiven Mechanismen annehmen, können wir von einer Art der Beziehung sprechen, die wesentlich offener ist; wir können dann versuchen, Formen der Kategorisierung zu unterlegen, welche die Typen mystischer Techniken und ihre Auswirkungen auf das Gehirn zu erklären vermögen. Dieser Vorschlag hat vielleicht etwas für sich, allerdings stößt er auch an bestimmte Grenzen, und es lohnt sich, diesen nachzugehen.

Eine Einschränkung ergibt sich aus der Tatsache, daß die Formen mystischer Erfahrungen, die einem bestimmten Typus der Theologie entsprechen, weit zahlreicher sind als jene, die man besonderen mystischen Techniken zuordnen kann, so daß beispielsweise ein Forscher wohl zögern dürfte, ohne solide Beweisgrundlage eine mystische Technik zu rekonstruieren, zugleich aber sich weniger bedenkenlos anschicken würde, eine Affinität zwischen einer mystischen Erfahrung und einem theologischen Standpunkt herzustellen.

Zum zweiten stehen keineswegs alle mystischen Erfahrungen mit mystischen Techniken in Verbindung.14 Dieses Manko findet sich häufiger in der Mystik des westeuropäischen, weniger in der des osteuropäisch-orthodoxen Christentums oder in den mystischen Traditionen des Hinduismus, des japanischen Zen-Buddhismus oder des Islam. Phänomenologisch betrachtet, gehört die jüdische Mystik allerdings zur zweiten und nicht zur ersten Kategorie, unbeschadet der Tatsache, daß sie sich überwiegend im Kulturkreis des lateinischen Abendlandes entwickelte.15 Die Verbindung von Theologie im allgemeinen und Mystik im besonderen zu den Neurowissenschaften hat in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit in der wissenschaftlichen Literatur, in religiösen Gemeinschaften und ganz generell in der Öffentlichkeit gefunden. Mit den erfolgreich sich entwickelnden Techniken des Neuroimaging haben zahlreiche Neurowissenschaftler die Hirntätigkeit von Mystikern während deren Aktivität aufgezeichnet, um dem ihr zugrunde liegenden »neuralen Mechanismus« auf die Spur zu kommen. Allerdings ist das »brain mapping« der Hirnaktivierungen in Verbindung mit bestimmten Aktivitäten nur von begrenztem Wert. Uns geht es hier darum, neurologische, neuropsychologische und Daten des Neuroimaging gleichsam als Plattform zu verwenden, von der aus wir mittels erläuternden Ausführungen gewissermaßen zur Wertsteigerung der mystischen Zeugnisse beizutragen vermögen.16

principium individuationis