Herbert Rosendorfer
Nachrichten aus der Tiefe der Provinz
Roman
TransferBibliothek CXV
Die Drucklegung erfolgte mit freundlicher Unterstützung durch die Abteilung für deutsche Kultur in der Südtiroler Landesregierung über den Südtiroler Künstlerbund.
Umschlagmotiv: bpk (Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte) / Max Löhrich (1936)
© Folio Verlag Wien • Bozen 2012
Alle Rechte vorbehalten
Graphische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Printed in Austria
ISBN 978-3-85256-598-9
eISBN 978-3-99037-032-2
www.folioverlag.com
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Für Walter Obermaier |
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herzlich und in Freundschaft |
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Die Frage nach einem christlichen Begräbnis (oder nicht) tauchte nicht auf, denn er tauchte nie mehr auf, jedenfalls nicht als, wie soll man sagen: faßbare, greifbare Person: P. Sigisbert OSB, getauft Nikolaus wie sein Vater, wie schon der Großvater und vermutlich auch Urgroßvater. Immer Nikolaus, lauter Nikolaus. Der jüngste Nikolaus, der letzte Nikolaus ging ins Kloster, bei der Ewigen Profeß dann: Sigisbert. Ins Kloster St. Isidor, bedeutendes, berühmtes Stift, agilolfingisches Eigenkloster und so fort, hochbarock umgestaltete Kirche unter Abt Protasius II. Graspichler (1711–24) und so fort. Der ganze Huturmer See gehörte dem Kloster samt Fischen und Krebsen und Fröschen. Reiche Fastennahrung. Seinerzeit vieldiskutiert die Schrift – auf lateinisch –, ob die wilden Vögel, die im Wasser schwimmen, wenn sie nicht fliegen, zur Fastenspeise zählen oder nicht. Sie ernähren sich ja ausschließlich von Fischen, Krebsen und Fröschen, also … lateinisch, wie gesagt, mit einer drei Zeilen langen Überschrift. Verfasser: P. Cordulus Aufschnaiter OSB im Jahr 1632. Hochgelehrter Mann, dieser P. Cordulus, wurde trotzdem abgelehnt, die Curie in Rom folgte seiner Argumentation nicht: Seevögel = keine Fastenspeise.
Sie aßen halt dafür mehr von den Karpfen und Forellen, es gab ja genug damals, mehr als genug. Heute nicht mehr.
P. Sigisbert – er war damals schon der älteste Mönch im Stift. Traurig: nichts zu machen.
„Nichts zu machen?“
„Nichts zu machen.“
P. Sigisbert ging den langen, langen Flur hinunter, den grellweiß getünchten Flur. Schwarze Türrahmen, schwarze Türen, nur ein ganz großes schwarzes Kruzifix ungefähr in der Mitte des Flures, auf der anderen Seite, den Türen gegenüber, die lange Reihe von Fenstern, gingen auf den See hinaus, der heute grau war.
„Nichts zu machen“: das Wort rollte wie Staub durch den Flur.
Ein Commissarius war gekommen aus Wien. „Nichts zu machen. Das Kloster ist aufgehoben.“
„Mein Jesus Barmherzigkeit …“
„Ihr seid nicht die einzigen. Nicht das einzige Kloster.“
„Nichts zu machen?“
„Es gibt halt zu viele Klöster. Meint man.“
„Meint man?“
„Meint man.“
„Und der hochwürdigste Herr Bischof?“
„Muß selber froh sein, daß es ihn noch gibt.“
„Wie bitte?“
„Nichts, nichts. Der Bischof ist einverstanden. Der Papst auch. Nichts zu machen.“
Lange kein Wort.
Dann: „Wo sollen wir hin?“
„Werdet schon irgendwo unterschlupfen. Gibt’s genug, wo man einen Koprater oder Pfarrprovisor oder was braucht.“
„So. Ja. So.“
„Ist halt eine neue Zeit.“
P. Sigisbert war vierundachtzig Jahre alt, oder fünfundachtzig. Man wußte es nicht so genau, die Eintragung ins Taufregister damals: ungenau, verwischt, schwer zu lesen. Spielt ja auch keine Rolle ein Jahr hin oder her.
Er ging in den See. Er nahm heimlich die Monstranz nach der letzten Vesper und ging mit ihr in den See. Eine wertvolle Goldschmiedearbeit, mit Perlen und Edelsteinen besetzt, gestiftet von der Kaiserin Eleonore –
– ging damit in den See, wurde nie gefunden, tauchte nie auf, weder er noch die Monstranz.
Ursprünglich kamen sie vom Rhein: uraltes = uradeliges = edles Geschlecht. „Von Beruf Blutsauger“, sagte der Lehrer Hahn, aber das wußte man, daß der ein 48er war, einer, der, ist noch gar nicht lange her, nach der Laterne geschrien hatte, an die man SIE knüpfen soll. Nein, direkt selber – eigenhändig – hat er keinen von den „berufsmäßigen Blutsaugern“ an die Laterne geknüpft und auch nicht woandershin, aber geschrien schon.
Danach hat er sich wieder geduckt, na ja, hatte Weib und Kind und so fort. Aber in der Hauptstadt nicht mehr, in die Provinz hinausgeschlenzt, in die hinterste solche, nach Huturm am See, wo früher das Kloster war, dort soll er schreien, wieviel er will, die Bauernschädel verstehen es eh nicht, und der Fürst wird ja nicht grad dem Ratschlag des Lehrers Hahn folgend seine Jagdgenossen an die Laternen knüpfen, die es in Huturm auch gar nicht gibt, und auch nicht eventuell an die Bäume im Wald, von denen es genug gibt (und die alle, fast alle, neunzig Perzent, dem Fürsten gehören).
Also das Kloster war nicht, ist noch, aber nur das Gebäude, „die Gebäulichkeiten“, zum Teil frühromanisch, noch Fundamente vorhanden, auch gotische Teile und so fort. Vom Barock des verdienstvollen, kunstsinnigen Abtes Protasius II. Graspichler (1711–24) wurde schon gesprochen. Fresken von der Hand Damian Scherers d. J. oder zumindest Schule bzw. Umkreis D. Scherer d. J., war alles noch da, nur „ging nicht mehr“, wie eine Uhr, die stehengeblieben ist. Oder besser gesagt, eine Uhr, die man nicht mehr gebraucht hat, die vielleicht ständig nachgegangen ist und die man achtlos in eine Schublade geworfen hat. Wenn nicht gar: Hammer draufgeschlagen.
Die Kirche war jetzt Pfarrkirche, das Kloster Schloß, im ehemaligen Wirtschaftstrakt das Schulhaus, und dort unterrichtete der Lehrer Hahn und schrie zwar nicht mehr, aber solche Reden gab er schon von sich, von wegen: „Blutsauger, Bauernschinder, Geschwüre am Körper des Volkes.“
Aber der Fürst, sozusagen sein Nachbar, grüßte ihn doch freundlich. „Na, Hahn? Immer noch Revolutionär? Und sonst? Hat Ihr Sohn immer noch den Keuchhusten? Wissen Sie was, ich laß’ Ihnen ein Glas Honig hinüberschicken.“
„Dank’ schön und bestens, Herr Fürst.“ (Zu Durchlaucht konnte sich der Lehrer nicht bewegen. Das hätte ihm den Gaumen gespalten.) Er mußte, zum Beispiel seiner Frau gegenüber, zugeben, daß der Fürst ein recht umgänglicher Mensch war, mit einem redete wie – ja, wie ein Gewöhnlicher.
Aber:
„Blutsauger, Bauernschinder!“, haute nicht mit der Faust auf den Tisch, das nicht mehr, aber tupfte mit dem Zeigefinger neben das Bierglas.
„Aber Herr Lehrer, welchen Bauern schindet die Durchlaucht“, der Herr Pfarrer lachte, nahm einen Schluck. (Es war eher selten, daß der Lehrer in den Silbernen Hammel ging, durfte aber schon an dem Tisch im Erker Platz nehmen.)
„Heut’ nicht mehr, Herr Pfarrer“ (auch zu Hochwürden, wie man eigentlich und ordentlich sagte, sogar Durchlaucht sagten, konnte sich der Lehrer nicht finden; auch was er so über die Kirche im allgemeinen murmelte …), „aber früher. Die reinsten Raubritter.“
„Ja früher – früher! Früher ist nicht heute, Herr Lehrer.“
„Abszeß am Körper des Volkes.“
„Es ist eben so.“
„Leider.“
„Was heißt leider. Es ist eben die gottgewollte Ordnung. Es gibt ein Oben und ein Unten. So gebt dem Kaiser …“
„Ich weiß, Herr Pfarrer, Matthäus 22, 21 –“
(Ob auch der Pfarrer die Stelle so genau nach Kapitel und Vers zitieren hätte können?)
Wie dem auch sei: ursprünglich vom Rhein. Feldenwerth-Tragans oder so ähnlich. Herren von – später Freiherren von – noch später in den Grafenstand erhoben (durch den Kurfürsten von der Pfalz als Reichsvikar) –
Es fällt auf, wenn man – ist nicht uninteressant, ist zu empfehlen – den Gotha durchliest oder, nein, durchlesen kann man den nicht, genausowenig wie ein Telephonbuch, also: darin blättert, daß sehr viele adelige Häuser ihre Standeserhebung oder -verbesserung dem Reichsvikar, also einem der beiden jeweiligen Reichsvikare verdanken.
Der Leser weiß – nein, der Leser weiß nicht, jedenfalls nicht viele Leser wissen – der Kurfürst von der Pfalz / Pfalzgraf bei Rhein war in der Zeit nach dem Tod eines Kaisers bis zur Wahl des neuen der Reichsvikar, Vicarius Imperii, für, grob gesprochen, West- und Süddeutschland, der Kurfürst von Sachsen für den Rest.
Verzeihen die Abschweifung nebst Belehrung.
Hatten das Recht zu adeln, zu – neues Wort: standeserheben und wappenbessern. Sie machten offenbar sehr reichlich Gebrauch davon, adelten schnell ihre, der Lehrer Hahn würde sagen: „Spießgesellen“, Bastarde und Kebsweiberfrüchtchen, die zu adeln der Kaiser hohnlachend von sich gewiesen hätte –
Zurück zu den Feldenwerth-Traganses: Hatten sie eigentlich so große Verdienste für Kaiser und Reich aufzuweisen? Daß sie, salva venia, stockkatholisch waren und dem Hof-Jesuiten und Inquisiteur hineinkrochen in den – „Hahn! Ich bitte, vor den Kindern und überhaupt. Du bringst dich noch um die Lehrerstelle und uns an den Bettelstab.“
„Weil es doch wahr ist.“
„Weißt du immer, was wahr?“
Stifteten Klöster (was sie später nicht daran hinderte, ein anderes Kloster, wenn der Ausdruck – eigentlich angebracht – erlaubt ist: leichenzufleddern), sammelten Reliquien, „– der Stolz des Grafen Ferdinand Gaudenz war ein Blatt der Lilie, die der Erzengel Gabriel Maria bei der Verkündigung übergab –“
Ja, gut, und ab und zu ein Feldmarschall-Leutnant dabei, ein Landeshauptmann in Krain und der Windischen Mark, hätte alles für den Fürstenhut nicht ausgereicht, aber da die ganzen Liechtenstein und Windisch-Graetz und Auersperg rundherum plötzlich Fürsten waren, wenigstens primogeniturisch (die jüngeren Söhne blieben Grafen, aber immerhin), jammerte Graf Franz Maria Kaspar dem Kaiser so lang in die Ohren, bis er halt auch … „Bevor er noch öfter kommt und mir die Zeit stiehlt“, wird sich der Kaiser gedacht haben.
*
Aber dann der Napoleon. Der hat, wie nun wirklich der Leser, jeder Leser weiß, Europa gründlich aufgemischt, und da ist Fürst Ernst Gaudenz Maximilian, der Sohn jenes Franz Maria Kaspar, ins französische Lager hinübergeweht worden, also so halbwegs, das heißt ins bayrische, dazumalen noch mit i: bairische, dessen Kurfürst vom Napolium die Königskrone verpaßt worden war und er dafür, das wird man ja noch sagen dürfen –
„Weil’s wahr ist“, sagte Hahn.
„Da haben Sie allerdings recht, Herr Lehrer.“
– dem Kaiser und dem schon im Abdriften begriffenen Reich den „bleckerten Hintern hingehalten“, den bairischen, damit man ihn – Ihn, den Neukönig, „Kini“ auf bairisch – am … und so fort … kann.
So ist – so sind – Durchlaucht kgl. bair. Feldmarschall geworden, hat mit seinem Herrn, dem „Kini“, schnell, als dies opportun, die Front gewechselt, „Undank ist der Welten Lohn“, hat sich Napoleon gedacht, ist dem Kaiser, der aber inzwischen Anders-Kaiser war, sich selber von Franz II. zum Franz I. heruntergestuft hat (oder ist I. besser als II.? So wie bei der Eisenbahn?), wiederum in den … („Hahn, bitte! Vor den Kindern!“)
Es hat weder der Bairische seine schändlich erworbene Krone zurückgegeben noch der Fürst Ernst Gaudenz Maximilian das Kloster Huturm am See, das ihm vorher noch der Napoleon via König Max Joseph von Baiern geschenkt hat. („Es schenkt sich leicht etwas, was einem nicht gehört, Sire!“ Aber Napoleon war, so ist er halt einmal, in Gedanken sprunghaft bei was anderem.)
Ist dann irgendwie im großen Aufwasch abgesegnet worden: so die Krone, so das Kloster – nun Schloß, nachdem der Napoleon zwar nicht zum Teufel, aber zur heiligen Helena geblasen wurde. Das hat ihn wahrscheinlich auch nicht getröstet, daß diese heilige Helena eine Kaiserin war.
*
Das war aber noch vorher. Da fuhr der Fürst und Feldmarschall mit der Kutsche, vierspännig von drüben, von Westen her über Land und Berg und Stock und Stein nach Huturm, um sein neues Schloß nebst See und Wald zu besichtigen und sozusagen in Besitz zu nehmen. Vom Osten her kam nullspännig auf Schusters sogar ziemlich abgelaufenem Rappen ein gewisser Friedrich Guggemot daher und wurde an einer Wegkreuzung, das war schon nah am Huturmer See, vom fürstlichen Viergespann fast überfahren, weil er nicht schnell genug zur Seite gesprungen war.
Der fürstliche Lakai am Bock fluchte: „Verdammter Zigeuner, schau daß’d –“
Guggemot raffte sich wieder auf, blutete an der Stirn, hatte ein schlechtes Gewissen –
– hätte NB! der Lakai haben müssen, weil er geschlafen hat am Bock droben –
– hatte ein schlechtes Gewissen, was solche Leute wie er haben, weil sie überhaupt die Frechheit haben zu existieren. Aber der Fürst hatte seinen leutseligen Tag, schaute aus dem Fenster, dachte vielleicht wohlig, was für ein schönes Schloß er da jetzt dann sehen werde, was alles, alles ihm gehört, wahrscheinlich auch der Wald, durch den man eben fuhr, langte in seine mit goldenen Pfauen bestickte flaschengrüne Samtweste und reichte dem Landstreicher ein – sage und schreibe – Goldstück.
„Küß d’Hand, Euer Gnaden“, stammelte Guggemot.
„Schon gut, schon gut, komm’ er ins Schloß, soll dort verköstigt werden.“
Guggemot mit offenem Mund – der Lakai peitschte – die Pferde drückten den Rücken durch.
„– und ein Glas Wein soll auch dabei sein“, rief der Fürst frohgelaunt.
Nach einer guten Stunde kam Guggemot an den See. Da war eine halbmondförmige Bucht. Guggemot befühlte seine Stirn. Die Wunde blutete nicht mehr. Guggemot tunkte sein Schneuztuch in das Wasser und wischte das getrocknete Blut ab. Dann schaute er sich um: dort drüben lag das Dorf – oder Markt? Sogar vielleicht kleine Stadt? Die zwei Türme der Klosterkirche (ehemals, jetzt Schloßkirche, das wußte Guggemot selbstverständlich nicht) ragten in den Himmel. Rundum ein Rand aus ein paar Häusern.
Das Schloß war leicht zu erfragen. Tatsächlich hatte der Fürst den Befehl gegeben, angeordnet. Guggemot wurde verköstigt. Zwar war die Magd, die den „Landstreicher“ vom großen, gedeckten Tisch hinüber zum kleinen, ungedeckten scheuchte, nicht gerade eine Allegorie der Freundlichkeit, knallte den Teller hin, der aber recht gut gefüllt war. Fleisch und Gemüse. „Der gedeckte ist doch für die da“: die Lakaien, betreßt und in den Farben des fürstlichen Hauses, rümpften die Nase: „Was es für Zigeuner hier gibt.“
Zugegebenermaßen: die dichten schwarzen Haare Guggemots, und von der Wanderschaft, milde ausgedrückt, bestaubt. Und ein Zeh aus dem Schuster-Rappen ragend. (Aber innen drin, in dem Schuster-Rappen, lag das Goldstück. Ein Vermögen für den Friedrich Guggemot.)
*
Guggemot aß, trank das Glas Wein (der Fürst hatte auch das nicht vergessen), bedankte sich, was nur knarzend von den fürstlichen Domestiken entgegengenommen wurde, und ging.
*
Laushammer, Vorname Kajetan. Er sah aus … es ist schwer zu beschreiben: spinnenartig, zaundürr, aber von überraschender Zähigkeit. Er fiel einmal, das ist ein paar Jahre her, von oben von der felsigen Wand, Pockender heißt diese enge Stelle auf dem Weg vom Südufer weg, fiel herunter. Wer weiß, was er da oben zu suchen hatte, kugelte herunter wie ein Ball, schlug ein paar Mal auf.
„Höllteufel“, sagte die eine von den beiden Bäuerinnen, die das zufällig beobachteten, „das ist doch der Laushammer?“
„Ich fürchte: gewesen“, sagte die andere.
„Saublöd“, sagte die eine, „jetzt darf ich morgen abends zum Rosenkranz und übermorgen zu seiner Beerdigung, er ist ja der Schwager von einem Nachcousin von mir. Und ich wollt zur Basl Marie auf Linz hinausfahren für drei Täg –“
„Und wer beerdigt ihn jetzt? Selber kann er sich ja nicht beerdigen?“
Aber der Laushammer Kajetan stand auf, zäh wie eine Katz’. Kaum mehr als ein Kratzer am Kinn. Und beerdigte weiter.
Kann sein bei so einem, so einem spindeldürren, nicht größer als so ungefähr, grad daß er in den marmornen Weichbrunn-Kessel langt, in den großen. Aber hebt ein Roß auf, wenn’s sein muß. Hat schon einen ganzen Heuwagen, Heuwagen: voll mit Heu, aufgetürmt, aus dem Graben gezogen, ganz allein – und so fort. Schleppt Balken, hat die dicke Hasenbergerin, wahrscheinlich die dickste Bäuerin in Huturm, wenn nicht im ganzen Bezirk –
– also das war so: der Hasenberger ist ein eher kleiner Hof. Fast eine „Keuschen“. Etwas größere Keuschen, um ihm nicht unrecht zu tun, dem Hasenberger. Und somit die Fenster und Türen naturgemäß klein respektive eng. Die Hasenbergerin, Urschl mit Namen, also geschriebener Weise „Ursula“, war nie eine schlanke Tanne oder Gerte, immer schon mollig. Später dann, nach sieben Kindern (nur zwei überlebt, leider), schon gut im Gewicht gestanden mit der Zeit. Hinter vorgehaltener Hand haben sie, die vor der Kirche stehen („im Sankt Außenherum“, während drin die Messe gehalten wird) und hoffen, daß die Frau drin schon auch für einen mitbeten wird, und dann beobachten und schauen und an der Pfeife ziehen und ihre Bemerkungen machen, haben dann von der Hasenbergerin, die da vorüberwatschelt, gesagt: „Die ist auch gut über den Winter gekommen.“
Aber eines Tages war es dann soweit: Die Hasenberger Urschl ist nicht mehr durch die Tür gekommen. „Nimmer geschloffen.“ Trotz aller Anstrengung nicht, nicht seitlich, nicht „hinterschi“, also rückwärts quetschend. Ging nicht mehr.
Jetzt bleibt an und für sich die Bäuerin eh im Haus. Was soll sie draußen zu tun haben? Im Dorf mit den anderen Weibern ratschen? Diejenigen schlechtmachen, die grad nicht da sind? Soll daheimbleiben. Die Hennen vorm Haus soll die Magd füttern. Aber am Sonntag in die Kirche – wie das bewerkstelligen? Schon am Donnerstag, der auf den Schicksalstag der Zu-dick-um-durch-die-Tür-zu-passen-Werdung folgte, wurde die Hasenbergerin unruhig. Sieben Herz-Jesu-Sonntage hintereinander, hatte der Pfarrer vorgerechnet, ergibt dreitausend Tage Ablaß. Sechse hatte sie hinter sich, und jetzt beim siebten das.
Am Freitag musterte der Hasenberg-Bauer den Türrahmen. Granitummauert, nichts zu machen. Durch den Stall? Das Stalltor ist selbstverständlich breit genug, da käme die Bäuerin zweimal durch, aber die Tür vom Haus in den Stall war womöglich noch enger als die Haustür. Am Samstag wurde der Laushammer geholt, das – aber den Ausdruck kannte man in Huturm nicht, er steht nur hier – das Faktotum für alles. „Wer’n mir schon machen“, sagte er, kam am Sonntag rechtzeitig mit Kälberstricken und Gurten, schob die Bäuerin über die Stiege (breit genug, zum Glück) in den ersten Stock hinauf, hob die Kugelfette wie nichts über das Balkongeländer und ließ sie an Strick und Gurt hinab.
„Paß auf“, ächzte sie, „paß auf aufs Gwand.“ Denn sie hatte schon das Feiertagsgewand an.
Nach der Messe zog er sie wieder hinauf. Vielleicht ging es leichter, weil er inzwischen mit dem Bauern sieben, können auch acht gewesen sein, selbstgebrannte Obstler getrunken hatte. Oder neun. Der alpenländische selbstgebrannte Obstler. Er hat im Lauf der Jahrhunderte mehr Opfer gefordert als die Cholera. Aber so einem wie dem Laushammer Kajetan ist der Selbstgebrannte nicht gewachsen.
(Jeden Sonntag stand der Laushammer verständlicherweise für diese Dienstleistung nicht zur Verfügung, nur ab und zu, einmal im Monat etwa. Für die restlichen Sonntage gab der Pfarrer Dispens.)
Die nötigen Informationen über die Welt- oder besser gesagt Dorf-Läufte bezog die Hasenbergerin fortan von der Bötin. Die machte die Besorgungen von drüben, von der Bezirksstadt: mit einem Wägelchen mit vorgespanntem Bernhardiner. Brachte zum Beispiel Eier zum Markt dorthin, kam mit dem Ersatzzylinder für die Petroleumlampe zurück und so fort, und sorgte für die notwendige Nachrichten-Distribution, die sie mit unglaublicher Geschwindigkeit aus ihrem zahnlosen Mund ratterte. „Möcht wissen, wann die schnauft“, brummte der Bauer.
Der Laushammer war etwas weniger zahnlückig, das heißt, er hatte zwei sehr große Zähne vorn oben, und sparsam verteilt einige sehr kleine unten. Links aber war eine große Lücke, in die das Mundstück der Pfeife paßte. Er hat immer schon so ausgesehen, niemand erinnerte sich anders. War er schon so auf die Welt gekommen? Und immer schon, seit Menschengedenken, war er Totengräber gewesen, außer eben Faktotum für alles, was man nicht allein erledigen konnte.
*
Selten kam ein Fremder nach Huturm.
„Woher ist er?“
„Er sagt“, sagte der Wirt, „er ist von weit her. Mehr hat er nicht gesagt.“
„Wie heißt er?“
Der Wirt hatte es auf einen Zettel aufgeschrieben: „Guggemot Friedrich, ledig, zweiunddreißig Jahre alt. Katholisch.“
„Kein hiesiger Name.“
„Nein, kein hiesiger Name.
„Und so ein Schwarzer, ich meine die Haare.“
„Jaja. Sehr schwarze Haare. Und überhaupt.“
„Womöglich ein Zigeuner?“
Pause. Nachdenken. Ein Zug aus der Pfeife. Ein Schluck.
„Oder Jud?“
Wieder ein Schluck.
„Wer weiß.“ –
*
Ein anderer Dialog; um dieselbe Zeit:
„Wär’ blöd, wenn jetzt einer sterbert.“
„Wieso?“
„Wo der Laushammer sitzt.“
„Der sitzt aber no’ lang.“
„Eben.“
Was reden die Leute so?“
Der Verwalter wand sich wie in Krämpfen. Schosulan hieß der Verwalter. Seit das Kloster aufgehoben war, hatte nur die Bezirkshauptmannschaft in Bruck dafür gesorgt, daß nicht zuviel Möbel und Geschirr aus dem Stift (ehemaligen Stift) abgezweigt werden. Verschwand, gestohlen. Verschwand genug. Noch Jahrzehnte danach fand sich in mancher Bauernstube ein Kruzifix von solch Qualität, die man dort nicht vermutete. Oder Löffel, Gabeln.
Als dann der, dem das leere Kloster nicht gehörte, einem dieses schenkte, nämlich dem Fürsten, der Durchlaucht, suchte diese einen Verwalter, fand ihn in einem ehemaligen Fourage-Kassier, eben dem Schosulan, und schickte ihn nach Huturm, um das – jetzt – Schloß namens der neuen Herrschaft zu verwalten und zu bewirtschaften, so gut es ging. Das dauerte einige Jahre. Der ganze Napoleon-Wirbel ging darüber weg (berührte also in concreto diesen weltpolitisch windstillen Winkel kaum), auch der Wiener Kongreß, auf dem der Fürst unter den Hohen Verhandlungstischen herumkroch, bildlich gesprochen, und Einer Hohen Majestät und auch Einer Zweiten Hohen Majestät und et cetera versicherte, daß er im innersten Herzen stets gegen diesen korsikanischen Parvenue eingestellt gewesen sei.
Es vergingen wohl an die fünf Jahre, ehe der Fürst Zeit und Gelegenheit fand, sein neues Besitztum in Augenschein zu nehmen. In dieser Zeit hatte der Verwalter nicht nur verwaltet, sondern sogar hergerichtet, versucht, den Verfall (so etwas kommt schnell in ein leeres Haus, auch Schloß) aufzuhalten, auszubügeln, was in den Jahren seit der Saecularisatio, deutsch: dem Hinauswurf, dem Arschtritt für die Patres –
„So was sagt man nicht.“
„Weil’s aber wahr ist.“
– was sich durch die undicht gewordenen Fenster eingeschlichen hat an Moder und Staub und Abbröckeln.
Getreulich, wie man so sagt, der Jan Křtitel Šosulán, der hier Johannes Baptist Schosulan heißt und sich schreibt, der Herr Verwalter, sprach dem Hohn, was die Bauern sonst „von di Behm“ sagen. Auch der Pfarrer: „Reißt der Jud den Nagel aus der Wand, damit er ihn mitnimmt, schaut der Behm ins Loch, ob nicht noch was drin ist.“
Kurz bevor Durchlaucht beschlossen hatten, sein Huturm zu besichtigen, Besitz zu ergreifen, kam für den Verwalter die Nachricht, daß einige Zimmer „in den gehörigen Stand zu versetzen sind“. Der Schosulan bemühte sich mit einigem Erfolg. (Der Umbau von Kloster in Schloß dauerte dann noch Jahre. Zum Leidwesen der fürstlichen Eigentümer und Besitzer, die dann aufeinanderfolgten, verlor es aber nie eigentlich den – ja, fast ist zu sagen – Geruch nach dem, was es vorher war, den geistlichen Geruch, wurde nie so ein richtiges fürstliches Schloß, blieb immer „Ehemaliges Kloster“.)
*
„Red’ er frei.“
Der Verwalter wand sich immer noch: „No jo –“
„Also was, Schosulan?“
„Man mechte, Durchlaucht, nicht zuviel auf die Leite nicht heren, was so daherreden, was der Tag lang ist.“
„Und was reden sie daher?“
„No ja, Durchlaucht, no ja, diesunddas –“
Und er erzählte, was so die Leute reden, was der Tag lang ist, was nicht für seine, des Verwalters Ohren bestimmt war, ihm aber doch zu dieselben kam. Daß kein Segen nicht auf so was drauf ist, wo die hochwürdigen Herren Patres et cetera –
„– ist sogar von Arschtritt die Rede, Durchlaucht, halten zu Gnaden –“
– daß tausend Jahr die hochwürdigen Herren und der heilige Isidor und der heilige Opportunus, was der allererste Abt war, und die Muttergottes und alle Heiligen die Hand über das Kloster, und nicht nur, auch über das Land und die Leute ringsum gehalten haben, und jetzt … und ist es nicht ein Zeichen, daß zufällig der letzte Abt, dem sie den A… pardon, halten zu Gnaden, auch Opportunus geheißen, Opportunus II. Schretzenegger? Und die Kühe („… die Kiehe …“) geben jetzt weniger Milch und das Gras ist grüner gewesen, früher …
„Ist das wahr, Schosulan?“
„Ach was, gnädiger Herr, ach was, ist sich grin wie immer.“
„Na ja. Verstehe. Ist schon ein Einschnitt, ein tiefer Einschnitt. Aber man wird einsehen müssen, daß auch in diesem Winkel der Erde eine neue Zeit kommt.“
„Und wegen dem heiligen Sigisbert halt.“
„Welcher heilige Sigisbert, Schosulan?“
„Der Elteste, was war im Kloster, Pater Sigisbert, ist sich in den See gehipft, vom Stein da vorn. In Kutte mit wertvoller Monstranz von Gold sowie Edelstein, nie mehr gefunden, nichts.“
„Ach. Und der ist heiliggesprochen worden?“
„Keine Rede nicht, aber die Leite sagen heilig, und bitteschen, mechte man glauben oder nicht, auch tuet Wunder. Der alten Hadertannerin ist Kropf deitlich geschwunden nach Fierbitte und dem jungen Schreiterlechner das eitrige Knie. Wer’s glaubt.“
„Nun ja, nun ja.“
„Und, bitte zu Gnaden zu halten, soll nechtlich erscheinen im Schloß. Ganz naß und mit Monstranz und genzlicht weiß im Gesichte und hin und her gehen. Wenn Vollmond.“
Der Fürst stutzte, ging dann zum Fenster und schaute auf den See hinaus. Ging dann zurück.
„Alles Blödsinn. Man muß die Leute reden lassen. Man wird Zuckerbrot und Peitsche angemessen verteilt zu brauchen wissen. Ja. Hm. Übrigens – ist heute Vollmond?“
„Nein, Eier Durchlaucht Gnaden, erst übermorgen.“
*
Der weiße Mönch erschien nicht. Nur der Fürst träumte davon in der ersten Nacht, in der er in seinem neuen Schloß schlief.
So schnell wird der Laushammer nicht wiederkommen.
Es starb in dieser Zeit der Emutter Karl. „Ist nicht am Kindsmus erstickt“, sagten sie: Er war fast neunzig Jahre alt. Der Pfarrer allerdings sprach mehr in die Richtung „gesegnetes Alter“ und „erfülltes Leben“. „Kann man auch sagen“, sagte der Röhringer, der Stabhof-Bauer, „kann man sagen, denn er hat immerhin einmal einen Hanger in Herz mit acht Trümpf gewonnen. Kommt seltener vor als wie ein Komet.“
Da war kein Totengräber da. Was tun?
War schon eine saudumme Geschichte, eine saudumme. Was muß der Laushammer Kajetan auch auf Wien hinunterfahren. „Möchte wissen, was der dort zu tun hat, so einer.“
„Wenn nicht womöglich –!“
„Ja, ja, leicht möglich.“
„Zu tun. Haha.“
„Hat absolut nichts gesagt, was er da unten zu tun gehabt hat oder wollen oder was oder wie.“
„Wer weiß. Ich kann mir schon denken.“
„Was kannst du dir denken?“
„Na! Was halt in Wien alles los ist, was man so hört.“
„Man hört allerhand.“
Solche Reden im Wirtshaus. Jedenfalls aber ist es dann in Wien passiert. Ist der Laushammer so auf der Straße gegangen zu Wien, der Kaiserstadt, eine große Straße, breit, links war ein Park, da kommen ihm zwei Herren Studenten