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cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2013
© 2013 cbj, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagkonzeption: init.Büro für Gestaltung, Bielefeld
unter Verwendung folgender Abbildungen:
© Plainpicture (Aurora Photos / Fredrik Solstad, BY);
Istockphoto (PeskyMonkey)
Oslokarte: Peter Palm, Berlin
Lektorat: Andreas Rode
MP · Herstellung: AW
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-09569-7
V002
www.cbj-verlag.de
Prolog
Oslo im November
Es war eine kalte, sternklare Nacht. Mit größter Vorsicht entriegelte er das hohe Eisentor und schob den rechten Flügel auf. Es quietschte nur leise, aber das reichte aus, um seinen Herzschlag zu beschleunigen. Vermutlich waren die Scharniere seit Jahren nicht geölt worden.
Typisch Gulliksen, dachte er. Der Hausmeister nahm es mit solchen Dingen nicht sehr genau. Sonst hätte Gulliksen ja auch das Tor zum Sportgelände abgeschlossen, was er, anders als bei dem schmiedeeisernen Portal des Schuleingangs, meist unterließ.
Die Plastiktüte gegen den Bauch gedrückt, schlängelte er sich durch den Spalt, ohne das Tor hinter sich zuzuziehen. Sein Blick schweifte über die nagelneue Tartanbahn, deren Oval im silbrigen Mondlicht glänzte. Heute Vormittag hatte er sich hier noch die Lunge aus dem Leib gerannt und zusammen mit den anderen die Stabübergabe beim Staffellauf geübt. War von Kaupang angeschnauzt worden, weil er den Stab fallen gelassen hatte. Der schrille Pfiff der Trillerpfeife gellte ihm immer noch in den Ohren.
Jetzt lag eine fast gespenstische Stille über der Anlage und drückte auf sein Trommelfell. An einer ungeschützten Stelle im Nacken war die Kälte in seinen Anorak eingedrungen und kroch ihm den Rücken hinab. Fröstelnd zog er die Schultern hoch und suchte Zuflucht im Schatten der Tannen, die sich in schnurgerader Reihe am Maschendrahtzaun entlangzogen. Wenn er den Kopf hob, sah er ihre Wipfel als bedrohlich gezackte Linie vor dem schwarzen Himmel. Ihm gegenüber türmte sich das Schulgebäude wie ein hässlicher grauer Klotz. Aber auf das Schulgebäude hatte er es nicht abgesehen. Er war ja nicht wahnsinnig.
In etwa fünfzig Metern Entfernung zeichneten sich die Umrisse des länglichen Schuppens ab, der einer fensterlosen Baracke glich und seine besten Tage schon lange hinter sich hatte. Die einstmals braune Farbe war an den meisten Stellen abgeblättert. Das Dach war mit Teerpappe provisorisch abgedichtet worden. Wenn die Schule genug Kohle für eine teure Tartanbahn hatte, konnte sie sich auch einen neuen Geräteschuppen leisten. Er würde also nur dafür sorgen, dass diese Investition ein bisschen vorgezogen wurde.
Als er vor der morschen Tür stand, schüttelte er unwillkürlich den Kopf. Auch sie war nicht abgeschlossen, kein Vorhängeschloss weit und breit. Gulliksens Nachlässigkeit ging wirklich auf keine Kuhhaut. Der konnte froh sein, dass ihm nicht längst jemand seine Spaten oder den Rasenmäher geklaut hatte.
Mit leicht zittriger Hand umfasste er den rostigen Riegel und zog die Tür auf. Drinnen war es stockfinster, aber er wusste, dass sich im vorderen Teil die Gartengeräte, weiter hinten die Utensilien für den Sportunterricht befanden: rot-weiß gestreifte Hütchen, die Latte und Matten für die Hochsprunganlage, Maßbänder für die Weitsprunggrube, Speere und Stoßkugeln, ein paar Kleintore und Leichtmetallhürden, nicht zu vergessen die Staffelstäbe.
Er spürte sein Herz in der Kehle schlagen, wollte plötzlich alles nur noch hinter sich bringen. Hektisch ließ er die Tüte fallen, nahm eine Schachtel Streichhölzer sowie die Flasche mit dem Brennspiritus heraus und fummelte nervös am Sicherheitsverschluss, bis er ihn endlich aufbekam. Mit zwei Schritten war er in der Hütte und besprengte die Wände sowie den Boden nahe der Tür mit der stinkenden Flüssigkeit. Hielt kurz inne, weil er glaubte, ein Atmen zu hören. Aber es war wohl doch nur sein eigenes Keuchen, das ihn erschreckt hatte. Er trat zurück, schraubte die Flasche zu und ließ sie wieder in der Tüte verschwinden. Dann nahm er die Streichhölzer aus der Schachtel. Er hatte jeweils fünf zusammengebunden, um eine stabile Flamme zu erzeugen, die nicht der kleinste Windstoß ausblasen konnte. Dennoch brachte er das Kunststück fertig, zwei Hölzchen des ersten Fünferpacks abzubrechen, als er es an der Reibefläche entlangzog. Er zögerte irritiert, spürte die Hitze an seinen Fingern und ließ es auf den feuchten Rasen fallen.
Beim zweiten Versuch klappte es. Er blickte kurz auf die Flamme, warf das Streichholzbündel vorsichtig durch die Türöffnung und erschrak über die zischenden Geräusche und die kleine fauchende Explosion, die er damit auslöste. Zu gern hätte er sich den Verlauf des Brandes in Ruhe angesehen. Hätte voller Spannung beobachtet, wie die ersten Flammen, die bereits am Türstock züngelten, von den morschen Brettern Besitz ergriffen, um sich allmählich zu einem großen gefräßigen Feuer zu vereinen. Hätte am liebsten so lange gewartet, bis der alte Schuppen lichterloh in Flammen stand und einer riesigen Fackel glich, deren Funken in den nächtlichen Himmel stoben. Aber das durfte er nicht riskieren. Jetzt gab es nur noch eines zu tun.
Er raffte die Tüte an sich, machte auf dem Absatz kehrt und rannte, ohne sich noch einmal umzudrehen, dem Ausgang entgegen. Als er das Tor erreichte, fuhr er herum und starrte für ein paar Sekunden auf den lodernden gelben Fleck am anderen Ende des Sportplatzes. Dann drückte er sich durch den Spalt und verschmolz mit dem Dunkel der Nacht.
Kapitel 1
Drei Monate zuvor
Was für ein romantisches Fleckchen, dachte Franziska verträumt, als sie ihre Zehen in den warmen Sand bohrte und wie zufällig Alexanders Schulter berührte. Zumindest hätte es ein romantisches Fleckchen sein können, wären da nicht die zehntausend anderen gewesen, die schon am Vormittag die Paradiesbucht gestürmt und sie in einen bunten Flickenteppich aus Badehandtüchern verwandelt hatten. Eine überdrehte Ausgelassenheit lag in der Luft, als hätten sich all diese Menschen hier verabredet, um am letzten Samstag der großen Ferien eine gigantische Strandparty zu feiern.
Denn eines hatte Franziska längst begriffen: So kurz der Sommer in Oslo auch war, so intensiv wurde er hier genossen und ausgekostet. Es war, als ginge es darum, sich so schnell wie möglich einen Vorrat an Sonne, Licht und guter Laune anzulegen, um im Winter – der »dunklen Zeit«, wie er hier meist genannt wurde – davon zu zehren.
Sie ließ ihren Blick über das Halbrund der Bucht wandern. Sonnenanbeter brutzelten mit Kopfhörern im Ohr, während andere ganz in der Welt des Buches versunken waren, das sie in der Hand hielten. An der Wasserlinie flogen Bälle und Frisbees hin und her. Zwei picklige Mädchen mit blitzenden Zahnspangen jagten im Zickzack um die Handtücher herum und quietschten um die Wette. Jungs mit gebräunten Oberkörpern spurteten durch die seichten Wellen, zogen ihre Kumpel auf Skimboards hinter sich her und brachen jedes Mal in schallendes Gelächter aus, wenn einer von ihnen kopfüber ins Wasser stürzte. Norwegisches Strandrodeo.
Rechts von Franziska und Alexander schnarchte ein Rentner mit offenem Mund, während zur Linken ein Baby plärrte. Drei Handtücher weiter stritten sich zwei muskelbepackte Kerle über die perfekte Art, ein Steak zu braten. Direkt am Wasser hatte eine Gruppe von Jugendlichen ihren Gettoblaster aufgedreht, der wummernde Rhythmen über den Fjord schickte. Für einen Augenblick kam es Franziska so vor, als schwappten die Wellen im Takt dazu. I Follow Rivers von Lykke Li, die Hymne dieses Sommers.
Plötzlich klopfte ihr jemand von hinten auf die Schulter.
»Bist du nicht diese …?«, fragte ein sommersprossiger Junge mit Zahnlücke.
»Doch, bin ich«, antwortete Franziska seufzend. »Autogramm?«
Der Junge streckte ihr strahlend einen Stift sowie ein kleines Album entgegen, in dem sich Aufkleber berühmter Fußballer befanden.
»Kannst ganz hinten unterschreiben, neben Ibrahimovic«, lispelte er.
Franziska nickte, blätterte und kritzelte ihren Namen neben das Foto eines grimmig dreinblickenden Kickers.
Ohne ein weiteres Wort flitzte der Junge davon.
»Deine Fans werden immer jünger«, bemerkte Alexander. »Vielleicht solltest du mal ’ne Signierstunde im Kindergarten geben.«
Sie rollte die Augen. Seit ein Osloer Fernsehsender über ihre spektakuläre Rettung berichtet hatte, die gut vier Monate zurücklag, war Franziska eine lokale Berühmtheit geworden. Dass ausgerechnet ein deutsches Mädchen von einem norwegischen Ganoven verfolgt und in eine Hütte gesperrt worden war, hatte bei vielen Einheimischen für Scham und Empörung gesorgt. Einem Kamerateam hatte sie vor Ort demonstriert, wie sie die Scheibe des Schuppens eingeschlagen hatte und durch das Fenster geflüchtet war. Auf Bitten des Reporters hatte sie sogar den gesamten Fluchtweg rekonstruiert, inklusive ihrer Begegnung mit dem Elch, ehe sie schließlich Hauptkommissar Ohlsen in die Arme gelaufen war.
Wenn sie in der Öffentlichkeit angesprochen wurde, was hin und wieder geschah, dann variierte sie die Geschichte ein wenig, damit es ihr selbst nicht langweilig wurde, davon zu erzählen. Und obwohl Alexander ihr geraten hatte, nicht zu dick aufzutragen, hatte sie erst letzte Woche drei neugierigen Teenagern in der U-Bahn weisgemacht, sie sei dem Elch auf den Rücken gestiegen und dem Suchkommando der Polizei im gestreckten Galopp entgegengeritten. Die Teenager hatten gekichert. Entweder glaubten sie Franziska kein Wort, oder sie amüsierten sich über ihr drolliges Norwegisch, das nach wie vor alles andere als perfekt war. Franziska war das schnuppe.
»Nur kein Neid«, entgegnete sie. »Kannst dich ja auch mal entführen lassen.«
»Also sooo wichtig ist mir ein eigener Fanklub auch wieder nicht.« Alexander öffnete den Reißverschluss der Kühltasche und angelte sich eine neue Dose Solo-Zitronenlimonade. »Willst du?«
»Danke.« Franziska hielt sich die kühle Dose an die verschwitzte Stirn, ehe sie die Lasche mit einem »Zosch« aufzog und den Kopf in den Nacken legte. Die sprudelnde Flüssigkeit schoss ihr in den Rachen, was einen spontanen Hustenreiz auslöste. Prustend spuckte sie einen Teil auf Alexanders blau-weiß gestreiftes Handtuch, auf dem sie beide saßen, und wedelte mit einer Hand vor ihrem Gesicht herum.
»Sorry …«
Alexander schaute sie belustigt an. »Zitrone gibt jedenfalls keine Flecken.«
»Ich versteh das … nicht«, röchelte sie mit tränenden Augen. »Erst bei Tonje, dann bei dir.«
Vor einem knappen Jahr war ihr fast an derselben Stelle die Limonade zur Nase herausgeschossen und hatte Tonjes Ballerinas besudelt. Dieses kleine Malheur war quasi der Auftakt zu einer Reihe von Ereignissen gewesen, die Franziska jetzt schon als größte Pechsträhne ihres Lebens betrachtete. Abgesehen von der Tatsache, dass sie damals unter abartigem Heimweh gelitten hatte, war ihre Mutter in einen Blödmann, Aufschneider und Betrüger namens Leif verknallt gewesen, an dem einfach gar nichts echt war, nicht mal sein Name. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war sie von einem brutalen Bulldoggengesicht in diesen stinkenden Schuppen gesperrt worden, aus dem sie sich nur unter höchster Gefahr hatte befreien können – was ihr im Nachhinein zwei vernarbte Handflächen und einen zweifelhaften Ruf als Provinzpromi beschert hatte.
Ihr brennendes Heimweh nach München hatte sich inzwischen in eine leise Wehmut verwandelt. Es tat nicht mehr weh, doch war sie ziemlich sicher, dass ihr Oslo niemals in gleicher Weise ans Herz wachsen würde. Sie war aus ihrem alten Leben vertrieben worden und im neuen noch nicht angekommen. Sie fühlte sich wie im Wartezimmer eines Arztes, in dem sie nichts anderes tun konnte, als die Zeit totzuschlagen. Irgendwie schien sie darauf zu warten, dass jemand ihren Namen rief, zum Zeichen, dass es endlich weiterging. Eine vage Ahnung, wer dieser Jemand sein könnte, hatte sie immerhin. Zumindest hätte sie nichts dagegen, wenn der attraktive Junge mit den lässigen Bewegungen und den sanften braunen Augen, der neben ihr auf dem Bauch lag, sich ein bisschen für sie …
»Franziska!«
»Äh … was?«
Alexander schirmte mit einer Hand das Display seines Smartphones ab. »Elias schreibt gerade, dass er mit Håkon im Strandbad ist. Wollen wir zu ihnen rübergehen?«
Ach, ich weiß nicht.
»Okay, meinetwegen. Aber vielleicht sollte ich dir vorher noch mal den Rücken eincremen, ich glaube, er ist ein bisschen rot.«
»Nicht nötig. Hab ich schon zu Hause gemacht.«
Seufz.
So packten sie also ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg zum Strandbad Huk, das etwa eine Viertelstunde von der Paradiesbucht entfernt lag. Alexander trug die Badetasche am Zeigefinger über der Schulter. Franziska hatte sich die Kühltasche unter den Arm geklemmt und hielt sich etwa einen Meter hinter ihm. Auf diese Weise konnte sie am besten ihren Gedanken nachhängen und in aller Ruhe Alexanders gebräunte Beine betrachten, auf denen sich ein Flaum blonder Härchen abzeichnete.
Was das Beisammensein mit ihm so angenehm machte, war die Tatsache, dass man gut mit ihm schweigen konnte. Jedenfalls brauchte man nicht, wie bei anderen Jungs, nach zehn Sekunden Stille nervös in Schweiß auszubrechen und fieberhaft darüber nachzudenken, was man bloß für eine schlaue oder witzige Bemerkung machen könnte. Alexander sorgte dafür, dass man sich entspannte.
Mildes Nachmittagslicht flutete den Saum des Strandes, während eine warme Brise Franziska die Haare aus dem Gesicht strich. Milliarden von Lichtreflexen tanzten auf der Wasseroberfläche und verliehen ihr das Bild eines zerbrochenen Spiegels, der bis zum Horizont reichte. Franziska kniff unwillkürlich die Augen zusammen, wodurch sich das endlose Glitzern abermals vervielfältigte, als sähe sie durch ein Kaleidoskop.
Der Trubel der Paradiesbucht war nur noch ein fernes Summen, dafür traten die Gerüche umso stärker hervor. Nie zuvor hatte Franziska so deutlich die verschiedenen Aromen von Luft, Erde und Meer unterscheiden können. Sie roch die salzige Schärfe des Tangs sowie den süßlich-würzigen Duft der sich wiegenden Gräser, die beim Gehen ihre nackten Zehen kitzelten.
Doch war da noch ein anderer Geruch, den sie nicht identifizieren konnte. Wie der Anflug von etwas Metallischem, das sie aus irgendeinem Grund mit den anthrazitfarbenen Felsen, die den Trampelpfad säumten, in Verbindung brachte.
Als das Strandbad mit seinem Kiosk und der großen Liegewiese in ihr Blickfeld geriet, waren nur noch wenige Leute im Wasser. Am Ufer flackerten bereits die ersten Lagerfeuer, deren Rauchschwaden rätselhafte Muster in die Luft malten. Von der weißen Holzterrasse des Strandrestaurants drang das Klirren von Gläsern zu ihnen herüber.
»Habt ihr einen Treffpunkt ausgemacht?«, fragte Franziska.
»Nicht direkt.«
»Und indirekt?«
»Auch nicht.«
Franziska stellte die Kühltasche ins Gras und stemmte die Hände in die Hüften. Eigentlich mussten ihre beiden Klassenkameraden hier am Strand doch ein auffälliges Pärchen abgeben.
Der schlaksige Håkon war vermutlich der einzige Junge weit und breit, dessen Haare bis zu den Schultern reichten, und Elias, der noch vor Kurzem mit Bärchen und Entchen verzierte Klamotten getragen hatte, kleidete sich mittlerweile nur noch in einer einzigen Farbe: Schwarz. Seine strohblonden Haare, die ihm stets wie eine Bürste vom Kopf abgestanden hatten, hingen ihm jetzt als geschwungene Tolle im Gesicht und verdeckten mindestens ein Auge. Manche behaupteten, Elias wäre auf dem besten Weg zum Emo, doch Franziska zweifelte daran, dass er wusste, was ein Emo war.
Dann geschahen drei Dinge gleichzeitig.
Erstens erblickte Franziska Elias, der, mit schwarzer Badehose und schwarzem T-Shirt bekleidet, auf einem Felsen hockte und Löcher in die Luft guckte.
Zweitens rief Håkon, der bis zu den Knien im Wasser stand, Alex’ Namen und winkte wie wild.
Und drittens schrie irgendwo eine hysterische Frauenstimme: »Es brennt! Es brennt!«
Franziska fuhr herum, konnte jedoch weder erkennen, wer geschrien hatte, noch, was den Schrei ausgelöst haben mochte. Erst auf den zweiten Blick sah sie, dass unter den Bäumen, etwa fünfzig Meter von der Liegewiese entfernt, ein einzelner Mülleimer lichterloh in Flammen stand. Aus der Entfernung glich er einer lodernden Fackel. Zwei Kinder standen ratlos daneben. Ein Glatzkopf scheuchte sie hektisch weg und versuchte den Brand mit einer Wasserflasche zu löschen, was so gut wie keine Wirkung zeigte.
Binnen Sekunden brach ein lärmender Tumult los. Eine dicke Frau in einem geblümten Badeanzug warf couragiert ihr Badehandtuch über den Mülleimer, der bedrohlich nahe an einer Parkbank und am knochentrockenen Unterholz stand. Doch es qualmte nur kurz, ehe die Flammen wieder die Oberhand gewannen. Erst einem geistesgegenwärtigen Kellner, der aus dem Strandlokal gestürzt war, gelang es schließlich mithilfe eines Feuerlöschers, den Brand zu ersticken.
Weißer Nebel, den der Löschschaum verursacht hatte, kroch über den Boden und hüllte die Stämme der umstehenden Bäume ein, was Franziska an einen Horrorfilm denken ließ, den sie einmal gesehen hatte.
Als der Kellner lässig wie James Bond zum Strandrestaurant zurückschlenderte, brandete frenetischer Beifall auf. Vereinzelte Bravorufe waren zu hören, woraufhin er den Feuerlöscher demonstrativ über den Kopf streckte.
Doch die heitere, ausgelassene Stimmung, die eben noch geherrscht hatte, war im Nu einer Mischung aus Anspannung und Beklommenheit gewichen. Allgemeines Kopfschütteln und Schulterzucken. Niemand schien zu wissen, was den Brand ausgelöst hatte und wie er sich so schnell hatte entwickeln können.
»Echt krass«, sagte Elias, der plötzlich neben ihnen stand. Die Freunde stießen ihre Fäuste aneinander. Nach kurzem Zögern tat Franziska dasselbe. Besser, sich idiotisch begrüßen als gar nicht, dachte sie.
»Vielleicht hat irgendein Schwachkopf seine Zigarettenkippe in den Mülleimer geworfen«, mutmaßte Alexander. »Oder eine Glasscherbe war schuld. Die bündeln das Licht wie ein Brennglas, wenn die Sonne draufscheint.«
»Aber dazu steht die Sonne eigentlich schon zu tief«, gab Håkon zu bedenken.
In letzter Zeit war wiederholt vor erhöhter Waldbrandgefahr gewarnt worden, da es seit Wochen nicht geregnet hatte, fiel Franziska jetzt ein. Die Norweger hatten überhaupt eine panische Angst vor Bränden. War ja kein Wunder, bei all den Holzhäusern. Kein Norweger würde je auf die Idee kommen, statt einer Lichterkette echte Kerzen an seinem Weihnachtsbaum anzubringen. Und wenn man hier shoppen ging, kam es schon mal vor, dass ein freundlicher Verkäufer versicherte, dieser Rock oder jenes Shirt seien »äußerst schwer entflammbar«.
Wie auch immer, dachte Franziska, so ein Feuer in freier Natur konnte natürlich ruck, zuck auf die umliegenden Büsche und Bäume übergreifen. Vor allem, wenn der Wind, der in Oslo fast ständig blies, die Flammen zusätzlich anfachte.
Aber es war doch nicht vorstellbar, dass jemand, der Spaß am Zündeln hatte, einen Waldbrand in Kauf nahm und somit eine Katastrophe heraufbeschwor.
Oder etwa doch?