Cover

Das Buch

Die Verfemten Lande haben den Krieg überstanden, doch die Herrschaft der siegreichen Ben-Elim wird bedroht. Die Anzeichen häufen sich, dass ihre Erzfeinde, brutale Dämonenwesen, zurückkommen. Im verschneiten Norden findet der Pelzjäger Drem zerfetzte Leichen im Wald – scheinbar Opfer schwarzer Magie. Im Süden gerät Riv, ein ungestümer junger Soldat, in einen Konflikt mit den Ben-Elim. Drem und Riv hüten Geheimnisse, die das Schicksal der Verfemten Lande verändern könnten. Doch sie wissen nicht, welche Rolle sie spielen werden. Und in den Schatten warten die Dämonen nur darauf, sich zurückzuholen, was früher ihnen gehörte.

Der Autor

John Gwynne studierte an der Brighton University, wo er später auch unterrichtete. Er spielte Bass in einer Rock ’n’ Roll-Band, bereiste die USA und lebte in Kanada. Heute ist er verheiratet, hat vier Kinder und führt in England ein kleines Unternehmen, das alte Möbel restauriert.

Weitere Informationen unter: http://www.john-gwynne.com/

 

Von John Gwynne bereits erschienen
Macht * Bosheit * Jähzorn * Ungnade

 

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JOHN GWYNNE

Die Zeit
der Schatten

Blut und Knochen 1

Aus dem Englischen
von Wolfgang Thon

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Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»A Time of Dread – Of Blood and Bone 1«
bei Pan Macmillan, London.


Copyright der Originalausgabe © 2018 by John Gwynne

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft, nach einer Originalvorlage von Macmillan Publishers

Coverillustration: Paul Young represented by Artist Partners

Karte: © Fred van Deelen

BL · Herstellung: sam

Satz und E-Book: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-23545-1

V002


www.blanvalet.de

Für Harriett,
deren Lächeln ein Fenster zu ihrem Herzen ist,
selbst den dunkelsten Raum erhellt und
die Sturmwolken verscheucht.

Und für das Intensive Therapy Unit’s Team im
Eastbourne District General Hospital:

Ihr alle seid Engel ohne Flügel.

Ich stand wie einer, dem im Wald
Auf dunklem Pfade graut;
Der immer, immer vorwärts eilt
Und nimmer rückwärts schaut;
Er weiß, ein Feind ist hinter ihm;
Sein Herz schlägt bang und laut.

Der alte Matrose – Samuel Taylor Coleridge

Auszug aus:

Das Buch der Gefallenen

Ein zerfetztes Exzerpt,
entdeckt bei der Leiche eines Kadoshim-Dämons

Im Jahr 131 des Zeitalters der Kunde

Sie halten uns für gebrochen.

Doch wir sind es nicht.

Sie halten uns für besiegt.

Doch wir sind es nicht.

Mehr als zweitausend Jahre, meine Brüder, haben wir in einem hehren Krieg gefochten, gegen Elyon, den Großen Tyrannen, und seine Knechte, die Ben-Elim. Zweitausend Jahre lang war die Anderwelt unser Schlachtfeld – dieser Ort des Geistes, wo alles ewig ist. Dann, vor etwas mehr als einem Jahrhundert, erlebten wir die Erfüllung unserer lang gehegten Pläne, endlich in diese Welt des Fleisches zu gelangen, selbst Fleisch zu werden, auf dass wir Krieg führen können gegen Elyons Schöpfung, die Menschheit; um zu erobern und zu zerstören, wie es uns gefiel.

Aber wir wurden verraten, meine Brüder, und von den Ben-Elim in eine Falle gelockt. An diesem Tag kämpften wir wie Krieger und beschämten selbst die Helden, die von den Menschen dieser Welt besungen werden. An diesem grauenvollen Tag der Drangsal kämpften wir mit scharfem Eisen, mit Zähnen und Krallen. Blut floss in Strömen, und doch waren wir den Ben-Elim und ihren Verbündeten unterlegen. Denn sie wurden von einer Made angeführt, welche die Menschen einen Helden nannten – von Corban, dem Strahlenden Stern.

Pah, sage ich, denn Corban ist nun lange tot, doch wir sind immer noch hier. Eines Tages werde ich auf sein Grab spucken, seine Leiche ausgraben und die Knochen zermalmen. Denn Corban wagte es, seine Klinge gegen Lord Asroth, unseren Herrn, zu erheben, und es war Corbans Schwester Cywen, die den Bann wirkte, der Asroth in sein eisernes Gefängnis einkerkerte.

Wir kämpften noch lange weiter nach diesem Tag, führten mehr als einhundert Jahre Krieg, aber immer waren unsere Feinde zu viele, und unsere Zahl im Schwinden begriffen.

Jetzt werden wir von den Ben-Elim gejagt, ebenso wie von den Nachkommen des vor langer Zeit verstorbenen und dreimal verfluchten Corban.

Daher sage ich euch, meine Brüder, wir müssen lernen, auf andere Weise Krieg zu führen. Ziehen wir uns in die Schatten zurück, hausen wir an dunklen Orten und sammeln unsere Kräfte. Wir müssen uns Zeit lassen, dann werden wir triumphieren. Der Tag wird kommen, an dem wir uns wieder vereinigen und unseren Herrn Asroth befreien. Der Tag wird kommen, an dem wir uns zurückholen, was rechtmäßig uns gehört.

Nur dies müsst ihr tun: Folgt dem Ruf, wenn er ertönt.

Sie glauben, das wäre das letzte Kapitel in der langen Geschichte unserer Niederlage.

Aber sie irren.

Niedergeschrieben von Gulla, Erster Hauptmann der Kadoshim bis zur Wiedereinsetzung unseres Königs, Asroths des Großen.

KAPITEL 1

BLEDA

Im Jahr 132 des Zeitalters der Kunde, Schnittermond

»Ich sollte da unten sein«, sagte Bleda. Er hockte auf einem steilen Hang und hielt seinen Bogen in der verkrampften Faust, während er staunend die Szene unter sich beobachtete.

Eine Schlacht.

Pferde mit Reitern wirbelten in unaufhörlicher Bewegung über die Ebene. Von seiner hohen Position aus wirkten sie wie zwei Vogelschwärme, die sich immer enger umkreisten, und das schwache Trommeln der Hufe ließ den Boden unter Bledas Füßen vibrieren. Während er fasziniert und ein wenig neidisch zusah, hallten die Beleidigungen und Herausforderungen, die Vorboten der Gewalt, zu ihm herauf.

»Nein, du solltest eben nicht dort unten sein«, sagte jemand hinter ihm. Der Alte Ellac rieb sich gedankenverloren den Stumpf, wo einst seine rechte Hand gewesen war. Die Haut um seine ­Augen lag in tiefen Falten wie altes Leder, als er auf die Schlacht hinabstarrte, die sich auf der Ebene unter ihnen anbahnte.

»Natürlich sollte ich dort sein«, widersprach Bleda leise. »Meine Mutter ist da unten und führt unseren Clan an. Mein Bruder reitet auf der einen Seite neben ihr und meine Schwester auf der anderen.«

Nur mein Vater nicht.

»Richtig, aber sie sind alle erheblich älter als zehn Sommer«, erklärte Ellac nachdrücklich.

»Na und?«, fuhr Bleda auf. »Ich kann kämpfen und bin mit einem Bogen viel geschickter als die meisten anderen. Und auch geschickter als du.«

»Das ist jetzt wahrlich nicht mehr allzu schwer.« Ellac schnaubte verächtlich und gab Bleda mit seiner linken Hand eine Kopfnuss.

Bleda schämte sich wegen seiner Bemerkung, und diese Scham war schmerzhafter als der Schlag. Er wusste, dass keiner von ihnen gern untätig hier oben auf dem Hügel hockte, während ihre Familien und Angehörigen kämpften und auf dem Schlachtfeld unter ihnen bluteten.

Deine Zunge ist schärfer als dein Schwert, hatte sein Vater ihn schon immer getadelt.

»Sieh!« Ellac deutete mit seinem Stumpf nach unten. »Altan.«

Auf der Ebene unter ihnen trennte sich ein einzelner Reiter von ihrem Clan. Bleda erkannte in ihm sofort seinen älteren Bruder ­Altan.

Siebzehn Sommer ist gar nicht so viel älter. Und doch ist er bereits alt genug, um kämpfen zu dürfen. Ich aber nicht. Bledas Miene verfinsterte sich bei dem Gedanken an diese Ungerechtigkeit, obwohl sich sein Zorn nicht gegen Altan richtete. Er liebte seinen Bruder von ganzem Herzen.

Altan trieb sein Pferd zu vollem Galopp an und näherte sich der feindlichen Kriegerhorde, aus der sich im gleichen Moment ebenfalls ein Krieger löste, der genauso schnell galoppierte. Beide Krieger neigten sich in ihren Sätteln zur Seite und streckten die Arme aus, als sie ihre Bögen spannten.

Bleda wurde von glühendem Stolz durchströmt, doch gleichzeitig schien eine kalte Faust sein Herz zu umklammern.

Ziele gut, Altan. Ich darf dich nicht auch noch verlieren.

Die Welt schien sich plötzlich zu verlangsamen, und die Geräusche wurden gedämpft, während Bleda die beiden Kämpfer beobachtete.

Dann drehte Altan ab, während der andere Reiter im Sattel schwankte, zur Seite kippte und dann zu Boden stürzte. Er wurde von seinem Pferd mitgerissen, weil er mit einem Stiefel im Steigbügel hängen geblieben war. Ellac knurrte bewundernd, und Bleda stieß triumphierend die Faust in die Luft, während er laut seinen Stolz hinausschrie. Er spürte Ellacs Missbilligung wegen seines Gefühlsausbruchs, denn von den Kriegern seines Clans erwartete man, dass sie ihre kalte Miene wie einen Schild vor sich her trugen. Aber das da unten war Altan, und er hatte gerade einen Krieger ihrer ewigen Rivalen getötet.

Lautes Jubelgeschrei stieg zu ihnen empor, das sich rasch in Schlachtrufe verwandelte, als die beiden Kriegerhorden mit einem ungeheuren Krachen aufeinanderprallten. Bleda schluckte, und Angst machte sich in ihm breit. Er hatte den Tod schon erlebt, hatte die kalte, wächserne Hand seines Vaters gehalten, hatte die Geschichten der Krieger von ihren Überfällen gehört, sogar geholfen, ihre Wunden zu versorgen – aber das hier …

Die Todesschreie von Menschen und Pferden hallten zu ihnen empor, und nach wenigen Augenblicken war die Ebene unter ihnen von einer erstickenden, brodelnden Masse von Kriegern bedeckt. Blut spritzte, und Eisen klirrte laut.

»Was ist das da?« Ellac hinter ihm deutete in den Himmel. »Deine Augen sind besser als meine.«

»Geier und Krähen«, erwiderte Bleda flüchtig, als er kurz in das strahlende Blau blickte und die Umrisse von Schwingen sah.

»Dafür sind sie zu groß«, murmelte Ellac.

Jetzt riss Bleda widerwillig seinen Blick von der Schlacht los und sah genauer hin. Immer mehr geflügelte Umrisse tauchten am Himmel auf und schienen zum Schlachtfeld zu fliegen. Während sie näher kamen, wurden sie größer. Gewaltige, weiße Schwingen durchschnitten die Luft, dann sah Bleda das Blitzen von Stahl in der Sonne.

»Die Ben-Elim«, flüsterte er.

Geflügelte Krieger in schimmernden Kettenhemden senkten sich auf das Schlachtfeld hinab, zischten unmittelbar über die Köpfe der Männer hinweg und stachen wahllos mit ihren Speeren und Schwertern zu, hoben die Menschen steil empor in die Luft und ließen sie dann fallen, sodass sie schreiend und um sich schlagend in den Tod stürzten.

»Nein!«, zischte Bleda und griff nach einem Pfeil in dem Köcher an seinem Gürtel, während er aufstand. Er wollte den Hügel hinablaufen. Ellac hielt ihn am Handgelenk fest.

»Wir müssen ihnen helfen!«, schrie Bleda. »Das ist nicht der Kampf der Ben-Elim; sie sollten sich da raushalten!«

»Sie haben angekündigt, dass sie kommen würden, weil sie den Clans nicht erlauben, sich zu bekriegen«, erwiderte Ellac. »Und ob es jetzt ihr Kampf ist oder nicht, sie sind da. Sieh selbst.«

Westlich vom Schlachtfeld erstreckte sich das Reich von Arcona bis zum Horizont – ein unendliches Meer aus Gras, dessen riesige Ebenen hier und da von kleinen Gruppen niedriger Hügel durchbrochen wurden. Bleda sah von der nächsten Hügelgruppe eine Wand aus Staub aufsteigen und wusste, dass eine derartige Wolke nur von sehr vielen Füßen aufgewirbelt werden konnte. Eine große Heerschar war unterwegs.

Die Heiligen Heerscharen der Ben-Elim. Giganten auf gewaltigen Bären. Der Schildwall.

Dann zog Ellac ihn den Hügel hinauf, zu ihren angebundenen Pferden.

»Was machst du da? Wir müssen meiner Mutter helfen!«, schrie Bleda. Ellac ignorierte ihn und hob ihn ohne viel Federlesens in den Sattel. Dann stieg er, sehr geschickt für einen einhändigen Mann, auf sein eigenes Pferd und packte Bledas Zügel. Mit einem Zungenschnalzen und einer kurzen Aufmunterung seiner Hacken trieb er sein Pferd an, und im nächsten Moment galoppierten sie den Hügel hinauf.

»Bitte!«, schrie Bleda. Er war ein Prinz der Sirak, und dieses Wort kam nur selten über seine Lippen.

Ellac sah von Bleda zu der Schlacht.

»Ich darf dich nicht da hinunterlaufen lassen«, erwiderte der alte Krieger. »Deine Mutter würde mir meine andere Hand ab­hacken und mir dann noch die Augen ausstechen.« Er spornte sein Pferd an, den Hügel hinauf, fort von der Schlacht. Bleda blickte zurück, als sie den Kamm erreichten, und sein Herz schmerzte in seiner Brust. Auf dem Schlachtfeld unter ihnen tobte das Chaos, geflügelte Krieger stürzten sich unaufhörlich hinab und töteten jeden, den sie erwischten. Dann verschwand das Schlachtfeld hinter der Kuppe, und sie ritten in vollem Galopp zu ihrem Lager.

Bleda starrte auf den Horizont, als er über einen Graspfad vor ihrem Lager schlich, seinen Reiterbogen in der Hand. Sein Bruder Altan hatte den Bogen für ihn angefertigt. Er hatte Monate gebraucht, um ihn zu vollenden, während Bleda fasziniert zugesehen und dabei viel gelernt hatte.

Er ist viel zu groß für dich, hatte Altan zu ihm gesagt und ihm über das schwarze Haar gestrichen. Es ist ein Bogen für einen erwachsenen Mann, weil der Zug zu schwer ist. Aber wie willst du sonst stark werden?

Das war vor über einem Jahr gewesen, und jetzt konnte Bleda bereits den dritten Pfeil abschießen, bevor der erste auch nur sein Ziel getroffen hatte.

Die Anspannung der Wartenden lag greifbar in der Luft. Hinter ihm drängte sich eine große Schar von Kindern, Alten und Kranken. Alle anderen, die auf einem Pferd sitzen und einen Bogen halten konnten, mussten kämpfen. Zelte und Karren standen leer und unbewacht da, Hunde kläfften und Ziegen meckerten.

»Da!«, sagte jemand hinter Bleda. Alle blickten in den Himmel. Geflügelte Gestalten tauchten auf, und auf der Erde unter ihnen bewegte sich ein dunkler Fleck: Reiter, die näher kamen.

»Mutter«, flüsterte Bleda, der sie früher als alle anderen erkannte.

Erdene, Königin der Sirak, ritt in ihr Kriegslager. Ihr Helm war verschwunden, und sie hatte den Kopf gesenkt. Eine lange Schnittwunde schimmerte auf ihrem rasierten Schädel. Der dicke Kriegerzopf, den sie sorgfältig geflochten und wie eine schlafende Schlange um ihre Schulter gewickelt hatte, war jetzt aufgelöst und zerfranst, mit Blut bedeckt. Am Morgen noch hatte ihre Schuppenrüstung im Sonnenlicht gefunkelt; jetzt jedoch war sie matt und verbeult. Der Rest ihrer Leibwache umringte sie, stumm und ebenso mitgenommen, und hinter ihnen und um sie herum drängten sich Geschöpfe, bei deren Anblick Bleda der Atem stockte.

Riesige Bären, gewaltige Bestien, die nur aus Zähnen und Klauen zu bestehen schienen, trotteten mit ihren Giganten-Reitern heran: Männer und Frauen in Leder, Stahl und Pelzen, die ihre Streitäxte und Streithämmer über die Schultern geschlungen auf dem Rücken trugen. Gewundene Tätowierungen von dornigen Kletterpflanzen schlängelten sich über ihre Arme.

Erdene zügelte ihr Pferd, und ihre Krieger kamen stockend zum Stehen.

Wo ist Altan? Und Hexa? Bleda suchte die Schar der Reiter nach seinem Bruder und seiner Schwester ab. Dann schienen sich seine Füße von allein in Bewegung zu setzen, und er rannte zu seiner Mutter. Ellac stolperte hinter ihm her und versuchte vergeblich, ihn einzuholen.

Erdene sah ihn und schüttelte den Kopf, aber es war schon zu spät. Einen Herzschlag später war Bleda bei ihr und starrte zu seiner Mutter empor. Die Giganten auf ihren Bären umringten ihn wie Türme.

»Altan und Hexa?«, rief Bleda zu seiner Mutter hoch, während er ihren Stiefel packte.

Erdene blickte auf Bleda hinab, mit einem Ausdruck auf ihrem Gesicht, den er noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte.

Scham.

Sie blinzelte, als würde sie Bleda nicht sofort erkennen, dann jedoch wurde ihr Blick klar.

»Lauf weg!«, sagte seine Mutter.

Bleda wusste nicht, was er tun sollte. Sein Herz und sein Verstand waren von dem eisernen Kodex der Sirak durchdrungen, der vorschrieb, dass man seinen Mut wie eine Fahne vor sich hertrug, frei lebte und bis zum letzten Atemzug für seinen Clan kämpfte. Niemals Schwäche oder Furcht zeigte, und sich niemals, nie im Leben, ergab. Aber seine Mutter hatte gesprochen. Sie war auch seine Königin und hatte ihm befohlen, wegzulaufen.

Er drehte sich um und blickte hastig umher, sah das Chaos, das sich im Lager ausbreitete, während die Giganten und ihre Bären vorwärtsmarschierten. Immer mehr Kämpfer kamen an, Kolonnen mit normal großen Kriegern, gekleidet in schwarzes Leder, an den Armen riesige rechteckige Schilde, auf die silberne Schwingen geprägt waren. Sie verteilten sich in geschlossenen Reihen rund ums Lager und kesselten alle ein, die sich darin befanden. Dann legten sie mit einem lauten Knall ihre Schilde aneinander. Bledas Blick fiel auf dunkle Gesichter unter silberfarbenen Helmen, als kleinere Gestalten zwischen ihnen auftauchten. Es waren Kinder, wie er feststellte, die den Kriegern nach ihrem harten Marsch Wasserschläuche anboten. Während er ihnen zusah, merkte er, wie eine Gestalt seinen Blick erwiderte, bleich und blond, ein Mädchen, das einem Krieger einen Wasserschlauch hinhielt, während sie ihm direkt in die Augen sah.

Schatten zuckten über den Boden, und das Geräusch von Schwingen drang an Bledas Ohren, als die Ben-Elim herabsanken. Einer flog noch tiefer als die anderen und schlug mit seinen großen Flügeln, als er sich einen Moment über Erdene und Bleda hielt. Gras und Staub wirbelten auf, dann landete er leichtfüßig auf dem Boden. Er war groß, größer als jeder Mensch, den Bleda je gesehen hatte. Sein Haar war pechschwarz, und er trug einen Umhang aus glänzenden Kettengliedern. Mit der Faust umklammerte er einen Speer, dessen Blatt von Blut verkrustet war.

»Ist er das?« Der Blick des Ben-Elim haftete einen Moment auf Bleda, dann sah er Erdene an.

Die Königin der Sirak schwieg so lange, dass Bleda schon glaubte, sie würde gar nicht antworten.

»Du musst stark sein«, sagte Erdene dann zu Bleda.

Furcht regte sich in Bleda, ausgelöst vom Unterton in der Stimme seiner Mutter und von der Art, wie der geflügelte Krieger ihn angesehen hatte.

Er versuchte, seine Furcht zu beherrschen, das Prickeln in seinen Augen zu unterdrücken, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.

Nein! Ich bin Sirak. Ich bin der Sohn Erdenes, der Herrin-von-allem-was-sie-sieht.

»Gut.« Der Ben-Elim beugte sich herab, packte Bleda am Kragen seiner Tunika und hob ihn hoch. Bleda griff instinktiv nach einem Pfeil in seinem Köcher und nockte ihn auf die Sehne seines Bogens ein, aber mit einer kurzen Bewegung seines Handgelenks schlug der Ben-Elim Bleda den Bogen aus der Hand, der sofort zu Boden fiel. Bleda starrte den Ben-Elim böse an und erwartete, dass seine Mutter eingriff, um ihn zu beschützen, wie sie es immer getan hatte. Aber sie saß einfach nur auf ihrem Pferd und sah ihn mit ihren grauen Augen an.

»Ich bin Israfil, Lordprotektor des Landes der Getreuen, und du kommst mit mir«, erklärte der Ben-Elim. »Als Unterpfand dafür, dass deine Mutter den Frieden einhält, wenn wir wieder abgerückt sind.«

»Was? Wohin?« Die Worte des Ben-Elim drangen nur langsam, wie durch Wasser, in Bledas Bewusstsein.

»Du bist mein Mündel, Bleda, und Drassil wird dein neues Heim werden«, sagte der Ben-Elim.

Mündel. Drassil.

Bei diesen Worten zuckte Bleda zusammen, als wären es Schläge gewesen. Drassil war die Festung der Ben-Elim und lag weit im Westen.

Ich soll ihr Mündel sein? Er meint wohl eher Gefangener.

»Nein!«, flüsterte Bleda. »Mutter?« Ein langes Schweigen folgte seinen Worten, während der Blick, den Erdene und Israfil wechselten, von Stolz und Scham kündigten, von Sieg und Niederlage. Die Furcht meldete sich wieder in Bledas Herz, eine Kälte, die in seine Adern sickerte und seine Lippen zittern ließ.

Die kalte Miene. Beschäme Mutter nicht. Beschäme dein Volk nicht.

»Es ist vereinbart«, sagte Erdene. Ihr Gesicht war maskenhaft, nur ihre Augen schickten ihm die Botschaft.

Du musst stark sein.

»Das ist der Preis, der gezahlt werden muss.« Der Ben-Elim sprach, als würde er etwas rezitieren. »Es wird Frieden im Land der Getreuen herrschen. Es gibt nur einen Feind, einen einzigen Feind, der bekämpft werden muss: die Kadoshim und ihre Anhänger.«

»Nein!« Bleda stieß das Wort aus; es drückte gleichzeitig Leugnen und Weigerung aus. Er spürte die heißen Tränen in seinen ­Augen, wischte sie wütend weg, wusste um die Schande, die mit ihnen einherging.

»Altan und Hexa werden dir das nicht erlauben!« Wut und Furcht verzerrten Bledas Stimme. Dann rauschte es erneut in der Luft, und Schwingen schlugen, als weitere Ben-Elim aus dem Himmel herabsanken und neben Israfil landeten. Der Erste war blond, und eine lange Narbe führte von seiner Stirn zu seinem Kinn. Er warf Israfil etwas vor die Füße. Die beiden Gegenstände landeten mit einem leisen Poltern auf dem Boden, rollten über das Gras und blieben schließlich liegen.

Es waren zwei Köpfe, deren Augen aus ihren Höhlen zu treten schienen, und aus deren Hals immer noch Blut tropfte.

Altan und Hexa.

Die Welt verstummte. Bledas Blickfeld verengte sich auf die abgetrennten Köpfe seines Bruders und seiner Schwester. Er hörte etwas, wie aus weiter Ferne, bis er begriff, dass er es war, der schrie, sich wand und gegen Israfils Griff kämpfte, der versuchte, dem Ben-Elim die Augen auszukratzen. Aber Israfil hielt ihn einfach auf Armlänge von sich weg, bis Bledas Kräfte allmählich schwanden. Israfil betrachtete Bleda mit dunklen, emotionslosen Augen, bevor er seinen Blick schließlich auf den blonden Ben-Elim richtete, der ihm die beiden Köpfe vor die Füße geworfen hatte. Obwohl Israfil keine Frage stellte, ja, kein einziges Wort sprach, redete der blonde Ben-Elim, als antworte er auf einen Tadel, während er den Blick senkte.

»Sie wollten sich nicht ergeben«, sagte er und scharrte mit dem Fuß in der Erde. »Und sie haben Remiel getötet.« Er hob den Blick und sah Israfil trotzig und wild an. »Sie haben einen Ben-Elim getötet und mir damit keine Wahl gelassen.«

Israfil erwiderte seinen Blick eine Weile, bevor er schließlich kurz nickte. Mit einer schnellen Handbewegung schleuderte er Bleda hoch in die Luft. Ein Gigant fing ihn auf und setzte ihn vor sich auf den Sattel. Bleda schöpfte neue Kraft, kämpfte und wand sich, während seine Tränen alles vor seinen Augen verschwimmen ließen. Aber der Gigant hielt ihn fest.

Als Israfil dem Giganten ein Zeichen gab, zog der an den Zügeln, schrie einen Befehl, und der riesige Berg aus Pelz und Muskeln unter Bleda wandte sich um und schaukelte behäbig von den Ben-Elim und Bledas Mutter weg. Er trug Bleda fort von seiner Familie und seinem Volk, von allem, was er kannte, und riss ihn aus seiner Welt.

Er trug ihn zu seinem neuen Heim.

Nach Drassil.

KAPITEL 2

DREM

Das Jahr 137 des Zeitalters der Kunde, Jägermond

Drem ächzte, als er eine Ladung Erde aus der Grube schleuderte, die er gerade schaufelte. Er ruhte sich einen Moment aus, trank einen Schluck Wasser aus dem Schlauch, blickte hoch und sah den kalten blauen Himmel durch die im Wind schaukelnden Zweige. Vogelgezwitscher drang zu ihm herab. Der Stand der Sonne sagte ihm, dass sie bald untergehen würde. Die Grube war tief, der Rand reichte fast bis zu seinem Scheitel, aber er grub weiter, legte den Wasserschlauch weg und nahm die Spitzhacke, die er im gewohnten Rhythmus schwang. Zehn Schläge mit der Hacke, um den Boden zu lockern, dann schaufelte er die Erde auf und warf sie aus der Grube. Anschließend war wieder die Hacke dran. Seine Schultern und sein Rücken schmerzten, der Schweiß brannte in seinen Augen, aber er ignorierte es, blinzelte den Schweiß weg und hackte weiter unablässig auf den eisenharten Boden ein.

Ein Geräusch drang durch das Rauschen des Flusses hinter der Grube. Schritte. Er ließ die Hacke fallen, nahm seinen Speer und richtete ihn nach oben.

Ein Schatten fiel über ihn.

»Das genügt«, sagte Olin, sein Pa. Er sah unter seiner eisengrauen Mähne hindurch zu ihm hinab.

»Sie ist noch nicht tief genug«, ächzte Drem, legte den Speer weg und nahm erneut die Hacke.

»Sie ist tief genug für jeden Elch, den ich je gesehen habe«, erwiderte Olin.

Drem hatte Gruben gegraben, seit er zehn Sommer alt gewesen war. Wie tief?, hatte er seinen Pa vor all den Jahren gefragt. Doppelt so tief wie du groß bist, hatte sein Pa geantwortet. Damals hatte sein Vater mit ihm die Grube gegraben. Er hatte die Erde aufgehackt, und Drem hatte geschaufelt. Jetzt jedoch, elf Jahre später, legte Drem die Gruben hauptsächlich allein an. Sein Vater stellte andere Fallen in ihren Jagdgebieten auf, mit Schlingen und Seilen. Drem musste sich immer wieder daran erinnern, dass er die Gruben jetzt nicht mehr doppelt so tief graben musste, wie er groß war, weil er inzwischen zu einem Mann herangewachsen war und zu einem großen obendrein. Trotzdem bereitete es ihm Unbehagen, einfach aufzuhören. Er machte die Dinge gern so, wie man es ihm beim ersten Mal gezeigt hatte, und er verabscheute Veränderungen. Mit aller Kraft schlug er die Spitzhacke ein letztes Mal in den Boden. Da spürte er, wie sie auf etwas Festes traf, sodass die Erschütterung seinen Arm erzittern ließ.

»Klingt, als hättest du die Wurzel des Berges gefunden«, sagte Olin. »Komm, lass uns etwas essen.«

Drem riss die Spitzhacke heraus, warf sie hoch zu seinem Vater und die Schaufel hinterdrein. Als Letztes hielt er den Speerschaft hoch. Olin ergriff ihn und hielt ihn fest, als Drem sich an dem Schaft aus der Grube zog. Sein Pa ächzte vor Anstrengung, obwohl er sehr muskulös und knorrig wie eine alte Wurzel war.

Drem drehte sich um und begutachtete seine Arbeit.

»Du hast eine gute Stelle ausgesucht.« Olin betrachtete den ausgetretenen Pfad, den die Grube durchschnitt. Der Pfad führte aus dem Vorgebirge, in dem sie sich befanden, zu einer fruchtbaren Ebene. Der Boden am Fluss war dort weich und sumpfig.

Drem lächelte über das Lob seines Vaters.

Zusammen fertigten sie ein Gitter aus Weidenruten an und legten es über die Grube. Dann häuften sie Zweige und Blätter darauf, und darüber etwas Rinde und einige Seerosen.

»Einem Elch schmeckt so etwas besser als heißer Brei mit Honig an einem Wintertag«, sagten sie schließlich, wie immer am Ende. Es war ihr abschließendes Ritual. Dann drehten sie sich um und gingen den steilen Hang hinauf zu ihrem Lager. Der Fluss strömte schäumend unter ihnen dahin.

Die Sonne war nur noch ein feuriger Streifen am Rande der Welt, während Drem einen aufgespießten geviertelten Hasen über der kleinen Feuergrube drehte. Das Fett zischte, wenn es in die Flammen tropfte.

»Riecht gut«, ächzte Olin, nachdem er sich um ihre Packpferde und Felle gekümmert hatte. Er kam ans Feuer und setzte sich, legte Drem ein Rehfell über die Schultern und warf sich dann selbst eines über. Drem spürte jetzt die Kälte, nachdem er aufgehört hatte zu graben. Sie drang ihm bis in die Knochen. Viele zusammengeschnürte Fellrollen stapelten sich hoch um sie herum, denn es war eine sehr lohnende Jagdsaison gewesen. Doch jetzt waren sie fast zu Hause.

Drem schnitt mit seinem Lieblingsmesser ein Stück Fleisch ab. Die breite Klinge war sehr scharf und länger, als bei einem Jagdmesser üblich.

In diesem Teil der Verfemten Lande nennen sie eine solche Klinge einen ­Scramasax, hatte sein Vater ihm erzählt, als sie sie gemeinsam geschmiedet hatten.

Drem kümmerte es nicht, wie man sie nannte. Er wusste nur, dass er diese Klinge liebte, dass sie sich anfühlte wie ein Teil von ihm, wie sein ständiger Begleiter. Der Horngriff war mittlerweile so abgegriffen, dass er perfekt in Drems Faust passte. Sie teilten sich die Mahlzeit und aßen in behaglichem Schweigen. Sie waren bereits weit durch das Vorgebirge marschiert, das sich bis zu einer schneebedeckten Gebirgskette hinter ihnen hinaufzog. Aber Drems Blick ging in die andere Richtung, über die Landschaft, die sich unter ihnen ausbreitete. Ein großer See beherrschte die Aussicht. Sein Wasser schimmerte dunkel in der untergehenden Sonne, und die Bäume und Wiesen an seinem Ufer waren in Rot und Gold getaucht, jetzt, wo der Herbst allmählich in den Winter überging. Zwischen Drem und dem See flammten die ersten Lichter einer großen Siedlung auf, die aus dieser Entfernung so winzig wie Glühwürmchen wirkten. Die Stadt war von einem soliden Palisadenwall umringt, der von vielen Fackeln gekrönt wurde. Es war Kergard, die nördlichste Stadt der Einöde. Sie war von zähen Menschen erbaut worden, die in einer rauen Umgebung lebten. Drem gefiel der Blick auf Stadt und See; es war schön anzusehen, wie sich die Farben vermischten, wie die Lichter weich und warm wie Kerzen schimmerten. Andere Lichter flammten jenseits des Palisadenwalls auf, von Gehöften, die über das ganze Land verteilt waren. Drem suchte ihren eigenen Hof, etwas weiter nördlich, am Rande des Waldgebietes, obwohl er wusste, dass dort keine Feuer entzündet würden, keine Fackeln wachten oder Kerzen Fenster erleuchteten.

Unser Heim, wenn ich überhaupt irgendetwas so nennen kann. Ich bin den größten Teil meines Lebens von einem Ort zum anderen gezogen. Aber dies ist jetzt unser fünfter Winter am selben Platz. Ich kann mich nicht erinnern, irgendwo länger geblieben zu sein, seit Mutter …

Er freute sich darauf, nach Hause zurückzukehren, nachdem sie ein halbes Jahr lang in den Knochenhöhen gejagt und Fallen gestellt hatten. Er mochte das Leben in der Wildnis mit seinem Vater, er liebte es sogar. Aber sein Pa hatte recht: Der Wintereinbruch stand kurz bevor, und das war nicht die richtige Zeit, um auf Wurzeln und Felsen zu schlafen.

Als er die abwechslungsreiche Landschaft betrachtete, sah er weiter im Norden eine neue Gruppe von Lichtern, östlich von ihrem Heim, dicht am nördlichen Ufer des Sees.

»Das war noch nicht da, als wir weggegangen sind«, sagte er zu seinem Vater und zeigte darauf.

»Nein.« Olin runzelte die Stirn. »Sieht aus, als wäre Kergard gewachsen. Ich hoffe, sie wissen, was es heißt, so weit im Norden zu überwintern. Das Land wird nicht mehr lange so grün sein wie jetzt.« Sein Vater blickte von dem Panorama vor ihnen über die Schulter auf die schneebedeckten Berge und den sich verdunkelnden Himmel. Dann sah er, wie sein Atem Wolken bildete. »Der Winter folgt uns dicht auf den Fersen.«

»Stimmt.« Drem zog das Rehfell enger um seine Schultern. »Sonderbar, dass man dieses Land die Ödnis nennt«, murmelte er. Denn er hatte Mühe, sich die Landschaft vor sich als eine unbewohnte Einöde aus Felsen und Asche vorzustellen.

Sein Vater brummte zustimmend und leckte sich das Fett von den Fingern.

»Und dieser See war einmal ein Krater?«

»Ja, so war es«, erwiderte Olin. »Der Sternenstein-Krater ist entstanden, als ein Felsen vom Himmel gefallen ist. Dieser Felsen hat eine Menge Ärger gemacht.«

Drem wusste davon. Er hatte den Wissenshütern zugehört, als sie erzählten, wie der Sternenstein auf die Erde gestürzt war. Allerdings konnte er sich so etwas kaum vorstellen. Und dann erst die alten Sagen von den Sieben Kostbarkeiten, die aus dem Sternenstein geschmiedet worden waren, und dass der Erste Krieg wegen dieser Kostbarkeiten geführt worden war, ein Krieg, bei dem das Blut von Menschen und Giganten in Strömen vergossen wurde. Es hatte eines Gottes bedurft, um ihnen Einhalt zu gebieten. Elyon der Schöpfer hatte seine Ben-Elim-Legionen ausgesandt und zur Strafe Tod und Vernichtung auf die Welt und ihre Bewohner herabregnen lassen. Elyon hatte erst aufgehört, als ihm bewusst geworden war, dass man ihn getäuscht hatte, dass er von seinem großen Feind Asroth, dem Dämonenlord der Gefallenen, hereingelegt worden war. Elyon war daraufhin fortgegangen, hatte die Welt des Fleisches verlassen und sowohl seine Ben-Elim als auch Asroth und dessen Kadoshim-Horden in die Welt der Geister verbannt, in die Anderwelt. Dort waren sie zweitausend Jahre gefangen gewesen, während Menschen und Giganten ihre zerstörte Welt langsam wiederaufgebaut hatten.

Bis vor etwas mehr als hundert Jahren die Kadoshim einen magischen Weg gefunden hatten, um ihre Fesseln in der Anderwelt zu sprengen. Sie kehrten hasserfüllt in die Verfemten Lande zurück und metzelten gnadenlos viele Menschen nieder. Aber die Ben-Elim setzten ihnen nach, und ihr ewiger Krieg folgte ihnen in die Welt des Fleisches.

»Seit der Ankunft der Ben-Elim hat sich viel verändert«, sagte Drem.

»So ist es«, brummte Olin. »Und nicht unbedingt zum Guten.«

Drems Vater war nicht gerade ein Anhänger der Ben-Elim. Es kam sehr selten vor, dass er von ihnen sprach, trotz Drems wiederholten Versuchen, ihn in ein Gespräch darüber zu verwickeln.

»Aber die Ödnis in eine solche Landschaft zu verwandeln ist etwas Gutes.« Drem deutete mit der Hand auf den Anblick vor ­ihnen.

»Ja, das ist tatsächlich gut«, stimmte sein Vater ihm zu. »Aber das haben nicht die Ben-Elim bewirkt. Sondern sie haben es geschaffen.« Er deutete auf die Siedlung neben dem See. »Und andere Menschen wie sie. Menschen wie wir.«

»Wir sind Fallensteller und Jäger.«

»Nun ja, ich meine Menschen, die nach Norden zogen und sich hier niederließen, die Felder anlegten, die Erde wässerten, Getreide und Gemüse pflanzten und für deren Gedeihen sorgten. Die Ödnis ist zu dem hier geworden, weil Generationen von Menschen wie wir sie zu einem besseren Ort gemacht haben. Auch wenn ich davon ausgehe, dass die Ben-Elim der eigentliche Grund hinter all dem sind, hat ihr sogenannter Schutz im Süden die meisten Leute hierhergetrieben.«

Drem dachte eine Weile darüber nach. Sterne erwachten blinkend am rabenschwarzen Himmel zum Leben, als die Dunkelheit sich allmählich über die Welt um sie herum legte.

»Sie werden auch hierherkommen, stimmt’s?«, fragte Drem, ohne seinen Vater anzusehen. »Ich meine die Ben-Elim. Früher oder später, so wie sie überall nach den Kadoshim auf die Jagd gegangen sind.«

Das letzte Wort stieß er schnell hervor, weil er wusste, dass sein Vater nicht einmal wollte, dass er es aussprach.

Kadoshim. Die fürchterlichen Dämonen von Asroth, die ihren Fesseln in der Anderwelt entflohen und in Drems Welt gekommen waren, um dort Kreaturen aus Fleisch und Blut zu werden. Monster, die beabsichtigten, alles Leben in den Verfemten Landen zu vernichten. Sein Pa hasste allein schon den Klang ihres Namens.

Weil sie meine Mutter getötet haben.

Er wollte seinen Vater nicht aufregen, hörte, dass er bereits heftiger atmete, spürte, wie er sich anspannte, schon nach diesen wenigen Worten. Aber wenn er ihn dazu bringen konnte, über die Kadoshim zu sprechen, dann war er vielleicht auch endlich dazu zu bewegen, über Drems Mam zu reden …

»Mhmm«, knurrte Olin und spuckte auf den Boden. »Die Ben-Elim werden eines Tages auch hierherkommen. Aber hoffentlich eher später als früher. Sie sollen ruhig noch weitere hundert Jahre in Drassil bleiben. Und bis dahin ist jeder Tag ohne sie ein besserer Tag. Ich habe viele Jahre nach einem Ort gesucht, wo wir in Freiheit leben können.« Er holte tief Luft und schien noch etwas sagen zu wollen, verfiel dann jedoch in Schweigen.

Drem atmete tief die nach Kiefern und Winter duftende Luft ein.

»Warst du schon einmal in Drassil?« Er versuchte eine neue Taktik.

Olin warf ihm einen kurzen Seitenblick zu.

»Allerdings, wie du sehr genau weißt.«

Drem wollte eine weitere Frage stellen und öffnete den Mund.

»Genug jetzt!«, fuhr sein Vater ihn an und stand rasch auf. »Morgen in aller Frühe erwartet uns ein langer Tag. Ich gehe schlafen.« Er stampfte mit den Füßen auf, blieb einen Moment zögernd stehen und blickte auf Drem hinab. Dann ging er weg und legte sich dicht neben das Feuer. Drem hörte das Rascheln von Fellen und das Ploppen eines Korkens, als ein Metschlauch geöffnet wurde.

Drem blieb sitzen und blickte in die Dunkelheit, während er den Geräuschen der Nacht lauschte.

Drem erwachte durch ein lautes Krachen. Er sprang hastig auf, sodass die vom Morgentau nassen Felle von seinem Körper rutschten. Er sah zu seinem Vater, der bereits aufrecht stand, in einer Hand eine Faustaxt und in der anderen ein Messer. Die Ruhe des frühen Morgens wurde von einem Brüllen zerrissen, das durch das ganze Vorgebirge hallte und die Vögel von ihren Zweigen aufscheuchte.

»Die Grube«, sagte Olin und rannte los. Drem bückte sich und nahm seinen Speer vom Boden auf, bevor er auf langen Beinen seinem Pa hinterhereilte, der bereits zwischen den Kiefern am Hang verschwand.

Der Pfad hielt sich dicht am Fluss, dessen eisiges Wasser, das frisch aus den Bergen kam, schäumte und sprudelte. Drem erreichte seinen Vater, als der Boden eben wurde, und sah dann, wie er zwanzig Meter vor ihm wie angewurzelt stehen blieb.

Er holte ihn schwer atmend ein und sah ungläubig in die Elchgrube, bei deren Anblick Olin so abrupt zum Stehen gekommen war.

Die Elchgrube war ein Durcheinander aus Gliedern und Fell. Ein riesiger Elchbulle mit einem gewaltigen Geweih und mächtigen Schultern bemühte sich verzweifelt, wieder aus der Grube herauszukommen. Er brüllte vor Entsetzen und Qualen wie verrückt, und sein heißer Atem bildete in der Luft gewaltige Wolken.

Denn es war noch etwas mit ihm in der Grube, oder zumindest ein Teil davon. Denn der Leib der Bestie war zu groß, als dass er vollständig in die Grube gepasst hätte.

Hinter dem wild kämpfenden Elch sah Drem einen Fetzen weißes Fell, lange Krallen und ein weit aufgerissenes, mit Zähnen gespicktes Maul, das sich in den muskulösen Hals des Elchbullen verbissen hatte.

Ein Bär. Ein riesiger Bär. Was macht er hier, so weit südlich der Knochen­höhen?

Sichelscharfe Krallen zogen blutige Furchen über die Brust des Elchs. Dann schüttelte der Bär einmal heftig seinen Schädel, und Drem hörte, wie Knochen brachen. Der Elch sackte zusammen und rutschte langsam in die Grube zurück.

Obwohl er von dem Schock wie benebelt war, wurde Drem klar, dass er noch nie zuvor einen weißen Bären gesehen hatte. Sein Vater stand ebenso erstarrt neben ihm, voller Ehrfurcht vor dieser ungezähmten Kraft.

»Was sollen wir machen?«, flüsterte Drem.

Der Bär hob den Schädel aus der Grube, die Kiefer mit Blut und Fleischbrocken verschmiert, das weiße Fell mit roten Flecken übersät, und sah sie direkt an.

»Laufen, und zwar so schnell du kannst!«, rief sein Vater und stieß Drem zurück auf den Pfad. Im Nu rannten sie den Weg entlang, verfolgt von den Geräuschen, mit denen sich der Bär von dem Elch und aus der Grube befreite. Dann donnerte er hinter ihnen her, und Drem spürte, wie die Erde unter ihnen bebte.

Sie rannten zwischen den Kiefern hindurch, über den weichen, von Zweigen, Ästen und Kiefernnadeln bedeckten Waldboden. Drems Herz schien aus seiner Brust springen zu wollen, als es hinter ihnen ohrenbetäubend krachte: Der Bär war gegen einen Baum geprallt, dessen Holz laut zersplitterte. Dann durchzuckte Drem ein stechender Schmerz, als er mit dem Fuß in ein Loch geriet. Er flog durch die Luft und landete krachend auf dem Boden. Schnell versuchte er aufzustehen, doch der scharfe Schmerz zuckte durch seinen Knöchel bis in sein Bein, und er fiel wieder zu Boden.

Er rollte sich auf den Rücken und sah, wie der Bär auf ihn zustürmte. Ein Berg aus Fell und Muskeln, der alles andere zu ver­decken schien. Kleine Augen glühten in seinem riesigen Schädel. Furcht durchströmte Drem, eine eiskalte, betäubende Furcht, die ihm bis ins Mark drang. Er sollte etwas tun, sich bewegen, weglaufen, humpeln, egal, irgendetwas, während der Tod sich ihm rasend schnell näherte. Aber er konnte nichts tun, sondern starrte ihm einfach nur fassungslos entgegen.

Dann stand sein Vater vor ihm, Axt und Messer in den Fäusten.

»Lauf, Pa!«, keuchte Drem.

Olin holte mit dem Arm aus und schleuderte seine Faustaxt mit aller Kraft. Die Axt wirbelte durch die Luft und bohrte sich in die Schulter des Bären. Der brüllte wütend auf, stürmte aber weiter voran. Drem fiel seine eigene Faustaxt an seinem Gürtel ein, und er versuchte, sie aus der Schlinge zu ziehen, als sein Vater seinen Speer packte und ihn auf die Kreatur schleuderte. Olin wartete nicht ab, ob er getroffen hatte, sondern warf sich über Drem und schützte ihn mit seinem Körper.

Die Welt wurde dunkel; das Brüllen des Bären klang wie ein Donnergrollen, doch nun mischte sich Schmerz in die zornigen Laute. Er roch den Schweiß seines Vaters und spürte das Beben des Bodens, als die Bestie sich ihnen näherte. Dann zerrte sein Vater ihn zur Seite, rollte sich mit ihm weg, und der Bär war so dicht bei ihnen, dass Drem ihn riechen konnte und den Luftzug spürte, als er an ihnen vorbeiraste. Er schlug mit seiner Faustaxt nach einer Tatze, die größer war als sein Kopf und sich kaum eine Handbreit von seinem Gesicht entfernt in den Boden grub. Er schmeckte Blut auf seinen Lippen. Sichelgroße Krallen furchten den Boden auf und schleuderten Erde durch die Luft, als der Bär von seinem eigenen Schwung vorwärts und an ihnen vorbeigetragen wurde.

»Hoch mit dir!«, knurrte Olin und riss Drem hoch.

Ein schmerzhafter Stich durchzuckte seinen Knöchel, sodass er fast gestürzt wäre. Sein Vater packte seinen Arm und schlang ihn sich über die Schulter. Knapp zwanzig Schritte von ihnen entfernt war der Bär zum Stehen gekommen und drehte sich nun um. Drems Speer ragte aus seiner Brust. Mit seiner gewaltigen Tatze schlug er den Speer heraus, sodass Blut aus der Wunde drang und der Schaft zersplitterte. Dann donnerte die Bestie wieder auf sie zu.

Unvermittelt wurde Drem wie ein Sack Getreide auf den Rücken seines Vaters gehievt, der mit ihm weg vom Pfad flüchtete. Drem sah, wie der Bär ihnen folgte, sich durch die Bäume kämpfte und immer näher kam.

Furcht umhüllte Drem wie ein Nebel und raubte ihm den Atem. Aber ein Gedanke trat klar und deutlich hervor: Sein Vater würde bei dem Versuch, ihn zu retten, sterben. Eine Welle der Liebe vertrieb die Furcht vor dem bevorstehenden Tod, doch dann durchströmte ihn eine neue Angst, die Angst, dass sein Pa sterben würde.

»Lass mich liegen, Pa, rette dich selbst!«, keuchte Drem. Die einzige Antwort war Olins angestrengtes Ächzen. Im nächsten Moment sah Drem, wohin sein Vater rannte.

Zum Fluss.

Olin sprang, und der Bär schlug mit seinen Krallen nach ihnen. Sein Vater schrie auf, Blut spritzte durch die Luft, und dann tauchten sie in das eiskalte Wasser ein. Drem rang in dem weißen Schaum nach Luft, ging unter, wusste nicht, wo oben und unten war, schlug mit den Händen um sich, trat mit den Beinen aus. Seine Lunge brannte. Dann tauchte er auf und holte tief Luft; er hustete, als die Strömung ihn packte und herumwirbelte, ihn gegen einen Felsen schleuderte. Er stieß sich ab, sah seinen Pa, der vor ihm im Wasser trieb, durch die eisige Gischt gerissen wurde und verschwand, als der Fluss plötzlich eine Biegung machte. Hastig schwamm er hinter ihm her, und wieder packte ihn die Strömung, trug ihn rasend schnell in dieselbe Richtung. Er blickte sich um und sah den weißen Bären, der sich weit über das Flussufer beugte und seine Wut herausbrüllte.

KAPITEL 3

RIV

Rivs Speer traf sein Ziel mit einem befriedigenden, dumpfen Geräusch und durchbohrte das Herz der Strohpuppe. Sie stieß ein wildes Knurren aus, als diese wackelte und dann hintenüberfiel. Ihr Blick zuckte zu den Leuten, die um das Waffenfeld herumstanden und sie und etwa zwanzig andere bei ihren Kriegerprüfungen beobachteten. Schließlich entdeckte sie ihre Mutter und ihre Schwester Aphra, die in ihrer besten Rüstung wie eine geborene Kriegerin aussah. Weiße Schwingen waren auf das schwarze Leder ihres Brustharnischs geprägt, der in der kalten Wintersonne glänzte. Ihre Blicke begegneten sich, und in den Augen von Aphra glänzte Stolz. Ein warmes Gefühl der Freude durchströmte Riv.

»Schildwall!« Die dröhnende Stimme hallte von den Steinmauern Drassils zurück. Riv konzentrierte sich erneut, rannte zu ihren Gefährten und zog im Laufen den Schild vom Rücken, während sie mit der anderen Hand nach dem hölzernen Kurzschwert an ­ihrer Hüfte griff. Sie war eine der Ersten in der Linie; ihre Kameraden nahmen um sie herum Aufstellung, hoben die Schilde und pflanzten die Füße fest in den Boden. Vald stellte sich neben sie. Sein dunkles Haar hob sich von ihrem blonden Haar ab. Er war muskulös, verschwitzt, einen halben Kopf größer als Riv und fast ebenso breit wie hoch.

»Wir haben es fast geschafft!«, stöhnte Vald. »Nicht mehr lange, dann gehen wir los und absolvieren unsere Lange Nacht.«

»Wenn der alte Einauge nicht vorher deine Knochen zu Kienspänen verarbeitet«, antwortete Riv und grinste, als Valds Lächeln in Stirnrunzeln umschlug.

Ein Hornsignal ertönte, und entlang der ganzen Reihe prallten Holz und Eisen aufeinander, als die großen rechteckigen Schilde überlappend zusammengeschoben wurden. Riv und ihre Gefährten drängten sich dicht aneinander, wie man es ihnen zahllose Male eingetrichtert hatte. Riv spähte über den eisernen Rand und sah, wie Balur Einauge aus der Menge trat. Der Schlachtenruhm des Hauptmanns der Gigantenlegion der Ben-Elim war noch größer als seine hünenhafte Gestalt. Er war anderthalb Mann groß, hatte sein weißes Haar zu einem dicken Kriegerzopf geflochten und seinen Schnurrbart mit Leder durchwirkt. Seine muskulösen Arme waren nahezu vollständig mit Tätowierungen von Dornenranken bedeckt. In Leder und Felle gehüllt marschierte er auf sie zu, einen langstieligen Streithammer in seinen riesigen Fäusten. Ihm folgten weitere grimmige Giganten, die ebenfalls auf Rivs Schildwall zumarschierten. Furcht regte sich in ihrem Bauch, als sie den alten Einauge sah. Und gleichzeitig musste sie ein Lachen unterdrücken, während wilde Freude in ihr aufloderte.

So lange habe ich schon davon geträumt. Seit ich geboren wurde, glaube ich. Sechzehn Sommer lang habe ich mir gewünscht, eine Kriegerin der Weißschwingen zu sein, und jetzt ist es so nah, dass ich es schon spüren kann.

»Bereit machen!«, schrie sie. Die Gefühle übermannten sie fast und ließen ihre Stimme zittern. Sie zog den Kopf ein und presste ihre Schulter fest gegen ihren Schild.

Vald stieß ein unverständliches Grunzen aus, als die zweite Reihe ihre Schilde über die Köpfe der ersten Reihe hob, und dann war Balur auch schon da. Die Luft zischte, als er seinen Streit­hammer schwang und ihn auf die Schilde herabsausen ließ. Das Holz krachte wie ein Donnerschlag. Riv fühlte die Wucht des Schlages, die sich durch den ganzen Schildwall fortpflanzte, ein Vibrieren, das durch Holz und Eisen, Fleisch und Knochen ging. Doch soweit sie erkennen konnte, war niemand gestürzt, und der Schildwall hielt. Dann gab es einen weiteren Schlag etwas weiter entfernt, als einer von Balurs Gefährten sich in den Kampf stürzte, und noch einen, weit näher, ein Hieb, der ihren Schildarm betäubte und sie nach hinten drückte. Ihre Füße zogen Furchen in die Erde, als sie sich bemühte, auf den Beinen zu bleiben. Riv blinzelte sich den Schweiß aus den Augen. Sie spürte immer noch die Vibration des letzten Schlags in den Knochen und sah, dass ein Riss durch die Mitte ihres Schildes lief.

Los doch, gib den Befehl!, dachte Riv, während sie mit der rechten Hand den Griff ihres Holzschwertes gepackt hielt. Aber sie wusste, dass sie durch diese Kriegerprüfung fallen würde, wenn sie es zu früh zog.

Sie fluchte gepresst und knirschte mit den Zähnen.