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Andreas Beerlage

Wolfsfährten

Alles über die Rückkehr
der grauen Jäger

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Karte: © Peter Palm, Berlin

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

Umschlagmotiv: © Shutterstock – beerlogoff/andamanec

ISBN 978-3-641-21652-8
V001

www.gtvh.de

INHALT


Worum es in diesem Buch geht

1. Gekommen, Um zu bleiben?

Die Rückkehr der Wölfe

2. Tatzen am Kindergarten:

Das Comeback der Angst

3. Von steinernen Denkzetteln:

Unendlicher Hass auf Wölfe

4. Unheimliche Kontaktaufnahme:

Wölfe überschreiten rote Linien

5. Das Leben der zärtlichen Krieger:

Wolfsein als Familien-Business

6. Und den Göttern so nah:

Mythische, märchenhafte Wölfe

7. Engagiertes Inwolfement:

Wie Menschen über Wölfe streiten

8. Verscherzte Sympathien:

Wenn Wölfe über Zäune springen

9. Was uns die »Virtopsie« verrät:

Tote Wölfe und ihre letzten Geheimnisse

10. Das Problem von zu viel Nähe:

Schon bald zum Abschuss freigegeben?

11. Wer will die Wahrheit hören?

Vom Wolf als Todesursache

12. Wolfsfährten in die Zukunft:

Auf gute Nachbarschaft. Aber wie?

Schlusswort

Dank

Karte: Die Verbreitung des Wolfes

Literatur

DIE URWÖLFIN EINAUGE

Einauge ist tot. Der Kadaver der bekanntesten Wölfin Deutschlands wird frühmorgens am 19. 3. 2013 bei Mücka aufgefunden, einer kleinen Gemeinde in der Oberlausitzer Heide- und Teichlandschaft. Einauge wurde vermutlich 13 Jahre alt.

Jedem Kapitel in diesem Buch ist eine kleine Szene aus dem Leben dieses aus vielerlei Gründen bemerkenswerten Tieres vorausgestellt. Manches weiß man über die Wölfin. Der Rest wurde so dazuerfunden, dass er durchaus wahr sein könnte.

WORUM ES IN DIESEM BUCH GEHT


Irgendwann im Winter 2011/2012 fahre ich nachmittags mit einem ICE von Kassel nach Hamburg, nach einem Familienbesuch in meiner nordhessischen Heimat. In Kassel entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts die »Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm«, zu deren bekanntesten das vom »Rotkäppchen« zählt. Der große, böse Wolf frisst das kleine, tapfere Mädchen. Es wird vom Jäger gerettet. Aber wem erzähle ich das, das kennt ja jeder.

Während die von der bereits tief stehenden Nachmittagssonne ausmodellierte Landschaft vor mir vorbeizieht, eine Meditation im Takt der Gleisschwellen, lasse ich meinen Gedanken freien Lauf. Ich liebe diese schwebende Stimmung auf Bahnfahrten. Hinter Hannover aber werde ich irgendwann aus meinen Tagträumen gerissen. Auf einer kleinen Lichtung, vor einem Birkenwäldchen, vielleicht 50 Meter entfernt, steht in voller Breitseite ein großer Hund. Er ist grau, schlank, etwas eleganter als ein Schäferhund, der Rücken untypisch gerade.

Zwei, drei, höchstens vier Sekunden sehe ich das Tier da stehen: schön, erhaben, ein Denkmal seiner selbst. Ich bin plötzlich sehr aufgeregt, wie aus dem Nichts davon überzeugt, einen Wolf gesehen zu haben. Ein Moment des blitzartigen Erkennens.

Der Wolf ist, mehr als jedes andere Tier, dem Menschen nah. Weltweit in nahezu allen schamanischen Kulturen war der Wolf zentraler Mittler ins Geisterreich, ein Bruder des Menschen. In unzähligen Mythen rund um die Welt spielt er eine Hauptrolle, von den Märchen ganz zu schweigen. Er geistert durch Werwolfsgeschichten, macht sich im Aberglauben breit.

Zuhause angekommen setze ich mich sofort an den Schreibtisch und starte den Computer. Ich finde schnell Informationen zu einem neu bei Munster in der Lüneburger Heide angesiedelten Wolfsrudel. Die Tiere sind aus dem Osten gekommen, aus der Lausitz. Und haben sich einen Truppenübungsplatz als Heimat auserkoren. Munster kennen Autobahn-7-Fahrer vielleicht vom Hinweisschild des dortigen »Panzermuseums«.

Seit jenem Winter vor etwas mehr als fünf Jahren hat sich viel getan, Deutschland ist inzwischen wieder Wolfsland geworden: Die östlichen Bundesländer sind erobert, Niedersachsen ist genommen, und überall in der Republik kann der Wolf als Nächstes auftauchen.

Jetzt steht er vielleicht gerade am Rande des kleinen Waldes, hinter der Stadt, in der Sie wohnen, und lässt seine ausdrucksvollen Augen über die Felder streifen.

Der Wolf ist wieder da – sofort keimt uralte Angst auf. Und uralte Verbundenheit. Denn Zehntausende Jahre lang jagten Wolf und Mensch in der Tundra das gleiche Wild, hin und wieder sogar gemeinsam, sagen Anthropologen. Der Wolf jagte aber auch den Menschen, und umgekehrt. Es war ein Gleichgewicht des Schreckens.

Der Wolf ist zurück, als Bote dieser mythischen Vergangenheit. Und er wirft große Fragen auf: Finden wir noch einen Weg, Natur und Wildnis in unser modernes Leben zu integrieren? Ist unser heutiges Verhältnis zur Natur realistisch – oder völlig verlogen? Wie authentisch darf die Natur heutzutage überhaupt noch sein – und wie viel Wildnis wollen wir Menschen dulden?

Plötzlich ist er überall, nicht nur in den Wäldern, auf der Heide, in den Wiesenlandschaften rund um Cuxhaven – ja, selbst da treibt er sich herum! Nicht nur höchstselbst ist er überall zugegen, auch kulturell und medial: Kaum hat man den Fernseher angemacht, flimmert ein Wolfs-Tatort in der Lausitz. Und noch einer, mit dem Kieler Kommissar Borowski. Eine ganze ARD-Krimiserie unter dem Namen »Wolfsland«. Dazu Dokus auf Arte und in den Dritten Programmen, Themenabend bei Beckmann. Im Kino: die Verfilmung des chinesischen Bestsellers »Der Zorn der Wölfe«. Ein Roman erscheint über ein junges Paar in Brandenburg, das einen Wolf zähmt. Ein neues, großes Kunstwerk im offenen Raum zum Rechtsextremismus wird vorgestellt: mit Wölfen als Figuren. Und erst gestern auf Deutschlandradio Kultur gehört: das Feature »Rudelheulen«.

Wie politisch der Wolf sein kann, zeigt der Fall Elke Twesten – jener niedersächsischen Grünen-Politikerin, die im August 2017 von den Grünen zur CDU wechselte. Und damit die Landesregierung stürzte, die mit nur einer Stimme Mehrheit operierte. Sie machte inhaltliche Gründe für ihren Wechsel geltend. Auf die Frage der Hannoverschen Allgemeinen, was genau ihr denn beim Kurs der rot-grünen Landesregierung nicht gepasst habe, sagt sie als erstes: »Nehmen Sie das Thema Wolf.«

Während der Arbeit an diesem Buch fiel mir auch ein, wie sehr der Wolf zum Bestiarium meiner frühen Jahre gehörte: Wenn ich als Kind gebadet wurde (in den späten 60er-Jahren ressourcenschonend immer nur freitagabends), dann glaubte ich jedes Mal, auf dem braunen Frotteevorleger der Badewanne würde ein Wolf liegen. Ich war vier, fünf Jahre alt, es sind mit meine frühesten Erinnerungen: die helltürkisen 50er-Jahre-Fliesen. Schwaden von Wasserdampf. Ich in der tiefen Wanne. Davor der Wolf. Mir war ja klar, dass dort kein Untier lauern konnte. Aber ich musste wieder und wieder über den Wannenrand schauen, um mich zu versichern. Wenn ich zurück ins Wasser glitt, fühlte ich mich erleichtert. Schon eine Minute später war ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht hatte ich ja doch etwas übersehen. Der Wolf meiner Fantasie: sehr groß und sehr dunkel. Er lag ruhig da. Seine genauen Absichten waren mir unbekannt. Wollte er mich fressen? Vielleicht schützte er mich sogar?

Zwei Gesichter trägt der Wolf – aus der Sicht des Menschen. Kein anderes Tier birgt größere gesellschaftliche Spaltkraft. Sichtweisen auf ihn gibt es nur in Schwarz oder Weiß. Wer nicht für ihn ist, muss also gegen ihn sein. Ambivalenz: der Zweitname des Wolfs. Seine Wiederkehr: für die einen ein Gewinn, für die anderen Verlustbringer auf vier Beinen. Sein Status: für die einen Seelentier, die anderen ein Menschenfresser.

Dementsprechend zerrissen und mitunter schrill und verletzend ist die Diskussion um die Wiederkehr des Wolfs. Die Frage ist, wie wir den Umgang regeln wollen. Ob es eine Obergrenze geben soll. Ob es einen Mindestabstand geben soll. Eine sachliche Diskussion hat meiner Meinung nach noch nicht einmal begonnen.

Vielleicht trägt mein Buch ein kleines Stückchen dazu bei, den Dialog zu ermöglichen. Bei den ganz üblen Hassern des Wolfs und seinen treuesten Freunden eher nicht, da bin ich mir sicher. Aber vielleicht bei jenen, die sich – zu Recht – für den Wolf als faszinierendes Wildtier interessieren.

Folgen Sie mir auf den »Wolfsfährten«. Manchmal auf verschlungenen Pfaden, mit einigen Umwegen, samt kleinerer Exkursionen. Und entschuldigen Sie, wenn ich mich, die anderen und auch den Wolf nicht dabei immer ganz ernst nehme. Das ist meine Art, mit dem Leben, seinen Rätseln (und Rückschlägen) unter dem Strich ganz gut auszukommen. Vieles rund um den Wolf lädt auch durchaus zum Lachen ein, finde ich. Es gib so viele, die mit dem heiligen Ernst in der Stimme von Wolfsmanagementplänen im Wolfserwartungsland sprechen – dass zum Ausgleich ruhig mal ein bisschen geschmunzelt werden darf.

Ich möchte mich mit diesem Buch dem Wolf aus möglichst vielen Perspektiven nähern (natürlich ohne ihn selbst dabei zu stören). Für die Recherche habe ich mit Wolfsberatern gesprochen, mit Wolfsforschern, Wolfsgehegebesitzern, Wolfsbüromitarbeitern, Wolfspathologen, Wolfsbeauftragen der Landesjägerschaften, Wolfszuständigen bei Naturschutzverbänden und auch mit Wolfs-Soko-Polizistinnen, die den Tätern illegaler Wolfstötungen nachspüren. Ich habe Tierhaltern zugehört, deren Schafe und Damhirsche zerrissen wurden. Jägern, die behaupten, die Wölfe seien mit LKW aus Polen herangekarrt worden. Und auch jenem Jogger, den beim friedlichen Waldlauf plötzlich ein Jungwolf anknabberte.

Der aufmerksame Leser hat es schon bemerkt: So viel Wolf wie heute war nie. Und: Wenn es um den Wolf geht, ist der Mensch nicht weit. Jeder hat seine klare Meinung zum Wolf. Probieren Sie es selbst einmal im Freundes- oder Bekanntenkreis, fragen Sie danach, ob der Wolf hier sein sollte. Eine von zwei Antworten kommt meist sofort, ohne jedes Nachdenken:

Weil ich von Beruf Journalist bin, versuche ich möglichst lange möglichst ergebnisoffen zu recherchieren. Und eine Meinung erst am Ende einer Recherche herauszubilden. So möchte ich es auch bei »Wolfsfährten« halten und mir die Bewertung der Situation – »Gehört der Wolf wirklich wieder nach Deutschland?« – bis zum Schluss aufbewahren.

Viel Spaß (und Erkenntnis) nun beim Lesen! Ich bin schon ein bisschen aufgeregt, ob es Ihnen gefällt. Es ist schließlich mein erstes Buch dieser Art.

Haben Sie Anmerkungen?

Oder Ideen?

Einen Fehler entdeckt?

Einen wichtigen Aspekt vermisst?

Ganz einfach eine Frage?

Dann schreiben Sie mir doch unter beerlage@yahoo.com

EINAUGES GESCHICHTE 1

Nur ein leises Rascheln ist zu hören, der Wolfsrüde kommt wie an einer Schnur gezogen über das Feld gelaufen. Es ist eine sternenklare, kalte Winternacht der Jahreswende 1998. Vor einer halben Stunde hat er, von Polen kommend, die Neiße durchschwommen. Nun strebt er auf einen Waldsaum mit großen Kiefern zu. Bald wird es hell werden, und er sucht nach einem ruhigen Plätzchen, um sich in sicherer Deckung von seiner Wanderung ausruhen zu können. Doch er kommt nicht dazu. Denn von weit hinten im Wald, einige Kilometer entfernt, dringt ein vertraut klingendes Heulen zu ihm.

1. GEKOMMEN, UM ZU BLEIBEN?

Die Rückkehr der Wölfe


Ein Eichelhäher zetert. Eine Granate explodiert. Es ist sehr heiß, über 30 Grad. Hochgewachsene Fichten und Kiefern spenden etwas Kühle in ihrem Schatten. Im Sommer 2015 spaziere ich auf einem kleinen Waldweg ganz im Osten der Republik, bei Rietschen. Die bekannteren Orte hier in der Gegend sind Bad Muskau und Görlitz. Mein Weg führt südlich entlang des Truppenübungsplatzes Oberlausitz, der zur Muskauer Heide gehört, einer großflächigen, zum Teil dicht bewaldeten Sanddünenlandschaft an der sächsischen Grenze zu Polen. In regelmäßigen Abständen aufgestellte Warnschilder legen mir nahe, nicht in nördlicher Richtung in den Kriegsschauplatz einzudringen.

Das Wasser des Flüsschens Raklitza glitzert hinter dichtem Blattwerk. Ein fremd klingender Name? Rietschen liegt im Sorbenland, dem Land der deutschen Slawen. Ich höre mehr Gedonner hinter den Nadelbäumen. Doch es ist nicht die Tatsache, dass gar nicht so fern von mir Krieg gespielt wird, die mir an diesem Sommertag ein unpassend mulmiges Gefühl gibt. Es ist die Anwesenheit des Wolfes. Ich weiß genau, dass einer der Räuber hier lauern könnte oder gleich mehrere. Die Lausitz ist das Kernland der deutschen Wölfe, seit Ende der 1990er-Jahre.

Vielleicht duckt er sich hinter diesen hoch aufgeschossenen Fichten, hinter den Schildern, irgendwo dort im Heidesand, seine ausdrucksvollen Augen auf mich gerichtet, mit der leuchtend gelben Iris, dunklen Pupillen und einem markanten schwarzen Ring herum, wie mit einem Kajalstift gemalt.

Natürlich begegnet mir keines der Tiere, sie sind ja sehr vorsichtig. Und sie werden sich schon aus dem Staub machen, wenn sie mich hören, sehen, riechen, denke ich. Aber was, wenn ein Rudel jetzt auftauchte? Wie würde ich mich dann verhalten? Ich habe mein altes verrostetes Opinel-Taschenmesser dabei. Und weiß selbst, wie albern das ist.

Nach 20 Minuten Spaziergang stehe ich vor einem kleinen Denkmal aus Naturstein, einer Pyramide von Findlingssteinen: »Jahr 2000 – Wölfe in Deutschland«. Der Wald öffnet sich hinter dem Gedenkstein zum Halbrund eines Erdsturzes an einem sandigen Hang, etwa so groß wie ein Tennisplatz. Im Frühling 2000 kamen hier in der Muskauer Heide, ausgerechnet auf einem Truppenübungsplatz, die ersten deutschen Wölfe seit mindestens 100 Jahren zur Welt. Manche reden sogar von 150 wolfsfreien Jahren. So genau ist das nämlich nicht zu fassen.

Früher war der Wolf überall in deutschen Landen heimisch, davon sprechen unzählige Orts- und Flurnamen: Wolfstal, Wolfsbruch, Wolfsberg, wer mag, kann die Liste gerne vervollständigen. Um 1850 herum gab es dann, nach intensiver Jagd auf den Räuber, nur noch ein paar Einzeltiere, wohl meist auf der Wanderschaft von Polen in Richtung Westen. Der stille Zuzug ist nie versiegt, doch solche Einzeltiere hatten keine große Lebenserwartung.

In der DDR stand der Wolf zum Abschuss frei, vielleicht auch deshalb, weil man Angst hatte, die Grauhunde könnten den hohen Parteifunktionären auf staatlicher Jagd das Wild vor der Büchse wegfressen. Und wenn ein Tier dann einmal die Westwanderung durch den Arbeiter- und Bauernstaat schaffte, war doch am Eisernen Vorhang endgültig Schluss.

Es gibt allerdings Gerüchte, dass sich hin und wieder ein Exemplar an den Selbstschussanlagen vorbeimogeln konnte. So ganz »wolfsfrei« waren die hiesigen Breiten also nie. Neben dem legendären niedersächsischen »Würger vom Lichtenmoor« (er wird uns in Kapitel 3 das Grausen lehren) wurden von 1948 bis 1991 immerhin 24 Wölfe auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland geschossen, 13 davon auf dem der ehemaligen DDR.

Nach dem Mauerfall waren die Wölfe dann in ganz Deutschland strengstens geschützt, seit 1992 im Rahmen einer rigiden EU-Richtlinie, die das Bundesnaturschutzgesetz umsetzt. Die BRD hatte den Wolf schon früher, nämlich 1980, unter Schutz gestellt.

Doch es brauchte noch ein Weilchen, bis sich der neue deutsche Schutzstatus nach dem Mauerfall in polnischen Wolfskreisen herumsprach. Mitte der 90er mehrten sich dann Nachrichten von gastronomischen Stippvisiten über die Neiße. Die Wölfe genehmigten sich ein Hirschkalb oder ein junges Wildschwein und machten sich schnell wieder aus dem Staub.

Ende der 90er siedelte sich dann ein polnisches Wolfspaar in der Muskauer Heide an, im Frühjahr 2000 warf die Fähe – das Weibchen – die ersten Welpen »Made in Germany« seit einer kleinen Ewigkeit.

Sie waren vier an der Zahl, 2001 kamen zwei Geschwister hinzu. Die Elterntiere dieses »Muskauer Heide-Rudels«, das sich 2005 auflöste, waren beide aus dem nordöstlichen Polen ausgewandert und trafen sich vermutlich schon 1998 auf dem Truppenübungsplatz. Sie konnten ihre junge Liebe eine Zeit lang geheimhalten.

Zwei dieser sechs Welpen bekamen später, nachdem sie eingefangen und für Forschungszwecke mit Sendern ausgestattet wurden, die Kurznamen FT1 und FT3. F steht für »Female«, T für »Telemetrie«. Die Kosenamen der Wolfsforscher klangen hingegen ein bisschen weniger kurz angebunden und auch viel freundlicher: »Sunny« und »Einauge«.

Diese beiden gelten als Urmütter der deutschen Wolfspopulation, sie schnappten sich Wolfsjungs – Sunny einen Burschen, der aus Westpolen angelaufen kam, Einauge vermutlich einen Halbbruder – und gründeten eigene Familien: das Neustädter und das Nochtener Rudel. Sunny und Einauge brachten zusammen über 80 junge Wölfe zur Welt. Cousin-Cousinen-Liebe, Nichte mit Onkel, Mutter mit Sohn – so etwas war zu Beginn der Wiederbesiedelung an der Tagesordnung. Ganz einfach, weil nicht immer genügend blutsferne Partner aus Westpolen nachwanderten. Doch eine gewisse Zeit lang ist derlei inzüchtiges Treiben kein Problem für den wölfischen Genpool.

Sunny machte vorher noch in einem genetisch ähnlich bedenklichen Zusammenhang Schlagzeilen: Im Jahr 2003 hatte sie sich, damals bekannt unter dem Zweitnamen »die Neustädter Wölfin«, bei Neustadt/Spree mit einem verwilderten Hund gepaart und vier Mischlingswelpen zur Welt gebracht.

Für die meisten Artenschützer sind diese sogenannten Hybriden ein kleiner Albtraum, weil sich innerhalb einer so kleinen Population die »Haustiergene« in einem unerwünscht hohen Maß durchsetzen können. Man sieht die Reinheit der Wolfsart in Gefahr. Anfang 2004 wurden zwei der vier Hybriden-Welpen eingefangen und in ein Gehege im Bayerischen Wald gebracht. Binnen eines Jahres mussten beide eingeschläfert werden, wegen Verletzungen, die sie sich selbst am Gehegezaun zufügten. Von ihren Geschwistern fehlt jede Spur. Nach 2004 hat es dann offiziell keinerlei neue Hinweise auf Wolf-Hund-Mischlinge in Deutschland mehr gegeben.

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Ich setze mich neben den Gedenkstein in die Sonne und denke über die eingemeißelte Aussage nach:

»Jahr 2000 – Wölfe in Deutschland«

Er wurde im Mai 2005 aufgestellt, in dem Jahr, als die Wolfsbesiedelung deutscher Lande unter Mithilfe der Urmütter Sunny und Einauge gerade erst ein wenig Fahrt aufnahm. Also zu einer Zeit, in der man sich die Dynamik des weiteren wölfischen Geschehens noch überhaupt nicht vorstellen konnte.

Der Stein war eine späte und vielleicht auch ein bisschen ironisch gemeinte Antwort auf alle jene »Wolfssteine« im Lande, auf denen die jeweilige Erledigung des »letzten Wolfes« einer Gegend nicht selten in einer sehr schmissigen Rhetorik bejubelt wurde. Aber darüber ausführlicher in Kapitel 3.

Derlei historische Fakten wälzend, krame ich (neben einem ziemlich hinfällig aussehenden Käsebrötchen) auch ein Blatt Papier aus der Schultertasche: eine Karte, auf der alle Wolfsrudel, Einzeltiere und bestätigten Sichtungen von durchziehenden Wölfen verzeichnet sind. Ein beeindruckendes Gesprenkel, schon 2015. Heute, im Frühjahr 2017, an meinem Schreibtisch sitzend, bei einer Tasse Darjeeling, die das kreative Schreiben erleichtern soll, habe ich an meinem Computer die aktualisierte Version dieser Karte als PDF aufgerufen (www.lausitz-wolf.de/fileadmin/PDF/WND_20170503_Map.pdf):

In Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt ballen sich die als schraffierte Kreise dargestellten Markierungen für Rudel dicht an dicht, und zwar fast alle östlich der Elbe, also auf der rechten Uferseite. Ab einer gedachten Linie Berlin-Hannover und deren Schnittpunkt mit dem Strom massieren sich die Eintragungen auf der linken Elbseite und nördlich dieser Linie. So streckt sich eine rot gesprenkelte Zunge mit Basis südlich von Hamburg und nördlich von Bremen bis nach Cuxhaven an die Nordsee.

Bestätigte Einzeltiere hingegen, als rote Sterne dargestellt und Totfunde, mit einer Art Halteverbotsschild abgebildet, sind hingegen fast über ganz Deutschland verteilt: bei Regensburg, südwestlich von Stuttgart, nördlich von Koblenz, bei Wesel und rund um Osnabrück. Abgebildet wurden auf dieser Karte so allerdings nur Beobachtungen von 2016 bis Mai 2017. Mit Ausnahme des Saarlandes haben seit dem Beginn der Wiederbesiedelung inzwischen alle Bundesländer und Stadtstaaten offiziell bestätigten wölfischen Besuch bekommen.

Nach dem Urknall im Jahr 2000 blieben die Wölfe zunächst einmal in Sachsen. Rudel um Rudel wurde gegründet, doch sie blieben dicht beieinander, wie einzelne Eiblasen im Froschlaich aneinander haftend. Als gäbe es eine Anziehungskraft, welche die sächsischen Wölfe beieinander hielte. Um 2009/2010 werden dann die ersten beiden Wolfsrudel außerhalb von Sachsen beobachtet, im Bereich Welzow (Brandenburg) und auf dem Truppenübungsplatz Altengrabow (Sachsen-Anhalt). Und erst um das Jahr 2012 siedeln sich die ersten Paare in Niedersachen auf der anderen Seite der Elbe an. Wieder machen sie sich auf den verschiedenen Truppenübungsplätzen in der Lüneburger Heide breit. Ausgehend von diesem westlichen Vorposten beginnt die Erkundung des restlichen Deutschlands.

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Forscher, Förster und freiwillige Helfer behalten unsere deutschen Wölfe genauestens im Blick. Es werden Sichtungen von Spaziergängern überprüft, Spuren gesucht, Kothaufen gesammelt, Genproben analysiert. Man will ja schließlich wissen, wo genau es Wölfe gibt, wie viele es sind und wie sie sich verhalten. Die Wolfskenner sprechen von »Monitoring«. Ein offizielles Wolfsmonitoringjahr beginnt am 1. Mai, denn um dieses Datum herum werden die Jungwölfe geboren, und es endet zwölf Monate später am 30. April.

Im Monitoringjahr 2015/2016 wurde nun für ganz Deutschland die Existenz von 47 Wolfsrudeln, 15 Wolfspaaren und vier »territorialen Einzeltieren« ermittelt, also den Singles der Wolfswelt. Geht man von neun Tieren pro Rudel aus (die Familie besteht in der Regel aus dem Elternpaar und dem Nachwuchs aus zwei Jahren) und addiert Paare und Singles, so ergibt sich eine beindruckende Zahl von mehr als 450 Wölfen, die 2016 in Deutschland ihre Fährten ziehen.

Die offiziellen deutschen Schätzungen sind immer sehr vorsichtig, sie werden alljährlich im Herbst hinter verschlossenen Türen von einem Expertenrat ausgekungelt, einer erlesenen Riege von Wolfsforschern, Wildbiologen und den zuständigen Referenten von Umweltministerien in Bund und Ländern. Und nicht immer soll es einvernehmlich zugehen im Rudel der Wolfsspezialisten.

Die deutsche Population wächst derzeit um jeweils rund 30 Prozent pro Jahr – eine Geburtenrate, von der westliche Wirtschaftsnationen nur träumen können. Nimmt man die 450 Tiere von 2015/16 und addiert für die fünf folgenden Monitoringjahre die Zuwachsraten hinzu, dann ergibt sich für das Frühjahr 2021 die beeindruckende Zahl von rund 1.670 Wölfen.

Der deutschen Population wird noch die westpolnische hinzugerechnet (oder umgekehrt), mit weiteren 53 Wolfsrudeln und -paaren. Man redet von der gemeinsamen »Mitteleuopäischen Flachlandpopulation«, die über die Grenzen hinweg einen genetischen Pool bildet. Dieser bekommt hin und wieder frisches Blut aus dem Osten, meist aus dem Baltikum, manchmal sogar aus Russland. Dieser Sextourismus funktioniert übrigens auch umgekehrt: Einer von Einauges Söhnen, der Rüde Alan, ist im Namen der Liebe (und mit einem Sendehalsband) annähernd 1.500 Kilometer bis nach Weißrussland geschnürt.

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Während für die Wiederansiedlung anderer, bei uns ebenfalls ausgestorbener Wildtierarten – wie zum Beispiel dem Luchs – viel Geld für recht überschaubare Ergebnisse ausgegeben wird, kamen die Wölfe völlig gratis und aus eigenen Stücken wieder zurück zu uns. Doch obwohl die Tiere das Ding auf eigene Pfote durchzogen, wird die Rückkehr des großen Räubers von Politik und Verbänden gerne als einer der größten Erfolge des heimischen Natur- und Artenschutzes beschrieben.

Verwunderlich in diesem Zusammenhang ist allerdings – zumindest für Wolfslaien – die Tatsache, dass sich die Wölfe nicht in Naturparks oder Schutzgebieten wiederansiedelten. Sondern eben ausgerechnet dort, wo sich die Schützenpanzer Marder und Transportpanzer Fuchs mit viel Krach »Guten Tag« sagen.

Wer sich die geografische Keimzelle der neuen deutschen Wölfe von oben anschaut, als Lausitzer Seeadler fliegend (oder mit Hilfe von Google Earth), der sieht den Truppenübungsplatz Muskauer Heide als vom Menschen gründlich zerrissenes Land – wie eine Baumrinde, an der eine riesige Bärentatze ihre Krallen geschärft hat. In einem hellen Beige, fast weiß, glänzt der Heidesand immer dort im flächigen Rostbraun und Grün von Heide und Nadelbäumen, wo Panzerketten und die Räder der großen Versorgungsfahrzeuge hin und her fahren. In Ost-West-Richtung ist die lange Schießbahn ausgerichtet.

Was um Himmels willen wollen die Wölfe hier? Die Antwort legt sich als grüner Schutzring um den Übungsplatz: Große unberührte Wald- und Heideflächen schotten die Kriegsübungsfläche von den sie umgebenden zivilen Lebensräumen ab. Hier rauscht kein Mountainbiker durchs Unterholz, hier drückt sich kein Pilzsucher ins Dickicht junger Nadelbäume. Die Warnschilder tun ihre Wirkung. Während zivile Wälder, so schön und romantisch und natürlich sie auch aussehen mögen, in der Regel als professionelle Wirtschaftsbetriebe genutzt werden, die auch noch für die mannigfaltigen Freizeitbedürfnisse der Menschen herhalten müssen, sind die Kriegswälder wahre Horte des kontemplativen Rückzugs – wenn nur das regelmäßige Geballere nicht wäre.

Wölfe haben zwei wesentliche Ansprüche an das Leben: Sie wollen ihre Jungen ungestört aufziehen können. Und sie möchten sich und die Familie ohne viel Aufwand gut ernähren. Truppenübungsplätze erfüllen beides. Es gibt dort große, weitestgehend ungestörte Areale, von der Lärmbelästigung einmal abgesehen. Und weil der Schießbetrieb eine ordentliche Jagd nur selten zulässt, gibt es reichlich Wild zu futtern für die Wölfe. Die Bestände von Hirsch, Wildschwein und Reh, in Deutschland im internationalen Vergleich ohnehin sehr hoch, erreichen hier Spitzenstände. Es ist nicht übertrieben, von einem Wolfs-Schlaraffenland zu sprechen – von einem Land, in dem einem die Frischlinge direkt ins weit geöffnete Maul spazieren. Wenn die Wölfe auf ihren ausgedehnten Streifzügen ein solches passendes Revier mit viel Wild und abgelegenen Arealen entdecken – dann sind sie gekommen, um zu bleiben, oft für den Rest ihres Lebens.

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Trotzdem muss man sich über den Geschmack von Wölfen Sorgen machen, zumindest was ihr unmittelbares Lebensumfeld betrifft. Denn in den frühen Jahren siedelten sich viele der Nachkommen der ersten Würfe zunächst treffsicher in Gebieten an, die bei radikalen Naturfreunden einen spontanen Brechreiz verursachen könnten. Das gilt insbesondere für das Nochtener Rudel, die erste Familie, die unsere Wölfin Einauge gründete. Nahe dem Örtchen liegt der gleichnamige Braunkohletagebau, mit monsterhaft kreisenden Baggerrädern in einer Weltuntergangslandschaft. Südlich von Nochten speien 24 Stunden am Tag die Kühltürme des Kohlekraftwerks Boxberg gigantische weiße Wolken in den Himmel. Und es gibt in unmittelbarer Nähe auch noch drei weitere Filialen des Truppenübungsplatzes Oberlausitz.