Eckhard Lange

Die Träume von Macht

Roman nach Motiven der Theseus-Sage

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Kindheit

Thessi

Der Geheimbund

Die Rächer

Die Heldentat

Die Reifeprüfung

Die Einladung

Die Begegnung

Die Entscheidung

Der Vater

Die Großstadt

Die Lehrzeit

Der Empfang

Der Junior

Die Information

Zwischenzeit

Der Angriff

Der Entschluß

New York

Die Tochter

Die Verschwörung

Der Verrat

Die Auseinandersetzung

Der Anschlag

Die Vereinbarung

Die Flucht

Ariane

Die Zeitungsmeldung

Die Rückkehr

Der Abschied

Die Verabredung

Die Amazone

Die Nachricht

Der Sohn

Anja

Die Trauer

Die Taufpatin

Die Heirat

Die Verleumdung

Die Folgen

Die Dunkelheit

Theodor S. Ath

Der Plan

Meno

Zum Abschluß: Theseus – die Sage

Impressum neobooks

Die Kindheit

Eigentlich war er nicht dumm. Im Gegenteil: Später sollte man feststellen, daß er sogar hochbegabt war. Aber da war es fast schon zu spät. "Er könnte das durchaus schaffen," sagte sein erster Klassenlehrer, "aber er ist einfach zu faul und zu träge." Und so sorgte er dafür, daß er eine Klasse wiederholen mußte - mit eher gegenteiligem Erfolg.

"Er läßt sich ständig ablenken, er kann sich einfach nicht konzentrieren," sagte zwei Klassen und drei Jahre später eine selbstbewußt-ahnungslose und vor allem junge und attraktive Lehrerin und merkte nicht, daß er sie mit all seiner noch recht knabenhaften Fantasie begehrte und deshalb unfähig war, auf schlichte und sachliche Fragen ebenso schlicht und sachlich zu antworten, weil er auf die begierig begehrten Rundungen ihres engsitzenden Pullovers schaute statt auf ihren Mund.

"Sie sollten einen Facharzt aufsuchen, es gibt heute durchaus schon Behandlungsmethoden gegen dieses hyperaktive Verhalten," riet ein wohlmeinender Schulleiter seiner herbeizitierten Mutter. Aber die schämte sich, mit "so etwas" zum Arzt zu gehen. Außerdem hatte sie Angst, man könnte ihr den Jungen fortnehmen und in die Psychiatrie stecken - sie benutzte für sich allerdings einen etwas anderen Begriff dafür.

"Du träumst schon wieder," sagte sie oft, vorwurfsvoll und verzweifelt bemüht, wenn er wieder einmal vor seinen Büchern saß, ohne doch seinen Blick auf deren zweifellos wissensvermittelnde Zeilen zu richten. Und sie hatte recht, vielleicht mehr als all die Pädagogen. Ja, er träumte. Er durchwanderte ganze opulent angereicherte köstliche Welten, während jenes Buch vor seiner Nase nur trocken Brot versprach, wenig hilfreiche Alltagsfakten anbot. Als er noch jünger war, ließ er glänzend geharnischte Ritterheere sich zur Schlacht rüsten, ohne daß ein einziger Reitersmann sich in seinem spärlich ausgestatteten Spielzeugfundus befunden hätte. Aber er brauchte keine Zinnfiguren, um sie ihre Lanzen senken zu lassen, damit sie einander berannten. Er sah auch so, wie ihre Fähnlein in den Wind gehoben wurden, wie die Getroffenen vom Roß stürzten, wie die Sieger über die Verwundeten hinwegritten und mit lautem Schrei in die belagerte Stadt eindrangen. Und er befehligte das erfolgreiche Heer, ließ die feindlichen Anführer auf hohem Podest öffentlich hinrichten und zwang die Unterworfenen unter seine Gewalt. Später zwang er auch deren Töchter in die eroberten Betten, um sie lustvoll zu demütigen.

Noch später wandelten sich seine Träume, fanden sich Akteure und Bühne in der Gegenwart, und als auch sexuelle Fantasien ihm nicht mehr genügend Macht verschafften, verwandelten sich die Heere in Konzerne, weltweit agierend, Millionen, ja Milliarden anhäufend, die Konkurrenten zur Aufgabe zwingend oder sie sich einverleibend. Und er stürzte aus der Chefetage heraus Regierungen und trieb ganze Staaten in den Konkurs. Ja, er träumte - böse, lustvolle, machtbesessene Träume. Er träumte schon in seinen ersten Schultagen, während er auf dem Schulhof seine Mütze aus den Pfützen sammeln und auf der Straße sein Taschengeld abliefern mußte. Doch wo die Gleichaltrigen durch die Wirklichkeit gingen und ihre kleinen, aber sehr realen Erfolge genossen, waren die seinen irreal, dafür aber gewaltig und maßlos.

Später hieß es, ihm hätte der Vater gefehlt in den prägenden Jahren seines Heranwachsens, ihm hätte ein Vorbild gefehlt, das Erfolg an tatkräftiges Handeln knüpfte. Ihm hätte auch jemand gefehlt, der Lebensziele mit Verantwortung und Anstand verband. Später weiß man es immer besser. Aber was sollte die Mutter tun, die den Vater nicht einmal mit Namen kannte, weil er zu schnell wieder aus ihren Augen verschwand, die jung und in solchen Dingen unerfahren betrogen wurde um die schönsten Jahre ihres Lebens und die so schmerzlich kurz hervorgebrochene Liebe nun einem Säugling zuwenden mußte, der alle Zuwendung verlangte und bald anzeigte, daß er keinen neben sich duldete, schon gar keinen Mann an der Seite der Mutter.

So blieb sie einsam, und nur das Getuschel der Nachbarn machte sie glauben, der Samenspender sei von achtens- wertem Rang, von großem, geldwerten Einfluß gewesen und auch ausgezeichnet durch hohe Intelligenz. Sie wußte es nicht, hätte es wohl auch kaum bemerkt in der hitzigen Begegnung jener einen Nacht, als wenig geredet, sondern eilfertig-brünstig zur Sache geschritten wurde. Sie wußte nicht einmal zu sagen, ob der Sohn etwa dem Vater ähnlich sei, denn dessen Gesicht war ihr nicht mehr erinnerlich.

Daß er indes seinerseits Mutter und Kind nicht aus dem Auge verlor, auch wenn er keinerlei Beitrag leistete zur Erziehung und nicht einmal zum Unterhalt der beiden, auch das wußte sie nicht und hat es nie erfahren.

So blieb er ohne Vorbild und auch ohne Moral - außer den täglich und kläglich gescheiterten kleinbürgerlichen Ermahnungen seiner Mutter. So suchte er sich selbst seine Vorbilder und errichtete sich Verordnungen einer eigenen Moral, und die hatte nur ihn selbst zum Ziel und zur Norm. Doch das alles blieb allen verborgen - der Mutter, den Lehrern. Nur die Kinder auf dem Schulhof und auf der Straße begannen langsam zu spüren, daß er nicht Opfer war wie anfangs, sondern Täter wurde, wenn auch auf seine Weise, und die war schmerzhafter und gefährlicher als das, wozu sie fähig waren. Dahin war für ihn vielleicht ein weiter, aber ein erfolgreicher Weg. Und irgendwann waren sie ihm untertan, anerkannten seine Macht und gehorchten seinen Befehlen, ohne daß er selbst Hand anlegen mußte.

Thessi

In Wahrheit heiße ich Theodor Sieghart Ath. Ein unmöglicher Name, ich habe ihn nie gemocht, weiß der Teufel, wer ihn meiner Mutter aufgeschwatzt hat. Theodor und Sieghart sollen die Namen der beiden Brüder von Mama gewesen sein. Vielleicht waren sie ja meine Taufpaten, doch ich habe sie nie kennengelernt: Eine unverheiratete Mutter paßte nicht in die Vorstellungswelt der Familie, so hielt man Distanz, was nicht schwerfiel, denn beide lebten weit entfernt irgendwo im Süden Deutschlands. Als ich denken oder fragen konnte, war der Kontakt längst abgerissen.

Mama rief mich übrigens nur Tessi - oder sollte ich lieber Thessi schreiben? Es war wohl eine Kurzfassung, zusammengezogen aus beiden Namen. Alle nannten mich nur Thessi, selbst die Pädagogen in den Lehranstalten, die ich zwangsweise absolvierte.

Es stimmt: Ich habe die Schule nie gemocht, und sie hat meine Abneigung herzlichst erwidert. Was gab es denn da schon zu lernen? Was nach meiner Auffassung wirklich wichtig war fürs Leben - und dafür lernen wir ja angeblich - das kannte ich längst, ehe irgendein Pauker sich bemühte, es umständlich zu erklären. Warum sollte ich da noch hinhören? Ein Blick in meine Bücher, und ich wußte Bescheid. Und meist war mein Wissen umfangreicher als das der Lehrenden. Aber damit war weder mir noch ihnen geholfen. So verweigerte ich mich, baute mir meine eigene Schule mit selbstbestimmtem Lehrplan. Und mit Fantasie. Sie war für mich das, was die Pädagogen Vertiefung nannten: Was ich bei mir selbst gelernt hatte, das nahm in meiner Fantasie Gestalt an, wurde Wirklichkeit - virtuelle Wirklichkeit, um genauer zu sein und im Sprachgebrauch dieses Zeitalters zu bleiben. Es gab nur weniges, was mich mit der Schule verband. Sport etwa, denn ich lernte rasch, daß nur ein trainierter Körper in der Lage war, den Demütigungen entgegenzutreten, denen ich in den ersten Jahren der Schulzeit noch ausgesetzt war. Wie ich bald feststellte, gab es zwei Typen, die für die Masse der anderen zur Zielscheibe wurden: die besonders Schlauen und die besonders Dummen. Und ich gebe es zu: Ich war beides - das eine für mich selbst, das andere in ihren Augen, weil sie mich mit den Augen des Lehrkörpers betrachteten. Doch das sollte sich in gleichem Maße ändern, wie ich ihnen körperlich überlegen wurde.

Ja, Schule war mir gleichgültig, auch wenn es mich einige Wiederholungen von Klassenstufen kostete. Aber da ich wenig Freunde hatte, traf mich das kaum. Mochte neben mir sitzen, wer wollte - oder wer mußte. Nur einmal habe ich bedauert, daß ich nicht versetzt wurde. Da war Frau Kauffmann unsere Klassenlehrerin, und die habe ich dadurch verloren. Gerade, als ich ernsthaft überlegte, ob ich mich ihr auch privat nähern sollte. Nicht, daß ich ihren Unterricht besonders schätzte. Ich schätzte ihren Körper. Schließlich war ich damals dreizehn, und meine Fantasie war noch einige Jahre älter. Sie trug ständig enganliegende Pullover oder Shirts, die ihre Brüste hervortreten ließen wie eingearbeitete Pampelmusen. Oft hatte sie dazu noch Miniröcke an, die wunderbar lange schlanke Beine freigaben. Ich habe sie fast jede Stunde ausgezogen - ganz langsam, obwohl ich gierig und aufgeheizt war. Aber ich hatte ja 45 Minuten Zeit, bis sie nackt dastand. In meiner Fantasie, wie sonst! Aber der Wunsch wurde immer stärker, aus der virtuellen in die reale Welt zu wechseln.

Vielleicht war es gut, daß ich dann sitzenblieb. Schließlich wuchs der Samenerguß langsam über bloßes Tröpfeln hinaus. Und eine nasse Hose hätte mich wohl alles Ansehen gekostet, das ich mir dank meiner körperlichen Überlegenheit bei den Mitschülern erworben hatte. Aber bis heute bilde ich mir ein, daß sie sich damals allein für mich so aufreizend gab - und nicht für den jungen Kollegen, den sie tatsächlich später geheiratet hat. Immerhin war ich zu jener Zeit als einziger zwei Jahre älter als die anderen Schüler in ihrer Klasse, und damit ein geeignetes Objekt für heimliches Begehren einer jungen Frau.

Ach, meine Schulzeit! Ich habe wenig gelernt, das sagte ich schon. Aber ich habe viel gelernt über mich selbst. Ich wußte nun, daß es mir leichtfallen würde, komplizierte Aufgaben, die das Leben stellen könnte, zu lösen - auch ohne entsprechende Noten. Ich wußte auch, wie man mit unlösbaren Problemen so umgeht, daß sie einem nicht den Weg verstellen: Manche kann man ignorieren, andere umgehen, man kann sie anderen zuschieben, die dann daran scheitern, man kann auch Scheinlösungen anbieten, die sich erst viel später als Trugschluß erweisen, wenn du längst darüber hinausgewachsen bist.

Und auch das habe ich über mich gelernt: Daß Träume wichtig sind, daß sie - scheinbar irreal - Realität verändern, ja schaffen können. Große Erfinder wissen das. Ich habe zwar nichts erfunden, jedenfalls keine Geräte oder Maschinen, keine Zugänge zu neuen Erkenntnissen. Aber ich habe anderes erfunden: Wie ich mir Einfluß verschaffe, möglichst mühelos und ohne Kosten zu verursachen; wie ich Macht aufbaue, ohne allzu große Opfer dafür zu bringen; wie ich andere einbinden kann in ein Netzwerk, das nur mir dienlich ist, ohne daß sie es überhaupt bemerken. Das sind komplexe Fähigkeiten, und nicht jeder, der sie besitzt, kann damit auch umgehen - so umgehen, daß sie stets auf ein Ziel hinauslaufen, das du selber setzt.

Ich habe das schon früh erprobt, im Kleinen, im Kreis der anderen Schüler meiner Klasse. Dort konnte ich gefahrlos üben. Erst war es meist körperliche Überlegenheit, die ich einsetzte: Was mir angetan wurde, das konnte ich nun anderen antun. Oft reichte Drohung, um mich in den Besitz fremden Eigentums zu setzen - sei es Taschengeld, seien es irgendwelche Klamotten. Dabei habe ich nicht wahllos abgezogen, sondern habe Nehmen mit Geben verbunden: Dem einen wurde erobertes Gut zum Geschenk gemacht und verpflichtete so zur Heerfolge. Und zur Verschwiegenheit des Mitwissers. Dem andern gab ich großzügig zurück, was ich zuvor bei ihm erbeutet hatte, und ließ ihn im Glauben, es sei doch nur Scherz gewesen - aber das Erschrecken, das Gefühl der Ohnmacht, die Angst vor Wiederholung blieb, und damit eine doppelte Abhängigkeit. Und wieder andere ließ ich hinter mich treten, teilnehmen an der Tat, die sie doch ohne mich nicht gewagt hätten. Und sie wurden zu Schuldigen, die meines Schutzes bedurften, um nicht bestraft zu werden.

So stieg ich zum Herrscher auf, ohne doch allzu verhaßt zu sein. Leutseligkeit ist ein probates Mittel der Fürsten, ihre tatsächliche Macht dem Ohnmächtigen nicht bewußt werden zu lassen. Weil es ihnen vorgaukelt, irgendwie doch ein wenig Anteil zu haben an jener Macht. So sammelte ich immer mehr Anhänger hinter mir, teils in den Dienst gezwungen, teils auch freiwillig zur Huldigung bereit. Doch je mehr die Schar der Hörigen wuchs, desto größer wurde meine Pflicht, ihnen Schützer zu sein - oder auch Rächer.

Das alles jedoch war mir letztlich zu primitiv. Wirkliche Macht mußte subtiler sein. Nicht Fäuste, Gedanken sind die Waffen, die Unterwerfung erzwingen. Nicht der rohe Verstoß gegen geltendes Recht sichert dir dauerhaften Einfluß, du mußt selber das Recht setzen, Gesetze formulieren, die von nun an zu befolgen sind. Und dazu bedarf es nicht körperlicher Kraft, sondern eines wachen, erfindungsreichen Geistes. Nicht Krieger allein gilt es um dich zu sammeln, sondern gläubige Jünger. Die kriegerische Tat schafft stets Unterworfene, die von Freiheit träumen. Der Jünger aber zieht aus, um die Schar der Überzeugten zu mehren. Auch sie träumen, aber sie träumen sich nicht zurück, sondern hin auf ein Ziel. Und dieses Ziel hast du ihnen gesetzt - nein, dieses Ziel bist du selbst.

So begann ich, Eingeweihte zu schaffen, die Geheimnisse mit mir teilten, ihre eigene Sprache, eigene Regeln, eine eigene Hierarchie, ja auch eigene Strafen besaßen. Mag das alles noch sehr jungenhaft gewesen sein - ein wenig Wandervogel, ein wenig Robin Hood, auch ein wenig Okkultismus vielleicht - es war Übungsfeld für spätere Jahre. Und es gab der Fantasie freien Raum, denn Herr aller Fantasie war und blieb allein ich. - In der Tat, ich habe viel gelernt in meiner Schulzeit.

Später - ich war schon fünfzehn und mein Verbleiben auf dem Gymnasium war in höchstem Maße fraglich geworden - hat mich eine in jeder Hinsicht höchst einfühlsame Psychologin davon überzeugt, daß allein meine exorbitante Intelligenz das Hindernis auf meinem Weg zu schulischen Erfolgen sei. So beschloß ich, mich soweit am Unterricht zu beteiligen, daß ich die Klassenziele erreichte, auch wenn es schwerfiel, mich auf dieses Niveau herabzulassen. Immerhin aber schien es doch vorteilhaft, mir einen Schulabschluß bestätigen zu lassen. Also lernte ich zwar auch nichts von Bedeutung in den kommenden Jahren, aber ich bemühte mich, um der Zensuren willen dem Ehrgeiz meiner Pädagogen entgegenzukommen. Und wenn es sich um Pädagoginnen handelte, fiel mir das auch nicht sonderlich schwer. Schließlich hatte mir meine Mutter eine schlanke, aber dennoch muskulöse Gestalt, ein feingeschnittenes Gesicht mit lockigem dunklem Haar und vor allem zart- gliedrige Hände vererbt, die sich vielseitig einsetzen ließen.

Der Geheimbund

Unser junger Held - nennen auch wir ihn Thessi - war auf der Suche nach Heldentaten. Das entsprach schließlich seinem Naturell - seinem Hang zur Fantasie ebenso wie seinem Streben nach Macht, danach, übermächtig zu sein. Gut - er war bald Anführer einer Kinderbande, oder sagen wir lieber: eines Geheimbundes. Die Jungen trafen sich, in regel- mäßigen Abständen oder wenn er es befahl, am Nachmittag in einer entlegenen Ecke des ziemlich verwilderten Parks, der in der Nähe der Schule in der sumpfigen Biegung eines wenig bedeutsamen Flusses lag. Sie hatten in die dichte Hecke aus Wacholderbüschen, die den äußersten Spazierweg gegen das Flußgebiet hin abschirmte, einen versteckten, gezackten Zugang gelegt, unsichtbar für den Uneingeweihten. Dahinter lag, umstellt von mannshohen wildgewachsenen Buchenschößlingen, eine freie, von spärlichem Gras bewachsene Fläche, geschaffen vom dauerhaften Schatten einer Buche, die sie zu ihrem Totem erhoben hatten und um die sie sich sammelten. Von dichtem Unterholz überwuchert, senkte sich der Boden danach langsam in Richtung Fluß, ging dann in eine amphibische Schilfzone über, durch die der Geheimbund einen Weg aus Trittsteinen gebahnt hatte, um so Zugang zum Wasser zu erhalten. Eine versteckte Stelle unter dem weitausladenden Ast einer Uferweide diente als Ankerplatz für einen schon recht morschen Kahn, den sie irgendwann nächtlich entführt hatten.

Am Stamm des Totembaumes hatten sich an einer Seite einige Baumwurzeln so hoch aufgewölbt, daß sie einen passablen Sitz bildeten mit Andeutung von Armlehnen. Hier nahm Thessi Platz, der Anführer, Häuptling, König, Messias. Von hier aus legte er die Tagesordnung vor, leitete die Sitzung, gab neue Regeln aus, urteilte über Verstöße. Stets forderte er die Bundesmitglieder auf, Stellung zu nehmen, Vorschläge zu äußern, Anträge einzubringen. Aber letztlich entschied allein er über alles, ohne daß die meisten es überhaupt merkten. Und wer es merkte und auch noch aussprach, wurde mit Strafe belegt - oder anerkennend im Rang befördert und so hineingezogen in die Sphäre der Macht und damit mundtot gemacht. Gekonnt unterdrückte der Anführer damit jede weitere Kritik.

Thessi hatte eine Geheimschrift entworfen, deren sich alle zu bedienen hatten, wenn wichtige Nachrichten zu übermitteln waren - sei es schlicht auf einer herausgerissenen Heftseite oder auch per Brief. Dazu konstruierte er einen Ring aus Pappe, auf dem drei Reihen des Alphabets saßen, die oberste festgeklebt, die beiden anderen als drehbare Ringe - einmal vorwärts, einmal rückwärts. Ein Code am Anfang der Nachricht gab jeweils an, um wieviel Buchstaben ein Ring zu verschieben war, um den Text vom ersten auf einen unteren Zeichen für Zeichen zu übertragen und so zu verschlüsseln. Natürlich wechselte der Befehl - manchmal von Satz zu Satz, manchmal sogar von Wort zu Wort oder auch unabhängig davon nach jeweils zehn Buchstaben. Diesen Code verschlüsselte und entschlüsselte ein vierter und letzter Ring, der Zahlen aufwies. Der Physiklehrer, dem einmal eine derartige geheime Nachricht in die Hände fiel und der zu Recht eine Verschlüsselung vermutete, hatte sich ein ganzes Wochenende bemüht, den Code zu knacken. Er scheiterte und war so ehrlich, es im Unterricht anerkennend zu erwähnen, was die Autorität Thessis in seiner Bande ungemein steigerte.

Der Besitz eines solchen Ringes war Ausweis, daß die Novizenschaft im Geheimbund beendet und der neue Eigentümer als vollwertiges Mitglied anerkannt war. Sein Verlust war eine schwere Sünde, die kaum je zu sühnen war. Ihn andern zu zeigen war Verrat. Seine Folgen wurden so wollüstig-grausam ausgemalt, daß nie einer der Jungen es gewagt hat, einen Fremden in das Geheimnis des Ringes einzuweihen oder ihn auch nur betrachten zu lassen.

Thessi versuchte sich auch an einer eigenen Sprache, zumindestens stellte er für zahlreiche Worte frei erfundene Silbenkombinationen als Synonyme auf, dem Nichteinge- weihten rätselhaft und abstrus, den Mitgliedern ein Code für bestimmte, ihnen wichtige Begriffe. Wurden auch sie zusätzlich mit dem Ring verschlüsselt, war das geheimste Geheimnis erschaffen.

Im Grunde jedoch blieb das alles kindliche Spielerei, und er wurde ihrer zunehmend überdrüssig, auch wenn er an den Treffen festhielt und so nicht nur eine treu ergebene Schar von Anhängern um sich versammelte, sondern auch mit ihnen und durch sie Einfluß auf alles Geschehen während der Pausen und außerhalb des Schulhofes nahm. Selbst den Unterrichtenden blieb das nicht verborgen, und es geschah durchaus, daß sie den Anführer um Mithilfe baten, wenn ihnen eine Situation außer Kontrolle zu geraten schien. Thessi ließ sich dann huldvoll herab, einen Streit zu schlichten, einen Mitschüler in die Schranken zu weisen oder einen anderen zu schützen. Das verhalf nicht nur seinen Zeugnissen ungemein zu besseren Noten, es erfüllte ihm auch seine Träume vom edlen Ritter, der sich im Dienst an den Elenden verzehrte, auch wenn die Maßnahmen, die er ergriff oder doch anordnete, nicht immer als ritterlich oder gar edel bezeichnet werden konnten. Eher schon ließ sich sein Tun mit dem antiker Helden vergleichen, die so manchem Unhold sein bösartiges Handwerk legten, indem sie ihn mit seinen eigenen Untaten straften. Ja, diese Art zu vergelten machte sich Thessi immer stärker und immer häufiger zu eigen, denn in ihr vereinte sich alles, was ihn bewegte: rächende Gerechtigkeit, tapfere Heldentaten - und der Nachweis seiner Überlegenheit, seiner unbeschränkten Macht über andere.

Die Rächer

Es war an einem sonnigen Juninachmittag, als sich in der Stadt eine ungeheuerliche Neuigkeit herumsprach: Ein Fünftklässler war von zwei unbekannten älteren Jugendlichen auf dem Heimweg überfallen worden, der ihn durch einen knickgesäumten Hohlweg zum abgelegenen elterlichen Anwesen führte. Dort war er hinter die Wallhecke geschleppt und grausam mißhandelt worden. Obwohl er freiwillig erst sein Taschengeld, dann seine Jeansjacke und auf Befehl auch seine neuen Marken-Turnschuhe hergab, zogen sie ihm das T-Shirt über das Gesicht, stießen ihn zu Boden und wälzten ihn mit bloßem Oberkörper in einem brennessel- bestandenen Graben hin und her. Dann zündeten sie sich Zigaretten an, rauchten und drückten ihm die glühenden Enden mehrfach auf die nackte Haut, befahlen ihm endlich, nicht eher aufzustehen, als bis er laut bis hundert gezählt hätte, um sich derweil mit ihrer Beute aus dem Staube zu machen.

Während Polizeibeamte das völlig verstörte Opfer ohne großen Erfolg befragten, andere ebenso erfolglos den Tatort nach Spuren absuchten oder die Akten nach vergleichbaren Fällen durchforsteten, erließ Thessi per Rundruf den Befehl zur sofortigen Versammlung. Die Jungen erschienen unter ihrem Totembaum, und Thessi hielt, wegen der besonderen Bedeutung der Zusammenkunft stehend, folgende Ansprache:

"Was dort geschehen ist, ist keine bloße Abzocke, wie sie nach unseren Gesetzen in besonderen Fällen erlaubt wäre. Ebenso ist es kein gerechtfertigter Racheakt. Es ist ein gemeines Verbrechen. Auch wenn der Junge keiner von uns ist, es geht uns alle an. Wir dulden keine Verbrechen in unserem Gebiet, und wir werden alle bestrafen, die einen Schüler unserer Schule entführen und foltern. Dies ist eine Sache der Ehre, und eine Verpflichtung zur Rache. Schwört mit mir, daß niemand in die Ferien geht, ehe die Täter nicht bestraft sind."

Er schwieg und blickte in die Runde. Alle hatten sich erhoben und hoben die Rechte zum Schwur. Thessi nickt zufrieden, dann gab er die nötigen Anweisungen. Zunächst wurde beraten, welche Jugendlichen als Täter in Frage kommen könnten. Namen wurden genannt, Vermutungen angestellt, eine Reihenfolge der Verdächtigen wurde festgelegt. Dann bildete Thessi Vierergruppen, die je einen der besonders Verdächtigen überprüfen sollten. Er machte durchaus professionelle Vorgaben: Unauffällige Befragungen im Umfeld, um den jeweiligen Aufenthaltsort während der Tatzeit festzustellen. Sollte kein eindeutiges Alibi vorliegen, weitere Observierung des Verdächtigen, wobei besonderes Augenmerk auf alle Kontakte mit einem der anderen genannten möglichen Täter zu legen ist. Wenn möglich und nötig, ist auch - vorübergehend – ein unbemerkter Diebstahl erlaubt, um etwa ein Notizbuch zu überprüfen, ebenso eine Durchsuchung des Zimmers nach den abgezockten Kleidungsstücken, wenn es unbeobachtet bleiben kann. Berichterstattung bis Sonnenuntergang. Damit war der Geheimbund entlassen.

Thessi selbst beteiligte sich nicht an diesen Aufgaben. Er begab sich zum Tatort, nachdem er sicher war, daß die Polizisten abgezogen waren. Er sah sich eine Weile um, weniger um Spuren zu finden, sondern um seinen Plänen genaue Gestalt zu geben. Und er besuchte das Opfer.

Auch hier war die Polizei ohne greifbare Erkenntnisse geblieben, weil der eingeschüchterte Junge kaum verwertbare Informationen geben konnte - oder auch geben wollte. Thessi aber saß an seinem Bett, betrachtete aufmerksam die versorgten Wunden, ließ ihm Zeit für Tränen, für Schluchzen und Zittern - er hatte seiner Psychologin in kurzer Zeit manches abgeguckt - und er versprach, daß er ihn vor jeder Rache schützen würde, wenn er ihm Näheres über die zwei verraten könnte. Und Thessis Wort galt - mehr als alle Versicherungen der Vernehmungsbeamten. Der Rest war kein Problem mehr.

So konnte Thessi am Abend mit Anerkennung alle Bemühungen seiner Gefolgschaft zur Kenntnis nehmen, obwohl sie keine eindeutigen Beweise einzubringen vermochte. Thessi hörte trotzdem geduldig zu, lobte hier und korrigierte dort ein vorschnelles Urteil, und als alles gesagt war, ohne daß ein Ergebnis vorlag, nannte er die Namen der beiden Täter. Nur so, aber mit Entschiedenheit.

Dann beantragte er in aller Form ein Urteil des Bundes. Die beiden Täter, führte er aus, seien in gleicher Weise zu strafen, wie sie ihr Opfer behandelt hätten. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Doch sollte ihrem höheren Alter und ihrer deshalb eigentlich zu erwartenden größeren Vernunft entsprechend energischer - also abschreckend eben - vorgegangen werden. Auch Kain sollte siebenfältig gerächt werden. Thessi gefiel sich in mancherlei Zitaten, ob sie stets zutrafen, wußten seine Zuörer ja sowieso nicht.

Es gab keine Diskussion dieses Vorschlags. Niemand hätte gewagt, dem Anführer in solch wichtiger Sache zu widersprechen, aber hier stimmten sie auch aus Überzeugung zu, obwohl keiner sich so recht vorstellen konnte, wie dieses Urteil in der Wirklichkeit zu vollstrecken wäre. Doch dafür gab es ja Thessi, er wußte den Weg, er würde sie führen. Wieder erhoben sich alle, um mit aufgerecktem Arm dem Urteil zuzustimmen. Dann blickten alle erwartungsvoll auf den einen, der da lässig und siegessicher am Stamm der Buche stand.

Er ließ sie sich wieder setzen, um ihnen ruhig und bestimmt den Plan zu entwickeln, den er bereits dort, am Ort der Tat, bis in alle Einzelheiten erdacht hatte. Noch in der gleichen Nacht würden sie sich - nacheinander - nahe den Häusern der Täter versammeln. "Macht euch Masken, Sturmhauben, zieht einen alten Pudel über den Kopf und schneidet Sehschlitze hinein. Rächer und Helfer bleiben stets unerkannt. Ich brauche feste Stricke als Fesseln. Wer kann die besorgen?" Mehrere Jungen meldeten sich. "Gut, das wird reichen. Die Raucher bringen ihre Zigaretten mit. Ich komme mit einem offenen Lieferwagen zum Abtransport der Gefangenen, ausgeborgt für ein paar Stunden. Nachts gibt es keine Kontrollen im Stadtgebiet. Macht euch auf einen kurzen Kampf bereit. Aber wir sind genug, um auch den Stärksten niederzuwerfen. Sollte einer bewaffnet sein, werde ich ihm die Waffe abnehmen, erst danach greift ihr an. Wir schaffen sie gefesselt zum Tatort und vollziehen dort das Urteil. Stets soll Gerechtigkeit siegen!" Dann nannte er noch Ort und Zeit für das Zusammentreffen. Daß niemand anderes - auch keine Eltern - etwas erfahren würden, war allen selbst- verständlich.

Es war unerwartet einfach, die beiden vor die Haustür und in eine Nebenstraße zu locken: Ein Anruf per Telefon, vorgeblich vom jeweils anderen, wurde als echt verstanden und befolgt. Keiner wagte eine Gegenwehr, als ihnen diese Schar Vermummter entgegentrat, obwohl sie doch meist viel kleiner und schwächer erschienen. Das übrige bewirkte der Überraschungseffekt, auf den Thessi gesetzt hatte. Widerstandslos ließen sie sich die Hände auf den Rücken binden, auf die Ladefläche heben und dort auch an den Füßen fesseln.

Erst als der Wagen im Hohlweg hielt, wurde ihnen bewußt, daß ihnen Schlimmes bevorstand. Aber die Gegenwehr der Gefesselten blieb wirkungslos, die Jungen hoben sie herab und trugen sie schweigend hinter den Knick, an die Stelle, die ihnen Thessi ebenso schweigend wies. Da man ihnen wegen der Stricke die Kleidung nicht ausziehen konnte, zerschnitt Thessi langsam und gestenreich den Stoff mit einem Messer, riß Stück für Stück vom Körper und warf alles auf einen Haufen. Noch immer wurde kein Wort gesprochen, auch die beiden jugendlichen Täter zogen es vor zu schweigen, eine Rechtfertigung erschien ihnen ebenso sinnlos wie eine Bitte um Gnade. Erst als sie bis auf den Slip entkleidet waren, stellte sich Thessi zwischen die beiden und begann zu sprechen, ruhig und bedeutsam:

"Es ist leicht, einen Schwächeren zu fangen, wenn man in der Überzahl ist. Was ihr mit dem Kleinen getan habt, tun wir jetzt mit euch. Es ist leicht, ihn zu quälen, wenn man ihn in der Gewalt hat. Was ihr hier mit ihm getan habt, tun wir nun mit euch." Er stieß den ersten mit dem Fuß an und schob ihn auf den Graben zu, bis er in den Brennesseln versank. Er zog sich Lederhandschuhe an, um sich zu schützen, dann wälzte er ihn hin und her. Dann befahl er: "Holt ihn heraus. Und übernehmt den andern!" Die Jungen gehorchten, überwältigt vom Schauer des Geschehens und dem tiefen Ernst, in den Thessis Worte alle versetzt hatten. Als beide wieder auf dem Ackerboden lagen, winkte Thessi vier Jungen heran und bedeutet nur durch Zeichen, Zigaretten anzuzünden. Sie taten es ängstlich und schweigend. Dann trat er wieder zwischen die beiden und sagte: "Es ist leicht, einen Wehlosen zu foltern. Was ihr mit eurem Opfer getan habt, tun wir jetzt mit euch." Er nahm eine der brennenden Zigaretten und drückte sie langsam gegen die Brust des ersten, bis der aufstöhnte. "Sechsmal habt ihr einem Kind Schmerzen zugefügt, zweimal sechsmal sei eure Strafe."

Thessi bedeutete den Rauchern, mit der Tortur fortzufahren. Sie wagten nicht, sich zu verweigern. Zögernd drückten sie ihre Zigaretten auf die sich windenden Körper, rauchten ein paar Züge, um neue Glut zu entfachen und sich zugleich zu beruhigen, dann setzten sie die Folter fort, bis jeder der beiden Gefesselten zwölf Brandmale aufwies. Das alles vollzog sich unter absolutem Schweigen der vermummten Rächer. Man hörte nur den schnellen Atem der Gequälten und ihr Stöhnen, wenn die Glut auf ihre Haut traf. Dann sagte Thessi, und jeder spürte, daß es ihm bitterer Ernst war: "Euer Opfer hat euch nicht verraten. Gerechtigkeit geschieht auch ohne das. Aber wenn ihr versuchen solltet, euch trotzdem an ihm zu rächen, dann wird euer Urteil auf Tod lauten, langsamen, qualvollen Tod. Und die Diener der Gerechtigkeit werden euch finden, überall."

Darauf nahm er eine der Zigaretten und hielt einen Fetzen Papier daran, bis er aufflammte. Vorsichtig trat er an den Haufen mit den zerschnittenen Kleidern, ergriff ein Stück Stoff und hielt es in die Flamme, bis es Feuer fing. Er warf es auf den Haufen und wartete. Langsam loderten Flammen auf, der Haufen brannte nun lichterloh.

"Es ist leicht, einen Hilflosen seiner Kleider zu berauben. Was ihr ihm getan hat, tun wir euch. Aber wir nehmen nicht, um zu besitzen. Gebanntes ist es und gehört nur einem: der Gerechtigkeit, der wir dienen." Reglos standen alle um das Feuer, sahen zu, wie die Flammen den Stoff verkohlten, bis sie keine Nahrung mehr fanden und verloschen. Dann nahm Thessi noch einmal sein Messer zur Hand. Er zerschnitt den beiden die Fußfesseln und wandte sich ein letztes Mal an sie: "Bis hundert mußte er zählen, bis zweihundert zählt ihr laut und deutlich, bevor ihr euch vom Boden erhebt." Er winkte seinen Anhängern, und sie verließen schweigend den Ort der Rache. Als sie sich den ersten Häusern näherten, nahmen sie die Masken vom Gesicht und gingen gesenkten Hauptes, aber erfüllt von dem Gedanken, eine nahezu heilige Handlung vollzogen zu haben, nach Hause. Thessi aber blieb, das Messer in der Hand, und lauschte auf die Zahlen der beiden, bis sie die zweihundert fast erreicht hatten. Dann wand er sich durch die Hecke, startete den Wagen und fuhr ihn dorthin zurück, wo er ihn gestohlen hatte.

Niemand von den Jungen erzählte etwas von dieser Nacht, und doch verbreitete sich bald das Gerücht, daß jemand die Tat bestraft hatte. Vielleicht kam es aus der Arztpraxis, wo einer der beiden seine Brandwunden behandeln lassen mußte, und obwohl er eine Ausrede erfand, konnten sich Arzt und Helferinnen ob der Ähnlichkeit der Fälle denken, wo hier der Zusammenhang bestand. Aber auch sie sahen keinen Anlaß, die Polizei zu verständigen. Die Tat war gesühnt, mag man es auch Selbstjustiz nennen. Und dem Opfer war Gerechtigkeit geworden - anders als erwartet, aber so, dass Ähnliches wohl so bald nicht geschehen würde in dieser Stadt. Als das Gerücht auch das Lehrerkollegium erreichte, dachte mancher an Thessi und seine Gruppe, aber bloßer Verdacht war schließlich kein Beweis - und außerdem: Der mißhandelte Fünftklässler schien Schmerzen und Schock wohl auch dadurch überraschend schnell überwunden zu haben. Und die Täter zu finden war doch schließlich Sache der Polizei. Aber die nahm keine Notiz von solchen Gerüchten. Erfuhren die Beamten nichts, oder wollten sie nichts hören? Jedenfalls legte man den Fall bald als ungeklärt zu den Akten.

Thessi wartete über eine Woche, bis er ein neues Treffen seines Geheimbundes anberaumte. Er wollte den Mitgliedern Zeit geben, um das Erlebte zu verarbeiten, aber in Wahrheit brauchte auch er diese Zeit, um der Erregung Herr zu werden, die ihn ergriffen hatte, um das Gefühl vollkommener Macht über Leben und Tod in sein Gedächtnis einzugraben und seine Träume vom rächenden Helden mit der Wirklichkeit zu verbinden. Auf den Zusammenkünften der Gruppe wurde übrigens kein Wort mehr über die nächtliche Aktion verloren, nur das Selbstbewußtsein der Jungen war seitdem sichtbar gewachsen, und je größer der Abstand, desto mehr fühlten sie sich als Helden, als Rächer, als Diener der Gerechtigkeit, wie es Thessi gesagt hatte.

Die Heldentat

Es währte nicht lange, daß Thessi diesen Erfolg wirklich genoß. Sicher - der Angriff des gesamten Bundes auf die beiden weit unterlegenen Gegner hatte vor allem symbolische Bedeutung, sollte er doch die Feigheit, die in solchem Vorgehen sich offenbarte, als solche brandmarken. Außerdem hatte er alle Mitglieder noch enger zusammengeführt und noch stärker zum Schweigen verpflichtet, denn schließlich hatte jeder von ihnen selbst Unrecht getan, um das Unrecht zu strafen. Und die fast schon schamanen- gleiche Handlungsweise ihres Anführers hatte einen tiefen Eindruck, ja eine irgendwie religiöse, angstbesessene Scheu vor Thessi zur Folge.

Und doch - es waren in seinen Augen nicht die Heldentaten, von denen er träumte. Wahre Helden handeln einsam; nur auf sich selbst gestellt vollziehen sie ihre mutigen, wagemutigen Taten. So suchte er immer drängender nach einer Möglichkeit, entsprechend zu handeln. Die kleine Stadt, inmitten des hügeligen holsteinischen Landes gelegen, weit ab von den Verbrechen der großen Städte, bot da naturgemäß wenig Chancen, gewaltige Untaten gewaltig zu strafen.

Doch dann tauchte in der lokalen Berichterstattung immer häufiger die Mitteilung auf, daß vor allem älteren, oft sogar gehbehinderten Frauen am hellichten Tage die Handtasche entrissen worden war. Aufmerksam verfolgte Thessi die Presseberichte, und bald erkannte er, daß trotz unter- schiedlicher Beschreibungen ganz offensichtlich stets derselbe Täter am Werke war. Besonders vor kleineren Bankfilialen erschien er wie aus dem Nichts, näherte sich dem ahnungslosen Opfer von hinten mit einem Fahrrad, riß ihm die Tasche aus der Hand oder von den Schulter, stieß sie meist auch zu Boden und verschwand, ehe jemand eingreifen konnte. Der Schock und meist auch die verursachten Schmerzen hinderten meist die Beraubten, sich irgendwelche verwertbaren Einzelheiten zu merken. So hatten die Ermittler wenig konkrete Anhaltspunkte. Und auch wenn der Polizeisprecher versicherte, man hätte besonderes Augenmerk auf die Umgebung von Geldinstituten, blieb eine solche Überwachung doch eher sporadisch. Und ein in der Nähe geparkter Streifenwagen mochte zwar besorgte Bürger beruhigen, er offenbarte jedoch zugleich dem Täter, wo er sich zurückhalten mußte.

Thessi dagegen ging anders vor. Seine wichtigsten Waffen waren Einfühlungsvermögen in die Sichtweise des Räubers, Zähigkeit und vor allem Geduld. Zunächst unterzog er alle Filialen von Banken und Sparkasse in der Stadt einer genauen Prüfung: Wo war wenig Verkehr auf der Straße, wo war ein günstiger Fluchtweg, um unerkannt zu entkommen? Wo konnte man von außen erkennen, ob ein potentielles Opfer nur eine Überweisung tätigte oder an einen Geld- automaten ging? Wo hatte der Täter bereits zugeschlagen?

Danach entschied sich Thessi für die Niederlassung der Kreissparkasse in einem ruhigen, gutbürgerlichen Vorort, an einer tagsüber wenig belebten Nebenstraße gelegen und - eine Filiale ohne menschliche Bedienung, nur mit Automaten ausgerüstet. Er besorgte sich aus einer nur ihm bekannten Quelle das täuschend echt aussehende Imitat eines handlichen Revolvers, organisierte ein Fahrrad, das er unangeschlossen neben der Eingangstür abstellte und suchte sich einen Platz im Schutz einer gegenübergelegenen Hecke, von dem aus er ungesehen die Straße überblicken konnte. Nun galt es, einfach zu warten, Tag um Tag, ohne sich enttäuschen zu lassen.

Und es dauerte drei lange Wochen, bis er einen jungen Mann sah, der mehrfach mit seinem Fahrrad vorüberfuhr und offensichtlich ebenfalls Interesse an dieser Filiale zeigte. Zuerst fuhr er nur langsam vorbei, dann stieg er ab, betrat den Automatenraum und studierte lange irgendwelche Aushänge, um sich dabei umzuschauen und die seltenen Kunden zu beobachten. Als dann eine ältere Dame hereinkam, auf einen Rollator gestützt dem Geldautomaten zustrebte, verließ er den Raum, nahm sein Fahrrad und radelte ein Stück weit die Straße entlang, um dann zu wenden.

Thessi verfolgte in großer Anspannung, was geschah, bereitete sich vor auf den Sprung hinüber auf die andere Straßenseite. Der Radfahrer, ein untersetzter junger Mann in unauffälliger Kleidung - Jeans, ein graues T-Shirt und ein Allerwelts-Baseballcap, das sein Gesicht gut beschattete - stoppte und blieb im Sattel sitzen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Er rauchte, fuhr aber nicht weiter. Da kam die Seniorin heraus, ihre kleine Handtasche im Korb des Rollators. Der Verdächtige warf die kaum angerauchte Zigarette fort, trat in die Pedale und fuhr geradewegs auf sein Opfer zu. Mit geschicktem Griff packte er die Tasche und trat dann kräftig gegen das Wägelchen, daß es seiner Besitzerin gegen die Beine stieß und sie straucheln ließ Ohne besondere Eile setzte er dann seine Fahrt fort. Niemand sonst war ja in der Nähe, der zugesehen hatte und ihn vielleicht verfolgen könnte.

Auch Thessi blieb unsichtbar und ließ ihm einen Vorsprung, ehe er aus seinem Versteck sprang, über die Straße hastete, ohne sich um die alte Frau dort am Boden zu kümmern, sein Fahrrad ergriff und dem anderen folgte. Auch er hatte keine Eile, sondern folgte dem Flüchtenden in gutem Abstand. Der unbemerkt Verfolgte bog in einen Fußweg ein, der durch den Park führte, hielt dort an einer Bank, lehnte sein Rad an die Armlehne und setzte sich. Dann nahm er die Tasche zur Hand, um sie in aller Ruhe zu plündern.

In diesem Augenblick näherte sich Thessi. Seine Rechte griff in die Hosentasche und umspannte den falschen Revolver, während er sein Rad einfach fallen ließ und sich neben den überraschten jungen Mann setzte. Offen hielt er nun die Waffe in der Hand, damit der andere sie sehen konnte, dann setzte er ihm den Lauf an die Schläfe. Der erstarrte, seine Hände begannen zu zittern. "Leg die Tasche hier zwischen uns," sagte Thessi ruhig. "Und tu, was ich dir sage. Das Ding könnte sonst ganz aus Versehen losgehen."

"Bitte," stammelte der andere, "es sollte doch alles nur ein Spaß sein." Thessis Stimme wurde ironisch: "Aber dies hier ist kein Spaß. Leg dein Geld und deine Scheckkarte in die Tasche. Und jetzt deinen Personalausweis, damit ich weiß, wie du heißt und wo du wohnst." Der andere gehorchte. Thessi las die Adresse. Er würde zu Fuß mindestens eine Viertelstunde bis nach Hause brauchen. Knapp aber nachdrücklich kam sein nächster Befehl: "Schreib deine Pin-Nummer auf einen Zettel. Und denke daran: Ich finde dich, wenn du jetzt trickst." Thessi steckte den Zettel ungelesen in die Tasche. Der Mann neben ihm machte nicht den Eindruck, als könnte er ihn hinters Licht führen, zu deutlich stand Todesangst in seinen Zügen. "Schließ dein Rad ab, gib mir den Schlüssel!" Vorsichtig drehte sich der Räuber zur Seite, gefolgt von Thessis Arm mit der Waffe. Mit der anderen Hand nahm er den Schlüssel entgegen und steckte ihn ein. "Jetzt deine Hausschlüssel!" "Bitte, ich..." Doch Thessi unterbrach ihn: "Die alte Frau steht jetzt auch ohne Schlüssel da, wenn sie wieder aufstehen kann. Und ohne Geld. Warum sollst du es besser haben." Er nahm das Schlüsselbund, das ihm hingehalten wurde, hielt es einen Augenblick wie nachdenklich in seiner Hand, dann warf er es mit weitem Schwung über den Weg in das gegenüberliegende dichte Gebüsch aus wilden Rosen. "Hör gut zu!" Thessi verlieh seiner Stimme einen dunklen, drohenden Klang. "Wenn es in der Stadt noch ein einziges Mal einen Raubüberfall gibt, wirst du es bitter bereuen. Ein Leben lang - falls dein Leben dann noch lang wird."

Die Waffe auf den jungen Mann gerichtet, stand er auf, schloß die geraubte Tasche, hängte sie sich um, hob vorsichtig sein Fahrrad auf und sagte dann: "Du wirst hier sitzenbleiben, bis ich fort bin. Vergiß nicht: So ein Ding hat eine gewisse Reichweite." Dann fuhr er los, ohne sich noch einmal umzusehen, geradewegs zur Sparkassenfiliale, wo ein Krankenwagen gerade die Gestürzte abtransportierte. Thessi ging an den umstehenden Gaffern vorbei in den Raum, zwei Polizisten suchten noch den Boden ab, hinderten ihn aber nicht, an den Servicedrucker zu gehen. Er schob die geraubte Karte ein: Gut viertausend Euro Bestand auf dem Girokonto. Eintausend D-Mark Überziehungskredit. Thessi wechselte zum Geldautomaten, hob mit kurzem Abstand zweimal 2.500 Mark ab, dann zerriß er Karte und Zettel und warf beides in den Abfallkorb. Den Personalausweis würde er erst später vernichten.

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