Aus der Reihe »UNRUHE BEWAHREN«
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ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1595-4
Thomas Macho
Die Kunst des Zwitscherns
Zur Einleitung
Helwig Brunner
»Das Zwitscherchaos eines ganzen Jahres«
Undisziplinierte und interdisziplinäre Annäherungen an ein bioakustisches Phänomen
Kathrin Passig
Die Zwitschermaschine: Was von Twitter übrig bleibt
Ein Vortragstext in 227 Tweets
Franz Schuh
Trunksucht als Menschenmöglichkeit
Viele Tätigkeiten verbinden sich durch Gewohnheit. Wir stehen auf, ziehen uns an, duschen, putzen die Zähne und trinken Kaffee. Duschgel, Zahnpasta und Espressomarke assoziieren sich wohl nur durch Routine. Andere Tätigkeiten verbinden sich in der Sprache, durch Wortspiele und Analogien. Manche Verben haben vergnüglich abweichende Bedeutungen, erst recht in verschiedenen Sprachen und Dialekten. So ähnlich ist es mit dem Zwitschern. Eigentlich zwitschern nur die Vögel; inzwischen können aber auch Smartphone- und Internetbenutzer »zwitschern«, genauer gesagt: »twittern«. Und schließlich können wir – zumindest in Süddeutschland oder Österreich – »einen zwitschern«, vielleicht nur ausnahmsweise am Morgen. Immerhin fällt es nicht allzu schwer, sich eine Person vorzustellen, die den Tag mit einem »Tweet« über den vergangenen Abend beginnt, dabei einen Schluck Alkohol – gegen die Auswirkungen des am vergangenen Abend erworbenen Katers – »zwitschert«, während vor dem Fenster die Vögel – in heiliger Dreifaltigkeit des Zwitscherns – ihren Morgengesang anstimmen.
Lohnt diese Fantasie schon ein Buch? Gibt das Zwitschern so viele Druckseiten her? Die Antwort lautet unbedingt: Ja, wenn so großartige Autoren das Thema traktieren. In alphabetischer Reihenfolge haben sie die Frühjahrsvorlesungen 2012 an der Akademie Graz (vom 12. bis 14. März) bestritten: Helwig Brunner, Grazer Autor und Lyriker, der Biologie und Musik studiert hat, Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Lichtungen; Kathrin Passig, Journalistin und Schriftstellerin aus Berlin, Expertin für Fragen des Internets und der sozialen Medien, Mitverfasserin der Lexika des Unwissens und Anleitungen zur Prokrastination und zum Verirren; Franz Schuh, Dichterphilosoph und Essayist aus Wien, zuletzt mit Der Krückenkaktus, Erinnerungen an die Liebe, die Kunst und den Tod. Alle drei wurden mehrfach ausgezeichnet: Helwig Brunner mit dem Ernst-Meister-Förderpreis für Lyrik und dem Literaturstipendium des Landes Steiermark, Kathrin Passig mit dem Grimme-Preis und dem Ingeborg-Bachmann-Preis, Franz Schuh u. a. mit dem Tractatus des Philosophicums Lech, mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien und dem Österreichischen Kunstpreis für Literatur. Alle drei sind herausragende Kenner der neuerdings viel gelobten Grenzüberschreitungen zwischen den Künsten und den Wissenschaften: im »Zwitscherchaos der Disziplinen«.
Zurück zum Zwitschern. Worauf könnte eine allgemeine Theorie des Zwitscherns abzielen, zu der Helwig Brunner, Kathrin Passig und Franz Schuh gleichermaßen beitragen? Zwitschern, so sieht es aus, ist eine Art von Operation, mit deren Hilfe öffentliche Räume strukturiert werden. Ein akustisches Signal zeigt irgendeine Anwesenheit an. Ein Vogel sagt: Hier bin ich. Ein Handy meldet einen Anruf. Ein Sender teilt einem Empfänger mit, dass er ihm eine Nachricht geschickt hat oder zu schicken beabsichtigt; er übermittelt ein metakommunikatives Signal, dessen Funktion einzig und allein darin besteht, die eigentliche Kommunikation anzukündigen. Eine SMS zwitschert. Der Zwang zur Metakommunikation kann sogar Rundfunk und Fernsehen erfassen: Im Katastrophenfall fahren Polizeistreifen mit Sirenen und Megafonen durch die Straßen, um die Bürger aufzufordern, ihre Radio- und Fernsehgeräte einzuschalten. Wir kennen viele Beispiele solcher Strategien; sie kommunizieren schlicht und einfach, dass kommuniziert werden soll. Im intimen Bereich sind es häufig Blicke, verliebte oder zornige Gesten, die ein Gegenüber einladen oder sogar zwingen können, sich auf ein Liebes- oder Streitgespräch einzulassen. Doch überall, wo nicht klar ist, an welchem Ort sich die potenziellen Kommunikationspartner aufhalten, sind laute akustische Zeichen effektiver.
Metakommunikative Signale sind darum so wichtig, weil sie dazu beitragen, direkte durch indirekte Kommunikation zu ersetzen. Auch in der direkten Kommunikation face-to-face sind die Signale, dass wir einander hören und wahrnehmen, dass wir auch etwas zum Gespräch beitragen wollen, dass wir einverstanden oder nicht einverstanden sind mit dem Gesagten, unverzichtbar; doch werden diese Signale durch kurze Interjektionen (mhm, ja, nicht wahr), Gesten der Zustimmung oder des Widerspruchs – fast unmerklich – ausgetauscht. Erst die Etablierung indirekter Kommunikationsordnungen, die Abwesenheit der Autoritäten, das Fehlen der Befehlenden, zwingt zur Ausarbeitung komplexer metakommunikativer Codes. Im Spätmittelalter waren die Stadtbewohner daran gewöhnt, diverse Glockensignale zu beachten: Während die Kirchenglocken den Beginn, den Höhepunkt oder das Ende der Kommunikation mit Gott markierten, riefen Gemeindeglocken zu gemeinsamer Beratung, die Werkglocken verkündeten den Arbeitsbeginn oder Feierabend, und die Schmiedeglocken priesen das Ende der Lärmbelästigung durch Handwerker. Wein- oder Bierglocken läuteten die Sperrstunde ein; Zinsglocken mahnten die säumigen Steuerzahler, und Marktglocken erklangen bei der Öffnung und Schließung des Marktes.
Wie könnte eine Geschichte der akustischen Signale geschrieben werden, die als metakommunikative Codes fungieren? Ein leises Klingeln ruft die Kinder zur Bescherung unter den Weihnachtsbaum; ein Gongschlag eröffnet die nächste Runde im Boxring. Pausenzeiten in der Schule oder in der Oper werden ebenso akustisch markiert wie der – mit drei Hammerschlägen – vollzogene Abschluss einer Auktion. Und nicht umsonst operierten die Konditionierungsexperimente des russischen Physiologen (und Nobelpreisträgers für Medizin) Ivan Petrovic Pawlow mit Klingelzeichen; auch die Hunde ließen sich bald daran gewöhnen, dass ein bestimmtes Geräusch die Fütterung ankündigte und ihren Speichelfluss vermehrte. Heute brauchen wir fast keine Glocken oder Klingeln mehr. Doch zunehmend leben wir in akustischen Signalräumen, in denen alle Akteure ihre Jingles brauchen und einsetzen. Nicht alles fließt, aber alles zwitschert. Wer zwitschert, nimmt Stellung: auf dem Baum, im Netz, in der Kneipe – oder in einem Buch. Wer zwitschert, besetzt einen Platz, mit Gesängen, mit Zitaten, mit Botschaften im Umfang von maximal hundertvierzig Zeichen, mit der Bestellung des nächsten Doppelten. Nicht einmal der einsamste Trinker ist übrigens von dieser Regel ausgenommen; im traurigsten Fall spricht er nur mehr mit sich selbst, vielleicht dennoch voller Zorn: ein Machttrinker, der – wie Franz Schuh treffend und einfühlsam bemerkt – »zum Zerstören am Ende nur sich selber hat«.
Verfügt das Tier nicht nur über Zeichen,
sondern auch über eine Sprache, und welche?
Stirbt das Tier? Weint es? Trauert es? Langweilt es sich?
Lügt es? Verzeiht es? Singt es? Erfindet es?
Erfindet es Musik? Spielt es Musik? Spielt es?
JACQUES DERRIDA: Das Tier, das ich also bin
Es ist schon lange nicht mehr über meine Lippen gekommen. Nicht das Zwitschern selbst, ich kann ja nicht zwitschern (können Sie etwa zwitschern?), sondern das Wort »zwitschern«, diese seltsam zischelnde oder gar tschilpende Lautfolge, die im unbeholfenen Versuch der Lautmalerei nicht an jene weit eloquenteren Lautäußerungen heranreicht, die mit dieser Vokabel üblicherweise gemeint sind. Und damit wir uns gleich richtig verstehen: Nur von der akustischen Ausprägung des Zwitscherns soll in diesem kleinen Aufsatz die Rede sein, von jenem Zwitschern, das aus einer Vogel- oder sonstigen stimmbegabten Kehle ins Freie tritt, nicht aber von jenem Zwitschern, das den umgekehrten Weg kehlabwärts nimmt – um dann nicht selten indirekt, auf dem Umweg über die Blutbahn, weniger wohltönende Gesänge in Gang zu setzen. Wir reden hier also stocknüchtern und puritanisch vom Urzwitschern, vom Zwitschern ersten Grades, vom naturgegebenen Primärzwitschern.
»Zwischen zwei Zwetschkenzweigen sitzen zwei zwitschernde Schwalben«, weiß der Volksmund zungenbrecherisch zu berichten, wobei ich weder sagen könnte, wo das Volk seinen Mund hat, noch, wie man zwischen Zweigen sitzen kann; dort kann, wer eine Schwalbe ist, allenfalls fliegen, sofern die Zweige nicht zu eng stehen, aber sitzen lässt es sich nur auf den Zweigen, das gilt sogar für so luftig-leichte Geschöpfe wie die Schwalben. Worauf ich aber hinaus will: Das Zwitschern der Schwalben klingt in der Tat noch am ehesten wie ebendieses Wort: hell und freundlich, ein bisschen verhaspelt und vernudelt, ziemlich geräuschreich und nicht allzu melodiös. Insofern hat der Volksmund schon recht, wenn er ausgerechnet den Schwalben das Zwitschern nachsagt.
In der Regel klingt Zwitschern aber überhaupt nicht wie »Zwitschern« und umgekehrt. Wenn wir auf einem Frühlingsspaziergang durch einen halbwegs naturähnlichen, noch nicht völlig kaputtgeforsteten Wald zu unserer Begleitung sagen: »Hör nur, wie hübsch es hier überall zwitschert«, dann meinen wir nichts, was auch nur annähernd dem vermeintlich lautmalerischen Wort ähnelt. Falls uns diese kleine Diskrepanz stört, können wir, gewisse ornithologische Grundkenntnisse vorausgesetzt, um einer flüchtig imaginierten Genauigkeit willen sagen: »Hör nur, wie hübsch hier die Reviergesänge der beiden Rotkehlchen, des Buchfinken, des Zaunkönigs und des Wintergoldhähnchens klingen.« Das würde uns aber nicht nur den Verdacht der Klugscheißerei einbringen, sondern wäre zudem tatsächlich nicht viel hilfreicher als jener landläufige erste Satz. Denn was heißt schon hübsch, wenn es um die territoriale Selbstbehauptung und das Partnerwerben von Singvögeln geht, und was helfen schon Namen und die Aufforderung, ihren Trägern zu lauschen, wenn das etwas höhere Semester an unserer Seite die feine Gesangsstrophe des Wintergoldhähnchens vielleicht gar nicht zu hören in der Lage ist und auch keine Ahnung hat, wie dieser kleine Hervorbringer des Unhörbaren überhaupt aussieht. Ob außerdem die erfolgreich um fachliche Korrektheit bemühte Bezeichnung »Gesang«, die uns unvermeidlich in Kategorien menschlicher Musikalität verstrickt, dem bioakustischen Phänomen, von dem wir sprechen, wirklich näher kommt als unser arglos dahingesagtes »Zwitschern«, bleibt ebenfalls dahingestellt. Gerade in unserem zweiten, um mehr Genauigkeit und so etwas wie Objektivität bemühten Satz würde deutlich, wie unangemessen die anthropozentrische Vereinnahmung des Zwitscherns durch ein oberflächliches Geschmacksurteil (»hübsch«) letztlich ist und wie sehr das Naturphänomen und unser Sprechen darüber auseinanderklaffen; aber in den Belangen, über die wir eigentlich reden wollten, wären wir, abgesehen vielleicht vom nomenklatorischen Reiz der Benennung einiger Vogelarten mit ihren freundlich-verspielten Namen, auch nicht wirklich weitergekommen, soll heißen: Über das Zwitschern an sich wäre noch nichts gesagt.
Das alles spielt aber überhaupt keine Rolle, denn im nächsten Moment reden wir sowieso wieder von etwas anderem. Die Vokabel »Zwitschern« hat irgendwo an einem entfernten Rand unseres Wortschatzes auf ihre beiläufige Verwendung gewartet und sich, kaum ausgesprochen, sofort wieder dorthin zurückgezogen. Jetzt werden wieder viele Wochen ins Land und viele Vögel nach Afrika ziehen, ohne dass wir auch nur ein einziges Mal vom Zwitschern sprächen. So behält es immerhin, wie andere seltene Wörter, den Reiz des Unverbrauchten, ja weitgehend Unentdeckten.
Bubo bubo