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Jessica Shirvington: Erwacht
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cbt ist der Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Embrace«
bei Hachette Australia, Sydney.
© 2010 by Jessica Shirvington
Published by arrangement with Jessica Shirvington
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur
Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Aus dem Englischen von Sonja Häußler
Umschlaggestaltung: © HildenDesign, München, www.hildendesign.de
Umschlagillustration: Marion Hirsch, HildenDesign unter
Verwendung eines Motivs von Kiselev Andrey Valerevich/
Shutterstock
KK · Herstellung: AnG
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-05952-1
V003
www.cbt-jugendbuch.de
www.penguinrandomhouse.de

Inhaltsverzeichnis

DIE AUTORIN
Widmung
Inschrift
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
KAPITEL EINUNDDREISSIG
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
ENGELHIERARCHIE
DANKSAGUNGEN
Copyright

DANKSAGUNGEN

Diese Geschichte wäre einfach nur ein Stapel Papier irgendwo in einer Schachtel, wären da nicht die wundervollen Menschen gewesen, die mehr daraus gemacht und es in ein Buch verwandelt haben.

Es wäre falsch, mit jemand anderem als meiner himmlischen Agentin Selwa anzufangen, die mich mit erfahrener Hand von außen gelenkt hat und niemals ins Wanken geriet.

Mein Dank gilt meinem Verlag: Tegan Morrison für ihre unermüdliche Arbeit, unschätzbaren Beiträge und ihren Glauben an die Story; Fiona Hazard, weil sie es für mich gewagt hat; Katrina Lehman für ihre hervorragende Textarbeit und Kate Ballard für ihre fantastischen Korrekturen.

Ein paar guten Männern – Graham McNeice und Ian Parry-Okeden –, die mich Selwa vorgestellt und die Hebel in Bewegung gesetzt haben.

Meinen Freunden und meiner Familie, vor allem Mum, der ich für ihre Unterstützung immer sehr dankbar bin. Amanda, die mir das Geschenk gab, mich auf diesen Weg zu bringen. Chris, deren Meinung so geschätzt wurde, selbst als es daran ging, mir zu sagen, dass es so nicht funktionierte. Ein großes Dankeschön an: Christine, Nick, Kylie, Liss, Peit und Joe sowie an meine liebe Freundin Harriet, die mich dazu brachte, das Manuskript jemandem zu lesen zu geben.

Dank schulde ich auch meinen Schwiegereltern, Jenny und Phil, für all das Recherchematerial und zahllose Diskussionen; ohne sie wäre die Geschichte nicht dieselbe.

Dad … ich weiß, dass das nicht dein Ding ist, aber ich mag, dass du es trotzdem liest. Du wirst immer besser darin, etwas vorzutäuschen!

Meinem liebsten und nettesten Leser – Matt. Danke für deine bedingungslose Liebe, deine Unterstützung und dafür, dass du dich niemals beschwert hast, wenn es nichts zum Abendessen gab.

Schließlich sollen noch die folgenden Lieder Erwähnung finden: »Falling«, »Drumming Song«, »Kiss with a Fist« und »Hardest of Hearts« von Florence and the Machine; »Lentil« und »Lullaby« von Sia; »Citizen« und »Trap Doors« von Broken Bells; »All The Same To Me« von Anya Marina; »Love Lost« von Temper Trap.

DIE AUTORIN

Jessica Shirvington hat eine Kaffeeimportfirma gegründet und geleitet und nebenbei zu schreiben begonnen. »Erwacht« ist ihr erster Roman und der Beginn einer Trilogie. Jessica Shirvington lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Sydney. Neben ihrer Familie widmet sie sich nun ganz dem Schreiben.

ENGELHIERARCHIE

DIE EINZIGEN

 

ERSTER CHOR

Seraphim
Cherubim
Throne

ZWEITER CHOR

Herrschaften
Mächte
Gewalten

DRITTER CHOR

Fürstentümer
Erzengel
Engel

KAPITEL EINS

»Nach außen hin, unter Seinesgleichen, unter
Fremden, muss man den äußeren Schein wahren,
es gibt hundert Dinge, die man nicht tun
kann; doch im Inneren herrscht die schreckliche
Freiheit!«

RALPH WALDO EMERSON

 

Geburtstage sind überhaupt nicht mein Ding. Es ist schwer, sich auf den Todestag seiner eigenen Mutter zu freuen. Nicht dass ich mir die Schuld dafür geben würde, dass sie nicht mehr da ist. Niemand konnte ahnen, dass sie meine Geburt nicht überleben würde. Es ist auch nicht so, dass ich sie vermisse. Ich meine, ich kenne sie ja überhaupt nicht. Aber jedes Jahr an diesem Tag stehe ich irgendwann vor der Frage, ob es das wert war. War mein Leben es wert, dass ihres dafür genommen wurde?

Ich starrte aus dem Busfenster, um auf andere Gedanken zu kommen. Steph plapperte weiter, irgendetwas über das perfekte Kleid, und war völlig vertieft in das, was sie gerade sagte. Sie war unerbittlich, wenn es um die hohe Kunst des Shoppens ging. Ich spürte ihren Blick auf mir, voller Enttäuschung über meinen Mangel an Begeisterung. Gebäude blitzten im Rahmen des verschmierten Busfensters auf und zogen vorüber und unwillkürlich wünschte ich mir, dass mein siebzehnter Geburtstag morgen ebenso rasch und schemenhaft vorbeiziehen möge.

»Violet Eden!«, sagte Steph streng und riss mich dadurch aus meiner Trance. »Wir haben die American-Express-Karte von deinem Dad, grünes Licht und kein festgelegtes Limit.« Ihre vorgetäuschte Strenge verwandelte sich in ein hinterhältiges Grinsen. »Kann man sich ein besseres Geburtstagsgeschenk vorstellen?«

Streng genommen war es meine American Express. Mein Name, meine Unterschrift. Sie lief nur zufällig über Dads Konto. Eine Nebenwirkung, wenn man die einzige Person zu Hause war, die dafür sorgte, dass die Rechnungen bezahlt wurden.

Ich wusste, dass mich Steph nicht verstehen würde, wenn ich ihr sagte, dass ich nicht in Stimmung wäre, deshalb log ich: »Ich kann heute nicht shoppen gehen. Ich … ähm … muss ins Training.«

Sie zog die Augenbrauen hoch und schaute mich an. Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde meine Ausrede hinterfragen. Aber dann wechselte sie zu einem Thema, das wir in letzter Zeit immer öfter diskutierten.

»Mit Lincoln?«

Ich zuckte die Achseln und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie allein schon die Erwähnung seines Namens auf mich wirkte. Das mit dem Training stimmte zwar nicht, aber ich hatte tatsächlich vor, ihn später zu treffen, und gab mir schon die größte Mühe, nicht jede Minute bis dahin zu zählen.

Steph rollte die Augen. »Also wirklich! Irgendwann werde ich ihm sagen, dass du lieber auf eine andere Art und Weise mit ihm ins Schwitzen geraten würdest!« Sie bedachte mich mit diesem fiesen Lächeln, das sie normalerweise für andere Leute reserviert hatte.

Ich lehnte mich zurück und wartete, bis sie fertig war. Das war einfacher. Steph kapierte es einfach nicht, und das konnte ich ihr nicht übel nehmen – ich hatte ihr nie alle Gründe dafür genannt, weshalb das Training so wichtig für mich war. Über manche Dinge konnte ich einfach nicht sprechen.

»Aber du merkst schon, dass du dich so langsam in einen dieser Sportfreaks verwandelst, oder? Und tu bloß nicht so, als würde dir das alles Spaß machen. Ich weiß ganz genau, dass du Langstreckenlauf hasst.« Steph konnte einfach nicht verstehen, dass jemand lieber klettern oder boxen ging als zu shoppen.

»Es macht einfach Spaß, mit ihm zu trainieren«, sagte ich in der Hoffnung, das Thema damit zu beenden, auch wenn sie mit dem Langstreckenlauf nicht ganz unrecht hatte. Wenn ich nicht die ganze Zeit auf Lincolns Hintern starren könnte, wäre ich wahrscheinlich nicht so motiviert.

Ich kramte in meinem Rucksack herum, der mit all den Büchern vollgestopft war, die sie einem am Ende des Schuljahrs aufs Auge drückten. Steph schien sich nicht vom Thema abbringen zu lassen.

»Man könnte meinen, er trainiert dich für einen Kampfeinsatz oder so was.« Ihre Augen leuchteten auf. »Hey, vielleicht leitet er einen illegalen Schlägertrupp und versucht, dich dafür aufzubauen!«

»So wird es sein, Steph. Ganz bestimmt.«

Ich wollte nicht darüber reden. Wollte nicht zugeben, dass ich am liebsten rund um die Uhr bei Lincoln gewesen wäre. Als würde etwas tief in mir Trost in seiner Anwesenheit finden.

In den Besten von allen verknallt, Vi!

Wirklich Pech, dass es aussichtslos war. Das war es schon von dem Moment an, als ich ihn vor zwei Jahren kennenlernte. Er stieß etwas verspätet zu dem Selbstverteidigungskurs, für den ich mich angemeldet hatte.

Eigentlich dachte ich, es wäre nur wieder einer meiner Versuche, fit und stark zu werden, aber es wurde sehr viel mehr, als er mein Trainingspartner wurde.

Ich fand nie heraus, weshalb Lincoln den Kurs belegt hatte. Offensichtlich wusste er mehr als der Lehrer und absolvierte die Übungen mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die klarmachten, dass er in einer anderen Liga spielte. Nach den ersten paar Wochen, als ich schließlich in der Lage war, mehr als zwei Wörter in seiner Gegenwart aneinanderzureihen, fragte ich ihn, weshalb er da war. Er tat es ab und sagte, dass es immer gut wäre, einen Auffrischungskurs zu machen.

Am Ende des dreimonatigen Kurses hatte ich mehr von ihm gelernt als vom Lehrer, und er bot an, mir Unterricht im Kickboxen zu geben. Dadurch hatte ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Ich wurde jeden Tag stärker – die Liste unserer Sportarten weitete sich auf Klettern, Laufen und sogar Unterricht im Bogenschießen aus – und ich konnte mit Lincoln zusammen sein. Es war perfekt … beinahe jedenfalls.

»Na gut, das heißt wohl, dass wir erst morgen shoppen gehen«, schmollte Steph, konnte es aber nicht lange durchhalten. Sie konnte einem nie lange böse sein.

Leider hatte sie recht. Ich wusste, dass Dad ihr wegen meiner Lustlosigkeit und seines Mangels an Know-how strenge Anweisungen gegeben hatte, weil er sichergehen wollte, dass ich für mein Geburtstagsessen morgen Abend ein neues Kleid hatte. Die Zeit lief – shoppen war unumgänglich.

»Ich kann es kaum erwarten«, sagte ich und warf ihr ein gut einstudiertes falsches Lächeln aus meinem Geburtstagsrepertoire zu.

Es klingelte, weil eine Gruppe Jugendlicher auf den Halteknopf gedrückt hatte. Der Bus wurde langsamer, Steph stand von unserem Sitz in der dritten Reihe von hinten auf. Sie war davon überzeugt, dass nur die Möchtegern-Coolen ganz hinten saßen. Die Streber saßen ganz vorne, gleich dahinter die Goths und die Durchgeknallten. So blieben nur drei Reihen, in die wir uns setzen konnten, um zu zeigen, dass wir nicht zu denen gehörten, die versuchten cool zu sein, sondern dass wir einfach nichts dafür konnten, dass wir es waren. Das Ironische daran war, dass Steph die größte Streberin war, die ich jemals kennengelernt hatte – wenn man mal ausschließlich von ihren Noten ausging. Natürlich würde sie niemals an die große Glocke hängen, dass sie so etwas wie ein Genie war.

Sie wickelte ihren schmalen Körper um die Metallstange an den Türen, setzte ihre Lieblingssonnenbrille von D&G auf und warf mir eine Kusshand zu. Ich lachte. Glücklicherweise ließ sich Steph nicht nur auf Marken reduzieren. Dafür, dass sie mit einer kompletten Designerausstattung herumlief, war sie erstaunlich ausgeglichen. Dass sie aus einer schwerreichen Familie stammte und für gewöhnlich Kleider trug, die so viel kosteten wie mein ganzer Kleiderschrank zusammengenommen, wirkte sich nicht nachteilig auf unsere Freundschaft aus. Ich machte mir nicht allzu viel aus materiellem Besitz, und ihr machte es nicht allzu viel aus, dass das so war.

»Tust du mir einen Gefallen?«, fragte sie, während sie zur Tür hinausging. Dabei nahm sie keinerlei Notiz davon, dass sich hinter ihr die Jugendlichen wie Sardinen in einer Dose zusammendrängten. »Wenn du hier schon die ganze Zeit Mr Fantastic ansabberst, dann tritt ihm wenigstens ab und zu ordentlich in den Magen dafür, dass er deine ganze Freizeit in Anspruch nimmt und meine beste Freundin mit Beschlag belegt.«

»Geht klar«, sagte ich und warf ihr ebenfalls eine Kusshand zu. Mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich meine beste Freundin angelogen hatte, unterdrückte ich dabei.

KAPITEL ZWEI

»Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde.«

GENESIS 9, 13

 

Anstatt nach Hause in die leere Wohnung zu gehen, ertappte ich mich dabei, wie ich den Weg zu Dads Büros einschlug. Ich war mir nicht sicher, warum. Auf dem Weg hinauf in den vierten Stock piepste mein Handy. Eine SMS von Lincoln.

Bin bisschen spät dran. Um 7 bei mir?

Ich lächelte das Handy an, während meine Finger eilig über die Tastatur huschten.

Ja – wir treffen uns dann dort!

Dann löschte ich das Ausrufezeichen und zählte bis dreißig, bevor ich mir erlaubte, auf »senden« zu drücken.

Meine Beziehung zu Lincoln war bittersüß. Wie immer holte mich, kurz nachdem die Euphorie, von ihm zu hören, nachließ, die Realität unserer »Freundschaft« wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Wenn es ein wirkliches Date gewesen wäre! Aber eigentlich gewährte er mir nur Zutritt zu seinem Domizil in einem Lagerhaus – dort gab es eine gigantische Wand, die förmlich danach schrie, angemalt zu werden, und Lincoln hatte sich schließlich doch noch einverstanden erklärt, sie mir zu überlassen. Zwischen zwei Schichten Grundierung konnte ich allenfalls auf eine Mahlzeit hoffen. Obwohl ich versucht hatte, Lincoln zu versichern, dass Kaffee und Fertignudeln eine ausgewogene Ernährung aus Milchprodukten und Kohlehydraten darstellten, konnte ich ihn nicht überzeugen. Da Dad zur Abendessenszeit nie zu Hause war, hatte Lincoln vor Kurzem damit angefangen, mich zum Abendessen zu sich einzuladen und dann nach Hause zu bringen. Auch wenn das nicht romantisch war – überhaupt nicht, meistens unterhielten wir uns einfach über unser Training –, so war es doch schön, jemanden zum Reden zu haben, anstatt allein zu essen.

Dads Firma nahm den gesamten vierten Stock ein. Als sich die Aufzugstüren öffneten, fiel mein Blick auf das vertraute Schild aus rostfreiem Stahl, auf dem »Architekturbüro Eden« stand. Seit acht Jahren prangte es an dieser Stelle.

»Hi, Caroline«, sagte ich, als ich am Empfangsbereich vorbeikam. »Ist er da?«

Dads Rezeptionistin lächelte mich an und zog die Augenbrauen nach oben. »Wo sollte er sonst sein?«

Ich traf Dad in seinem Büro an. Er beugte sich tief über seinen Zeichentisch, auf dem Unmengen von Papier ausgebreitet waren – ein Bild, das typisch war für meinen Dad und das ich schon vor langer Zeit hatte akzeptieren müssen. Früher hatte ich immer dagegen angekämpft – oder vielmehr um seine Aufmerksamkeit gekämpft –, aber ehrlich gesagt fühlte ich mich sowieso immer, als müsste ich ersticken, wenn ich endlich seine volle Aufmerksamkeit erlangt hatte.

Was immer er da gerade machte, er war vollständig darin vertieft und zwar schon eine ganze Weile, so wie es aussah. Er hatte seine Krawatte abgelegt und die Ärmel hochgekrempelt. In der Hand hielt er ein Lineal und an seinem Mund hing ein Bleistift. Ich konnte seine Füße unter dem Zeichentisch nicht sehen, aber ich wäre jede Wette eingegangen, dass er auch die Schuhe ausgezogen hatte.

Ich schaffte es bis zur Mitte des Büros, ohne dass er mich überhaupt bemerkte.

»Hi, Dad«, sagte ich und hob die Hand.

Er blickte auf und lächelte, wobei er mit der Hand durch sein grau meliertes Haar fuhr, als würde ihn das irgendwie aus seiner Welt aus Linien, Winkeln und Lichtreflexen befreien. Er klemmte sich den Bleistift hinter das Ohr und kam hinter seinem Zeichentisch hervor. Nur Socken.

»Hi, Süße.« Er räusperte sich. »Was für eine schöne Überraschung. Ah … wie war dein letzter Schultag?«

Ich hasste, dass ich es hören konnte, aber da war es wieder, immer dasselbe. Die Stimme, die sagte: Schön, dass du hier bist, aber eigentlich bin ich gerade mittendrin in einer Sache und möchte dabei nicht gestört werden.

Ich schluckte und zog es durch. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Ich wusste, dass er sich schämen würde, wenn er wüsste, dass ich es heraushören konnte.

»Großartig!«, sagte ich und strahlte dazu. »Ich habe es in den Fenton-Kunstkurs geschafft. In sechs Monaten geht es los.« Das war heute meine Hauptmotivation gewesen, in die Schule zu gehen. Am letzten Schultag war normalerweise nichts mehr los, im Grunde war es schon ein Ferientag. Dad hatte nie darauf bestanden, dass ich am letzten Tag hinging. Na ja … Dad bestand nie auf irgendetwas. Aber ich konnte es schon seit Monaten nicht abwarten zu erfahren, ob ich den Platz bekomme, und als ich dann sah, dass mein Name und noch ein anderer auf der engeren Auswahlliste standen, war der Tag gerettet.

Er schenkte mir sein aufrichtiges Stolzer-Vater-Lächeln. »War klar, dass du das schaffst! Daran gab es keinen Zweifel. Du kommst nach deiner Mum.« Am Ende brach seine Stimme ein wenig. Sie war auch eine Künstlerin gewesen. Er brachte nur selten das Gespräch auf sie. Genau wie ich ließ er schmerzhafte Dinge lieber ruhen. Das war einfacher … und zugleich schwieriger. Aber in Wirklichkeit konnte nichts seinen Schmerz betäuben. Seit ihrem Tod war er ein gebrochener Mann.

»Danke, Dad«, sagte ich. Ich brannte darauf, das Thema zu wechseln. Er richtete sich abrupt auf und kam auf mich zu. Dann hielt er inne, ging wieder zurück und setzte sich an seinen Zeichentisch, wobei er sich an die Tischkanten klammerte, als wollte er sich dort festschrauben. So langsam drehte Dad durch.

»Ich weiß, dass dein Geburtstag eigentlich erst morgen ist, aber ich möchte dir schon jetzt etwas geben.« Er knackte mit dem Kiefer, das machte er sonst nur, wenn ein Abgabetermin näher rückte oder wenn er ein großes Angebot am Laufen hatte. Dann holte er tief Luft und legte entschlossen die Hand auf den Tisch. Mit dem Handgelenk stieß er dabei an den einzigen persönlichen Gegenstand, den er in seinem Büro aufbewahrte – die Skulptur einer weißen Tür mit einem Graffiti, das Kein Zutritt für Kindermädchen! besagte. Es war das erste und einzige Kunstwerk, das wir je gemeinsam angefertigt hatten.

Bis ich dreizehn war, hatte Dad sieben Kindermädchen vergrault, weil er nicht pünktlich nach Hause kam, vergaß, sie regelmäßig zu bezahlen, und von ihnen erwartete, dass sie auch am Wochenende arbeiteten. Ich hatte elf vergrault. Was soll ich sagen – sie waren dem Job einfach nicht gewachsen. An dem Tag, an dem Kindermädchen Nr. 19 einen Wutanfall bekam und davonstürmte, holten Dad und ich ein bisschen Ton heraus und beschlossen, dass damit ein für alle Mal Schluss sein sollte. Seitdem sind wir nur noch zu zweit. Oder eher nur noch ich allein.

»Dad, ich möchte keine Geschenke mehr«, jammerte ich. Ein Abendessen und das Kleid, das bis dahin noch gekauft werden musste, waren bereits mehr, als ich wollte. Morgen war so ungefähr der einzige Tag im Jahr, an dem ich keine Geschenke wollte.

»Es ist nicht von mir«, sagte er leise und schaute mich dabei nicht an. Er öffnete die unterste Schublade seines Zeichentischs, die einzige, die man abschließen konnte. Seine Bewegungen waren langsam, fast schon gequält. Er zog ein kleines Holzkästchen aus der Schublade und stellte es vorsichtig auf seinen Tisch. Seine Hand zitterte über den raffinierten Schnitzereien, mit denen der Deckel verziert war.

Meine Augen begannen zu brennen und ich musste schnell blinzeln. Es kam nicht oft vor, dass Dad auf diese Weise seine Gefühle offenbarte. Er hob die Hand, und während sie noch über dem Kästchen schwebte, ballte er sie zur Faust und schloss die Augen. Er sah aus, als würde er beten – das war etwas, was er nie tat, und das wusste ich. Bisher hatte es nur einen einzigen Anlass gegeben, an dem er so ausgesehen hatte.

Schließlich blickte er zu mir auf und lächelte ein wenig. Ich blinzelte noch einmal.

»Ich habe Anweisungen erhalten. Ich habe siebzehn Jahre gewartet, um dir das zu geben. Es ist von Evelyn … Es ist von deiner Mum.«

Unwillkürlich riss ich den Mund auf. »Aber … wie?«

Meine Mum war völlig unerwartet gestorben. Eine Blutung bei der Geburt, die nicht vorhersehbar gewesen war. Sie konnte unmöglich irgendwelche Anweisungen für die Zeit nach ihrem Tod hinterlassen haben.

Dad kniff sich in die Nasenwurzel und legte sich dann das Kinn in die Hand. »Ich weiß es wirklich nicht, Liebes. In dieser Nacht, als ich aus dem Krankenhaus zurückkam«, er machte eine Handbewegung zu dem kleinen Kästchen hin, »stand das auf ihrer Kommode. Darauf lag eine Notiz, auf der stand: Für unser Mädchen zu ihrem siebzehnten Geburtstag.« Er holte tief Luft. »Vielleicht war sie einfach nur gut organisiert, vielleicht … ich weiß es nicht … Sie war eine außergewöhnliche Frau … Sie spürte Dinge, die andere nicht spüren konnten.«

»Willst du damit etwa sagen, du glaubst, dass sie wusste, was passieren würde?«

»Das will ich damit nicht sagen, Liebes«, sagte er und strich dabei geistesabwesend über das Kästchen. »Aber darum geht es jetzt nicht. Sie wollte, dass du das bekommst, und es war ihr wichtig, dass du es genau jetzt erhältst.« Während er das Kästchen über den Tisch auf mich zuschob, stand er auf. »Ich … ähm … lasse dich jetzt kurz allein.«

Er schlüpfte in seine Schuhe und verließ leise das Büro. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sah so … allein aus. Mir fiel ein, dass Mum wahrscheinlich nicht besonders beeindruckt davon wäre, was aus uns geworden war.

Das Kästchen war schön. Es war aus sattem, dunklem Mahagoni, das von leuchtenden goldenen Verzierungen durchbrochen wurde. Die Schnitzereien auf dem Deckel waren detailreich und schön gearbeitet, sie formten kein Bild, sondern ein Muster, eine Reihe zarter Federspitzen. Die Künstlerin in mir wusste es sofort zu schätzen.

Ich hatte nie ein Geschenk von meiner Mutter bekommen. Sie hatte mir nie warme Milch gemacht, mir nie die Tränen abgewischt oder mir ein Pflaster aufgeklebt. Sie hatte mir nicht die Peinlichkeit erspart, mit dem Kindermädchen meinen ersten BH kaufen zu müssen, und sie hatte keinen hübschen kleinen Vorrat an Tampons für mich im Bad gebunkert, der niemals ausging und der nie thematisiert werden musste. Es gab eine Menge Dinge, die ich niemals von ihr bekommen würde, aber das hatte ich schon vor langer Zeit akzeptiert. Nun ein Geschenk von ihr zu bekommen, etwas, das sie mir – und nur mir – absichtlich hinterlassen hatte, war … irgendwie komisch.

Ich setzte mich auf Dads Stuhl und strich mit den Fingern über die Schnitzereien, wie er es zuvor getan hatte. Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter. Ich rutschte auf dem Stuhl herum und schüttelte hektisch die Hand, mit der ich das Kästchen berührt hatte. »Reiß dich zusammen, Vi.«

Als ich das Kästchen öffnete, wurde mir das Herz richtig schwer. Eine winzige Silberkette mit einem kleinen Amulett lag darin. Zum letzten Mal hatte ich meine Baby-Halskette in dem Schmuckkästchen auf meinem Schminktisch gesehen. Offenbar hatte sie meine Mum als eine Art Glücksbringer für mich anfertigen lassen, als sie schwanger war. Auf jedem einzelnen meiner Babyfotos trug ich diese Halskette. Dad hatte dafür gesorgt, dass Mums Wünschen entsprochen wurde – und mehr als das.

Offensichtlich hatte Dad sie von meinem Schminktisch genommen. Ich fragte mich, ob der übrige Inhalt des Kästchens auch von ihm stammte, aber dann verwarf ich den Gedanken. Er hatte noch nie den Drang verspürt, Geschenke für mich zu fälschen. Das war nicht sein Stil.

Ich zog zwei Umschläge aus dem Kästchen. Beide waren noch versiegelt, aber vergilbt und an den Rändern ziemlich abgegriffen. Es musste Dad fast umgebracht haben, siebzehn Jahre lang davon zu wissen und keine Ahnung zu haben, was sich darin befand. Ich fragte mich, wie oft er mit seinen Fingern über die Siegel gestrichen und überlegt hatte, ob er sie brechen sollte. Es war beeindruckend, dass er hatte widerstehen können.

Ich öffnete den ersten Umschlag. In ihm steckte eine Seite, die aus einem Buch herausgerissen worden war. Es war ein Gedicht.

Liebe das Nichts,
Fliehe vor etwas,
Bleibe allein
Und gehe zu niemandem.
Handle beherzt
Und mach dich frei von allem.
Übergib die Gefangenen
Und bezwinge die, die frei sind.
Tröste die Kranken,
Aber für dich besitze nichts.
Trinke das Wasser des Leidens
Und entzünde das Feuer der Liebe mit dem Holz der Tugenden,
Dann lebst du in der wahren Wüste.

Es war schön, fand ich, auf eine traurige und überraschend religiöse Art und Weise. Dem bisschen nach, was ich über sie wusste, war Mum nicht religiös gewesen. Sie hatte alles gehasst, was Menschen ihrem Glauben nach in Schubladen steckte. Ich war nur getauft, weil Dads Familie darauf bestanden und er selbst den Vorteil darin gesehen hatte, dass ich dadurch an eine bessere Highschool kommen konnte.

Ich öffnete den zweiten Umschlag. Darin steckte ein handgeschriebener Brief. Die Schrift wirkte selbstbewusst: lange Buchstaben, ineinander verschlungen wie altmodische Kalligraphie. Meine Hände bebten ein wenig, als sie das Stück Papier anfassten, das zum letzten Mal von meiner Mutter gehalten wurde.

Mein Mädchen,
alles Gute zum 17. Geburtstag. Ich wünschte, ich
könnte bei Dir sein, aber ich glaube, wenn Du das
liest … dann bin ich es nicht. Das tut mir leid. Der
Tag, an dem Dein Dad und ich erfuhren, dass wir
ein Kind bekommen würden, war der glücklichste Tag
meines langen Lebens. Ich wusste, dass der einzige
Tag, der noch schöner sein würde, der Tag Deiner
Geburt sein würde – ganz egal, wie dieser Tag enden
würde.
Eine wichtige Entscheidung steht bevor. Die Last
des Bundes ist schwer zu tragen. Entscheide mit dem
Herzen, denn ich weiß schon jetzt, dass Du, mein
Mädchen, Deinem Herzen folgen musst.
Glaube an das Unglaubliche – denn es wird nicht auf
Dich warten – und Du sollst wissen, dass nichts ein-
fach nur gut oder schlecht, richtig oder falsch ist. Es
gibt Mächte auf dieser Welt, die nicht so sind wie wir,
mein Mädchen. An ihrem rechtmäßigen Platz sind
sie wunderbar und schrecklich, heldenhaft und böse –
und das ist gut so, denn wir brauchen beides. Halte
die Augen offen, aber glaube nicht allem, was sie dir
zeigen. Sie werden von der Vorstellungskraft geleitet,
wir von unserem freien Willen.
Denk daran: Für jeden gibt es einen Ort, an den er
gehört, und wenn er diesen ohne Erlaubnis verlässt, so
muss er wieder dorthin zurückgeschickt werden.
Ich liebe Dich. Bitte, verzeih mir.
Mum

Sorgfältig faltete ich den Brief und das Blatt mit dem Gedicht wieder zusammen und steckte beide jeweils in ihren Umschlag zurück. Dabei konzentrierte ich mich sorgfältig auf jede Bewegung, damit ich an nichts Anderes denken musste. Ich bündelte meine Gedanken, damit sie sich verlangsamten und nicht zu Orten wanderten, mit denen ich nicht umgehen konnte. Noch nicht. Das war eine Fähigkeit, die ich mir selbst beigebracht hatte, durch Üben, Üben und noch mal Üben.

Der letzte Gegenstand in dem Kästchen war ein Armband. Es bestand aus dickem Leder, obwohl es metallisch aussah, mit einer Art Silberüberzug, der ziemlich abgegriffen war. Es war ungefähr vier Zentimeter breit und hatte ein ähnliches Muster wie das Kästchen. Es war faszinierend. Schön, nicht nur hübsch. Neben dem Armband befand sich ein identischer, kreisförmiger Abdruck auf dem Holz des Kästchens, wo der Lack abgeblättert war. Irgendwann hatte hier das Pendant des Armbands gelegen.

Ich nahm das Armband und ignorierte die Tatsache, dass mein Mund und meine Augen feucht wurden. Meine Nase lief auch, aber ich hätte schwören können, dass ich Parfüm roch. Irgendetwas Blumiges? Ich fragte mich, ob es ihr Duft war – aber er konnte sich doch unmöglich all die Jahre in dem Kästchen gehalten haben? Ich schob den Gedanken beiseite. Aber genauso schnell trat ein anderer an seine Stelle.

Der Brief. Sie hatte gewusst, dass sie sterben würde.

Nein, ich konnte einfach nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt. Dad konnte jeden Augenblick zurückkommen. Ich musste mich zusammennehmen, durfte mich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Ich wusste sowieso nicht, was der Brief zu bedeuten hatte. Eine wichtige Entscheidung? Vielleicht Schule oder Uni? Es konnte alles sein. Wahrscheinlich hatte sie es nur vorsorglich gemeint – jede Mutter möchte, dass ihr Kind glaubt, alles wäre möglich. Das mit dem langen Leben verstand ich nicht. Wie konnte jemand wie sie glauben, ihr Leben sei lang gewesen? Sie war erst fünfundzwanzig, als ich geboren wurde … als sie starb.

Ich wischte mit der Hand über meine triefende Nase und legte alles wieder genauso in das Kästchen zurück. Als Dad zurückkam, hatte ich es schon in meine Tasche gesteckt und war auf die Couch umgezogen.

Er zögerte. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ja, mir geht’s gut … bestens … ja. Da war ein Brief drin. Möchtest du ihn lesen?« Ich wollte ihm den Brief eigentlich nicht geben. Es war schön, etwas von ihr für mich allein zu haben, auch wenn es seltsam war; aber ich wusste, dass es für jeden eine Qual sein musste, siebzehn Jahre auf die Folter gespannt zu werden.

Dad lächelte, die Falten in seinen Augenwinkeln wurden tiefer, aber er ließ die Schultern hängen. »Nein, schon okay«, sagte er.

Oh, Shit, ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, wenn Dad jetzt tatsächlich zu weinen anfing. Aber er fasste sich wieder, räusperte sich und wandte seinen Blick zur Decke. »Nein, Liebes. Das ist etwas zwischen dir und Mum. Aber … danke, dass du es angeboten hast.«

Offensichtlich reichte das Angebot schon.

»Nun, wie du schon sagtest, ich glaube, sie hatte sich einfach vorbereitet. Es war einer von diesen … Folgedeinem-Herzen-Briefe. « Ich sagte das, als würde ich die ganze Zeit solche Briefe kriegen.

»Jetzt werde nicht zynisch«, tadelte er mich, aber ich wusste, dass es ihm gefiel, dass ich genauso zynisch war wie er.

Er setzte sich neben mich und legte mir die Hand auf das Knie. Ich legte meine Hand auf seine. Einen Moment lang schwiegen wir.

»So …«, sagte er schließlich, während wir beide unsere Hände wieder wegnahmen. »Was machst du heute Abend?«

»Ich gehe zu Lincoln. Hab dort eine Wand anzumalen. «

»Er hat also endlich nachgegeben?«

»Ja.« Es tat definitiv gut, gesiegt zu haben.

»Gut … klar. Dann gehst du jetzt gleich zu ihm?«, fragte er in einem munteren Tonfall, der normalerweise bedeutete, dass er mir etwas zu sagen hatte, was ich nicht hören wollte.

»Ja«, sagte ich gedehnt.

»Oh, gut. Weißt du, ich habe nämlich Lincoln zufälligerweise gestern getroffen, als ich draußen war, um mir ein Sandwich zu holen.« Sein Blick wanderte durch das Zimmer und er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, wo er auf einmal ganz versessen auf einen Stapel Papier zu sein schien.

»Was hast du angestellt, Dad?« Mein Herz setzte ein paar Schläge aus und ich hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, worauf das hinauslief.

»Nichts. Nichts. Wir haben nur über euch beide geplaudert, weißt du, über euer Training. Lincoln hat erzählt, dass ihr nächsten Monat an einem Marathon teilnehmt. Das hört sich nach einer Menge Spaß an.« Er lächelte angestrengt. »Und … ähm … er fragte mich nach der Arbeit, was ziemlich nett war von ihm und … weißt du …«

»Nein. Weißt – du – was?«

»Na ja, ich sagte, erwähnte eigentlich nur, dass du … na ja, dass du an deiner alten Schule eine harte Zeit hattest und … ach, weißt du … ob er das vielleicht berücksichtigen könnte … Er ist nun mal fünf Jahre älter als du, Vi. Ich wollte nur nicht, dass du dich unter Druck gesetzt fühlst. Ich hatte das nicht geplant, ich bin ihm nur zufällig über den Weg gelaufen und … Himmel noch mal«, sagte er und wurde immer nervöser. »Deine Mutter kam mir in den Sinn und ich dachte, dass sie bestimmt wollte, dass ich … etwas sage, weißt du?«

Jemand soll mich auf der Stelle erschießen! Erst tiefe Gefühle und dann das!

Ich stand auf und ging ans andere Ende des Raumes. Die Spannung, die in der Luft lag, war beinahe greifbar. Keiner von uns wollte über den Übergriff reden. Tatsächlich bestand eine stille Übereinkunft, dass es tabu war, darüber zu sprechen. Schon die geringste Erwähnung erfüllte den Raum mit einer vertrauten Finsternis.

Ich starrte auf meine Füße hinunter und stieß den Zeh meiner Turnschuhe in den Teppich, als könnte ich ihn dadurch verschieben, wenn ich mich nur genug konzentrierte. Warum konnte ich nicht zu den Jugendlichen gehören, deren Eltern wussten, was sie taten?

»Dazu hattest du kein Recht«, sagte ich rundheraus.

»Das stimmt nicht ganz, Violet. Ich bin dein Vater.«

Er hatte sich echt einen großartigen Zeitpunkt ausgesucht, die Sache in die Hand zu nehmen.

»Dad, du liegst so was von daneben, ich kann noch nicht mal … Lincoln hat mich überhaupt nicht unter Druck gesetzt!« Ich schnappte meine Tasche und hievte sie mir auf den Rücken. »WIR SIND NUR FREUNDE! Er interessiert sich, was das angeht, kein bisschen für mich – und dank deiner Hilfe«, ich schüttelte ungläubig den Kopf und sah ihn an, »wird es jetzt auch niemals dazu kommen.«

Dads Augen weiteten sich vor Überraschung. Offenbar war er davon ausgegangen, dass Lincoln und ich längst ein Paar waren.

»Oh …« Er stolperte über seine eigenen Worte und kriegte die Kurve nicht mehr. Großartig, jetzt denkt auch noch mein eigener Vater, ich sei total armselig. »Oh … ich hatte das nur vermutet. Sorry, Vi. Ich bin nur … nach allem, was passiert ist … ich mache mir einfach Sorgen.«

Ich antwortete nicht.

»Ich werde mich ab jetzt raushalten«, fügte er hinzu.

»Ich muss los. Bis morgen Abend dann«, murmelte ich, weil ich wusste, dass wir uns vorher nicht über den Weg laufen würden, obwohl wir unter demselben Dach wohnten. Vor allem nicht jetzt.

»Ja! Großartig! Ich freue mich so auf dein Geburtstagsessen. Treffen wir uns um sieben?«, fragte er übertrieben begeistert.

Ich war schon auf dem Weg zur Tür. Ich warf eine Hand nach oben.

»Ja ja.«

Das Gute an Dad war, dass ich wusste, er würde einfach so tun, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden.