Viele Leute haben mir beim Schreiben von Lasst Knochen sprechen geholfen. Besonders geduldig waren meine Kollegen in der Forensik und bei den Strafverfolgungsbehörden. Mein aufrichtiger Dank gebührt Sergeant Guy Ouelette von der Abteilung für Organisiertes Verbrechen der Sûreté du Québec und Captain Steven Chabot, Sergent Yves Trudel, Caporal Jacques Morin und Constable Jean Ratté von der Opération Carcajou in Montreal.
Von der Communauté Urbaine de Montréal Police haben Lieutenant-Detective Jean-François Martin von der Abteilung für Schwerverbrechen, Sergeant-Detective Johanne Bérubé von der Abteilung für Sexualdelikte und Commandant André Bouchard von der Abteilung Sitte, Alkohol und Betäubungsmittel des Centre Opérational Sud geduldig auf meine Fragen geantwortet und mir das Funktionieren der polizeilichen Strukturen erklärt. Ein besonderer Dank geht an Sergeant-Detective Stephen Rudman, superviseur von Analyse und Koordination des Centre Opérational Sud, der mir viele Fragen beantwortete, Karten zur Verfügung stellte und mich durch das Gefängnis führte.
Von meinen Kollegen am Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale bin ich Dr. Claude Pothel für seine Erläuterungen zur Pathologie und François Julien von der Section de Biologie für seine Demonstration von Blutspritzermustern zu Dank verpflichtet. Pat Laturnus, Spezialist für Blutspritzermuster am Canadian Police College in Ottawa, half mir mit seinem Fachwissen ebenfalls weiter und stellte mir Fotos für die Umschlaggestaltung zur Verfügung.
In North Carolina möchte ich Captain Terry Sult von der Ermittlungsabteilung des Charlotte-Mecklenburg Police Department danken, außerdem Roger Thompson, Direktor des Forensiklabors des Charlotte-Mecklenburg Police Department, Pam Stephenson, Chefanalytiker der Abteilung Ermittlung und technische Dienste des North Carolina State Bureau of Investigation, Gretchen C. F. Shappert vom United States Attorney General’s Office und Dr. Norman J. Kramer von der Mecklenburg Medical Group.
Darüber hinaus halfen mir mit Zeit und Fachwissen Dr. G. Clark Davenport, Geophysiker am NecroSearch International, Dr. Wayne Lord vom Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen der FBI-Academy in Quantico, Virginia, und Victor Svoboda, Chefsprecher des Montreal Neurological Institute und des Montreal Neurological Hospital. Dr. David Taub war mein Harley-Davidson-Guru.
Zu Dank verpflichtet bin ich Yves St. Marie, dem Direktor des Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale, Dr. André Lauzon, Verantwortlicher des Laboratoire de Médecine Légale, und Dr. James Woodward, Rektor der University of North Carolina in Charlotte, für ihre unermüdliche Unterstützung.
Ein besonderer Dank geht an Paul Reichs für seine hilfreichen Bemerkungen zum Manuskript.
Wie immer möchte ich auch meinen außergewöhnlichen Lektorinnen Susanne Kirk von Scribner und Lynne Drew von Random House sowie meiner tollen Agentin Jennifer Rudolph Walsh danken.
Obwohl ich vom Fachwissen all dieser Experten sehr profitiert habe, sind alle Fehler in Lasst Knochen sprechen ausschließlich die meinen.
Kathy Reichs, geboren in Chicago, lebt in Charlotte und Montreal. Sie ist Professorin für Anthropologie an der University of North Carolina und unter anderem als forensische Anthropologin für das Laboratoire de sciences judiciares et de médecine légale in Quebec, die American Academy of Forensic Sciences und das National Police Advisory Board in Kanada tätig. Jeder ihrer Romane erreichte Spitzenplätze auf allen internationalen und deutschen Bestsellerlisten. Ihre Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt. Tempe Brennans Fälle laufen als höchst erfolgreiche Fernsehserie »BONES – Die Knochenjägerin«.
Ihr Name war Emily Anne. Sie war neun Jahre alt, hatte schwarze Locken, lange Wimpern und eine karamellfarbene Haut. Ihre Ohren waren von winzigen goldenen Ringen durchlöchert. Ihre Stirn war durchlöchert von zwei Kugeln aus einer Cobray 9-mm-Halbautomatik.
Es war Samstag, und ich arbeitete, weil mein Chef, Pierre LaManche, mich extra darum gebeten hatte. Seit vier Stunden stand ich im Labor und sortierte Gewebefetzen, als die Tür des großen Autopsiesaals aufging und Sergeant-Detective Luc Claudel hereinmarschiert kam.
Claudel und ich hatten schon öfter zusammengearbeitet, und obwohl er mich inzwischen tolerierte, ja vielleicht sogar schätzte, war das an seiner barschen Art nicht zu erkennen.
»Wo ist LaManche?«, fragte er, warf einen kurzen Blick auf den Untersuchungstisch vor mir und wandte sich dann schnell wieder ab.
Ich sagte nichts. Wenn Claudel schlechte Laune hatte, ignorierte ich ihn einfach.
»Ist Dr. LaManche schon angekommen?« Der Detective vermied es, meine schmierigen Handschuhe anzusehen.
»Heute ist Samstag, Monsieur Claudel. Er arbeitet ni –«
In diesem Augenblick streckte Michel Charbonneau den Kopf zur Tür herein. Durch den Spalt konnte ich das Surren und Scheppern der elektrischen Tür im hinteren Teil des Gebäudes hören.
»Le cadavre est arrivé«, sagte Charbonneau zu seinem Partner.
Cadavre? Was für eine Leiche? Was hatten zwei Detectives der Mordkommission an einem Samstagnachmittag im Leichenschauhaus zu suchen?
Charbonneau begrüßte mich auf Englisch. Er war ein großer Mann mit stacheligen Haaren, die ein bisschen an einen Igel erinnerten.
»Hey, Doc.«
»Was ist denn los?«, fragte ich, pulte die Handschuhe herunter und zog mir die Maske vom Gesicht.
Claudel antwortete mit angespanntem Gesicht und Augen, die im grellen Neonlicht freudlos wirkten.
»Dr. LaManche wird gleich hier sein. Er kann es Ihnen erklären.«
Schon jetzt glitzerte Schweiß auf seiner Stirn, und sein Mund war zu einer schmalen Linie zusammengekniffen. Claudel hasste Autopsien, und er mied das Leichenschauhaus, wann immer es ging. Ohne ein weiteres Wort zog er die Tür ganz auf und schob sich an seinem Partner vorbei. Charbonneau sah ihm nach und wandte sich dann wieder mir zu.
»Das ist schwer für ihn. Er hat Kinder.«
»Kinder?« Ich spürte etwas Kaltes in meiner Brust.
»Die Heathens haben heute Morgen zugeschlagen. Schon mal was von Richard Marcotte gehört?«
Der Name kam mir irgendwie bekannt vor.
»Vielleicht kennen Sie ihn als Araignée. Spinne.« Er bewegte die Finger wie Spinnenbeine. »Klasse Kerl. Und ein gewählter Offizieller der Outlaw Biker, der kriminellen Motorradbanden. Die Spinne ist der Spieß der Vipers, aber heute hatte er einen wirklich schlechten Tag. Als er am Morgen auf dem Weg zum Fitness-Center war, haben die Heathens aus einem fahrenden Auto heraus auf ihn geschossen. Seine werte Begleiterin konnte sich mit einem Sprung in einen Fliederbusch gerade noch retten.«
Charbonneau fuhr sich durch die Haare und schluckte.
Ich wartete.
»Dabei wurde allerdings ein Kind getötet.«
»O Gott.« Meine Finger umklammerten die Handschuhe.
»Ein kleines Mädchen. Man brachte die Kleine ins Kinderkrankenhaus von Montreal, aber sie kam nicht durch. Sie ist jetzt unterwegs hierher. Marcotte war bereits tot, als er im Krankenhaus eintraf. Er liegt da draußen.«
»LaManche kommt?«
Charbonneau nickte.
Die fünf Pathologen im Labor wechseln sich mit der Rufbereitschaft ab. Es kommt zwar selten vor, wenn aber einmal eine Autopsie außerhalb der regulären Dienststunden für notwendig erachtet wird, dann ist immer jemand verfügbar. An diesem Tag war LaManche an der Reihe.
Ein Kind. Ich spürte ein vertrautes Gefühl in mir aufsteigen und musste hier raus.
Auf meiner Uhr war es zwölf Uhr vierzig. Ich riss mir die Plastikschürze herunter, knüllte sie mit der Maske und den Handschuhen zusammen und warf alles in den Behälter für biologischen Abfall. Dann wusch ich mir die Hände und fuhr mit dem Aufzug in den zwölften Stock.
Ich weiß nicht, wie lange ich in meinem Büro saß, auf den St. Lawrence hinunterstarrte und meinen Becher mit Joghurt unberührt ließ. Irgendwann glaubte ich, LaManches Tür zu hören und dann das Zischen der gläsernen Sicherheitstüren, die unseren Flügel unterteilen.
Als forensische Anthropologin habe ich eine gewisse Immunität gegenüber gewaltsamen Toden entwickelt. Da der ärztliche Leichenbeschauer sich an mich wendet, wenn er Informationen über die Knochen der Verstümmelten, Verbrannten und Verwesten braucht, habe ich das Schlimmstmögliche gesehen. Meine Arbeitsplätze sind das Leichenschauhaus und der Autopsiesaal, und deshalb weiß ich, wie eine Leiche aussieht und riecht, wie es sich anfühlt, wenn man sie betastet oder mit einem Skalpell aufschneidet. Ich bin gewöhnt an blutige Kleidung, die auf Ständern trocknet, an das Geräusch einer Stryker-Säge, die durch Knochen schneidet, an den Anblick von Organen, die in nummerierten Glasbehältern schwimmen.
Aber der Anblick toter Kinder bringt mich immer noch aus der Fassung. Der zu Tode geschüttelte Säugling, das erschlagene Kleinkind, das kaum zehnjährige Opfer eines gewalttätigen Pädophilen. Gewaltverbrechen an jungen, unschuldigen Opfern erzürnen und bestürzen mich noch immer.
Vor noch nicht allzu langer Zeit arbeitete ich an einem Fall, in dem es um Kleinkinder ging, Zwillingsjungen, die getötet und verstümmelt worden waren. Es war eine der schwierigsten Erfahrungen in meiner Karriere gewesen, und auf dieses Karussell der Gefühle wollte ich nicht noch einmal aufsteigen.
Andererseits war dieser Fall aber auch eine Quelle der Befriedigung gewesen. Nachdem der fanatische Täter eingesperrt war und keine Hinrichtungen mehr befehlen konnte, hatte ich wirklich das Gefühl, etwas Gutes vollbracht zu haben.
Ich riss den Deckel vom Becher ab und rührte den Joghurt um.
Bilder dieser Kinder gingen mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich an meine Gefühle an diesem Tag im Leichenschauhaus, an die plötzlich aufblitzenden Erinnerungen an meine Tochter als Kleinkind.
Mein Gott, warum ein solcher Wahnsinn? Die verstümmelten Männer, die ich unten zurückgelassen hatte, waren ebenfalls Opfer des gegenwärtigen Biker-Kriegs.
Nicht verzweifeln, Brennan. Du musst wütend werden. Wütend auf eine kalte, entschlossene Art. Und dann benutze dein Wissen und deine Fähigkeiten, um diese Schweinehunde hinter Gitter zu bringen.
»Ja«, stimmte ich mir laut zu.
Ich aß meinen Joghurt, trank meinen Kaffee aus und fuhr nach unten.
Charbonneau war im Vorzimmer von einem der kleineren Autopsieräume und blätterte in seinem Spiralblock. Der Plastikstuhl, auf dem er saß, wirkte viel zu klein für seinen großen Körper. Claudel war nirgendwo zu sehen.
»Wie heißt sie?«
»Emily Anne Toussaint. Sie war unterwegs zur Ballettstunde.«
»Wo?«
»Auf der Verdun.« Er nickte in Richtung des angrenzenden Raums. »LaManche hat mit der Autopsie schon angefangen.«
Ich ging an dem Detective vorbei in den Autopsieraum.
Ein Fotograf machte eben Bilder, während der Pathologe sich Notizen machte und zur Sicherheit Polaroids schoss.
Ich sah zu, wie LaManche eine Kamera bei den Seitengriffen fasste und sie über die Leiche hob und senkte, um sie zu fokussieren. Nachdem er die Linse über einer der Wunden in der Stirn des Kindes scharf gestellt hatte, drückte er auf den Auslöser. Ein weißes Rechteck glitt heraus, LaManche zog es ganz aus dem Apparat und legte es zu den anderen auf einen Beistelltisch.
Emily Annes Leiche zeigte Spuren der intensiven Bemühungen, ihr Leben zu retten. Ihr Kopf war zum Teil bandagiert, aber ich konnte einen transparenten Schlauch sehen, der aus ihrem Schädel herausragte und den man ihr eingesetzt hatte, um den Druck im Schädelinneren zu kontrollieren. Außerdem hatten ihr die Ärzte einen Trachealtubus über den Mund tief in die Luftröhre eingeführt, um die Lunge mit Sauerstoff zu versorgen und Erbrechen und die Aspiration des Mageninhalts zu verhindern. Kanülen für intravenöse Infusionen steckten noch in ihren Hals-, Leisten- und Oberschenkelgefäßen. Auf ihrer Brust klebten die weißen Ringe für die EKG-Elektroden.
So eine hektische Intervention, fast wie ein Überfall. Ich schloss die Augen und spürte Tränen auf der Innenseite meiner Lider brennen.
Dann zwang ich mich, die kleine Leiche wieder anzusehen. Emily Anne trug nichts als ein Identifikationsarmband aus Plastik. Neben ihr lagen ein hellgrüner Krankenhauskittel, ein Bündel Kleider, ein pinkfarbener Rucksack und knöchelhohe rote Turnschuhe.
Das grelle Neonlicht. Polierter Stahl und glänzende Fliesen. Die kalten, sterilen chirurgischen Instrumente. Ein kleines Mädchen gehörte nicht hierher.
Als ich hochsah, traf LaManches trauriger Blick den meinen. Obwohl keiner von uns etwas zu dem sagte, was da auf dem rostfreien Stahl lag, wusste ich, was er dachte. Noch ein Kind. Noch eine Autopsie in diesem Raum.
Ich kämpfte meine Gefühle nieder und berichtete kurz über die Fortschritte, die ich bei meinen eigenen Fällen machte; zwei Motorradfahrer, die sich aus eigener Torheit selbst in die Luft gejagt hatten und deren Leichen ich nun wieder zusammenzusetzen versuchte. Dann fragte ich LaManche, wann die prämortalen medizinischen Unterlagen der beiden verfügbar seien, und er antwortete, die Akten seien bereits angefordert und sollten am Montag eintreffen.
Ich dankte ihm und kehrte zurück zu meiner eigenen grausigen Arbeit. Während ich Gewebe sortierte, dachte ich an das Gespräch mit LaManche vom Tag zuvor und wünschte mir, ich wäre noch in den Wäldern von Virginia. Hatte LaManche mich wirklich erst gestern angerufen? Zu dem Zeitpunkt war Emily Anne noch am Leben.
So viel kann sich in vierundzwanzig Stunden ändern.
Am Tag zuvor hatte ich einen Leichenbergungs-Workshop an der FBI-Academy in Quantico abgehalten. Mein Team aus Spurensicherungstechnikern grub eben sein Skelett aus und kartografierte es, als ich einen Special Agent durch die Bäume auf uns zukommen sah. Er berichtete, dass ein Dr. LaManche mich dringend zu sprechen wünsche. Mit einer komischen Vorahnung verließ ich mein Team.
Während ich mir einen Weg aus dem Wald heraus und zur Straße suchte, dachte ich an LaManche und daran, was dieser Anruf wohl zu bedeuten hatte. Ich arbeitete als Gutachterin für das Laboratoire de Sciences Judiciaires et de Médecine Légale, LSJML, dem Institut für Forensik und Gerichtsmedizin, seit ich Anfang der Neunzigerjahre im Rahmen eines Fakultätsaustausches zwischen der McGill und meiner Heimatuniversität in Charlotte nach Montreal gekommen war. Da LaManche wusste, dass ich in den Staaten als amtlich zugelassene forensische Anthropologin arbeitete, war er natürlich neugierig gewesen, ob ich auch ihm von Nutzen sein konnte.
Die Provinz Quebec hatte ein zentralisiertes Coroner-System mit bestens ausgestatteten Forensik- und Gerichtsmedizinlaboren, aber keinen amtlich zugelassenen forensischen Anthropologen. Damals fungierte ich, wie auch jetzt noch, als Beraterin für das Büro des Obersten Leichenbeschauers von North Carolina, und LaManche wollte mich für das LSJML. Das Ministerium finanzierte ein Anthropologielabor, und ich schrieb mich für einen Intensivkurs in Französisch ein. Seit einem Jahrzehnt bringt man mir die skelettierten, verwesten, mumifizierten, verbrannten und verstümmelten Leichen Quebecs, damit ich sie untersuche und identifiziere. Wenn eine konventionelle Autopsie keine Ergebnisse bringt, versuche ich, den Knochen zu entlocken, was ich kann.
Nur sehr selten hatte LaManche mir eine Nachricht mit dem Vermerk »Dringend« hinterlassen. Und wenn er es getan hatte, war es nie etwas Gutes gewesen.
Nach wenigen Minuten erreichte ich einen Transporter, der am Rand eines Kieswegs geparkt stand. Ich löste die Haarspange und fuhr mir mit den Fingern über die Kopfhaut.
Keine Zecken.
Nachdem ich die Haare wieder zusammengefasst hatte, holte ich meinen Rucksack aus dem Laderaum des Transporters und fischte mein Handy aus der Seitentasche. Der winzige Monitor zeigte mir, dass ich drei Anrufe verpasst hatte. Ich rief die Nummernliste auf. Alle drei waren aus dem Institut gekommen.
Ich versuchte zu wählen, aber die Verbindung brach immer wieder ab. Deshalb hatte ich das Handy im Auto gelassen. In den letzten zehn Jahren war mein Französisch ziemlich flüssig geworden, aber Hintergrundgeräusche und schlechte Verbindungen bereiteten mir oft Schwierigkeiten. Und da jetzt ein schwacher Empfang und die Fremdsprache zusammenkamen, war eine erfolgreiche Verständigung über diesen Apparat so gut wie unmöglich. Ich musste also zum Hauptquartier marschieren.
Ich zog meinen Tyveck-Overall aus und warf ihn in eine Kiste im Transporter. Dann schulterte ich meinen Rucksack und machte mich auf den Weg den Hügel hinunter.
Hoch über den Bäumen kreiste ein Falke. Der Himmel war strahlend blau, nur hier und dort trieben einige Wolken wie Wattebäusche dahin. Normalerweise wird dieser Kurs im Mai abgehalten, und wir hatten befürchtet, dass der diesjährige Apriltermin Regen und niedrige Temperaturen bedeuten könnte. Aber kein Problem. Das Thermometer zeigte über fünfundzwanzig Grad.
Im Gehen achtete ich auf die Geräusche um mich herum. Der Kies, der unter meinen Stiefeln knirschte. Vogelgezwitscher. Das Rotorknattern von Hubschraubern im Tiefflug. Das Knallen entfernter Schüsse. Das FBI teilt sich Quantico mit anderen nationalen Polizeibehörden und mit dem Marine Corps, und so herrscht hier beständig ein sehr reges und ernsthaftes Treiben.
Der Kiesweg mündete bei Hogan’s Alley in eine Teerstraße, knapp unterhalb des simulierten Stadtzentrums, das von FBI, DEA, ATF und anderen genutzt wird. Ich wich weit nach links aus, um nicht mitten in eine Übung zur Befreiung von Geiseln zu geraten, und ging dann rechts auf der Hoover Road weiter hügelabwärts bis zum ersten Gebäude eines grauen und hellbraunen Betonkomplexes, von dessen höchsten Dächern Antennen aufragten wie neue Triebe an einer alten Hecke. Nachdem ich einen kleinen Parkplatz überquert hatte, klingelte ich schließlich an der Laderampe des Forensic Science Research and Training Center, dem Zentrum für forensische Forschung und Ausbildung.
Eine Seitentür ging auf, und in dem Spalt zeigte sich ein Männergesicht. Obwohl noch jung, war der Mann völlig kahl, und es sah so aus, als wäre er das schon eine ganze Zeit.
»Früher Feierabend?«
»Nein, ich muss mein Institut anrufen.«
»Sie können mein Büro benutzen.«
»Danke, Craig. Es dauert nicht lange.« Hoffte ich zumindest.
»Ich überprüfe gerade Gerät. Sie können sich also ruhig Zeit lassen.«
Die Akademie wird wegen des Labyrinths von Tunneln und Korridoren, die die verschiedenen Gebäude verbinden, oft mit einem Hamsterkäfig verglichen. Aber die oberirdischen Etagen sind nichts im Vergleich zu dem Gewirr unter der Erde.
Wir bahnten uns einen Weg durch eine Lagerhalle voller Kisten und Kartons, alter Computermonitore und Gerätekoffer aus Metall, gingen dann einen Gang entlang und noch zwei andere bis zu einem Büro, das kaum groß genug war für einen Schreibtisch, einen Stuhl, einen Aktenschrank und ein Bücherregal. Craig Beacham arbeitete für das National Center for the Analysis of Violent Crime, NCAVC, dem Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen, einer der wichtigsten Unterabteilungen der CIRG, der Critical Incident Response Group des FBI, einer Art speziellen Eingreiftruppe bei Schwerverbrechen. Eine Zeit lang hieß diese Einheit Child Abduction and Serial Killer Unit, CASKU, Abteilung für Kindesentführungen und Serienmörder, doch seit kurzem trug sie wieder den ursprünglichen Namen. Da die Ausbildung von Spurensicherungstechnikern, Evidence Recovery Technicians oder ERTs, zu den Aufgaben des NCAVC gehört, organisiert diese Einheit den alljährlichen Kurs.
Wer mit dem FBI zu tun hat, muss ein Abkürzungsfex sein.
Craig nahm Akten von seinem Schreibtisch und stapelte sie auf dem Schränkchen.
»So haben Sie wenigstens Platz, sich was zu notieren. Soll ich die Tür schließen?«
»Nein, danke. Ist schon okay so.«
Mein Gastgeber nickte und ging davon.
Ich atmete tief durch, schaltete im Geist aufs Französische um und wählte.
»Bonjour, Temperance.« Nur LaManche und der Priester, der mich getauft hatte, haben je diese offizielle Version benutzt. Der Rest der Welt nennt mich Tempe. »Comment ça va?«
Ich sagte ihm, dass es mir gut gehe.
»Danke, dass Sie zurückgerufen haben. Ich fürchte, wir haben hier eine ziemlich grausige Sache, und ich brauche Ihre Hilfe.«
»Oui?« Grausig? LaManche neigte nicht gerade zu Übertreibungen.
»Les motards. Noch zwei sind tot.«
Les motards. Biker. Seit über einem Jahrzehnt kämpften rivalisierende Outlaw-Motorradbanden um die Kontrolle des Drogenhandels in Quebec. Ich hatte bei mehreren motards-Fällen mitgearbeitet, Erschossene, die darüber hinaus bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren.
»Oui?«
»Folgendes hat die Polizei bis jetzt rekonstruieren können. In der letzten Nacht fuhren drei Mitglieder der Heathens mit einer starken selbst gebastelten Bombe zum Clubhaus der Vipers. Der Viper, der die Überwachungskameras kontrollierte, sah zwei Männer, die mit einem großen Paket auf das Haus zukamen. Er schoss auf sie, und die Bombe explodierte.« LaManche hielt inne. »Der Fahrer liegt in kritischem Zustand im Krankenhaus. Was die beiden anderen angeht: Das größte geborgene Gewebestück wiegt knapp neun Pfund.«
Autsch.
»Temperance, ich habe versucht, mit Constable Martin Quickwater Kontakt aufzunehmen. Er ist unten bei Ihnen in Quantico, aber er war den ganzen Tag in einer Konferenz.«
»Quickwater?« Nicht gerade ein typisch Quebecer Name.
»Er ist ein Eingeborener. Cree, glaube ich.«
»Gehört er zur Carcajou?«
Die Opération Carcajou war eine ressortübergreifende Sondereinheit zur Untersuchung krimineller Aktivitäten der Outlaw-Motorradbanden in der Provinz.
»Oui.«
»Was soll ich für Sie tun?«
»Bitte sagen Sie Constable Quickwater, was ich Ihnen eben gesagt habe, und bitten Sie ihn, mich anzurufen. Dann möchte ich, dass Sie so schnell wie möglich herkommen. Wir dürften Schwierigkeiten mit der Identifikation bekommen.«
»Wurden intakte Fingerkuppen oder Gebissfragmente geborgen?«
»Nein. Und das ist auch nicht wahrscheinlich.«
»DNS?«
»Auch dabei dürfte es Schwierigkeiten geben. Die Situation ist ziemlich kompliziert, und ich möchte am Telefon lieber nicht darüber sprechen. Ist es Ihnen möglich, früher zu kommen, als Sie geplant hatten?«
Wie jedes Jahr hatte ich das Frühjahrssemester an der Universität in Charlotte so rechtzeitig abgeschlossen, dass ich den FBI-Kurs abhalten konnte. Jetzt musste ich nur noch die Examensarbeiten lesen. Ich hatte mich schon auf einen kurzen Besuch bei Freunden in Columbia gefreut, bevor ich für den Sommer nach Montreal zurückflog. Aber dieser Besuch würde jetzt warten müssen.
»Ich bin morgen bei Ihnen.«
»Merci.«
Dann fuhr er in seinem präzisen Französisch fort, und entweder Traurigkeit oder Müdigkeit ließen seine volle Bass-Stimme noch tiefer klingen.
»Es sieht nicht gut aus, Temperance. Die Heathens werden zweifellos zurückschlagen. Und dann werden die Vipers noch mehr Blut vergießen.« Ich hörte, wie er tief ein- und langsam wieder ausatmete. »Ich fürchte, die Lage eskaliert zu einem umfassenden Krieg, in dem auch Unschuldige umkommen können.«
Nach dem Gespräch rief ich bei US Airways an, um für den nächsten Morgen einen Flug zu buchen. Ich legte eben den Hörer auf, als Craig Beacham in der Tür erschien. Ich erklärte ihm die Sache mit Quickwater.
»Constable?«
»Er ist bei der RCMP. Der Royal Canadian Mounted Police. Oder GRC, falls Sie das Französische vorziehen. Gendarmerie royale du Canada.«
»Ähm. Aha.«
Craig wählte eine Nummer und fragte nach, wo sich der Constable aufhielt. Nach einer kurzen Pause notierte er sich etwas und legte auf.
»Ihr Mann ist in einer wichtigen Strategiebesprechung in einem der Konferenzräume da unten.« Er gab mir die Nummer, die er sich notiert hatte, und beschrieb mir den Weg. »Gehen Sie einfach rein und setzen Sie sich dazu. So gegen drei dürften sie eine Pause machen.«
Ich dankte ihm und irrte durch die Gänge, bis ich den Raum gefunden hatte. Durch die geschlossene Tür waren gedämpfte Stimmen zu hören.
Meine Uhr zeigte zwei Uhr zwanzig. Ich drehte den Knauf und schlüpfte hinein.
Der Raum war dunkel bis auf den Strahl eines Projektors und das aprikosenfarbene Leuchten eines auf eine Leinwand geworfenen Dias. Ich erkannte ein halbes Dutzend Gestalten, die um einen runden Tisch saßen. Einige drehten die Köpfe in meine Richtung, als ich mich auf einen Stuhl an der Seitenwand setzte. Doch die meisten Blicke blieben auf das Dia gerichtet.
In den nächsten dreißig Minuten sah ich, wie LaManches Vorahnung in grausigen Details zum Leben erwachte. Ein ausgebombter Bungalow, Gewebefetzen an den Wänden, Körperteile auf dem Rasen. Ein weiblicher Torso, das Gesicht nur noch eine rote Masse, der Schädelknochen von einer Schrotladung durchlöchert. Das geschwärzte Chassis eines Geländewagens, eine verkohlte Hand, die aus einem hinteren Seitenfenster baumelte.
Ein Mann, der rechts vom Projektor saß, berichtete von Motorradbandenkriegen in Chicago, während er die Dias durchlaufen ließ. Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, doch ich konnte sein Gesicht nicht erkennen.
Noch mehr Schießereien. Explosionen. Messerstechereien. Zwischendurch ließ ich den Blick über die Silhouetten am Tisch schweifen. Nur eine hatte Haare, die nicht zu Stoppeln gestutzt waren.
Schließlich blieb die Leinwand weiß. Der Projektor summte, Staub flirrte in seinem Strahl. Stühle quietschten, als die Männer sich streckten und sich wieder einander zuwandten.
Der Sprecher stand auf und ging zur Wand. Als die Deckenbeleuchtung anging, erkannte ich ihn als Special Agent Frank Tulio, Absolvent eines schon viele Jahre zurückliegenden Bergungskurses. Er bemerkte mich, und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Tempe. Wie geht’s?«
Alles an Frank war korrekt, von seinen mit dem Messer geschnittenen grauen Haaren über seinen straffen Körper bis hin zu seinen makellosen italienischen Schuhen. Im Gegensatz zum Rest unserer Truppe hatte Frank auch bei den Käfer- und Leichenübungen durch erstaunliche Gepflegtheit geglänzt.
»Kann mich nicht beklagen. Sind Sie noch im Chicagoer Büro?«
»Bis letztes Jahr. Jetzt bin ich hier, wurde der CIRG zugewiesen.«
Alle Augen waren auf uns gerichtet, und mir wurde plötzlich der Zustand meiner Kleidung und meiner Frisur bewusst. Frank wandte sich an seine Kollegen.
»Kennen Sie alle die große Knochendoktorin?«
Frank stellte uns einander vor, und die am Tisch Sitzenden lächelten und nickten. Einige kannte ich, andere nicht. Ein paar machten Witze über Episoden, in denen ich eine Rolle gespielt hatte.
Zwei der Anwesenden gehörten nicht zur Akademie. Die volleren Haare, die ich bemerkt hatte, gehörten Kate Brophy, der Leiterin des Intelligence Unit, der nachrichtendienstlichen Abteilung des State Bureau of Investigation von North Carolina. Kate war die Expertin des SBI für Outlaw-Motorradbanden, solange ich zurückdenken konnte. Wir hatten uns Anfang der Achtziger kennen gelernt, als die Outlaws und die Hells Angels in den Carolinas Krieg führten. Ich hatte damals zwei der Opfer identifiziert.
Am anderen Ende des Tisches tippte eine junge Frau auf einem Gerät, das aussah wie eine Stenografiermaschine. Neben ihr saß Martin Quickwater hinter einem Laptop. Er hatte ein breites Gesicht mit hohen Wangenknochen und Brauen, die sich an den Enden nach oben bogen. Seine Haut hatte die Farbe gebrannten Tons.
»Ich bin mir sicher, dass ihr zwei Ausländer euch kennt.«
»Nein, wir kennen uns nicht«, sagte ich. »Aber das ist der Grund, warum ich hier bin. Ich muss mit Constable Quickwater sprechen.«
Quickwater gewährte mir ungefähr fünf Sekunden Aufmerksamkeit, dann wandte er den Blick wieder dem Computermonitor zu.
»Gutes Timing. Wir wollten gerade eine Pause machen.« Frank sah auf die Uhr und ging dann zum Projektor, um ihn auszuschalten. »Besorgen wir uns eine Dosis Koffein. Um halb vier treffen wir uns wieder.«
Während die Beamten an mir vorbeigingen, legte einer der NCAVC-Männer mit übertriebener Geste die Finger zu einem Rechteck zusammen und spähte hindurch, als würde er mich durch einen Sucher fixieren. Wir waren seit einem Jahrzehnt Freunde, und ich wusste, was jetzt kommen würde.
»Tolle Frisur, Brennan. Ein Sonderangebot von deinem Gärtner? Hecke und Haare schneiden für einen Preis?«
»Einige von uns machen eben richtige Arbeit.«
Er ging lachend davon.
Als nur noch Quickwater und ich übrig waren, setzte ich an zu einer ausführlicheren Vorstellung.
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Quickwater auf Englisch mit weichem Akzent.
Seine Schroffheit überraschte mich, und ich musste mich zurückhalten, um nicht ebenso barsch zu antworten. Vielleicht reagierte ich einfach nur empfindlich, weil ich verschwitzt und ungekämmt war.
Als ich erklärte, dass LaManche versucht hatte, ihn zu erreichen, zog Quickwater seinen Piepser vom Gürtel, sah auf den Monitor und schlug das Gerät dann gegen seine flache Hand. Seufzend und kopfschüttelnd klemmte er es sich wieder an den Gürtel.
»Die Batterien«, sagte er.
Der Constable sah mich eindringlich an, während ich wiederholte, was LaManche mir gesagt hatte. Seine Augen waren so tief braun, dass die Grenze zwischen Pupille und Iris nicht zu erkennen war. Als ich geendet hatte, nickte er, drehte sich um und verließ den Raum.
Ich stand noch einen Augenblick da und wunderte mich über das merkwürdige Verhalten des Mannes. Wunderbar. Ich hatte nicht nur zwei atomisierte Biker, die ich wieder zusammensetzen musste, jetzt hatte ich auch noch Constable Charme als Partner.
Ich nahm meinen Rucksack und kehrte in den Wald zurück.
Kein Problem, Mr. Quickwater. Ich habe schon härtere Nüsse geknackt als Sie.
Der Flug nach Montreal war ereignislos bis auf die Tatsache, dass Martin Quickwater mich ostentativ schnitt. Obwohl wir in derselben Maschine saßen, redete er nicht mit mir und setzte sich auch nicht auf einen der leeren Plätze in meiner Reihe. Wir nickten uns in Washington-Reagan zu und dann noch einmal, als wir in Montreal-Dorval in der Schlange vor der Zollabfertigung standen. Seine kühle Art war mir recht angenehm. Ich wollte mit dem Mann eigentlich nichts zu tun haben.
Ich fuhr mit dem Taxi zu meiner Eigentumswohnung im Stadtzentrum, stellte mein Gepäck ab und wärmte mir in der Mikrowelle einen tiefgefrorenen Burrito auf. Mein alter Mazda sprang beim dritten Versuch an, und ich fuhr in den Osten der Stadt.
Jahrelang hatte sich das Forensiklabor im fünften Stock eines Hauses befunden, das als SQ-Gebäude bekannt ist. Die Provinzpolizei, die Sûreté du Québec, besetzte den Rest der Etagen, bis auf eine Reihe von Arrestzellen im zwölften und im dreizehnten Stock.
Kürzlich hatte die Regierung von Quebec jedoch Millionen für die Renovierung des Gebäudes ausgegeben. Der Arrestbereich kam in andere Stockwerke, und die gerichtsmedizinischen und kriminaltechnischen Labore sind nun in den obersten beiden Etagen untergebracht. Seit dem Umzug waren Monate vergangen, aber ich konnte die Veränderung noch immer nicht so recht glauben. Von meinem neuen Büro aus hatte ich einen spektakulären Blick auf den St. Lawrence, und mein Labor war Spitzenklasse.
Um halb vier am Freitagnachmittag ließ die gewohnte Hektik und Geschäftigkeit der Arbeitswoche bereits deutlich nach. Die Türen schlossen sich eine nach der anderen, und die Armee der weiß bekittelten Wissenschaftler und Techniker dünnte sich aus.
Ich schloss die Tür zu meinem Büro auf und hängte meine Jacke an den hölzernen Garderobenständer. Drei weiße Formulare lagen auf meinem Schreibtisch. Ich nahm das mit LaManches Unterschrift zur Hand.
Die »Demande d’Expertise en Anthropologie«, die Bitte um ein anthropologisches Gutachten, stellt oft meinen ersten Kontakt mit einem Fall dar. Sie wird vom bearbeitenden Pathologen ausgefüllt und liefert mir die wesentlichen Daten zum Auffinden der Akte.
Mein Blick wanderte die rechte Spalte entlang. Labornummer. Leichenhallennummer. Polizeiberichtnummer. Klinisch und effizient. Die Leiche wird etikettiert und archiviert, bis die Räder der Gerechtigkeit in Gang kommen.
Ich wechselte zur linken Spalte. Pathologe. Coroner. Ermittelnder Beamter. Ein gewaltsamer Tod ist die terminale Verletzung der Intimsphäre, und diejenigen, die ihn untersuchen, sind die ultimativen Voyeure. Obwohl ich ein Teil davon bin, fühle ich mich nie wohl bei der Gleichgültigkeit, mit der das System an die Toten und die Todesermittlung herangeht. Auch wenn ein gewisses Maß an Distanz unabdingbar ist, um sich das eigene emotionale Gleichgewicht zu bewahren, habe ich doch immer das Gefühl, dass das Opfer etwas mehr persönliche Anteilnahme verdient hat.
Ich überflog die Zusammenfassung der bekannten Fakten. Nur in einem Punkt wich sie von LaManches telefonischem Bericht ab. Bis dato waren insgesamt zweihundertundfünfzehn Fragmente geborgen worden. Das größte Stück wog zehn Pfund.
Ohne mich um die anderen Formulare und den Stapel Telefonnachrichten zu kümmern, machte ich mich sofort auf die Suche nach dem Direktor.
Ich hatte LaManche selten in etwas anderem gesehen als in Labormantel-Weiß oder chirurgischem Grün. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er lachte oder Holzfällerhemden trug. Er war ernst und freundlich und auf Tweed beschränkt. Und er war der beste Pathologe, den ich kannte.
Ich sah ihn durch das Glasrechteck neben seiner Bürotür. Seine schlaksige Gestalt saß über einen Schreibtisch gebeugt, auf dem sich Papiere, Zeitschriften und ein Stapel Akten in allen Primärfarben türmten. Als ich klopfte, hob er den Kopf und winkte mich herein.
Das Büro roch wie sein Benutzer schwach nach Pfeifentabak. LaManche hatte die Angewohnheit, sich sehr leise zu bewegen, und manchmal war dieser Geruch der erste Hinweis auf seine Anwesenheit.
»Temperance.« Er betonte die letzte Silbe, sodass der Name sich auf France reimte. »Vielen Dank, dass Sie so früh zurückgekommen sind. Bitte setzen Sie sich.«
Immer makelloses Französisch, ohne Verschleifungen oder umgangssprachliche Ausdrücke.
Wir setzten uns an einen kleinen Tisch vor seinem Schreibtisch. Eine Anzahl brauner Umschläge lag darauf.
»Ich weiß, dass es zu spät ist, um jetzt noch mit der Analyse zu beginnen, aber könnten Sie vielleicht morgen hereinkommen?«
Er hatte ein langes, hager-kantiges Gesicht mit tiefen Längsfalten. Als er fragend die Augenbrauen hob, verlängerten sich die Furchen über seinen Augen zur Mitte hin.
»Ja. Natürlich.«
»Vielleicht wollen Sie mit den Röntgenaufnahmen anfangen.«
Er deutete auf die Umschläge und drehte sich dann zu seinem Schreibtisch um.
»Und hier sind die Tatort- und Autopsiefotos.« Er gab mir einen Stapel kleinerer brauner Umschläge und eine Videokassette.
»Die beiden Biker, die die Bombe zum Clubhaus der Vipers schleppten, wurden zerfetzt und ihre Überreste über ein großes Gebiet verstreut. Viel von dem, was die Spurensicherung findet, klebt an Mauern oder hängt in Büschen und an Bäumen. Das größte bis jetzt geborgene Fragment kam erstaunlicherweise vom Dach des Clubhauses. Ein Thoraxfragment zeigt einen Teil einer Tätowierung, der bei der Identifikation von Nutzen sein dürfte.«
»Was ist mit dem Fahrer?«
»Starb heute Morgen im Krankenhaus.«
»Der Schütze?«
»Er ist in Untersuchungshaft, aber diese Leute sind nie sehr kooperativ. Er geht lieber ins Gefängnis, als der Polizei etwas zu verraten.«
»Nicht einmal Informationen über eine rivalisierende Bande?«
»Wenn er redet, ist er höchstwahrscheinlich ein toter Mann.«
»Und noch immer keine Gebissfragmente oder Fingerabdrücke?«
»Nichts.«
LaManche fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, hob und senkte die Schultern und faltete dann die Hände im Schoß.
»Ich fürchte, wir schaffen es nie, alle Gewebeteile zuzuordnen.«
»Was ist mit einer DNS-Analyse?«
»Haben Sie die Namen Ronald und Donald Vaillancourt schon mal gehört?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Die Vaillancourt-Brüder, ›Le Clic‹ und ›Le Clac‹. Beide sind Vollmitglieder der Heathens. Einer von ihnen war vor ein paar Jahren in die Hinrichtung von Clauce ›Le Couteau‹ Dubé, ›Das Messer‹, verwickelt. Ich weiß nicht mehr welcher.«
»Die Polizei hält die Vaillancourts für die Opfer?«
»Ja.«
Die melancholischen Augen schauten in meine.
»Clic und Clac sind eineiige Zwillinge.«
Bis sieben Uhr an diesem Abend hatte ich alles untersucht bis auf das Video. Mit dem Vergrößerungsglas hatte ich mir unzählige Fotos angeschaut, die hunderte von Knochenfragmenten und blutigen Klumpen in unterschiedlichen Formen und Größen zeigten. Auf allen Bildern wiesen Pfeile auf gelbe und rote Klumpen, die im Gras lagen, an Ästen hingen und an Schlackesteinen, Glasscherben, Teerpappe oder Wellblech klebten.
Die Überreste waren in großen schwarzen Plastiksäcken in der Leichenhalle angekommen, von denen jeder eine Reihe von durchsichtigen Ziploc-Beuteln enthielt. Jeder dieser Beutel war nummeriert und enthielt Körperfragmente, Erde, Gewebe, Metall und nicht identifizierbaren Abfall. Die Autopsiefotos zeigten zunächst die ungeöffneten Säcke, dann die kleinen Plastikbeutel auf Autopsietischen und schließlich den nach Kategorien sortierten Inhalt.
Auf dem letzten Foto lag das Fleisch in Reihen ausgebreitet, wie auf der Verkaufstheke eines Metzgers. Ich erkannte Schädelstücke, das Fragment eines Schienbeins, einen Femurkopf und ein Stück Kopfschwarte mit einem intakten rechten Ohr. Einige Nahaufnahmen zeigten die gezackten Enden zersplitterter Knochen, andere Haare, Fasern und Stoffreste, die an Fleisch klebten. Die Tätowierung, die LaManche erwähnt hatte, war auf einem Hautstück deutlich zu erkennen. Sie zeigte drei Schädel und Knochenhände, die Augen, Ohren und Mund bedeckten. Die Ironie war nicht zu übertreffen. Dieser Kerl würde wirklich nichts mehr sehen, hören und sagen.
Nachdem ich mir die Fotos und Röntgenaufnahmen angesehen hatte, musste ich LaManche zustimmen. Auf den Fotos konnte ich Knochen erkennen, und die Röntgenbilder zeigten weitere. Damit konnte ich die anatomische Herkunft der Gewebeteile bestimmen. Aber den gesamten Fleischhaufen in zwei Brüder aufzuteilen würde sehr schwer werden.
Vermischte Leichen zu trennen ist immer schwierig, vor allem wenn die Überreste stark beschädigt oder unvollständig sind. Und noch viel problematischer wird es, wenn die Toten von gleichem Geschlecht, gleichem Alter oder gleicher Rasse sind. Ich hatte einmal Wochen damit zugebracht, die Knochen und das verwesende Fleisch von sieben männlichen Prostituierten zu untersuchen, die man in einem Verschlag unter dem Haus ihres Mörders gefunden hatte. Alle waren weiß und alle unter zwanzig. Bei der Identifikation war die DNS-Sequenzierung von unschätzbarem Wert gewesen.
In diesem Fall konnte es jedoch sein, dass mich diese Technik nicht weiterbrachte. Wenn die Opfer wirklich eineiige Zwillinge gewesen waren, dann war ihre DNS identisch.
LaManche hatte Recht. Es war sehr unwahrscheinlich, dass ich die Fragmente zwei unterschiedlichen Leichen würde zuordnen und jede mit einem Namen versehen können.
Mein Magen knurrte und erinnerte mich daran, dass es Zeit war aufzuhören. Ich schnappte mir meine Handtasche, zog den Reißverschluss meiner Jacke zu und ging nach draußen.
Zu Hause zeigte mir das blinkende Licht am Anrufbeantworter, dass ich eine Nachricht hatte. Ich breitete mein mitgebrachtes Sushi auf dem Tisch aus, riss eine Dose Diet Coke auf und drückte auf den Knopf.
Mein Neffe Kit fuhr zusammen mit seinem Vater von Texas nach Vermont. Sie wollten unbedingt wieder einmal etwas gemeinsam unternehmen und kamen deshalb in den Norden, um zu fischen, was man in den Binnengewässern im Frühling eben an den Haken bekommt. Da mein Kater den Platz und die Bequemlichkeit eines Wohnmobils der Effizienz des Fliegens vorzieht, hatten Kit und Howie versprochen, ihn bei mir zu Hause in Charlotte abzuholen und nach Montreal zu bringen. Die Nachricht lautete, dass sie mit Birdie am nächsten Tag ankommen würden.
Ich tauchte ein Maki-Röllchen in die Soße und steckte es mir in den Mund. Eben griff ich nach einem zweiten, als es an der Tür klingelte. Verwirrt ging ich zum Überwachungsmonitor.
Der Bildschirm zeigte Andrew Ryan, der in der Eingangshalle an der Wand lehnte. Er trug ausgewaschene Blue Jeans, Laufschuhe und eine Bomberjacke über einem schwarzen T-Shirt. Mit seinen eins fünfundachtzig, den blauen Augen und dem kantigen Gesicht sah er aus wie eine Kreuzung aus Cal Ripkin und Indiana Jones.
Ich sah aus wie Phyllis Diller vor ihrer Totalrenovierung.
Toll.
Mit einem Seufzen öffnete ich die Tür.
»Hey, Ryan. Was gibt’s?«
»Ich habe bei dir Licht gesehen und mir gedacht, dass du anscheinend schon zurück bist.«
Er musterte mich.
»Harten Tag gehabt?«
»Ich habe heute nichts anderes getan als Fliegen und Fleisch sortieren«, sagte ich entschuldigend und steckte mir dann die Haare hinter die Ohren. »Kommst du rein?«
»Kann nicht bleiben.« Ich sah, dass er seinen Piepser und seine Waffe trug. »Wollte nur mal fragen, ob du morgen zum Abendessen schon was geplant hast.«
»Ich muss morgen den ganzen Tag Bombenopfer sortieren, es kann also sein, dass ich am Abend ein bisschen geschafft bin.«
»Aber essen musst du trotzdem.«
»Essen muss ich trotzdem.«
Er legte mir eine Hand auf die Schulter und zwirbelte mit der anderen eine Strähne meiner Haare.
»Wenn du müde bist, können wir das Essen ausfallen lassen und uns einfach nur entspannen«, sagte er mit leiser Stimme.
»Hmm.«
»Unseren Horizont erweitern?«
Er strich mir die Haare zurück und fuhr mir mit den Lippen übers Ohr.
O ja.
»Klar doch, Ryan. Ich ziehe meine Reizwäsche an.«
»Da habe ich nie was dagegen.«
Ich bedachte ihn mit meinem »Schon gut«-Blick.
»Lädst du mich zum Chinesen ein?«
»Chinese ist gut«, sagte er, hob meine Haare an und verdrehte sie oben auf dem Kopf zu einem Knoten. Dann ließ er sie wieder fallen und legte die Arme um mich. Bevor ich etwas sagen konnte, zog er mich an sich und küsste mich. Seine Zunge umspielte die Ränder meiner Lippen und erkundete dann sanft meinen Mund.
Seine Lippen waren weich, seine Brust drückte sich hart gegen meine. Ich fing an, ihn wegzuschieben, merkte aber, dass ich das eigentlich gar nicht wollte. Mit einem Seufzen entspannte ich mich und schmiegte meinen Körper an seinen. Das Grauen des Tages verschwand, und in diesem Augenblick war ich sicher vor dem Wahnsinn der Bomben und der ermordeten Kinder.
Nach einer Weile brauchten wir beide Luft.
»Willst du nicht doch reinkommen?«, fragte ich, trat einen Schritt zurück und hielt die Tür auf. Meine Knie waren weich wie Wackelpudding.
Ryan sah auf die Uhr.
»Eine halbe Stunde wird schon nichts ausmachen.«
In diesem Augenblick ertönte sein Piepser. Er kontrollierte die Nummer auf dem Monitor.
»Scheiße.«
Scheiße.
Er hakte sich den Piepser wieder an den Gürtel.
»Tut mir Leid«, sagte er mit einem verlegenen Grinsen. »Du weißt, dass ich viel lieber –«
»Geh schon.« Mit einem Lächeln legte ich ihm die Hände auf die Brust und schob ihn sanft hinaus. »Bis morgen Abend. Halb acht.«
»Denk an mich«, sagte er, als er sich umdrehte und den Korridor hinunterging.
Als er verschwunden war, kehrte ich zu meinem Sushi zurück und dachte an nichts anderes als an Andrew Ryan.
Ryan gehört zur SQ, er ist Detective im Morddezernat, und gelegentlich arbeiten wir gemeinsam an Fällen. Obwohl er mir seit Jahren den Hof machte, hatte ich erst in jüngster Zeit angefangen, ihn auch privat zu treffen. Obwohl einige Selbstüberredung dazu nötig gewesen war, hatte ich mich schließlich seiner Betrachtungsweise angeschlossen. Streng genommen arbeiteten wir nicht zusammen, also traf meine Regel »Keine Affären im Büro« nicht zu, es sei denn, ich wollte es so.
Trotzdem machte dieses Arrangement mich nervös. Nach zwanzig Jahren Ehe und einigen nicht so erfreulichen als Single waren neue Beziehungen nicht mehr ganz einfach für mich. Aber ich genoss Ryans Gesellschaft, und so hatte ich beschlossen, einen Versuch zu wagen. »Mit ihm zu gehen«, wie meine Schwester sagen würde.
O Gott. Mit jemandem gehen.
Ich musste zugeben, dass ich Ryan verdammt sexy fand. Wie die meisten Frauen. Wohin wir auch gingen, immer merkte ich, dass die Frauen ihm nachsahen. Und sich mit Sicherheit ihre Gedanken machten.
Auch ich machte mir Gedanken. Aber in diesem Augenblick war das Schiff noch im Hafen, die Maschinen unter Dampf und fahrbereit. Meine Wackelpuddingknie bestätigten das. Essen in einem Restaurant war eindeutig die bessere Idee.
Das Telefon klingelte, als ich den Tisch abräumte.
»Mon Dieu, du bist wieder da.« Tiefes, kehliges Englisch mit starkem französischem Akzent.
»Hi, Isabelle. Was gibt’s?«
Obwohl ich Isabelle erst seit zwei Jahren kannte, standen wir beide uns ziemlich nahe. Ich hatte sie in einer schwierigen Lebensphase kennen gelernt. Im Verlauf eines tristen Sommers hatte ein gewalttätiger Psychopath es auf mich abgesehen, meine beste Freundin wurde ermordet, und ich war gezwungen, mir einzugestehen, dass meine Ehe gescheitert war. In einem Anfall von Selbstmitleid hatte ich ein Einzelzimmer in einem Club Med gebucht und war davongeflogen, um Tennis zu spielen und mich zu überfressen.
Isabelle lernte ich bereits auf dem Flug nach Nassau kennen, und später spielten wir Doppel zusammen. Wir gewannen, entdeckten, dass wir aus ähnlichen Gründen dort waren, und verbrachten eine vergnügliche Woche miteinander. Seitdem sind wir Freundinnen.
»Ich habe dich erst nächste Woche zurückerwartet. Ich wollte dir nur eine Nachricht hinterlassen, dass wir uns wieder mal treffen sollten, aber da du jetzt schon zu Hause bist, wie wär’s morgen mit Abendessen?«
Ich erzählte ihr von Ryan.
»Den solltest du dir warm halten, Tempe. Und falls du diesen chevalier je überhast, schick ihn zu mir, und ich gebe ihm was zum Nachdenken. Warum bist du so früh zurückgekommen?«
Ich berichtete ihr von dem Bombenattentat.
»Ah, oui, ich habe davon in La Presse gelesen. Ist es wirklich so grausig?«
»Die Opfer sind in keinem guten Zustand«, sagte ich.
»Les motards. Wenn du mich fragst, diese Motorradgangster kriegen nur, was sie verdienen.«
Isabelle hatte immer sehr feste Überzeugungen und zögerte nie, sie auch zu äußern.
»Die Polizei sollte diese Gangster sich einfach gegenseitig in die Luft jagen lassen. Dann müssten wir uns ihre dreckigen Körper mit ihren schmuddeligen Tattoos nicht mehr anschauen.«
»Hm.«
»Ich meine, es ist ja nicht so, dass sie kleine Kinder umbringen.«
»Nein«, entgegnete ich. »So ist es nicht.«
Am nächsten Morgen starb Emily Anne Toussaint auf ihrem Weg zur Ballettstunde.