Jörg Zink
Das offene
Gastmahl
Gütersloher Verlagshaus
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Coverfoto: © Lou Wall / Corbis
ISBN 978-3-641-10392-7
www.gtvh.de
Inhalt
Vorwort
I Die vielfache Feier gibt uns eine neue Freiheit
1 Die offene Vielfalt
2 Das katholische Sicherungssystem
3 Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern und das offene Gastmahl
II Jesus und sein kühner Wurf des offenen Gastmahls
4 Jesus feiert seine festlichen Mahlzeiten mit jedermann
5 Das Ziel ist der gesunde, der geheilte Mensch
6 Johannes erzählt von der Hochzeit zu Kana
7 Ein Wunder geschieht: Die Taschen gehen auf
8 Wer hat mehr Liebe als die große »Sünderin«?
9 Die Einladung ist die Vergebung
10 Hoffnung auf den sozialen Umbruch: Zachäus
11 Das Händewaschen ist überflüssig
12 Der Übergang zur Passion: die Salbung durch Maria
III Was spielt das offene Mahl in der feiernden Gemeinde für eine Rolle?
13 Paulus und die Auseinandersetzung mit der Gemeinde in Korinth
14 Das offene Mahl in der Didaché, einer urchristlichen Lehrschrift
IV Das Erbe einer langen Geschichte
15 Das offene Mahl wurde zum Merkzeichen der jungen Kirche
16 Das Abendmahl stellt uns die Frage: Wie hat die erste Gemeinde den Sinn des Leidens Jesu gedeutet?
17 All dies kann verbunden werden, etwa durch die Kunst des Festes
18 Reformbewegungen in der katholischen Kirche
V Das offene Gastmahl ist offen für jedermann
19 Einübung in die Dialogfähigkeit
20 Das prophetische Amt
21 Angehörige fremder Religionen können unsere Gäste werden
22 Texte fremder Religionen, die unsere Urteile über sie korrigieren
VI Das Fest des glücklichen, dankbaren Lebens
23 Unsere Einfälle haben alle Freiheit
24 Ausblick: Was ist ein Fest?
25 Wenn wir das offene Gastmahl feiern, sind wir selbst das Brot und der Wein
26 Gib der Fröhlichkeit Raum
VII Der Segen sei mit dir,wie immer du dieses Fest feierst
Vorwort
Über das heilige Mahl der Christen habe ich im Lauf meines Lebens immer wieder geredet. In vielen kleinen Büchern und Heften. Sie sind alle vergriffen. Nun liegt mir aber daran, dass ich alles noch einmal im Zusammenhang darstelle. Dabei ist mir auf meine alten Tage sehr neu klar geworden, dass wir von Jesus nicht eine heilige Mahlzeit haben, sondern deren mehrere. Zum einen das letzte Abendmahl, das die nächsten Freunde Jesu anging und das von ihrer Bereitschaft und Zuversicht redet, in der Nachfolge Jesu sich zu bewähren. Zum Zweiten das fröhliche Gastmahl, das Jesus mit den Armen und Ausgegrenzten von Galiläa gefeiert hat, bei dem es laut und lebhaft zuging, das Fest der Hochzeit Gottes mit seinem Volk. Und zum Dritten das Sättigungsmahl an den Mittagen und den Abenden.
Heute ist deutlich, dass die Kirche all dieser Feiern bedarf und sie nicht vermischen sollte, auch wenn es Übergangsformen zwischen ihnen gibt. Im Augenblick werden wir nicht viel daran ändern können, dass wir das gewichtige, in der Passionsgeschichte verwurzelte Abendmahl, das uns wie die Jünger Jesu fordert und uns sakramental an unsere Jüngerschaft bindet, nicht gemeinsam feiern können. Deshalb haben wir in den vergangenen Jahren auf Kirchentagen die Eucharistie verbunden mit Elementen des offenen Gastmahls zu einem »Feierabendmahl« für Christen aller Konfessionen. Das festliche, offene Gastmahl für jedermann, der daran teilnehmen will, ist aber ein noch viel weiter gefasstes Angebot, und so werden wir die verschiedenen Mahle voneinander lösen müssen: das Abendmahl, das wir in der Vertrautheit unserer Konfession allein feiern; die neuen, freien Formen der Eucharistie, die Christen aller Konfessionen einschließen können; und schließlich das vielfach festliche Gastmahl, das uns alle, auch Fremde und Außenseiter, miteinander verbindet. Von ihm soll in diesem Buch vor allem die Rede sein – als Anregung, selbst daran weiterzudenken.
Denn die vielen Kirchenaustritte zwingen jede Kirche dazu, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie künftig in der Mitte der Gesellschaft leben will, um nicht an ihren Rand wegzudriften. Wie sie künftig Werte vermitteln will, die andere nicht anzubieten haben. Das Thema der Kirche ist ihr Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit, mit dem sie sich aufstellen wird zu einer völlig neuen Bedeutung für die Menschen am Rand der Gesellschaft. Das meiste andere wird sie vergessen dürfen oder müssen.
Jörg Zink
I
Die vielfache Feier gibt uns eine neue Freiheit
1
Die offene Vielfalt
Wir haben Jahrzehnte einer lebendigen Hoffnung hinter uns. Vor fünfundsechzig Jahren, es war, als ich eben aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen war, da standen wir in einer benediktinischen Abtei und feierten die Eucharistie. Der Abt des Klosters, Bernhard Durst, neben ihm ein orthodoxer Bischof und einer der führenden Geistlichen der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hans Asmussen, feierten völlig selbstverständlich und einträchtig. In der großen Kirche standen Christen aller Konfessionen und empfanden, dies sei ein Anfang, aus dem die eine Kirche Jesu Christi hervorgehen werde. Der Geist des Abschottens und des Alleinrechthabens gehöre endgültig einer tristen Vergangenheit an. Und niemand empfand, dies geschehe gegen irgendeine Ordnung oder gegen irgendein theologisches Bedenken. Es war ein leidenschaftlicher Aufruf an einem strahlenden Osterfest. Das war es, was mich danach bewegte, mich der gemeinsamen Bemühung um die eine Kirche zu verpflichten. Endlich, so empfand ich, war die Kirche erwachsen geworden, die 2000 Jahre währende, zerrissene Kirche war geheilt.
Inzwischen ist die Welt voller Zäune, und es ist nicht zu sehen, an welchen Stellen sich ein Tor auftun könnte. Die ökumenischen Kirchentage ändern nichts, im Gegenteil, es besteht die Gefahr, dass sie wie potemkinsche Dörfer in der Landschaft stehen und verbergen, dass hinter ihren Fassaden die Steppe beginnt. Sie stehen auch mit all ihrem guten Geist in einer Sackgasse, aus der kein Weg weiterführt. Die Feier, die einst die Gemeinschaft unter den Christen um den einen Leib Christi repräsentieren sollte, mutiert unter unseren Augen mehr und mehr zum Zeichen des Rechthabens, der Abgrenzung und der Missachtung anderer Christen. Und es wird sich daran wenig ändern, es sei denn, es kehrte ein anderer, ein ganz neuer Geist im Hause des Papstes ein.
Wenn Katholiken und Protestanten miteinander feiern wollen – und dass sie das wollen, unterliegt keinem Zweifel –, dann können sie das nur gegen die katholische Kirchenordnung tun, immer mit dem Bewusstsein, Unerlaubtes zu begehen.
Es scheint eisern festzustehen: Eine evangelische Kirche gilt in Rom nicht als Kirche, sondern als christliche Gemeinschaft, und solange das gilt, ist es nötig, von dem Geist zu reden, der in dem aufwändigen Gemäuer bis heute und in alle Zukunft gilt und zu gelten hat. Es ist der Geist des Mehrseins, des Mehrhabens, des Mehrbedeutens, des Mehrglaubens. Es ist der Geist, der festhält, der ausschließt, der aburteilt, der auf alle Fälle recht hat. Es ist der Geist, der von oben herab auf alle Anderen blickt. Der Geist des Machthabens, des Machtstrebens, des Machtausübens. Es ist der Geist, der sagt: Wir haben in allen Dingen recht.
Damit kein falsches Bild entsteht: Ich habe unter den Laien und den Hierarchen der katholischen Kirche und aller anderen Kirchen unzählige Freunde. Sie sind für mich selbstverständlich die Glieder der einen Kirche. Es ist mir völlig gleichgültig, ob sie katholische oder freikirchliche oder reformierte oder lutherische Gewänder tragen. Die Konfessionen sind zu vergessen, sofern sie trennenden Sinn haben. Sie sind zu bewahren, sofern sie offen sind für das Leben und Glauben der anderen. Warum soll es nicht eine Kirche verschiedener Gruppen und Kirchen geben, solange ihre Besonderheit ihrem besonderen Geist Ausdruck gibt? Solange – das heißt: nur solange. Ich bin selbst gerne evangelisch. Aber der evangelische Charakter meines Glaubens und damit meine Zugehörigkeit zu einer Konfession sieht und sucht das Gemeinsame. Und diesen Auftrag will ich mir auf meine alten Tage nicht nehmen lassen.
Das heilige Mahl ist ein Gottesdienst von großer Einfachheit. Auf einem Tisch steht ein Teller mit Brot, daneben ein Glas mit Wein. Es verbindet die Menschen, die um den Tisch her stehen oder sitzen, zu einem schlichten Mahl. Ich wüsste nichts, was sie stärker miteinander verbinden könnte, was sie stärker bewegen und erfüllen könnte. Immer wieder brechen sie auf zu einem neuen Morgen und einem neuen Tag. Und immer wieder werden sie irgendwo einen Tisch mit Brot und einem Becher Wein finden. Christus wird ihnen versichern, sie würden mit ihm verbunden bleiben, auch und gerade, wenn die Geschichte jener Tage, die Geschichte der Passion, ihren Lauf nähme.
Sie werden sich erinnern an die Worte, mit denen er dieses Mahl gestiftet hat. Für sie aber wandelt sich ihr eigenes Leiden in das Zeichen der Nachfolge, die sie mit Jesus Christus fest und dauerhaft verbindet. Auch wenn vielleicht danach aus ihren großen Schwüren wenig wahr wird.
All das, was wir Christen dankbar aufnehmen, die Liebe des Christus in ihrem letzten Ernst, die Nähe Gottes, die lebendige Kraft des Geistes, unsere eigene Zugehörigkeit zu den Söhnen und Töchtern Gottes und die Zuversicht, dieses unser Leben werde in Kürze im bleibenden Leben enden, steht nun in diesem einfachen Bild vor uns: einem Tisch mit Brot und Wein. Und die Worte: Das bin ich. Ich gehe in Euch ein. Ihr gehört zu mir. Ihr gehört zusammen. Kommt und esst!
✴
Es ist lange her. Als ich nach fünf Jahren Krieg, dreiundzwanzigjährig, aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kam, begegnete mir – ich weiß nicht mehr auf welchem Wege – ein Gedicht. Ich wusste damals wie viele meiner Altersgenossen nicht, was ich in der plötzlichen Freiheit, die uns wie eine plötzliche Leere erschien, mit mir anfangen sollte, ob es etwa Ziele gebe, die sich lohnten, wo ich den Ort suchen sollte, an dem etwas wie Heimat war. Die zerstörten Städte spiegelten sich in der Ratlosigkeit, mit der wir in ihnen den Erinnerungen unserer Kindheit nachgingen. Und da fand ich ein Gedicht. Es war von Georg Trakl, dem jungen Dichter aus der Frühzeit des deutschen Expressionismus. Er hatte es geschrieben in ähnlicher Bedrängnis wie der unseren, zu Beginn des ersten Weltkriegs, ehe er während der Kämpfe bei Bialystok mit siebenundzwanzig Jahren ums Leben kam. Es spricht von einer Heimkehr:
Ein Winterabend
Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
lang die Abendglocke läutet,
vielen ist der Tisch bereitet
und das Haus ist wohlbestellt.
Mancher auf der Wanderschaft
kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
aus der Erde kühlem Saft.
Wanderer, tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
auf dem Tische Brot und Wein.
GEORG TRAKL (1887–1914)
Es berührte mich sehr fremd in seiner Traurigkeit und heimlichen Hoffnung, auch wenn mich seine Schönheit und die Sprache seiner Bilder ergriff. »Schmerz versteinerte die Schwelle.« So müde, so ohne Zugang zum lebendigen Leben standen wir damals vor dem Tor und wussten nicht, was wir uns davon erhoffen sollten, wenn wir eintreten würden.
Das Gedicht beginnt wie eines der vielen abendlichen Lieder mit Fenster und Schnee und Abendglocke. Ein Wanderer kommt »auf dunklen Pfaden«. Aber dann folgt eine Wendung. Da blüht, mitten im Winter, ein »goldener Baum« »aus der Erde kühlem Saft«. Eine Tür öffnet sich. Der Wanderer hört die Einladung, den Fuß über die Schwelle zu setzen. Das Mysterium von Haus und Tisch, von Licht und Wärme, von Brot und Wein leuchtet auf. Der »Baum der Gnade« zeigt den Zugang.
Georg Trakl, der tief in der christlichen Gedanken- und Bilderwelt seiner österreichischen Heimat verwurzelt war, spricht von der Eucharistie, dem heiligen Mahl. Die Kirche ist ihm offenbar etwas wie ein Gasthof am Wege, in dem die dunklen Wanderungen der Menschen zu einem zeitweiligen Ziel und zur Ruhe kommen. Als Gäste treten sie ein. Drinnen stehen die Helfer des Hausherrn, die ihren Dienst tun, sie zu empfangen und zu bewirten und dabei darauf zu achten, dass jeder von ihnen einen Platz findet an einem Tisch. Als Zeichen der Einladung aber steht vor dem Eingang der Baum. Vielleicht hätte Trakl die Kirche als »Wirtshaus zum goldenen Baum« beschrieben.
Die ersten Christen sahen ihr Leben und ihren Auftrag als eine Wanderung. Sie nahmen eine sehr einfache Wegzehrung mit, Brot und Wein. Sie versammelten sich, boten sie einander an und wussten: Wir gehören zusammen. In dieser einfachen Wegzehrung ist uns der nahe, der uns führt, begleitet und behütet.
Und immer wieder wird dieses Mahl an den Abend erinnern, an dem Jesus Christus seine nächsten Freunde versammelte, um von ihnen Abschied zu nehmen und ihnen zu versichern, sie würden mit ihm verbunden bleiben auch, wenn die Geschichte der Passion ihren Lauf nähme.
Und wir fragen uns, was es denn bedeuten könnte, dass Christus auch auf die ganz andere Art, ein Fest zu feiern, unter uns ist: in der Gestalt des fröhlichen, galiläischen Festes, das keine Grenzen für seine Gäste kennt und keinen Außenseiter.
2
Das katholische Sicherungssystem
Durch zweitausend Jahre hin bauten die Christen die gastlichen Häuser, ihre Kirchen und Dome und Kathedralen. Dort liegt nun auf dem Tisch das Brot. Dort steht der Krug mit Wein. Und sie feiern die Ruhe, die Geborgenheit, sie feiern das Essen, sie nehmen sich Zeit, erzählen einander, singen und musizieren miteinander. Sie sprechen ihren Dank aus. Sie segnen einander und verlassen den festlichen Raum, um draußen ihren Weg fortzusetzen. Wenn wir hier allerdings die Kirche als ein Gasthaus verstehen, dann kann an ihr nicht der monumentale Bau das Wichtige sein, nicht der feierliche Raum und nicht der Schmuck. Wichtig ist das Kommen und Gehen, die Begegnung, das Reden, das Hören, das Gespräch. Der einfache Tisch. Aber das schlichte Essen deutet uns den ganzen Hintergrund hinter den Wegen und den Schicksalen der versammelten Menschen. Es zeigt, was sie am Leben hält auf ihren Wegen über diese Erde. Es zeigt das Ziel an, auf das sie am Ende zugehen: das Haus und den Tisch des Vaters.
Wenn ich hier für die kurze Zeit, in der Sie dieses Buch lesen, sozusagen als Wirt unter der Tür stehe und Sie willkommen heiße, dann frage ich Sie nicht, ob Sie katholisch seien oder evangelisch oder vielleicht noch etwas anderes. Sie kommen, und Sie sind mein Gast und Hausgenosse. Ich höre Jesus sagen: »Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen« (Johannes 6,27), und versuche, ein wenig ihm, dem großen Gastgeber, seiner Liebe und seiner Freiheit ähnlich zu sein.
Natürlich wissen Sie, mindestens der Spur nach, was in einer Feier der Eucharistie oder des Abendmahls geschieht. Es steht ein Kelch mit Wein auf dem Altar, ein flacher Teller mit Brotstücken oder Oblaten. Ein Mann oder eine Frau spricht die uralten, immer gleichen Worte. Er oder sie lädt ein, verteilt, spricht einen Segen. Aber viel bleibt undeutlich. Was ist das nun, dieses Brot, das da ausgegeben wird? Wie ist das mit der Vergebung der Sünden, von der da gesprochen wird? Was meint dieses Bekenntnis zum »dreieinigen Gott«? Was ist mit dem »Lamm« gemeint, das »der Welt Sünde trägt«? Fragen begleiten uns von Anfang bis Ende.
Und worauf geht das Ganze zurück? Wie kam es dazu? Das wissen wir, jedenfalls so klar, wie man etwas lange Vergangenes wissen kann. Am Abend vor seinem Tod versammelte Jesus seine Freunde zu einem Essen. Dabei zeigte er ihnen ein Stück Brot und sagte: »Das bin ich.« Er bot Wein an mit den Worten: »Das bin ich.« Er erklärte nicht, wie er das meine. Er gibt keine Deutung. Was aber diese beiden kurzen Worte sagen wollen, darüber machen sich die Christen seit jenem Anfang ihre Gedanken. Wie soll man sich das vorstellen? Kommt irgendetwas zum Brot hinzu? Verwandelt sich etwas an ihm? Ist es symbolisch gemeint? Aber was mag es bedeuten, wenn wir von einem Symbol reden? Immer wieder hat die Christenheit eine Deutung versucht, und um diese Deutungen geht bis heute das Gespräch, bisweilen auch der Streit.
Alle Deutungen sind Versuche. Sie werden in unseren menschlichen Köpfen angestellt. Sie sind nicht die Sache selbst. Wir haben ja nur das kurze Wort: Das bin ich. Deutungen wandeln sich in langen Zeiträumen. Sie sind verschieden von Ort zu Ort, und keine von ihnen wird die ganze Wahrheit jemals einfangen können. Manche von ihnen führen näher zur Mitte, andere führen ins Abseits, und nie werden wir der Wahrheit näher kommen, als die gewagten Versuche unseres Menschengeistes es vermögen. Auch was ich in diesem Buch versuche, ist eine Deutung. Es ist die meiner Kirche und es ist meine persönliche, die sich mir in vielen langen Gesprächen mit Christen aus vielen Kirchen ergeben hat. Zuletzt aber wird es für Sie selbst darauf ankommen, dass Sie mit Hilfe Ihres eigenen Nachdenkens der Wahrheit näherkommen und dass Sie das Vertrauen finden, es werde Ihnen hier etwas gegeben, das Ihnen zum Leben hilft. Dass Sie essen und trinken und danach Ihren Weg finden. Dass Ihnen mit dem heiligen Mahl ein Symbol von großer Tiefe und Kraft gegeben ist.
Es ist nichts zu hoffen, solange die katholische Kirche sich Regeln gibt, die so festzementiert in der Landschaft stehen wie die ihren. Ihr Sicherungssystem, an dem jeder Appell einer anderen Kirche zerschellen wird, hat zwölf Punkte:
Es ist ein vollkommenes Sicherungssystem, und wer mit einer Kirche, die so gefügt ist, glauben und wirken will, kann nicht das eine bejahen, das andere verneinen. Es ist ein System, mit Hilfe dessen Geschlossenheit demonstriert und Macht ausgeübt werden kann. Wir sagen freilich sofort das andere: Der weit überwiegenden Mehrzahl der geistlichen Würdenträger der katholischen Kirche tun wir schweres Unrecht an, wollten wir sagen, es gehe ihnen primär um Macht. Auch unter den Bischöfen dieser Kirche bis hin zu Päpsten vom Rang eines Johannes XXIII. wird ganz anders, geistlicher, offener und freundlicher gedacht, als dieses Sicherungssystem es vorschreiben will, und es ist einfach die Frage, ob diese Kirche in erster Linie dogmatisch denken will oder geistlich, ob sie gesichert stehen will oder ohne Sicherung auf einem Weg sein.
Es ist auch eine Frage der Gerechtigkeit, ob wir die katholische Kirche als allein schuldig an der Unsitte des Aussperrens anderer ansehen. Auch manche evangelische Kirche oder gar Sekten aller Art sind gegen diese Sucht nach Sicherheit nicht gefeit, und manche evangelische Kirche vollzieht diesen Absperrmechanismus auf ihre Weise bis zum heutigen Tag nach. Nur eben: Was sie dann tun, wirkt auf den, der es von außen sieht, nicht so sehr logisch und zwingend, sondern eher wie ein theologisches Laienspiel. Es ist einfacher. Aber es ist nicht besser.
Denn auch den evangelischen Kirchen geht es sehr entschieden um ihre Sicherheit. Nur sind die Lösungen, die sie dafür fanden, weniger vollkommen. Was man sich im 16. Jahrhundert dazu ausgedacht hat und danach fünfhundert Jahre lang festhielt, sichert zwar nicht die Lehre oder die Struktur der evangelischen Kirche, wohl aber sehr wirksam ihren Bestand.
Eines der Elemente jener Sicherung wurde auf der Basis der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse entwickelt. Man nannte es die »Zweireichelehre«. Dafür wurden zunächst die Funktionen des Staats und der Kirche reinlich voneinander getrennt. Dagegen kann man nichts einwenden. Der wechselseitigen Übergriffe gab es genug. Aber nun sprach man davon, Gott regiere die Welt auf zwei verschiedenen Wegen: Durch den Staat regiere er das äußere, das praktische Leben, durch die Kirche regiere er die Gewissen. Man sprach von »zwei Reichen«, dem Reich zur Rechten Gottes, der Kirche, und dem Reich zu seiner Linken, dem Staat. In allen politischen Dingen gehorche der Christ darum seiner Obrigkeit, dem Magistrat oder dem Fürsten als den Werkzeugen Gottes. In den geistlichen Dingen gehorche er dem Wort Gottes, das heißt der Kirche.
Das hat bewirkt, dass sich der christliche Glaube auf die Privatsphäre der Menschen zurückzog. Denn da der Staat ja von Gott eingesetzt war und die Fürsten von Gottes Gnaden regierten, erhob sich der Christ gegen Gottes Ordnung, wenn er seinem Staat oder seinem König widerstand. So gewann der Protestantismus im Lauf der Neuzeit ausgesprochen privatistische Züge, und die Kirche wurde für den Staat zum willfährigen Instrument, das die Moral und das staatsbürgerliche Verhalten des Einzelnen zu ordnen und in Schranken zu halten mithalf.
Weil der Christ also zu staatstreuem Verhalten verpflichtet war, wurde er, sobald er dem Staat gegenüber drohte aufsässig zu werden, von seiner eigenen Kirche gemaßregelt. Was dem sogenannten »linken Flügel« der Reformation widerfuhr, was den evangelischen Freikirchen, was dem Widerstand im Dritten Reich, was der Friedens- und Ökologiebewegung der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, liest sich wie ein Bilderbuch dieser »Zweireichelehre«.
Noch um die Wende zum 20. Jahrhundert konnte ein Pfarrer, der der sozialdemokratischen Partei beitrat, also den »vaterlandslosen Gesellen«, sein kirchliches Amt verlieren. So Blumhardt. Als am Anfang der Hitlerzeit Widerstand gefordert war gegen den Unrechtsstaat, tat man sich ungeheuer schwer damit. Man hatte es nie geübt, man hatte keine Erfahrung damit. Und es ist ja bekannt, dass unsere offiziellen Kirchen im Dritten Reich sich von denjenigen unter ihren Pfarrern, die in irgendeinem Sinn Widerstand leisteten, in aller Regel ferngehalten haben – so, als dürften sie nicht Gefahr laufen, mit solcherlei Chaoten verwechselt zu werden. Der Orden, den sich die Kirchen nach dem Krieg mit ihrer Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer an die Brust hefteten, stand ihnen auf keine Weise zu. Immerhin hat sogar die Bekennende Kirche es damals abgelehnt, Dietrich Bonhoeffer auf ihre Fürbittenlisten zu setzen.
Dies alles, so sagte ich, war in seinem Kern ein Sicherungssystem für die Kirche. Mit diesem System, das den Interessen der Fürsten entgegenkam, hat die Reformation Luthers sich in Deutschland durchgesetzt, und durch die ganze Neuzeit hindurch haben die Staaten mit evangelischer Bevölkerung diese Kirche jederzeit gerne geschützt, privilegiert und mit Geld ausgestattet. Es funktioniert denn auch bis zum heutigen Tag. Es gilt eben bis heute, was wir in Luthers Katechismus lesen, dass man »Eltern und Herren (!) nicht verachten noch erzürnen« dürfe! Und so war denn auch niemand so vaterlandstreu und kaiserfromm wie ein preußischer Protestant um die Wende zum 20. Jahrhundert.
Vielleicht konnte eine solche Lehre im Notfall angehen, solange die Gesellschaft sich hälftig in Staat und Kirche teilen ließ, sie wird aber zum vollendeten Unsinn in dem Augenblick, in dem eine Gesellschaft entsteht wie die unsere, die lebendig ineinander verwoben ist in hundert Verbände, Interessengruppen, staatliche und halbstaatliche Organe, kulturelle Einrichtungen, Forschungsgruppen, Gewerkschaften, Parteien und – ja bitte: Kirchen, und zwar in der Mehrzahl. Eine Kirche ist heute eine Gruppe der Gesellschaft wie andere, wirkt mit im Spiel des Ganzen und redet mit im Gespräch oder Disput des Ganzen. Eine Kirche tut heute gut daran, sich mit der Menge der Verbände aller Art detailliert und intensiv zu vernetzen. Das einsame Gegenüber von Staat und Kirche besteht so nicht mehr.
Als ich einem Kollegen gegenüber davon sprach, wandte er sich erschreckt: »Aber eine Festung verteidigt man doch, solange man sie halten kann!« Genau das meine ich.