„Weathering With You“ von Makoto Shinkai

Aus dem Japanischen von Cordelia Suzuki

Originaltitel: „Tenki no Ko“



Originalausgabe:

Weathering With You

© Makoto Shinkai

© 2019 TOHO CO., LTD. / CoMix Wave Films Inc. / STORY inc. / KADOKAWA

CORPORATION / East Japan Marketing & Communications, Inc. / voque ting

co., ltd. / Lawson Entertainment, Inc.


Deutsche eBook-Erstausgabe erschienen bei

© Egmont Manga.digital

verlegt durch Egmont Verlagsgesellschaften mbH,

Alte Jakobstraße 83, 10179 Berlin


Verantwortliche Redakteurin: Katharina Altreuther

Textbearbeitung: Etsche Hoffmann-Mahler

Gestaltung: Sonnenfisch Production – Laura Bartels

Koordination: Manuela Rudolph

eBook: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG, Köln

ISBN 978-3-86458-454-1



www.egmont-manga.de


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Prolog

Die Geschichte, die du mir erzähltest

Das Schiffshorn hallt durch den verregneten Märzhimmel und kündigt das Ablegen der Fähre an. Schwere Schwingungen breiten sich über den gewaltigen Schiffsrumpf aus und drücken ihn durch das Meerwasser.

Ich habe ein Ticket für den Gemeinschaftsraum der zweiten Klasse unten im Schiffsbauch. Die Überfahrt dauert etwas über zehn Stunden, am Abend sollen wir ankommen. Es ist für mich das zweite Mal, dass ich auf diese Weise nach Tokio fahre. Ich stehe auf und begebe mich zur Treppe, die zum Oberdeck führt.

Was vor zweieinhalb Jahren in Tokio passiert war, hatte dazu geführt, dass in der Oberschule verschiedenste Gerüchte über mich kursierten. „Der Typ soll vorbestraft sein.“ „Ich hab gehört, dass er immer noch von der Polizei verfolgt wird.“

Es störte mich gar nicht so sehr, dass man über mich tratschte (schließlich gab es dazu allen Grund), doch was in diesem Sommer in Tokio wirklich passiert war, erzählte ich niemandem auf der Insel. Bruchstücke, ja, aber die wirklich wichtigen Dinge verriet ich weder meinen Eltern noch meinen Freunden. Nicht einmal der Polizei. Mit den Ereignissen dieses Sommers tief in meinem Herzen mache ich mich nun noch einmal auf nach Tokio. Doch dieses Mal, mit achtzehn Jahren, um dort zu leben.

Um diesen einen Menschen noch einmal wiederzutreffen. Bei diesem Gedanken spüre ich Hitze in meinem Brustkorb aufsteigen. Meine Wangen fangen an zu glühen. Ich will die Meeresluft spüren und laufe immer schneller die Treppe hinauf. Als ich auf das Oberdeck trete, schlägt mir kalter Regen ins Gesicht. Als wollte ich ihn aufsaugen, nehme ich einen tiefen Atemzug. Der Wind ist zwar noch kühl, doch es liegt schon spürbar Frühling in der Luft. Mit einem Mal – als wäre mein Herz erst mit Verzögerung darüber informiert worden – wird mir bewusst, dass ich endlich meinen Oberschulabschluss in der Tasche habe. Ich stütze meine Ellenbogen auf der Reling ab und beobachte, wie die Insel immer kleiner wird. Mein Blick wandert hoch zu dem stürmischen Himmel, wo unzählige Regentropfen tanzen, so weit das Auge reicht.

Und genau in diesem Moment läuft mir ein Schauer über den gesamten Körper.

Schon wieder. Instinktiv schließe ich die Augen und bleibe regungslos stehen. Der Regen schlägt mir ins Gesicht und sein Prasseln hallt in meinen Ohren. In diesen zweieinhalb Jahren war der Regen immer dort. So wie ein Herzschlag nicht erlischt, egal, wie sehr man auch den Atem anhält. So wie die Augenlider auch dann nicht für komplette Finsternis sorgen, wenn man sie fest zukneift. So wie die Seele auch selbst im ruhigsten Moment nicht zum Schweigen kommt.

Ich atme langsam aus und öffne die Augen.

Regen.

Die schwarze Meeresoberfläche wogt, so als würde sie atmen, und nimmt den Regen vollständig in sich auf. Als hätten sich Himmel und Meer verschworen und würden zum Spaß den Meeresspiegel immer weiter anheben. Ich bekomme Angst. Tief aus dem Innersten meines Körpers steigt ein Zittern in mir auf, das mich fast zu zerreißen scheint. Ich klammere mich an die Reling und atme tief durch die Nase ein. Und dann denke ich wieder an diesen einen Menschen, so wie ich es immer tue. Ich denke an ihre großen Augen, ihre lebhafte Mimik, den kullernden Klang ihrer Stimme und ihre zu zwei Zöpfen gebundenen Haare. „Alles wird gut“, sage ich mir. Es gibt sie. Sie lebt in Tokio. Solange es sie gibt, habe ich einen festen Halt in dieser Welt.

„Also weine bitte nicht, Hodaka.“

Das hatte sie in dieser Nacht gesagt. In dem Hotel in Ikebukuro, in das wir uns geflüchtet hatten. Wo der Regen auf das Dach prasselte, so als würde jemand in der Ferne eine Taiko-Trommel schlagen.

Der Duft des Shampoos, das ich auch benutzt hatte, der sanfte Klang ihrer Stimme, als sei sie mit allem im Reinen, und ihre in der Dunkelheit blassblau schimmernde Haut: Das alles sehe ich so deutlich vor mir, dass mich das Gefühl überkommt, ich wäre noch immer dort. Als würden wir in Wirklichkeit nach wie vor auf dem Hotelbett liegen und ich hätte nur kurz, wie ein plötzliches Déjà-vu, meine gestrige Abschlussfeier und diese Fähre vor meinen Augen aufflackern sehen.

Wir würden am nächsten Morgen aufwachen, der Regen hätte aufgehört, sie würde an meiner Seite sein und auf der Welt würde unverändert ein neuer Alltag anbrechen.

Das Schiffshorn stößt ein grelles Tuten aus.

Nein, ich bilde mir das hier nicht ein. Ich nehme das kühle Metall des Geländers wahr, den Duft des Meeres und die am Horizont verschwindende Insel. Das hier ist die Realität. Diese Nacht liegt schon lange zurück und ich stehe jetzt hier, auf dieser schaukelnden Fähre. Denk genau nach. Wie hat das alles angefangen? Versuch dich zu erinnern. Ich starre in den unaufhörlich fallenden Regen. Bevor ich sie wiedersehe, muss ich begreifen, was
uns damals passiert ist. Nein, selbst wenn ich es nicht begreife, muss ich wenigstens alles noch einmal im Kopf durchgehen.

Was war uns damals widerfahren? Was für eine Entscheidung hatten wir getroffen? Und mit welchen Worten sollte ich ihr jetzt gegenübertreten?

Alles begann – ja, wahrscheinlich an diesem einen Tag. Als sie es zum ersten Mal mit eigenen Augen sah. Mit diesem Ereignis, von dem sie mir erzählt hatte, nahm alles seinen Lauf.

Ihre Mutter hatte schon seit mehreren Monaten nicht mehr die Augen geöffnet. Das kleine Krankenhauszimmer war erfüllt von dem gleichmäßigen Piepen des Herzmonitors, dem rhythmischen Rauschen des Beatmungsgerätes und dem beharrlichen Trommeln des Regens an der Fensterscheibe. Es hatte diese stille, von der Außenwelt abgeschnittene Atmosphäre, wie sie solchen Räumen mit Langzeitpatienten zu eigen war.

Sie saß auf dem runden Stuhl neben dem Bett und hielt die knochig gewordene Hand ihrer Mutter fest gedrückt. Ihre Augen ruhten auf der sich regelmäßig beschlagenden Sauerstoffmaske und den Wimpern, die sich kein Stück rührten. Sie spürte, wie die Angst sie zu überwältigen drohte, und begann kurzerhand zu beten. Sie betete, dass ihre Mutter wieder die Augen öffnen möge. Dass wie ein Retter in der Not ein kräftiger Windstoß kommen und all die Traurigkeit, die Sorgen und die Regenwolken wegblasen würde, alles, was so dunkel und schwer war. Und sie noch einmal zu dritt als Familie unter dem blauen Himmel unbeschwert lachen könnten.

Ein leichter Luftzug erfasste ihre Haare und ein Plätschern drang in ihre Ohren. Sie hob das Gesicht. Die Gardinen, die bis eben noch fest geschlossen waren, wehten nun sanft. Es war, als würde der Himmel ihren Blick auf sich ziehen wollen. Mit einem Mal war die Sonne zu sehen. Zwar regnete es nach wie vor in Strömen, doch in den Wolken hatte sich eine kleine Lücke aufgetan, durch die ein langer, schmaler Sonnenstrahl auf die Erde herabfiel.

Sie starrte nach draußen. Dort reihte sich ein Hochhaus an das andere, so weit der Blick reichte. Nur das Dach eines einzelnen Gebäudes war in Sonnenlicht gegossen wie ein Schauspieler im Rampenlicht. Ehe sie sich’s versah, war sie aus dem Krankenhauszimmer gelaufen, als hätte sie jemand gerufen.

Das Gebäude schien schon länger leer zu stehen. Mit seiner verwitterten bräunlichen Fassade wirkte es inmitten der strahlend neuen Hochhäuser wie aus der Zeit gefallen. Zahllose verblasste Schilder erinnerten an die kleinen Läden, die sich hier einmal aneinandergereiht haben mussten. „Billard“ war dort noch zu lesen, „Eisenwaren“, „Aalspezialitäten“ oder „Mah-Jongg“.

Sie blickte durch ihren transparenten Plastikregenschirm nach oben und es bestand kein Zweifel: Der Sonnenstrahl fiel exakt auf das Dach dieses Gebäudes. Vorsichtig begann sie die verrostete Feuertreppe an der Außenseite hinaufzusteigen.

Als hätte das Sonnenlicht eine Pfütze gebildet. Oben angekommen betrachtete sie staunend den Anblick, der sich ihr bot. Das Dach war von einem Geländer eingefasst und ungefähr halb so breit wie ein 25-Meter-Schwimmbecken. Zwischen den rissigen Bodenfliesen wucherte überall grünes Unkraut. Und ganz am anderen Ende des Dachs stand still und leise ein Torii, umrankt von Büschen, die es geradezu zu umarmen schienen.

Der Sonnenstrahl, der zwischen den Wolken hervortrat, fiel genau auf dieses Torii, dessen Rot gemeinsam mit den Regentropfen im Scheinwerferlicht der Sonne um die Wette funkelte. Es war der einzige lebhafte Farbtupfer in der vom Regen getrübten Welt.

Sie schritt langsam über das Dach auf das Tor zu. Das feuchte Unkraut federte weich unter ihren Füßen und raschelte bei jedem Schritt leise. Hinter dem dichten Vorhang aus Regen konnte man die unzähligen Hochhäuser erahnen, die sich zum Himmel reckten. Das Zwitschern kleiner Vögel, die hier zu nisten schienen, erfüllte die Umgebung. Darunter mischte sich wie ein Klang aus einer gänzlich anderen Welt das entfernte Rattern der Yamanote-Bahn.

Sie legte den Regenschirm auf dem Boden ab. Der kalte Regen strich über ihre weichen Wangen. Hinter dem Torii befand sich ein kleiner steinerner Schrein, um den herum violette Blumen blühten. Dazwischen verbargen sich zwei Dekorationen, wie man sie zum Ahnenfest Obon aufstellt: symbolische Lastentiere aus Gurke und Aubergine, die mit schmalen Bambusstäben zusammengesteckt waren. Irgendjemand musste sie hier platziert haben. Instinktiv begann sie die Hände zu falten und intensiv zu beten. Ich wünsche mir, dass der Regen aufhört. Sie schloss langsam die Augen und trat betend durch das Tor. Ich wünsche mir, dass Mama die Augen wieder aufmacht und wir gemeinsam im Sonnenschein spazieren gehen können.

In dem Moment, in dem sie das Tor durchschritt, veränderte sich die Atmosphäre. Das Rauschen des Regens höre schlagartig auf.

Sie öffnete die Augen und fand sich plötzlich hoch oben im blauen Himmel wieder, wo sie von einem starken Wind getragen wurde. Doch nein – sie schwebte gar nicht, sie fiel. Der Wind wirbelte mit einem tiefen Pfeifen um sie herum, wie sie es noch nie gehört hatte. Beim Ausatmen gefror ihr Atem weiß und glitzerte in der dunkelblauen Umgebung. Doch Angst verspürte sie nicht. Es war ein unerklärliches Gefühl, so als würde sie mit offenen Augen träumen.

Als sie zu ihren Füßen hinunterblickte, sah sie dort unzählige Quellwolken schweben, die riesigen Blumen­kohl­blüten glichen. Jede einzelne von ihnen war bestimmt mehrere Kilometer groß und sie erstreckten sich wie ein prächtiger Wald im Himmel.

Mit einem Mal fiel ihr auf, dass die Wolken ihre Farbe verändert hatten. Ihre Oberfläche war in Wirklichkeit flach und grün gesprenkelt wie eine große Wiese. Erstaunt riss sie die Augen auf.

Vor ihr lag tatsächlich weites Grasland. Auf der Seite der Wolken, die man von der Erde aus nicht sehen konnte, schien kräftiges Grün zu sprießen und an anderen Stellen wieder zu verblassen. Und dann fiel ihr auf, dass rundherum irgendetwas, das aussah wie winzige Lebewesen, in Schwärmen zusammenzukommen schien.

„… Fische?“

Geometrische Strudel zeichnend schlängelten sich die Schwärme gemächlich durch den Himmel. Sie hielt ihren Blick während ihres Falls fest darauf gerichtet. Auf dieser Ebene über den Wolken schwammen tatsächlich unzählige kleine Fische!

Plötzlich streifte etwas ihre Fingerspitzen. Sie zuckte zusammen und schaute auf ihre Hand. Ja, das waren Fische! Die durchsichtigen Körper glitten zwischen ihren Fingern und Haaren hindurch wie ein Wind, dem eine gewisse Schwere beiwohnt. Einige von ihnen hatten lange Schwanzflossen, die sich hin und her wogten, andere waren rund wie Quallen, und wiederum andere waren schmal und länglich wie Reiskärpflinge. Im Licht der Sonne schillerten ihre transparenten Körper wie Kristalle in allen Farben des Regenbogens. Mit einem Mal war sie von den Fischen im Himmel umgeben.

Das Blau des Himmels, das Weiß der Wolken, das satte Grün und die farbenfroh funkelnden Fische – sie befand sich in einer rätselhaften, aber wunderschönen Himmelswelt, von der sie noch nie gehört hatte und die außerhalb ihrer Vorstellungskraft lag. Nur einen Moment später löste sich die Regenwolke zu ihren Füßen auf und legte den Blick auf das große, weite Stadtbild Tokios frei. Gebäude für Gebäude, Auto für Auto, Fensterscheibe für Fensterscheibe erstrahlten stolz im Schein der Sonne. Sie fiel, von einem sanften Wind getragen, langsam in die Stadt hinab, die vom Regen reingewaschen und wie neugeboren wirkte. Nach und nach breitete sich in ihrem ganzen Körper ein rätselhaftes Gefühl der Zugehörigkeit aus. Sie spürte, dass sie ein Teil dieser Welt war, und dieses Gefühl war schon da, bevor sie es in Worte fassen konnte. Sie war der Wind, das Wasser, sie war das Weiß, das Blau, sie war Seele und Wunsch. Ein seltsames Glücksgefühl und ein süßer Schmerz machten sich in ihrem ganzen Körper breit. Und ganz langsam, so als würde sie in eine dichte weiche Decke gehüllt werden, verlor sie das Bewusstsein …

„Diese Landschaft und alles, was ich damals gesehen habe, war wahrscheinlich bloß ein Traum“, hatte sie damals zu mir gesagt.

Aber es war kein Traum. Das wissen wir jetzt. Denn wir haben danach noch einmal gemeinsam dieselbe Landschaft mit eigenen Augen gesehen. Diese Welt über den Wolken, von der sonst niemand wusste.

Sie und ich, wir hatten den Sommer damals zusammen verbracht. Und dort, hoch oben im Himmel über Tokio, haben wir die Form der Welt unwiderruflich verändert.