Die Autorin

Ellison Cooper – Foto © Michael Soo

Ellison Cooper promovierte in Anthropologie. Sie spezialisierte sich dabei im Bereich kulturelle Neurowissenschaften und Archäologie. Ihre wissenschaftlichen Publikationen erschienen in zahlreichen anerkannten Zeitschriften. Sie studierte außerdem Jura an der Georgetown University und arbeitete als Mordermittlerin beim Washington, D.C. Public Defender Service, wo sie Einblick in das System der Kriminaljustiz erhielt. Mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt sie in der San Francisco Bay Area.
Von Ellison Cooper ist in unserem Hause bereits erschienen:
Todeskäfig

Das Buch

Senior Special Agent Sayer Altair vom FBI weiß, wie Mörder denken. Sie beherrscht ihren Job wie keine andere. Doch die Ermittlungen im letzten Fall haben Sayer an ihre Grenzen gebracht: Sie wurde in einer Schießerei schwer verletzt und war monatelang an den Schreibtisch gefesselt.
Als ein Polizeihund im Shenandoah Nationalpark ein Massengrab aufspürt, werden alle Einsatzkräfte gebraucht, und Sayer darf endlich wieder ermitteln. Schnell wird klar, dass die Knochen bereits viele Jahre in der Grube liegen, zwei Leichen jedoch erst wenige Tage alt sind. Als Sayers Kollegin, die Rechtsmedizinerin Dana Wilbanks, die Toten im UV-Licht untersucht, findet sie eine mit Speichel geschriebene Botschaft auf einem der beiden Körper: »Helft uns«. Die DNA-Spur führt zu einer Mutter und ihrer Tochter, die in der Gegend entführt wurden. Sayer sucht fieberhaft nach einer Verbindung zwischen den Fällen, um Frau und Kind zu retten. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Ellison Cooper

Knochengrab

Thriller

Aus dem Amerikanischen
von Sybille Uplegger

Ullstein

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www.ullstein-buchverlage.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch
1. Auflage Januar 2020
© für die deutsche Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
© 2019 by Ellison Cooper
Published by Arrangement with Ellison Cooper
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Buried
(Minotaur Books, St. Martin’s Press, New York)
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®, München (Wald + Schrabbel); © Reilika Landen / arcangel images (Frauenkörper); © Joana Kruse / arcangel images (Frauenkopf)
Autorenfoto: © Michael Soo
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Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2137-0

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Widmung

Für meinen Sohn Grayson, der mich jeden Tag aufs Neue lehrt, was es heißt, ein Leben in Kühnheit und Liebe zu leben.

 

Turk Gap Trail, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Maxwell Cho genoss die erhabene Stille der Shenandoah Moun­tains. Selbst seine große Hündin Kona zügelte ihre sonst so unbändige Energie und trottete geräuschlos neben ihm her. Max atmete tief ein, legte den Kopf in den Nacken und blickte in der kühlen Morgensonne zu dem dichten Baldachin aus kupferfarbenen und goldenen Blättern auf.

»Ich glaube, der Herbst hat seinen Höhepunkt erreicht, mein Mädchen«, sagte der FBI-Agent leise, um den Zauber nicht zu stören. Er hatte sich seit Monaten auf einen freien Tag gefreut, und nun spürte er, wie nach und nach der Stress von ihm abfiel. Er liebte sein Leben im quirligen, lauten, dreckigen Washington, D.C., aber manchmal überkam ihn die Sehnsucht nach den Bergen.

Er wollte den steil ansteigenden Pfad weitergehen, als Kona plötzlich erstarrte und, die Nase in die Luft gereckt, aufgeregt zu schnüffeln begann.

Auch Max blieb regungslos stehen. Er vertraute seiner Hündin; außerdem waren in der Gegend jüngst einige Bären gesichtet worden.

»Was hast du denn, Kona?«

Sein Blick glitt über den Felsvorsprung, der Richtung Norden hinter den Baumwipfeln aufragte, dann über den dichten Wald im Osten.

Nichts zu sehen.

Plötzlich bellte Kona. Es war nicht das tiefe Wuff, das sie von sich gab, wenn sie der Spur eines Vermissten folgten, sondern ein kurzer, scharfer Laut. Ihre Rute stand waagerecht nach hinten ab. So zeigte sie an, dass sie eine Leiche gewittert hatte.

»Wir haben heute frei. Komm, lass uns weitergehen.« Er machte der Hündin ein Zeichen, ihm zu folgen, doch die bellte erneut und rührte sich nicht von der Stelle.

Als Spürhundeteam des FBI waren Max und Kona darauf spezialisiert, vermisste Personen zu finden – egal, ob tot oder lebendig. Und aus irgendeinem Grund schien Kona zu glauben, dass sie im Dienst waren.

Max seufzte. So viel zu dem Mittagessen bei seiner Mutter nach einer langen Bergwanderung. Wahrscheinlich stand sie schon in der Küche und bereitete ein Festmahl für ihn zu. Er mochte sich gar nicht ausmalen, was ihm blühte, wenn er absagte.

»Hast du Witterung aufgenommen?«

Kona bellte zum dritten Mal, und dann tat sie etwas, was Max in den vier Jahren ihrer Zusammenarbeit noch nie erlebt hatte: Sie fing an zu winseln.

Ein ungutes Gefühl ließ ihm die Haare im Nacken zu Berge stehen.

»Warte. Ich gebe das lieber mal durch, bevor wir uns hier auf eine wilde Querfeldeinjagd einlassen.«

Max zückte sein Handy und wählte.

»Shenandoah Nationalpark, wie kann ich Sie weiterverbinden?«, meldete sich eine Frau mit deutlich ausgeprägtem Südstaatenakzent.

Max erkannte die Stimme sofort. Er schwieg einen Moment und überlegte, wie er das Gespräch beginnen sollte. Er war in Rockfish Gap, einem kleinen Ort knapp zwanzig Meilen entfernt, aufgewachsen und kannte praktisch jeden aus der Gegend. Es gab einen guten Grund, weshalb er nach seiner Rückkehr aus dem Irak zum FBI gegangen war, statt in seiner Heimatstadt bei der Polizei anzufangen. Aber die Wunden der Vergangenheit durften ihn nicht daran hindern, seine Pflicht zu tun.

»Piper, hier ist Max Cho.«

»Max! Wie schön, deine Stimme zu hören. Wie geht’s dir? Bist du in der Stadt, um deine Mutter zu besuchen?«

»Ja, wir sind später noch verabredet. Aber eigentlich rufe ich an, um etwas zu melden. Ich bin auf dem Wanderweg zum Turk Mountain unterwegs, und meine Leichenspürhündin hat gerade angeschlagen.«

»Ach du liebe Zeit, ist das einer dieser Hunde, die Tote erschnüffeln? Soll das heißen, da oben im Wald liegt eine Leiche?«

»Möglich. Irgendwas muss sie jedenfalls gewittert haben, ich habe noch nie erlebt, dass sie falschen Alarm gegeben hätte. Gibt es irgendwelche Vermisstenmeldungen bei euch?«

Max gebot Kona mit der flachen Hand, sich nicht vom Fleck zu rühren. Die Hündin tänzelte erregt auf der Stelle und schien es gar nicht erwarten zu können, der Fährte zu folgen, die sie aufgenommen hatte.

»Im Moment nicht, nein«, antwortete Piper.

»Okay. Dann lasse ich meine Hündin jetzt suchen. Falls wir was finden, melde ich mich noch mal.«

»Braucht ihr Hilfe? Soll ich einen Kollegen zu euch rausschicken?«

Max warf einen Blick auf Kona, die mit zitternden Flanken dastand, die Witterung in der Nase. »Nicht nötig. Meine Hündin ist kaum noch zu halten, die Geruchsquelle muss also ganz in der Nähe sein. Ich würde sagen, wir schauen erst mal, womit wir es hier überhaupt zu tun haben.«

Während Max noch telefonierte, sträubte sich plötzlich Konas Nackenfell. Augenblicklich schrillten bei Max sämtliche Alarmglocken los.

»Warum sagst du mir nicht wenigstens, wo ihr seid, damit ich schon mal jemandem Bescheid geben kann?«

Max las die Koordinaten ihres Standorts von seinem Handy ab und fügte leise hinzu: »Ich rufe an, wenn ich was gefunden habe.«

»Sei bloß vorsichtig – so ganz allein im tiefen dunklen Wald«, zog Piper ihn auf.

Max beendete die Verbindung und zuckte leicht zusammen, als Kona erneut bellte. Er fragte sich, wann ihm der draufgängerische Mut seiner Jugend abhandengekommen war. Früher war er hinter feindlichen Linien aus Hubschraubern abgesprungen. Jetzt gruselte es ihn bei der bloßen Vorstellung, in den Wäldern von Virginia über eine Leiche zu stolpern.

»Such, Kona!«, befahl er und zeigte mit der Hand auffordernd in den Wald.

Mit einem Kläffen schoss Kona davon.

In einer weiten Zickzackbewegung immer hin und her laufend, folgte sie der Geruchsspur in der Luft. Erst ging es einen steilen Hang hinauf, dann über eine Lichtung voller Wiesenhafer und schließlich in einen Bestand aus Ahornbäumen hinein. Die Sonne war zwischenzeitlich höher gestiegen und erwärmte die frische, klare Herbstluft. Der Duft taufeuchter Erde stieg Max in die Nase, als sie sich weiter und weiter vom Wanderweg entfernten.

Konas Pendelbewegungen wurden kleiner, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich ihrem Ziel näherten.

Sie erklommen noch einen Felsen und erreichten schließlich einen Aussichtspunkt, von dem aus man den Blick über das ganze Flusstal hatte. Max hielt einen Moment lang inne, um den She­nandoah River zu betrachten, der in trägen Mäandern und vom Feuerrot und Orange der Herbstbäume gesäumt die Hügellandschaft durchschnitt.

Weiter vorne stieß Kona ein Knurren aus.

Max spürte ein Kribbeln im Nacken.

Gleich darauf sauste Kona ohne jede Vorwarnung mit voller Geschwindigkeit den Abhang hinunter und verschwand im Wald.

Max bemühte sich nach Kräften, mit ihr Schritt zu halten. Je weiter sie vordrangen, desto dichter wurde die Vegetation. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, während er blindlings durchs Unterholz stolperte.

»Hey!«, rief er. »Kona, stopp!«

Kona ignorierte seinen Befehl. Das hatte sie noch nie getan.

Irgendetwas war hier faul.

Max, der längst den Sichtkontakt zu seiner Hündin verloren hatte, folgte, so schnell er konnte, ihrem Rascheln im Gehölz. Etwa auf halber Höhe des Berghangs gelangte er auf ein kleines Plateau mit einer Lichtung. Dort war auch Kona. Sie lief wie wild im Kreis herum und hörte gar nicht mehr auf zu bellen. Ihr Verhalten erschien Max immer rätselhafter.

Hohe Bäume beschatteten die felsige, sanft abfallende Stelle, die in einem steilen Vorsprung endete. Langsam wagte Max sich weiter vor, wobei er wachsam den Boden mit Blicken absuchte. Er konnte nichts entdecken, was Konas Aufregung erklärt hätte.

»Such!«, befahl er noch einmal in der Hoffnung, dass sie ihm eine konkrete Stelle anzeigen würde.

Stattdessen jaulte sie, scheinbar verwirrt, und setzte sich auf die Hinterläufe. Sie war ein sehr pflichtbewusstes Tier und sichtlich zerknirscht, weil sie die Geruchsquelle nicht ausfindig machen konnte.

Vorsichtig überquerte Max die mit Geröll übersäte Lichtung, bis er neben Kona stand, die auf einem kleinen Felsen hockte. Weit und breit war nichts zu sehen als Steine und ein paar kleine Grasbüschel. Hier konnte man unmöglich eine Leiche verstecken.

»Was ist nur los mit dir, Mädchen? Ist das etwa dein erster falscher Alarm?« Er streckte die Hand aus, um sie zu streicheln.

Doch kaum hatte er das Gewicht nach vorn verlagert, geriet der Boden unter ihm ins Rutschen.

Seine Zeit beim Militär lag Jahre zurück, doch das Training saß tief. Blitzschnell machte er einen Hechtsprung zur Seite.

Zu spät. Im nächsten Moment brach er ein.

Wild mit Armen und Beinen rudernd und begleitet von einer Lawine aus Erde und Geröll, stürzte er in die Tiefe. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, seinen Körper zu drehen, sodass er auf den Füßen landete. Trotzdem war die Wucht des Aufpralls so heftig, dass er vor Schmerz ächzte und die Knie unter ihm wegknickten.

Die Arme schützend über den Kopf haltend, wartete er ab, während Erdklumpen und kleine Steine auf ihn herabrieselten. Weiter oben bellte Kona wie verrückt, weil ihr Herrchen plötzlich verschwunden war.

Als der Erdregen aufgehört hatte, rief Max aus der Finsternis nach oben: »Mir ist nichts passiert, Kona. Alles in Ordnung.«

Der Klang seiner Stimme beruhigte die Hündin, deren Bellen in ein stetiges Winseln überging. Max rappelte sich auf, wischte sich den Staub aus dem Gesicht und versuchte, sich ein Bild der Lage zu machen. Sobald seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er, dass er in einem kleinen unterirdischen Hohlraum gelandet war. Er war nicht größer als sein Schlafzimmer, und die einzige sichtbare Öffnung war ein langer horizontaler Spalt an der gegenüberliegenden Felswand. Das Loch, durch das er gestürzt war, befand sich gut sieben Meter über ihm – viel zu weit weg, um hochzuklettern.

»Ein Erdfall, na wunderbar«, murmelte er halblaut. Er zog das Handy aus der Tasche. Kein Netz. »Warte, Kona«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Ich schaue mal, ob ich einen anderen Weg nach draußen finde.« Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er die schmale Felsspalte. Auf der anderen Seite glaubte er, einen schwachen Lichtschein wahrzunehmen. Vielleicht konnte er im Liegen durch den Spalt ins Freie kriechen.

Oben lief Kona noch immer am Rand des Einsturztrichters auf und ab. Max fürchtete, dass sie versuchen könnte, zu ihm nach unten zu springen. »Bleib, wo du bist, Kona. Bleib.«

Die Hündin gab ein missbilligendes Rrff! von sich, gehorchte aber. Brav ließ sie sich am Rand der Öffnung nieder und schaute auf ihn herab.

Als Max sich einen Schritt zur Seite bewegte, hörte er ein trockenes Knacken unter der Schuhsohle. Zum ersten Mal seit seinem Sturz richtete er den Blick zu Boden.

Aus dem Haufen von Erde und Steinen, der mit ihm in die Höhle gefallen war, ragte das Stück eines bleichen Knochens hervor.

Mit angehaltenem Atem ging Max in die Hocke, um den Fund zu inspizieren. Unter der dünnen Schicht Geröll war der gesamte Boden der unterirdischen Kammer mit Knochen übersät.

»Oh mein Gott, bitte lass das hier keine Bärenhöhle sein …«, wisperte er mit trockenem Mund. Aber es roch nicht nach Tier. Er nahm noch ein paar weitere Knochen in Augenschein, und nach und nach breitete sich eine Gänsehaut auf seinem Körper aus. Er hob etwas Großes, Rundes vom Boden auf, und als er es umdrehte, starrte er in die leeren Augenhöhlen eines menschlichen Schädels.

Sein Magen krampfte sich zusammen. Als Nächstes nahm er einen Röhrenknochen in die Hand. Definitiv menschlichen Ursprungs.

»Du hast tatsächlich eine Leiche gefunden, Kona«, flüsterte er.

Mit ruhiger Hand räumte er die lose Erde zur Seite. Es kamen zwei weitere Schädel, mindestens drei Rumpfknochen, mehrere Rippen sowie ein Schlüsselbein zum Vorschein. Das Weichteilgewebe war lange verwest, aber Max konnte einige rotgoldene Stofffetzen erkennen. Einen Augenblick lang durchzuckte ihn die irrationale Angst, dass es keinen Ausweg aus der Höhle gab und er hier unten sterben würde.

»Mach dich doch nicht lächerlich«, wies er sich selbst zurecht. »Piper weiß, dass wir hier draußen sind. Wenn sie nichts mehr von mir hört, schickt sie jemanden los, um nach uns zu suchen.«

Der Klang seiner Stimme vermochte die Panik ein wenig einzudämmen, und er besann sich auf das, was er während seiner Ausbildung gelernt hatte. Erstens: ruhig atmen. Zweitens: sich einen Überblick über die Situation verschaffen. Drittens: handeln.

Er schaltete die Taschenlampe seines Smartphones ein und ließ den Lichtstrahl in einem weiten Bogen durch die Höhle gleiten. Im hellen Licht warfen die zahllosen Knochen lange, scharfkantige Schatten, die an den Höhlenwänden tanzten.

Er versuchte, behutsam einen Schritt nach vorn zu machen, doch ein weiterer Knochen zerbrach unter seinem Schuh wie ein trockener Zweig. Max schluckte und kämpfte gegen das kalte Gefühl der Beklemmung an, das sich in seiner Brust ausbreitete. Ihm war, als wäre die Höhle von einem tiefen, uralten Zorn erfüllt.

Das hier waren mit Sicherheit nicht die Skelette von Wanderern, die sich verirrt hatten oder einem Bärenangriff zum Opfer gefallen waren. Jemand hatte all diese Menschen ermordet. Er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Um den Tatort nicht noch weiter durcheinanderzubringen, blieb er, wo er war. Bald würde ein Ranger kommen, und Kona war klug genug, sich bemerkbar zu machen, sobald sich ein Mensch näherte. Nicht mehr lange, und man würde ihn hier rausholen.

»Platz, mein Mädchen«, rief er seiner Hündin zu. »Es kann noch eine Weile dauern.«

Kona gab ein kurzes Bellen von sich, um zu signalisieren, dass sie verstanden hatte.

Umgeben von Toten, hockte Maxwell Cho sich hin, um zu warten.

 

Sayer Altairs Wohnung, Alexandria, Virginia

Die FBI-Agentin und Neurowissenschaftlerin Sayer Altair fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch. Ihr Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen, und das Gefühl der Kugel, die in ihre Schulter eindrang, sandte eine Woge der Panik durch ihren Körper. Instinktiv griff sie nach der Pistole auf ihrem Nachttisch.

Doch statt Metall berührten ihre Finger etwas Kaltes, Nasses.

Schlagartig wach, stellte sie fest, dass ihr schlaksiger dreibeiniger Hund auf ihr lag und sie mit seiner feuchten Schnauze anstupste, weil er gestreichelt werden wollte.

»Mann, Vesper. Ich hätte gern noch ein bisschen länger geschlafen.«

Das Tier mit dem silbergrauen Fell ignorierte ihren Protest, stieß erneut gegen ihre Hand und grinste sie mit hängender Zunge an.

Sayer ärgerte sich, und nach dem Albtraum klopfte ihr Herz wie rasend, doch es war ein Ding der Unmöglichkeit, Vesper lange böse zu sein. Dazu war er einfach viel zu niedlich.

»Schon gut, schon gut, du verzogenes Vieh. Was willst du bloß machen, wenn ich wieder arbeiten gehe?«

In wenigen Tagen würde sie endlich in den aktiven Dienst zurückkehren, nachdem sie sechs qualvolle Monate lang zur Schreibtischarbeit verdammt gewesen war. Vesper hatte sich definitiv an ihre geregelten Arbeitszeiten gewöhnt.

Als er die gute Laune in ihrer Stimme hörte, wälzte er sich auf den Rücken, und Sayer kraulte ihm lachend den Bauch.

Die Schussverletzung an ihrer linken Schulter brannte mittlerweile nicht mehr wie Feuer, sobald sie den Arm bewegte, sondern machte sich meistens nur noch als dumpfes Ziehen bemerkbar, das sich gut aushalten ließ – sogar wenn sie mit einem zappelnden Hund kämpfte.

Nachdem der unmittelbare Schock des Erlebten überwunden und die Wunde verheilt war, hatte Sayer ihre Zwangspause durchaus genossen. Wenigstens hatte sie nun wieder Zeit, sich ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu widmen. Als Neurobiologin beim Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen des FBI, kurz NCAVC, untersuchte sie die Gehirne von Serienmördern. Während sie in der Physiotherapie schwitzte und zahlreiche Psychotests über sich ergehen ließ, nutzte sie die Gelegenheit, ihr aktuelles Forschungsprojekt voranzutreiben und den bisherigen Stand ihrer Arbeit zu dokumentieren, damit sie mit der nächsten Phase, der Erforschung nicht straffällig gewordener Psychopathen, beginnen konnte. Ihr Ziel war es, anhand von Interviews und Gehirn-MRTs herauszufinden, weshalb einige Psychopathen eine Laufbahn als erfolgreicher Chirurg oder Anwalt einschlugen, während andere zu Serienmördern wurden.

Außerdem hatte sie die Auszeit dazu nutzen wollen, mehr über den mysteriösen Tod ihres Verlobten Jake in Erfahrung zu bringen, doch darin war sie leider auf ganzer Linie gescheitert. Sie wusste nach wie vor nur, dass er während eines Einsatzes ums Leben gekommen war – und dass die offizielle Version der Ereignisse nicht den Tatsachen entsprach.

Obwohl sie sich freute, endlich den nächsten Schritt in ihrem Projekt in Angriff nehmen zu können, fehlte Sayer der Kontakt zu ihren Kollegen. Ihr fehlte die aktive Ermittlungsarbeit.

»Sayer, bist du schon wach?«, rief Adi aus dem Wohnzimmer. Sayer erschrak. Obwohl das achtzehnjährige Mädchen nun schon seit mehreren Monaten bei ihr lebte, vergaß Sayer manchmal immer noch, dass sie nicht allein war. »Du kommst schon wieder im Fernsehen«, fügte Adi mit deutlich hörbarer Belustigung hinzu.

»Mist.« Sayer machte sich von Vesper los, schob den Stapel Akten über Jake beiseite und wankte schlaftrunken ins Wohnzimmer.

Adi Stephanopolous saß, eine Strähne ihres verblassten pinkfarbenen Haares zwischen den Fingern zwirbelnd, auf dem Futon. Sie hatte eine Tasse Kaffee in der Hand und ein dickes Lehrbuch auf den Knien. Ihre Lider waren halb geschlossen, doch Sayer wusste, dass in den Tiefen ihrer braunen Augen all die typischen widerstreitenden Gefühle eines Teenagers brodelten.

Im Fernsehen ließ gerade eine aufgedrehte blonde Nachrichtensprecherin ihre makellos weißen Zähne blitzen. »FBI-Agentin Sayer Altair mag den Korruptionsskandal innerhalb ihrer Behörde aufgedeckt haben – aber wer weiß, ob sie selbst eine weiße Weste hat?«

Neben ihr saß ein Mann im Anzug und mit kantigem Kinn, der eindringlich nickte. »Da sprichst du einen wichtigen Punkt an, Bethany. Ist Agent Altair eine Heldin, oder steht sie emblematisch für die Kultur der Korruption, die sie zu enthüllen vorgab?«

Sayer stakste zum Fernseher und schlug mit der flachen Hand auf den Aus-Knopf.

»Hey!«, protestierte Adi und setzte sich auf.

»Das reicht.«

»Aber sie wollten noch darüber reden, wie du vor einer Million Jahren mal einem Journalisten eine geknallt hast.« Adi grinste frech.

Adi nahm das Gerede in den Medien nicht ernst, denn niemand wusste so gut wie sie, was Sayer hinter sich hatte – und dass sie beim Versuch, Adi zu retten, beinahe ums Leben gekommen wäre.

Sechs Monate zuvor war Sayer einer äußerst umtriebigen Serienmörderin innerhalb des FBI auf die Schliche gekommen – eine Frau, die Adi verschleppt und sowohl Sayer als auch Vesper durch Schüsse schwer verletzt hatte. Der Kongress hatte einen Untersuchungsausschuss einberufen, um die Vorfälle aufzuarbeiten und nach den Schuldigen zu suchen. Ein Killer in den Reihen des FBI bedeutete, dass nun die gesamte Behörde am Pranger stand, und halb Quantico befand sich im Ausnahmezustand, weil der Ausschuss Hunderte alter Fälle durch unabhängige Sachverständige prüfen ließ.

Sayer nahm ihr Handy und marschierte in die Küche, um sich erst mal einen Kaffee zu holen. Sobald sie eine ausreichende Dosis Koffein im Blut hatte, würde sie sich diese verfluchte Nachrichtensprecherin zur Brust nehmen.

Sie griff nach der Kaffeekanne. Sie war noch warm – aber leer. Mit einem missmutigen Knurren nahm sie die Kaffeedose und schüttelte sie.

»Hast du den letzten Kaffee aufgebraucht?«, rief sie laut.

»Ups, sorry!«, kam es zurück.

Sayer starrte auf ihre leere Tasse und atmete einmal tief durch. Dann marschierte sie zurück ins Wohnzimmer und schnurstracks zur Wohnungstür hinaus, wobei sie Adi einen vielsagenden Blick zuwarf.

Unten im Garten saß ihr Nachbar Tino de la Vega, der im Erdgeschoss wohnte und mit dem sie sich gewissermaßen das Sorgerecht für Vesper teilte. Vesper überholte sie auf der Treppe, um seinem Herrchen einen guten Morgen zu wünschen.

»Mein allerliebster Lieblingshund!« Der stämmige Mann mit Drahtbrille und struppigem Schnauzbart strahlte über das ganze Gesicht, ehe er Vesper die Ohren zu kraulen begann. »Na, wie geht es dir an diesem schönen …« Er verstummte jäh, als er Sayer im roten Flanellpyjama und mit wilder brauner Lockenmähne die Stufen herunterkommen sah.

»Kaffee?« Sie streckte ihm auffordernd ihren leeren Becher entgegen.

Er lachte. »Na, du bist ja ein richtiger Sonnenschein heute Morgen.«

Sayer zog finster die Brauen zusammen. »Dieser Satansbraten, den ich aus der Güte meines Herzens heraus in meinem Heim aufgenommen habe, hat meinen letzten Kaffee aufgebraucht und es nicht mal für nötig befunden, mir zu sagen, dass wir neuen kaufen müssen. Darf ich sie jetzt gleich ermorden, oder muss ich warten, bis ich Kaffee intus habe?«

»Ich glaube, die richtige Reihenfolge lautet: erst Kaffee, dann Mord. Es ist gerade eine frische Kanne fertig.«

Sie verschwand in Tinos gemütlichem Apartment und schenkte sich Kaffee ein. Dann kam sie wieder nach draußen. Mit dem Becher in der Hand ließ sie sich vorsichtig auf einen der Stühle am Gartentisch sinken. Die klare Herbstluft und das weiche Morgenlicht verliehen dem Garten etwas Märchenhaftes.

Der wunderschöne Anblick sowie das nussige Aroma des Kaffees trugen dazu bei, Sayers Mordlust ein wenig zu besänftigen.

Sie musterte ihren Nachbarn über den Tisch hinweg. Nach seinem Ausscheiden beim Militär war Tino als Küchenchef erfolgreich gewesen, aber dann hatte er irgendwann festgestellt, dass er schwul war, die Scheidung eingereicht und seinen Job gekündigt. Nun steckte er – so zumindest Sayers Interpretation der Sachlage – bis zum Hals in einer Midlife-Crisis und verbrachte den Großteil seiner Tage damit, im Garten zu arbeiten, sich um Vesper zu kümmern oder Bücher zu lesen, während er nach einer sinnvollen Lebensaufgabe suchte.

»Interviewst du gleich wieder einen deiner Verrückten?«, erkundigte er sich mit einem Anflug von Missbilligung in der Stimme.

Sayer schüttelte den Kopf. »Heute Morgen nicht. Mein nächstes Gespräch ist erst am Abend.« Sie wollte noch mehr sagen, wurde aber vom Klingeln ihres Handys unterbrochen.

Sie ignorierte es.

»Willst du nicht drangehen?«

»Das ist bloß wieder irgendein Reporter«, sagte Sayer und beugte sich über ihren Kaffeebecher.

Das Handy verstummte, nur um kurz darauf erneut loszuklingeln.

»Es könnte deine Großmutter sein«, meinte Tino mit hochgezogenen Augenbrauen. Selbst er, ein ehemaliger Verhörspezialist, wusste, dass mit Sayers Nana nicht zu spaßen war.

Mit einem leidgeprüften Seufzer nahm Sayer ihr Handy vom Tisch.

»Scheiße, es ist Holt!« Hastig ging sie ran. Vesper, der die Anspannung in ihrer Stimme wahrgenommen hatte, sprang erregt auf.

»Sayer«, blaffte die stellvertretende Direktorin des FBI, Janice Holt, in dem ihr eigenen barschen Ton. Als Leiterin der Critical Incident Response Group CIRG, der zentralen Krisen-Interventions-Einheit des FBI, und Chefin von Quantico war sie eine knallharte Frau – und stolz darauf, innerhalb der Behörde als alter Drachen verschrien zu sein.

Die vertraute Stimme zauberte Sayer ein Schmunzeln ins Gesicht. »Stellvertretende Direktorin Holt.«

»Sie haben einen neuen Fall.«

»Schon? Ich dachte, ich fange erst nächste Woche an.«

»Nein. Wegen dieses lächerlichen Untersuchungsausschusses herrscht bei uns akute Personalknappheit, und ich habe hier einen Wisch auf meinem Schreibtisch liegen, der besagt, dass Sie offiziell für den aktiven Dienst zugelassen sind. Es wird Zeit, sich wieder aufs Pferd zu schwingen. Einer unserer Agenten ist im Shenandoah Nationalpark in eine Grube voller menschlicher Skelettreste gestürzt. Sieht ganz nach dem Ablageort eines Mehrfachmörders aus. Die Parkverwaltung hat uns angerufen, ich habe bereits ein Team von der Spurensicherung und eine Rechtsmedizinerin losgeschickt. Die werden sicher eine ganze Weile brauchen, um sämtliche Knochen zu bergen, trotzdem will ich, dass Sie unverzüglich aufbrechen. Sie leiten die Ermittlungen.«

»Skelettreste … Weiß man schon, wie viele Tote es sind und wie lange sie in der Grube gelegen haben?«

»Noch nicht. Unser Agent Maxwell Cho erwartet Sie am Südeingang des Parks. Er wird Sie hinbringen und mit allen nötigen Informationen versorgen.«

Sayer versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Das ist ein Cold Case, oder?«

»Vermutlich.« Die stellvertretende Direktorin seufzte. »Hören Sie, ich weiß, dass Sie es kaum erwarten können, wieder loszulegen, aber ich möchte, dass Sie es erst mal ruhig angehen lassen – mit einem Fall, bei dem niemand auf Sie schießt. Ich sage den Leuten von der Datenanalyse, sie sollen Ihnen die Akte schicken. Aller Augen sind auf uns gerichtet, verbocken Sie es also nicht.« Mit diesen Worten legte Holt auf.

Sayer blinzelte verdutzt angesichts der plötzlichen Stille in der Leitung.

»Klingt so, als wärst du wieder im Dienst?«, fragte Tino, der aus seinem Unmut keinen Hehl machte.

»Agent Altair meldet sich zum Einsatz.« Sayer kippte ihren letzten Schluck Kaffee herunter, dann lief sie nach oben, um sich anzuziehen.