Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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© 2004 Friederun Reichenstetter

Umschlagbild und Innenillustrationen: Heribert Schulmeyer

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783750475946

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Neulich hat Frau Endlich, meine Lehrerin, unter meinen Aufsatz geschrieben: Ellen, wenn du wirklich Schriftstellerin werden willst (und das will ich!), merk dir diese Regel: Jedes ordentliche Ding hat einen Anfang und ein Ende. Auch eine Geschichte. Deine hat weder das eine noch das andere. Schade.

Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Denn schließlich fängt jede Sekunde etwas Neues an oder etwas Altes verändert sich. Wie soll man denn wissen, wann WIRKLICH etwas anfängt oder aufhört? Ich habe Papa deswegen gefragt. Der hat geantwortet, dass sich über dieses Problem schon viele gescheite Leute den Kopf zerbrochen haben, ohne dass etwas dabei herausgekommen ist. Weshalb es sinnlos ist, wenn auch er noch darüber nachdenkt. Aber Mama hat gemeint, dass man sich immer für etwas entscheiden muss: Bei einer Geschichte also für eine passende Sekunde, mit der man anfängt. Das Gleiche gilt für den Schluss. Sonst gäbe es nur unendliche Geschichten, erklärte sie.

So lasse ich jetzt meine Weihnachtsgeschichte »Verflixte weiße Weihnacht« mit Tante Lola beginnen, obwohl es bestimmt Millionen genauso gute oder sogar noch bessere Anfänge gäbe.

Das ERSTE KAPITEL beginnt
mit einer Beschwörung im
Schnee und endet mit
einem Verzweiflungsschrei

Leon sah sie als Erster. Mit seinem linken Zeigefinger, an dem ein grauer, abgelutschter Kaugummi klebte, deutete er durch die Windschutzscheibe und krähte: »Schaut mal, wer dort steht!«

»Wer?« Mama hob ihre kurzsichtigen Augen von der Landkarte, die sie gerade studierte. Dann drehte sie sich zu Leon um, der zwischen Pauline und mir in seinem Kindersitz auf der Rückbank thronte. »Wer soll da stehen?«, fragte sie genervt. War auch kein Wunder, dass sie das war! Seit Stunden krochen wir mit »tausend anderen Idioten«, wie meine Schwester Pauline schlecht gelaunt von sich gegeben hatte, unserem Ferienziel entgegen: einem Bauernhaus in der Schweiz.

»Tante Lola ist das!«, schrie Leon. »Mit einem Raben oder einer Krähe!«

»Tante Lola?« Mama setzte ihre Brille auf und versuchte, durch die tanzenden Schneeflocken hindurch die Gestalt am Straßenrand näher in Augenschein zu nehmen.

Wie eine Vogelscheuche im Wintersturm, die Arme waagrecht vom Körper gestreckt, stand diese ruhig da. Dann fing sie an, sich hin und her zu wiegen, ähnlich einem Medizinmann bei einer Beschwörung.

»Sieht von weitem tatsächlich Tante Lola zum Verwechseln ähnlich«, murmelte nun auch Papa hinter dem Steuer. »Ich würde ja lachen, wenn sie‘s wirklich wäre«, er warf Mama einen vorwurfsvollen Blick zu, »nachdem du der ganzen Verwandtschaft an Weihnachten entfliehen wolltest.«

»Sie sieht nicht nur aus wie Tante Lola«, kreischte Pauline. »Es ist Tante Lola. Mitsamt ihrer uralten roten Schrottlaube!«

»Und je- je- jetzt«, vor Aufregung fing Leo zu stottern an, »hat sich der Rabe auf ihren Kopf gesetzt und sie hat ihn ge-ge-packt und – und ...«

»... in den Kofferraum vom Auto gestopft!«, rief Pauline empört. »Schaut euch das an! Sonst tut sie doch immer so tierliebend. Das sollte man direkt dem Tierschutzverein melden.«

»Aber du magst doch Krähen überhaupt nicht.« Mit seinen kugelrunden Augen musterte Leon Pauline. »Eigentlich ist das komisch. Wo Schwarz doch sonst deine Lieblingsfarbe ist.«

»Ich habe nichts gegen Krähen!«, entgegnete Pauline ärgerlich. »Nur gegen Tanten, wie Lola eine ist.«

»Hast du wohl«, widersprach ich. »Neulich hast du sogar gesagt, wenn dich noch einmal jemand mit einer Krähe vergleicht, drehst du demjenigen den Hals um. Wenn du die leiden könntest, würdest du dich über den Vergleich freuen.«

»Ich mag auch den Mond«, muffelte Pauline mich an, »und trotzdem will ich nicht unbedingt wie einer aussehen.«

Gerade rollte unser Auto wieder ein bisschen vorwärts.

»Sollen wir anhalten«, fragte Papa, »falls es denn wirklich Tante Lola sein sollte?«

»Was heißt hier anhalten?«, schnaubte Pauline. »Wir stehen doch sowieso die ganze Zeit.«

»Ihr habt Nerven! Klar halten wir an!«, rief Mama. »Man kann Tante Lola doch nicht einfach in dieser Kälte erfrieren lassen. Vielleicht hat sie eine Reifenpanne. Und schließlich ist sie die Schwester meiner Mutter – und obendrein die netteste und originellste Person unserer ganzen Verwandtschaft.«

»Ich habe ja nur gemeint, ob wir sie abschleppen sollen oder etwas in der Art«, rechtfertigte sich Papa. »Vermutlich hat sie aber schon längst einen Reparaturdienst gerufen.«

»Reifenpanne – dass ich nicht lache!« Bei Pauline hörte man die Zähne knirschen, so eine Wut hatte sie. »Schindet Mitleid hier am Straßenrand in ihren uralten Penner-Klamotten. Das hat uns echt noch gefehlt.«

Pauline zu widersprechen hatte überhaupt keinen Sinn. Darum sagte ich nur: »Früher hast du Tante Lola eigentlich ganz gern gemocht.«

»Ich mag sie immer noch!«, verkündete Leon.

»Fast am liebsten von allen, die ich kenne«, fügte er hinzu.

Pauline warf sowohl mir als auch Leon einen vernichtenden Blick zu: »Ich kann sie nicht mehr leiden, seit sie so gestört ist und sich auch noch in alles einmischt, was sie nichts angeht«, fauchte sie.

Sie hatte Tante Lola nicht verziehen, dass die ihren scheußlichen schwarzen Samtmantel mit dem räudigen Pelz eines Maulwurfs verglichen und ihren Freund Simon ein »unreifes Früchtchen« genannt hatte.

Im Gegensatz zu Pauline mochte ich Tante Lola nach wie vor, obwohl sie – da musste ich Pauline ausnahmsweise Recht geben – in den letzten Klamotten herumlief. Meistens trug sie einen viel zu großen, uralten Lodenmantel (kann man als Decke verwenden, im Notfall als langen Rock hernehmen und zusammengelegt als Kissen, erklärte sie), hässliche, klobige Schnürstiefel (wer weiß, wo es einen hin verschlägt, in öde Landstriche, Wüsten oder Gebirge, wo man stundenlang zu Fuß gehen muss), fast immer einen unmöglichen Hut (solltet ihr auch tragen, ist gut gegen Sonne, Regen, Kälte und Schneestürme, kann ich nur empfehlen), und einen Rucksack in grüngelber Schockfarbe (ist besser als eine Leuchtrakete, diese Farbe sieht man von weitem, obendrein ist ein Rucksack immer praktischer als ein Koffer!). Aber sonst war wenig an Tante Lola auszusetzen. Im Gegenteil. Niemand konnte so gut erzählen wie sie, die schon durch die ganze Welt gereist war. Immer allein und immer mit ihrem Rucksack, ihren Siebenmeilenstiefeln, ihrem Lodenmantel und ihrem Hut.

Es vergingen noch ein paar Minuten, bis wir Tante Lola erreicht hatten. Sie war es wirklich, da gab es keinen Zweifel mehr. Papa fuhr auf den Seitenstreifen und hielt direkt hinter ihrem dunkelroten Wagen.

Mama stieg als Erste aus. »Meine Zeit, wo kommst du denn her?«, rief sie ihr entgegen.

»Schön, dass ihr da seid!« Tante Lola stürmte auf Mama zu. Der Wind fuhr unter ihren weiten Lodenmantel, sodass er sich blähte und wölbte wie das schwarze Segel eines Piratenschiffs. Und als sie dann Mama umarmte, sahen die beiden aus wie zwei Schiffbrüchige auf hoher See.

»Hast du denn auf uns gewartet?«, fragte Papa verblüfft.

»Und ob!«, antwortete Tante Lola.

»Aber woher wusstest du, dass wir gerade hier vorbeikommen würden?«, fragte Mama.

»Genau wusste ich es natürlich nicht«, antwortete Tante Lola und ließ Mama wieder los. »Aber ich habe es einfach einmal gehofft. Und du hast mir ja so freundlich geschrieben und mitgeteilt«, sie bedachte Mama mit einem dankbaren Blick, »dass ihr an Weihnachten in die Schweiz und dort in die Nähe des Örtchens Muatez fahren wollt. War übrigens schwierig auf der Landkarte zu finden. Den Termin hast du auch angegeben. Und weil ich früher von meiner Reise zurückgekommen bin, als ich dachte, habe ich mich auf die Socken gemacht.«

Von seinem Kindersitz aus betrachtete Leon interessiert Tante Lolas Füße. »Aber du hast doch Schuhe an«, rief er aus dem Fenster.

»Stimmt genau. Ist nur so eine Redensart.« Tante Lola lachte, weil Leon wieder einmal alles ganz wörtlich nahm. »Und ich habe auch wirklich nicht vor, euch zu belästigen«, fuhr sie fort. »Eigentlich wollte ich nur ein bisschen in eurer Nähe sein und euch einfach mal kurz besuchen. Sozusagen als Überraschungsgast. Aber dann hat mein Auto den Geist aufgegeben. Da habe ich schwer gehofft, dass ihr des Weges kommen würdet.«

»Und was hast du jetzt vor?«, fragte Papa.

»Vielleicht könntet ihr mich einfach ein Stück mitnehmen? Aber natürlich nur, wenn es euch nichts ausmacht«, meinte Tante Lola. »Ich würde dann irgendwo in eurer Nähe versuchen, ein Zimmer zu finden. So müsstet ihr meinetwegen keinen Umweg machen.«

»Und dein Wagen?«, fragte Papa. »Was soll mit dem passieren?«

»Den können wir ruhig stehen lassen. Der ist nicht mehr zu reparieren. Der Motor ist hinüber.«

»Bist du dir da sicher?«, fragte Mama.

»Ganz sicher, so wie der geraucht hat. Ich dachte schon, das ganze Ding ginge in Flammen auf. Gleich nach Weihnachten lasse ich ihn dann abschleppen.«

»Also, dann machen wir uns mal ans Umpacken«, meinte Mama, »bevor wir hier festfrieren und vor Schnee nicht mehr weiterkommen. Muss das hier alles mit?« Sie warf einen Blick in die Tiefen von Tante Lolas Kofferraum.

»Tante Lola, Tante Lola!« Leon hatte sich aus seinem Kindersitz befreit und drängelte noch vor mir aus dem Auto, »was ist das für ein Rabe da hinten in dem Vogelkäfig? Darf der auch mit?«

»Das ist kein Rabe, sondern ein Beo, der sogar sprechen kann«, antwortete Tante Lola und zerrte aus dem Kofferraum einen Käfig mit dem schwarzen Vogel, den sie kurz zuvor wieder eingefangen hatte. »Der war fast am Verhungern, als ich ihn auf meiner letzten Reise durch Thailand entdeckt habe. Vorhin wäre er mir übrigens um ein Haar entkom