Bereits erschienen:

Drachengrün und Rabenschwarz (Roman)

Das Buch

Kurzgeschichten aus Terrandessa, eine Sammlung von Texten, die sich direkt oder indirekt auf den Roman „Drachengrün und Rabenschwarz“ beziehen.

Bekannte Figuren daraus sowie etliche neue nehmen die Leser mit in die fantastische Welt von Terrandessa und lassen sie teilhaben an ihren Abenteuern. Bei vielen geht es um Magie, bei anderen um ganz menschliche Geschichten.

Die Autorin

Silke Schäfer (Jahrgang 1957) ist gelernte Grafische Zeichnerin und lebt in Duisburg. Als ein beruflicher Wechsel in eine künstlerisch vergleichsweise trockene Sparte nötig war, blieb sie trotzdem – oder gerade deshalb – ihrer Liebe zu Bild und Wort treu. Das Schreiben von Kurzgeschichten mündete schließlich wie von selbst in einen längeren Text, der sich in ihrem humorigen Debüt-Roman "Drachengrün und Rabenschwarz" präsentiert.

Mit dem vorliegenden Band "Fisch gestrichen" greift sie Erzählfäden daraus auf und webt neue. Weitere Projekte sind bereits in Planung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2019 Silke Schäfer

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Silke Schäfer, unter Verwendung eines Bildes von stux auf Pixabay.

Alle Inhalte dieses Werkes, insbesondere Texte und Grafiken, sind urheberrechtlich geschützt. Jegliches Erfassen, Kopieren, Speichern, Verbreiten bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Copyright-Inhabers.

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9 783750 476639

Für alle Reisenden durch Zeit, Raum und Fantasie

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Bei der Arbeit an „Drachengrün und Rabenschwarz“ war es hier und da nötig, komplette Textpassagen herauszunehmen, um das Ganze auf Kurs zu halten. Einige hätten sich zu übergroßen Erzählschleifen entwickelt und das Buch unnötig aufgeplustert. Andere waren für die Handlung komplett verzichtbar und hätten einen neuen Ereignisstrang eröffnet.

Da sie trotzdem dazugehörten, habe ich Kurzgeschichten daraus gemacht.

Andere sind ein Nebenprodukt aufgrund eines einzigen Begriffs, der zu einer näheren Erklärung herausforderte (zum Beispiel der Südcorlanische Drachenpinkler).

Oder es galt, ein Stück in die Vergangenheit zu schauen, auf die im Roman mehrfach angespielt wird.

Die Anordnung der Geschichten stellt eine mögliche Zeitabfolge dar. Aus den Chroniken … gilt zwar als „moderner“ Text, beschäftigt sich aber mit der Historie Terrandessas und gehört somit an den Anfang. Die beiden letzten Geschichten dagegen gehen zeitlich über die Romanhandlung hinaus. Sie sind ergänzend zu ihr zu sehen, da sie an darin vorkommende Details anknüpfen.

Terrandessa ist groß. Der Erzähl-Horizont lässt sich also beliebig ausweiten, das lässt viel Platz für zukünftige Kurzgeschichten. Ich bleibe dran.

Silke Schäfer September 2019

Aus den Chroniken der Geschichtsbewahrer
ein Blick weit zurück

Wenn man verstehen möchte, warum eine Welt oder Kultur so ist, wie sie ist, sollte man einen Blick auf ihre Vergangenheit werfen. Da im Roman an mehreren Stellen bestimmte vorausgegangene Ereignisse erwähnt werden, zeichne ich hier ein umfassenderes Bild.

Beim Aufbau einer Fantasy-Welt sind gewisse Regeln zu beachten, an die man sich später halten muss. Dazu kommen die Aspekte, die der Welt das Fantastische hinzufügen und eigenen Regeln unterliegen. Die Geographie sieht recht normal aus. Viele der Bewohner wiederum nicht.

Leben ist etwas völlig Natürliches. Eher sollte man sich wundern, wenn man irgendwo kein Leben vorfindet. An besonders unwirtlichen Orten ist vielleicht noch kein Leben in der allereinfachsten Seinsstufe da, aber mit Sicherheit gibt es bereits die pure Lebensenergie. Sie steht gewissermaßen vor der Tür und wartet, dass die richtige Mischung von Elementen ihr öffnet, sodass sie sich die erste kleine Erscheinungsform bauen kann.

Dann geht es den üblichen Weg. Hat das Leben erst einen Fuß in der Tür, steht es schnell mitten im Wohnzimmer und denkt über eine neue Einrichtung nach. Leben ist intelligent und experimentierfreudig. Neue Formen, neue Farben – vielleicht mal ein Modell mit Schuppen? Muss ein Lebewesen immer nur ein und denselben Körper bewohnen? Kann eine Schlange auch Beine haben?

Und so entwickeln sich Welten. Sie sind Ergebnisse der unterschiedlichsten Lebensexperimente. Wenn irgendetwas nicht klappt oder ein Vulkanausbruch all die schönen Kreaturen vernichtet, dann wird am nächsten Tag mit hitzeresistenten Bakterien neu angefangen.

Auf dieser Welt hat das Leben echt gute Arbeit geleistet. Sie ist voll von Lebensformen in allen Größen, Farben und Entwicklungsstufen. Es gibt die Allerkleinsten, die gutgelaunt in giftigen Quellen zuhause sind, bis hin zu hochentwickelten, komplexen Daseinsformen mit dem Hang, die Welt beherrschen zu wollen.

Die meisten Völker haben ein Interesse daran, wie es früher war. Durch überlieferte Erzählungen und Gesänge, durch Felszeichnungen, hier und da durch Schrift, bewahren sie ihre eigene Geschichte. Diese verantwortungsvolle Aufgabe obliegt besonderen Personen, den sogenannten Geschichtsbewahrern. Aus ihrem Wissen lässt sich die Vergangenheit rekonstruieren.

Der Name ist aus alter Zeit überliefert und lautete zunächst Terra Andessa, nach der Urgöttin Andess, die von den meisten Völkern verehrt wird und aus der alles Leben hervorging. Mit den Jahrhunderten schliff er sich ab zu „Terrandessa“, auch der göttliche Name erfuhr eine Veränderung. Alle östlichen Kulturen berufen sich auf Dandess, wenn es um die Entstehung der Welt geht.

Die Landmassen, wie wir sie heute kennen, waren nicht immer so, und ihre Bewohner ebenso wenig. Anthurien zum Beispiel war einst komplett bewaldet. Es gab keine Grenzen, keine Länder. Da war nur viel Platz mit vielgestaltigem Leben. Wenn man hier und da ein wenig gräbt, findet man bald die Knochen derer, die tausende Jahre vorher gelebt haben. Einige von ihnen waren anders. Ganz anders.

Vor vielen tausend Jahren war dies eine Welt der Mächtigen, und sie waren keine Menschen. Die Evolution der Echsen hatte außer einer Vielzahl von Drachen dazu eine aufrechtgehende intelligente Spezies hervorgebracht, die sich ausbreitete und Menschen wenig Sympathie entgegenbrachte. Sie nannten sich Nagas, und sie gründeten die ersten Königreiche. Sie arrangierten sich mit den Elfen, Feen und Faunen, die Undrauer und Gestaltwandler fanden sie soweit in Ordnung. Necks wurden kaum beachtet, die Kaverner gerade so geduldet. Aber Menschen waren ihnen zuwider.

Immer wieder flammten Kriege auf, ganze Völker verließen ihre angestammten Gebiete und suchten sichere Orte zum Siedeln. Nach einer langen Zeit der Unruhe lebten schließlich nur noch die Nagas und die von ihnen tolerierten Ethnien auf dem Kontinent namens Nanthelya. Menschen gab es dort, soweit man feststellen konnte, nicht mehr.

Auf den Kuthayu-Inseln vor der nanthelyanischen Küste hielt sich das letzte Königreich der Menschen. Dort lebte wie zuvor ein buntes Völkergemisch, man kam gut miteinander aus und hoffte, dass die Lage so entspannt blieb, wenn man sich nur aus allem heraushielt.

Ein Trugschluss, wie sich herausstellte. Vom Festland her kamen immer wieder menschliche Flüchtlinge an, die von grausamer Verfolgung durch die Nagas berichteten. Wer sich für sie nicht als nützlich erwies, zum Beispiel aufgrund besonderer Fähigkeiten oder Kenntnisse, wurde vertrieben, nicht selten sogar getötet. Am Ende fanden die Verfolgten sich am Meeresstrand wieder und mussten ihr Leben wackligen Booten anvertrauen. Nicht alle schafften es zu einer Insel.

Der König tat sein Möglichstes, um die Menschen zu retten. Er schickte mehrmals Boote zum Festland, um dort Flüchtlinge abzuholen. Doch allmählich wurde es eng auf den Kuthayus, und das bisher so gute Verhältnis kippte. Erste unzufriedene Stimmen wurden laut. Eines Morgens stach ein Schiff in See, bis zum letzten Platz besetzt mit nichtmenschlichen Mitbürgern, die lieber bei ihresgleichen in Nanthelya leben wollten. Viele andere taten es ihnen nach.

Obwohl die Bedrohung größer wurde, fuhr der König damit fort, Menschen zu retten. Eines Tages kam eine Elfe zusammen mit den Flüchtlingen zurück. Sie hieß Lamitan und war früher königliche Zofe gewesen. Weil sie gegenüber der Königsfamilie trotz der unglücklichen Umstände Treue und Verantwortung empfand, warnte sie vor einer Verschwörung der Nagas. Sie habe erfahren, dass auch diese letzte Bastion der Menschen erobert und das ganze Königsgeschlecht ausgerottet werden sollte. Überlebenden Untertanen drohten Tod oder Sklaverei.

Das Entsetzen war groß. An einen Kampf war überhaupt nicht zu denken, denn die Nagas und ihre Truppen waren zahlenmäßig weit überlegen. Wer den Sieg davontragen würde, stand von vorneherein fest. Doch der König zögerte nicht und fasste sofort einen Plan. Er ließ seine Weisen nach einem sicheren Ziel suchen, das man ansteuern und wo man siedeln konnte. Gleichzeitig befahl er, alle hochseetauglichen Schiffe fahrbereit zu machen und sie mit allem zu beladen, das für einen Neuanfang nötig war.

Die Weisen waren sich darin einig, dass es weit in östlicher Richtung Land gab, das nicht von Nagas bewohnt war und wo man vor ihnen sicher sein konnte. Die Zeit drängte jetzt. Bald trafen erste Nachrichten ein, dass auf den ganz im Westen gelegenen Inseln die Nagas gelandet waren.

Am Morgen, als sich am westlichen Horizont die ersten Naga-Schiffe zeigten, lichtete im Hafen auf der Ostseite der Hauptinsel Kuthamura das letzte Schiff der Menschen seinen Anker. Am Kai stand der König und winkte seiner Familie nach. Er und einige Kämpfer wollten den Nagas einen ungemütlichen Empfang bereiten, um Zeit für die Flüchtenden zu gewinnen. Mehr konnten sie nicht tun.

Am Heck des Schiffes standen die Königliche Gemahlin und ihr Sohn. Anthuras war sein Name. Nun lag es in seiner Hand, sie alle in Sicherheit zu bringen. Sie fuhren der aufgehenden Sonne entgegen, und bevor die Kuthayu-Inseln aus der Sicht verschwanden, sah man Rauchwolken von ihnen aufsteigen.

Die Überfahrt dauerte lange. Die Schiffe versuchten beieinander zu bleiben, doch in einem Sturm wurden einige weit auseinandergetrieben und fanden nicht mehr zu den anderen zurück. Die Murania landete an der Küste von Kemiland. Ihre Passagiere waren zum größten Teil Gelehrte aller Art, und sie begründeten die ersten Schulen dort. Die Akademie für Magie und Natur, kurz AkMaNa, in Kemion geht auf eine dieser frühen Gründungen zurück.

Ein anderes verschollenes Schiff war die Rabaniza, sie lief vor Corlan auf Grund. Sie hatte einige Adelsfamilien an Bord, die zu Urahnen der späteren Rabenclans wurden.

Des Königs Schiff und die meisten der anderen blieben auf Kurs und fanden eine Inselgruppe, die sie nach der Königlichen Gemahlin Cathriona benannten. Anthuras wollte weiter zu dem Festland, das seine Seher ihm prophezeit hatten. Doch einige der Schiffe gingen hier vor Anker, um auf den Inseln zu siedeln.

Der Rest der königlichen Flotte landete schließlich im Mündungsgebiet eines großen Flusses, und die Flüchtlinge machten sich ohne Zögern daran, eine Wehranlage zu bauen. Sie waren sicher, dass die Nagas ihnen bis hierher folgen würden, um sie alle endgültig auszulöschen. Material gab es genug, denn das Land war von dichtem Wald bedeckt. Zu Ehren des Königs, der sie hierhergeführt hatte, nannten sie es Anthurien.

Es verging einige Zeit, dann kamen die Nagas tatsächlich. Die neuen Siedler bekämpften sie mit aller Entschlossenheit und allem Einfallsreichtum, und sie konnten sie zurückschlagen.

Das Meer war voller Fische, und im Wald gab es reichlich Wild. Anfangs ernährten sich die Siedler fast ausschließlich vom Fischfang und von der Jagd. Dabei trafen sie auf die menschlichen Ureinwohner dieses Landes, die ihnen halfen, mit all dem Neuen zurechtzukommen. Die Karamani lebten hauptsächlich im und vom Wald und bauten keine Städte. Sie waren friedlich und wollten nur in Ruhe gelassen werden und unter sich bleiben. Von ihnen lernten die Anthurier viel über die hiesigen Tier- und Pflanzenarten. Hin und wieder begegnete ihnen ein Waldelf. Dieses Volk lebte tief im Wald, den sie als ihre angestammte Heimat betrachteten und Dendrobien nannten. Anfangs halfen sie den Neuankömmlingen und vermittelten ihnen viel Wissen. Doch als die Siedler immer mehr Bäume abholzten, begannen die Dendrobier die Kontakte zu verringern und zogen sich schließlich ganz zurück.

Über die Jahre hinweg dehnte König Anthuras seinen Gebietsanspruch stetig weiter aus. Um Acker- und Weideflächen zu gewinnen, wurden große Waldgebiete gerodet, und das führte zu Streitigkeiten. Selbst die Karamani fühlten sich in ihrem Lebensraum bedrängt, die Waldelfen drohten mit Gegenmaßnahmen. Doch das fruchtete nichts, die Landnahme ging weiter. Bis eines Tages die Ureinwohner kategorisch Einhalt geboten. Sie schickten eine schriftliche Bekanntmachung an König Anthuras, dass ab sofort die Waldgrenze mit Steinen markiert werde und unter allen Umständen einzuhalten sei. Ein Betreten des Waldes sei von nun an untersagt.

Später wurde dieses Verbot ein wenig gelockert, außerdem wurden feste Wege zur Durchquerung des Waldes angelegt, aber in den Anfängen kostete es tatsächlich einige Anthurier das Leben. Sie waren der Meinung, dass die Waldvölker es nicht wagen würden, ihnen etwas anzutun. Man sah sie nie wieder.

So kam es, dass die Anthurier sich auf die Nutzung jener Wälder beschränkten, die sie in ihrem Inland hatten stehen lassen. Das sie umgebende Waldland wurde ein verbotener, geheimnisvoller Ort, den man besser mied. Wer und was darin lebte, geriet bald in Vergessenheit. Zu den Karamani wiederum entwickelten sich lockere Verbindungen, da die Frauen als außerordentlich fähige Wahrsagerinnen und Heilerinnen galten.

Anthurien etablierte sich in der Gemeinschaft der umliegenden Länder und tat sich unter anderem durch erlesenes Kunsthandwerk hervor. Die Reihe der Könige, die stolz auf ihren Vorfahren Anthuras den Weisen zurückblicken, ist lang. Derzeit ist zum ersten Mal eine Königin die oberste herrschende Instanz, und Alyssa die Erste genießt ebensolchen Respekt wie die Regenten vor ihr. Vielleicht sogar ein wenig mehr. Denn ihr ist ein Schritt gelungen, den niemand vor ihr geschafft hat: Mit den Westlichen Inselreichen (der anthurische Name für die Kuthayu-Inseln) wurde ein offizielles Friedensabkommen geschlossen, das auf eine freundliche Annäherung beider Kontinente hoffen lässt. Nicht heute und nicht morgen, aber in naher Zukunft.

So wird es für die Geschichtsbewahrer weiterhin interessante Ereignisse aufzuzeichnen geben, damit wir und unsere fernen Nachkommen wissen, wie es früher war.

Verfasser: Yoto Mazada, Geschichtsbewahrer in Kemiland

Die Sage von der Diamant-Wolkenschlange

(wie Diffusius sie erzählte)

Diffusius unterhielt die Rabenkrieger mit Geschichten, um sie in einem entscheidenden Moment abzulenken. Dies ist eine davon, in der Version, wie sie von Generation zu Generation überliefert wurde (was bedeutet, dass sie bei jedem Erzählen ein bisschen verändert wurde).

Natürlich hat sie, wie es sich gehört, eine Moral – oder nein, mehrere. Die mit dem letzten Hemd ohne Taschen ist eine davon. Dass man Gesundheit nicht kaufen kann, eine andere.

Mein Favorit lautet: „Überraschung!“

In einem sehr fernen Land und vor sehr langer Zeit lebte ein Kaiser, dessen Macht viele Völker unterworfen hatte. Jerigen Güldenreif war sein Name, weithin bekannt und gefürchtet. Überaus reich war er, denn sie alle mussten ihm Tribut leisten. Einmal im Jahr hatten sie ihre Abgaben zu entrichten, seien es wertvolle Hölzer, Sklaven, Prunkgewänder, Edelsteine oder Gold. So trafen jedes Jahr im Frühling aus allen Richtungen die Gesandten ein, ihre Karawanen hoch beladen mit den Kostbarkeiten, zu denen der Herrscher sie verpflichtet hatte.

Jerigens Reichtum wuchs jedes Jahr, doch wurde er gleichzeitig immer älter. Als eines Tages seine Lieblingsfrau starb, wurde ihm klar, dass eines Tages auch sein Ende nahte. Man sollte ihn mit all seinen Schätzen bestatten und sein Grab so versiegeln, dass kein Räuber ihn bestehlen konnte. Also beauftragte er seinen Baumeister, einen Ort dafür auszusuchen und ein prächtiges Grab vorzubereiten.

Der Baumeister tat sein Bestes, verwendete die erlesensten Materialien und beschäftigte die besten Handwerker, doch nie war die Arbeit gut genug. Immer wieder hatte Jerigen Güldenreif Änderungswünsche, und die Jahre vergingen. Er wurde immer reicher und immer älter.

Um nicht zu sterben, bevor sein Grab wunschgemäß erstellt war, ließ der Kaiser sich von seinen Hofschamanen zauberkräftige Tränke zubereiten. Es hieß schließlich, er sei hundert Jahre alt.

In einem Dorf wuchs ein Junge heran, der jedes Jahr beobachtete, wie hart alle Familien arbeiteten, um den Tribut zu leisten. Und in jedem Jahr wuchs sein Zorn über diese Knechtschaft. Tiamid Bazur war sein Name, und als er zum Mann gereift war und das Joch nicht mehr ertragen wollte, verließ er sein Heimatdorf. Er wollte all den Reichtum zurückbringen oder wenigstens den Kaiser töten, um das Leid der Menschen zu beenden.

Kaiser Jerigen indes hatte seinen Palast verlassen und war in das unvollendete Grab übergesiedelt. Er wünschte nichts mehr, als seine Schätze in Sicherheit zu wissen und in Ruhe sterben zu können. Denn so konnte er seiner Lieblingsfrau mit allem Prunk ins Paradies folgen, wo sie für immer zusammen wären. Sein Gold, seine Edelsteine und seine vielen anderen Reichtümer hatte er in die kunstvoll ausgeschmückte Grabkammer bringen lassen und draußen ein Heer von Wächtern postiert. Von hier aus regierte er seine Länder, und er wurde dabei immer reicher und immer älter.

Eines Tages zog ein großes Heer heran, befehligt von Tiamid Bazur, der auf seinem Weg alle Männer um sich geschart hatte, die sich gegen den Kaiser auflehnen wollten. Sie waren zu arm für Waffen, doch voller Kampfesmut und Bitterkeit. Mit ihren bloßen Händen griffen sie das kaiserliche Heer an und überwältigten es nach einem harten Kampf, der drei Tage und drei Nächte dauerte. Viele Heldentaten wurden begangen, die seither in vielen Balladen besungen werden.

Sie brachen das Portal auf, und Tiamid Bazur ging hinein, um den Kaiser zu töten.

Auf einem Berg aus Gold trafen sie sich, der junge, strahlende Held, nur bewaffnet mit einem schartigen Schwert, und der alte, stolze Kaiser, gekräftigt vom jahrelangen Genuss zauberwirkender Tränke.

Die Erde erbebte, als sie kämpften, und Vögel fielen tot vom Himmel. Sie schlugen sich und verwundeten sich, doch keiner konnte den anderen besiegen.

Endlich gelang es Tiamid Bazur, den ermüdenden Jerigen Güldenreif in die Enge zu treiben. Er jagte ihn durch das Labyrinth der Gänge, die zu den mit Reichtümern angefüllten Kammern führten. Goldmünzen rollten ihnen unter die Füße und ließen ihren Weg schimmern.

Kaiser Jerigen merkte, wie seine Kräfte erlahmten. Er erkannte, dass er zu lange gewartet hatte, dass er seine Reichtümer nicht länger schützen konnte, und er wurde furchtbar zornig. So zornig wurde er, dass die ihm innewohnenden Kräfte der Zaubertränke einen Weg suchten, Gestalt anzunehmen.

Als er erneut in der hohen Halle mit dem Berg aus Gold und Edelsteinen angekommen war, verwandelte sich der Kaiser in eine riesenhafte Schlange mit Schuppen aus Diamanten. Sie war so lang, dass sie sich einmal um alles Gold herum legen und in ihr Schwanzende hätte beißen können.

Tiamid Bazur ließ sich davon nicht abschrecken. Mit seinem alten Schwert griff er das Reptil an und trachtete ihm den Kopf abzuschlagen.

Da richtete die Schlange sich auf und entfaltete mächtige Flügel. Sie schlug damit um sich und drehte sich, sodass sie einen luftigen Wirbel erzeugte, der alles Gold erfasste und wie eine Mauer rund um sie erstehen ließ. Tiamid Bazur konnte sie nicht durchdringen.

Doch hatte die Diamantschlange nicht mit der Beharrlichkeit ihres Verfolgers gerechnet. Als Tiamid Bazur immer weiter auf sie eindrang, flog sie hoch, mit ihren Schwingen wirbelte sie alle ihre Juwelen als glitzernde Spirale um sich herum auf, und so bohrte sie ein Loch ins Gestein über sich, durch das sie entkam. Sie flog immer höher und zog ihren Schatz wie einen tausendfach funkelnden Schweif mit sich. Es donnerte ohrenbetäubend, und der Glanz erhellte die Nacht bis zum Horizont.

So hatte der Kaiser gewonnen und zugleich verloren. Denn es war ihm gelungen, all seine Schätze zu retten, doch anstatt den Weg ins Paradies zu seiner Lieblingsfrau beschreiten zu können, blieb er am Himmel, begleitet von Gold und Edelsteinen. Von dort schaut er seitdem auf die Menschen herab, die ihn einst reich machten und denen er seinen Reichtum nicht gegönnt hat.

Tiamid Bazur wurde als Held und Erlöser gefeiert, er bestieg den Thron wenig später, und er regierte gerecht und gütig. Er befreite alle Sklaven und entließ die unterjochten Völker aus der Tributpflicht. An jedem Jahrestag opferte er eine eigens geprägte Goldmünze auf dem Altar der Diamantschlange, um sicherzustellen, dass Kaiser Jerigen Güldenreif nicht zurückkehrte, um anderweitig Tribut zu fordern.

Kaiser Jerigen von Menyangal

(Historische Fakten, rekonstruiert nach Funden und zeitgenössischen Dokumenten)

Gelehrte prüfen gern nach, welchen historischen Hintergrund Märchen und Sagen haben. Das ist in Terrandessa nicht anders. Es verwundert dabei wenig, dass in einer Welt, in der es Drachen gibt, dem Ungeheuer in der Sage tatsächlich ein solcher vorausging. Mit den verfeinerten Methoden der Forschung wissen wir vielleicht sogar irgendwann, welche Farbe er hatte.

Hoch im Nordosten von Terrandessa, hinter einer unüberwindbaren Barriere aus hohen Bergen und tiefen Schluchten, liegt das Land Menyangal. Es war in viele Provinzen und Stadtstaaten unterteilt, die erst unter Kaiser Jerigen zu einem Ganzen vereint wurden.