Cover

Egon Flaig

Den Kaiser herausfordern

Die Usurpation im Römischen Reich

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Im Römischen Reich kam es gelegentlich zu Usurpationen, dabei wurde der Kaiser herausgefordert und gestürzt. Im 1. Jahrhundert gelangten auf diese Weise Galba, Otho, Vitellius und Vespasian zur Macht. Kein Phänomen beleuchtet das Funktionieren dieser Monarchie so gut wie solche Fälle extremer politischer Krisen. In ihnen kommen die Bedingungen der Akzeptanz und die Strukturen der Herrschaft jäh zum Vorschein. Mithilfe von Diskursanalyse, Politischer Anthropologie und Historischer Soziologie entwirft Egon Flaig in seinem Standardwerk eine eigene Theorie des politischen Systems im Römischen Reich und leistet damit einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Politischen.

Vita

Egon Flaig ist emeritierter Professor für Alte Geschichte an der Universität Rostock.

Inhalt

Vorwort zur neuen Fassung

Methodische Einleitung: Die Unordnung des Diskurses. Zur Konstruktion von Historie

1. Wissenschaftlich konstruieren – eine knappe Rechtfertigung

2. Historiographische Texte und ihre Diskurse

3. Imaginäres und Handlungswissen – zum Selbstverständnis von Gruppen

4. Praxeologische Historie – und darüber hinaus

1. Die Akzeptanzmonarchie

1.1 Staat und Staatlichkeit – zur Anwendbarkeit der Begriffe

1.2 Der Prinzipat – eine fest institutionalisierte Monarchie

1.2.1 Das kollektive Gedächtnis – ausgerichtet auf die neue Monarchie

1.2.2 Der Senat und die Monarchie. Zum SC Pisonianum

1.3 Monarchien nach Typen sortieren

1.4 Der ›historische Pakt‹ des Prinzipates

2. Der unablässige Konsens. Kaiser und Plebs urbana

2.1 Politische Eintracht trotz sozialer Heterogenität?

2.2 Entpolitisierung? Ludi und politische Symbolik

2.3 Trennlinien disziplinieren die Aristokratie

2.4 Ritual und Politisierung. Für eine Kulturgeschichte des Politischen

2.5 Normenkonsens und politisierte Themen

2.6 Politische Semiurgie und verweigerter Gehorsam

2.7 Das Nahverhältnis zwischen Kaiser und Plebs

2.8 Modus der Politisierung und ritualisierter Konsens

2.9 Gestörte Kommunikation und Stile des Herrschens

3. Der herrschende Stand im Römischen Reich. Princeps und Senatorenschaft

3.1 Elitenzirkulation und Normkonformität

3.2 Verwalten im aristokratischen Modus

3.3 Die politischen Grenzen von Klientel und Patronage

3.3.1 Die maßgebliche Schwelle: Politische Loyalität

3.3.2 Makler-Patronage mit überforderten Kapazitäten

3.4 Senatorische Konkurrenz und Feindschaften im Senat

3.5 Die Fähigkeit zum Entscheiden geht verloren

3.6 Standesehre und Kaisernähe

3.7 Der Senat konnte niemals den Kaiser wählen

4. Roms Militär. Der Imperator und sein Heer

4.1 Der militärische Apparat – eine totale Organisation

4.2 Hohe Selektivität – intensive Sozialisierung

4.3 Sozialer Status gegen politische Ehrenstellung

4.4 Amateure kommandieren eine professionelle Armee

4.5 Naher Legat und ferner Kaiser. Patronage im Heer?

4.5.1 Affektive Nähe als politisches Erfordernis

4.5.2 Die Loyalität gehört dem Kaiser

4.5.3 Der Imperator und sein Heer: Symbolische Interaktion

4.6 Der politische Charakter des Heeres

4.6.1 Keine Söldnerarmee

4.6.2 Keine Heeresklientel

5. Legitimität und Akzeptanzverlust

5.1 Kollidierende Gehorsamsmodalitäten und unzulängliches Staatsrecht

5.2 Auf der Suche nach der verlorenen Legitimität

5.3 Mommsens Theorie des gewaltsamen Kaiserwechsels im Römischen Reich

5.3.1 Eine Autokratie, temperiert durch die rechtlich permanente Revolution

5.3.2 Was bedeutet Mommsens Begriff ›Dyarchie‹?

5.3.3 Ergebnisse und Folgerungen

5.4 Von der Kritik zur Heuristik

5.5 Die ›politische Formel‹: consensus universorum

5.6 Die Usurpation als Typus des Herrscherwechsels

6. Kaiserwechsel und Spielraum für Usurpationen

6.1 Tiberius 14 n. Chr. – die unproblematische Nachfolge

6.2 Caligula – die Übertragung der kaiserlichen Gewalten en bloc

6.3 Der gewaltsame Kaiserwechsel im Januar 41

6.3.1 Die Vorgänge

6.3.2 Ergebnisse und Perspektiven

6.4 Die ersten Usurpationsversuche

6.4.1 Die Vorgänge

6.4.2 Analyse

7. Die Usurpation Galbas

7.1 Nero verliert die Akzeptanz

7.2 Der Aufstand des Vindex

7.3 Die Konsularlegaten am Rhein dulden den Aufstand

7.4 Galbas Erhebung und Propaganda

7.5 Die staatsrechtliche Position des Usurpators

7.6. Die Kettenreaktion

7.6.1 Die Usurpation des Clodius Macer in Africa

7.6.2 Die Reaktion in Britannien und am Rhein

7.7 Neros Gegenmaßnahmen

7.8 Der Konflikt zwischen Vindex und Verginius Rufus

7.9 Nero stürzt – Galba wird Princeps

7.9.1 Der Handlungsspielraum des Gardepräfekten

7.9.2 Der Zwang zur Anerkennung Galbas

7.10 Der Sturz des Nymphidius Sabinus

7.11 Ergebnisse und Perspektiven

8. Usurpationen überkreuzen sich

8.1 Die Usurpation Othos

8.1.1 Das Regime Galba verliert die Akzeptanz

8.1.2 Die Frage der Nachfolge

8.1.3 Othos Putsch

8.1.4 Die prekäre Akzeptanz

8.1.5 Die Niederlage

8.2 Die Usurpation des Vitellius

8.2.1 Der anomische Prozeß in den Rheinheeren

8.2.1.1 Si meretur!

8.2.1.2 Die Bereitschaft der Offiziere

8.2.1.3 Der Kandidat

8.2.2 Soldatische Spontaneität überrollt die Planung der Offiziere

8.2.3 Mobilisierung und Organisierung der Ressourcen

8.2.4 Der Anschluß der meisten westlichen Provinzen

8.2.5 ›Propaganda‹ und Selbststilisierung

8.2.6 Affektives Nahverhältnis und monarchische Willkür

8.2.7 Vitellius destabilisiert sein Regime

8.2.7.1 Die Nichtbestattung der gefallenen Othonianer

8.2.7.2 Vitellius verfeindet sich die anderen Heeresgruppen

8.2.7.3 Die Selbstisolierung des Kaisers

9. Die Usurpation Vespasians

9.1 Die flavische Gruppierung um 69

9.2 Die Anhängerschaft formiert sich

9.3 Die Vorbereitung der Usurpation

9.4 Die Verbundenheit der Orientlegionen mit dem Donauheer

9.5 Der Abfall des Donauheeres von Vitellius

9.5.1 Rebellierten die mösischen Legionen auf eigene Faust?

9.5.2 Der Aufstand an der Donau. Hypothetische Rekonstruktion

9.6 Die Erhebung im Osten

9.7 Der eigenmächtige Feldzug des Donauheeres

9.8 Die Korrosion des vitellianischen Regimes in Rom

9.9 Der flavianische Putsch und die Widersprüchlichkeit des consensus

9.10 Regierungsübernahme und Widerspenstigkeit der Plebs

9.11 Die Behandlung der unterlegenen Truppen

9.12 Ansätze einer neuer Herrschaftskonzeption

9.13 Eingriffe in die Zusammensetzung des ordo senatorius

9.14 Resultate und Schlußfolgerungen

10. Die Usurpation des Antonius Saturninus

10.1 Die Senatorenschaft im domitianischen Regime

10.2 Kommunikationsfehler und bellizistischer Ton

10.3 Die obergermanischen Legionen. Ein enttäuschter Verband

10.4 Der Verlauf der Usurpation

10.5 Die Strafmaßnahmen

10.5.1 Gegen die Offiziere

10.5.2 Gegen die Mitwisser. Zur Frage der aristokratischen Loyalität

10.5.3 Gegen die Chatten. Klientelstämme involvieren?

10.6 Die Motive der Truppen

10.7 Die Isoliertheit des Usurpators

10.8 Die kaisertreue Plebs urbana

11. Kontur einer Historischen Soziologie des Truppenverhaltens

11.1 Über das Donativ

11.1.1 Die symbolische Gabe

11.1.2 Galba verweigert das Donativ

11.1.3 Die Donative im Vierkaiserjahr

11.1.4 Schlußfolgerungen

11.2 Die Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung

11.2.1 Die berichteten Fälle

11.2.2 Wem gehörte die Beute?

11.2.3 Analyse der Fälle

11.2.4 Schlußfolgerungen

11.3 Militärische Anomie: Der Untergang irregeführter Legionen

11.3.1 Führungsfehler und politische Irreleitung

11.3.2 Die Auflösung der drei Legionen

11.4 Der Abfall vom Imperator

11.5 La Garde meurt

12. Usurpation und Reichsdefinition

12.1 Gab es eine Zivilbevölkerung? Die Mobilisierung der Provinzialen

12.2 Der Bataveraufstand und die Grenze zwischen Innen und Außen

12.2.1 Usurpation und auswärtiger Krieg

12.2.2 Das hegemonische System und die Rolle der socii

12.2.3 Der batavische Stamm im Imperium Romanum

12.2.4 Der Aufstand und die Frage der Zugehörigkeit

12.3 Zur politischen Semantik von Innen und Außen

12.4 Die Behandlung der Auxiliartruppen und des batavischen Stammes

13. Staatsrecht und reales Funktionieren der ›Verfassung‹

13.1 Warum es keine Samtherrschaft im Prinzipat geben konnte

13.2 Eine Usurpation legalisieren? Zur transitorischen Klausel in der Lex de imperio Vespasiani

13.3 Exire de imperio? Über die Todverfallenheit des Princeps

13.3.1 Es gab keine Abdankung vom Prinzipat

13.3.2 Der Rücktrittsversuch des Vitellius

Zur Zitierweise

Abkürzungen

Lexika und Handbücher:

Quellensammlungen:

Inschriften, Fasten, Chroniken, Prosopographien:

Münzen:

Rechtsquellen:

Literatur

ἐπιστήμης γὰρ οὔτε νόμος οὔτε τάξις οὐδεμία κρείττων, οὐδὲ θέμις ἐστὶν νοῦν οὐδενὸς ὑπήκοον οὐδὲ δοῦλον ἀλλὰ πάντων ἄρχοντα εἶναι, ἐάνπερ ἀληθινὸς ἐλεύθερός τε ὄντως ᾖ κατὰ φύσιν.

»Denn der Wissenschaft ist kein Gesetz und keine Anordnung überlegen.
Auch ist es nicht Satzung, daß die Vernunft etwas anderem untertan und dessen Sklavin sei. Sondern sie muß über alles herrschen, sofern sie gemäß ihrer Natur wahrhaft und frei ist.«

(Platon, Nomoi)

ἡ θεωρία τὸ ἥδιστον καὶ ἄριστον

»Die Theorie ist das Angenehmste und Beste«

(Aristoteles, Metaphysik)

Vorwort zur neuen Fassung

Vor mehr als einem Vierteljahrhundert erschien die erste Fassung dieses Werkes. Als ich damals das Thema rechtfertigte, tat ich das mit Sätzen, von denen heute einige entbehrlich geworden sind.

Usurpationen ereigneten sich im Römischen Reich während der beiden ersten nachchristlichen Jahrhunderte nicht häufig; und im zweiten Jahrhundert waren es noch weniger als im ersten. Doch kein Phänomen taugt so sehr dazu, die Struktur der Akzeptanz, der Loyalität, die Bedingungen des Funktionierens der römischen Monarchie zu erhellen wie diese extremen Fälle politischer Krisen. Dennoch ist die Usurpation erst 1992 systematisch untersucht worden, in der ersten Fassung dieses Werkes.

Dabei handelt es sich nicht um ein Versäumnis der empirischen Forschung. Erst unter einer spezifischen Konstellation eröffnet sich der Fragehorizont, innerhalb dessen die Usurpation als eigenes Feld für die Forschung abzustecken ist. Bestimmte Auffassungen des Prinzipats lassen den Gegenstand erst gar nicht in den Blick kommen. So etwa jene Konzeption, wonach die Stellung des Kaisers völlig verrechtlicht gewesen sei: In ihrer Optik läßt sich die Usurpation nur als Sonderfall bei der Nachfolgeregelung erfassen.1 Doch die Tatsachen widerlegen diese Vorstellung. Denn keine Usurpation der Prinzipatsepoche2 ereignete sich deswegen, weil der verstorbene Kaiser es versäumt hatte, für seine Nachfolge zu sorgen. Die Usurpation hat nichts zu tun mit einer fehlenden Regelung der Nachfolge. Das Bedingungsverhältnis wirkt umgekehrt: Weil in einer Monarchie Usurpationen möglich sind, deshalb kann eine Nachfolgeregelung im Sinne monarchischer Legitimität sich nicht herausbilden. Eine kardinale Rolle hat jene Konzeption gespielt, wonach es dem Prinzipat an monarchischer Legitimität gebrach: Dieser Sichtweise stellt sich die Usurpation als anomischer Vorgang dar, der dem politischen System notwendig inhärent war. Bestenfalls wird diese Anomie rechtsphilosophisch eingefangen, was Theodor Mommsen aufwändig und rigoros leistet. Mommsen läßt die Usurpation aus der revolutionären Struktur des römischen Kaisertums hervorbrechen, als intermittierendes Aufzucken einer anarchischen Volkssouveränität. Die Aporien dieser Konzeption, die tief verstrickt ist in die staatsphilosophischen Debatten ihrer Zeit, lassen sich aufzeigen.

Die sozialgeschichtliche Forschung hat vom siebten bis zum neunten Jahrzehnt des 20. Jhs. neue Themengebiete erschlossen, um die Träger des politischen Systems sowie die städtischen Eliten genauer zu untersuchen. Die aufkommende neue Kulturgeschichte hat hingegen die symbolische Dimension des Politischen sowie die sozialen und kulturellen Praktiken ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gerückt. Themen, die von der ›staatsrechtlich‹ orientierten Forschung beherrscht zu sein schienen, hat sie auf andere Weise konzeptualisiert; und sie mußte in vielerlei Hinsicht abrücken von der traditionellen Sozialgeschichte. Ihr ist es letztlich zu verdanken, daß der römische Prinzipat sich auf neue Weise konzipieren ließ. Sie ermöglichte es, die Usurpation als Thema sui generis systematisch zu entfalten und forschungspraktisch zu erörtern.

Die römische Usurpation wird hier bestimmt als Herausforderung des amtierenden Kaisers.3 Ein politisches System, in dem der Herrscher herausforderbar ist, betont weniger die Legitimität seiner Stellung als vielmehr die Akzeptanz seiner Person. Rückt man die Akeptanz des regierenden Kaisers ins Zentrum der Aufmerksamkeit, dann lautet die methodische Konsequenz: Es sind Handlungen und Gesten zu untersuchen, die auf Akzeptanz hinwirken oder diese beeinträchtigen und untergraben. Folglich hat dieses Buch sich auf politische Semiotik einzulassen und nach den spezifischen Bedingungen der Kommunikation zwischen den maßgeblichen Gruppen zu fragen.

Indes, ist das nicht eine praxeologisch bedingte Horizontverengung? Heißt das nicht, strukturelle Gegebenheiten beiseite schieben und die rechtliche Dimension ausblenden? Einige Kritiken an der ersten Fassung dieses Buches haben Anstoß daran genommen, wie barsch die staatsrechtlich orientierte Forschung darin abgefertigt wurde. Die Kritik ist berechtigt. Jene polemische Härte erklärt sich aus der wissenschaftlichen Konstellation zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. Es galt, der Neuen Kulturgeschichte ihr Recht zu verschaffen und die Dominanz der verengten Sozialgeschichte aufzubrechen. Dabei erwies sich auch der staatsrechtlich gezogene Horizont als Hindernis.

Wir haben nun seit dem Beginn des 21. Jhs. eine ganz andere Konstellation in der Fachwissenschaft. Daher hat es nicht genügt, an dem Werk von 1992 ein paar Retouchen vorzunehmen. Vielmehr waren ganze Kapitel umzuschreiben. Die kardinalen Thesen haben die Kritiken und Diskussionen des vergangenen Vierteljahrhunderts bestanden; daher präsentieren sie sich erneut. Allerdings werden sie teilweise verfeinert, präzisiert oder mit neuen Begründungen versehen. Denn die Forschung hat in der Zwischenzeit erneut umfangreiche und vielseitige Erkenntnisse zutage gefördert. Allerdings habe ich für die neue Fassung des alten Werkes nur diejenige Literatur berücksichtigt, die meine Kernthemen berühren.

Der Aufbau des Buches folgt dem zentralen Anliegen.

Das Kapitel 1 begründet, wieso der römische Prinzipat als Monarchie zu bestimmen ist; es umreißt einen komparativen Rahmen, innerhalb dessen usurpationsgefährdete Monarchien sich unter einem spezifischen Monarchietyp fassen lassen. Die Kapitel 2 bis 4 widmen sich der Kommunikation und der Interaktion des Kaisers mit den drei maßgeblichen Sektoren des politischen Systems und explizieren, warum der Prinzipat eine Akzeptanzmonarchie war. Hier verdeutlicht sich, wieso die Usurpation als Thema der Forschung sich nur erschließt im Rahmen einer neuen Theorie des Prinzipats.

Das Kapitel 5 erbringt das theoretische und forschungsstrategische Fazit der vorangehenden Kapitel. Hier wird die Frage nach der Legitimität gestellt; hier findet die Auseinandersetzung mit Theodor Mommsen statt – sowohl mit seiner Theorie der Usurpation als auch mit seiner These von der ›Dyarchie‹; und hier soll das Modell der Akzeptanzmonarchie die theoretische Prüfung bestehen. Das Kapitel 6 erörtert die ersten zwei Kaiserwechsel bündig unter dem Aspekt der Kodifizierung der herrscherlichen Befugnisse, den dritten Kaiserwechsels hingegen unter dem Aspekt der Kräfteverhältnisse zwischen den maßgeblichen politischen Sektoren. Damit ist das Feld abgesteckt, auf welchem die Usurpationen sich konkret abspielen, und es wird die erste gescheiterte Usurpation besehen.

Die Kapitel 7 bis 10 behandeln die Usurpationen des 1. Jhs. n. Chr. Die Ereignisgeschichte kommt dabei nur insoweit in Betracht, als sie bedeutsam ist für die Analyse des politischen Handelns und seiner Spielräume.

Die letzten drei Kapitel 11 bis 13 behandeln systematisch zentrale Aspekte des Themas, nämlich das Truppenverhalten, die Reichskonzeption sowie die rechtliche Stellung des Princeps.

Die ›Methodische Einleitung‹ gibt Rechenschaft darüber, warum hier die Quellen anders gelesen werden als in der Historie sozialgeschichtlicher oder staatsrechtlicher Prägung. Sie erläutert ferner, wieso eine theoretische Achsenverschiebung gegenüber der Erstfassung nötig geworden ist.

Bedanken möchte ich mich für sorgfältige Fehlersuche bei den Frauen Marthe Becker, Franziska Hermes und Carlotta Voß, für Kritik und Ratschläge bei meinem Kollegen Uwe Walter, für nachsichtige Geduld auf der Seite des Verlages bei Jürgen Hotz, für beruhigende Fernbetreuung bei meinem Kollegen Stefan Rebenich. Für rücksichtsvolle Ablenkung danke ich meiner Frau.

Methodische Einleitung: Die Unordnung des Diskurses. Zur Konstruktion von Historie

Die Einleitung zur Erstauflage dieses Werkes verfolgte zwei Ziele. Zum einen machte sie die Diskursanalyse stark gegen eine ›herkömmliche‹ Hermeneutik; dies betraf den Umgang mit den literarischen Quellen. Zum anderen verdeutlichte sie, welche Möglichkeiten der praxeologische Theorieansatz geboten hat; das berührte die Analyse von Ereignisverläufen und das Erfassen von sozialem Handeln. Auch regte jene Einleitung dazu an, die semiotische Dimension in kommunikativen Prozessen weitaus stärker zu beachten als damals üblich. Das war vor einem Vierteljahrhundert. Nun verlangt die veränderte kulturwissenschaftliche Lage eine neue Einleitung. Damals war es notwendig, eine beinahe schroffe Abkehr von der klassischen Sozialgeschichte vorzunehmen, um die kulturelle Dimension des Politischen auf neue Weise in den Blick zu bekommen. Die heutige Forschungspraxis hingegen verlangt nach theoretischen Regeln und Methoden, mit deren Hilfe sich die unterschiedlichen Ansätze synthetisieren lassen – und zwar ohne Einbuße an Kohärenz. Die neue Einleitung muß Einseitigkeiten zurücknehmen, Überspitzungen abschwächen und den Horizont an einigen Stellen ausweiten.

1. Wissenschaftlich konstruieren – eine knappe Rechtfertigung

Die Historie als Wissenschaft ist bedroht von den verheerenden Wirkungen jenes Diktums von Nietzsche: »Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.« Der Diskursanalyse sowie der Dekonstruktion gilt dieser Satz als axiomatische Fundierung. Davon hat sich die historische Kulturwissenschaft verabschieden müssen. Andernfalls wäre ihr der Begriff der Objektivität abhandengekommen. Inzwischen hört man manchenorts den Ruf, ›Objektivität‹ sei ein Kampfbegriff und ›Wahrheit‹ sei eine Kenoklese, ein leeres lexikalisches Signal ausgebliebenen Sinns, dessen erhabene Hohlheit einschüchtert und definitorische Machtansprüche absichert, letztlich ein rhetorischer Effekt. Indes, jedwede Episteme, die sich von der Wahrheit als Leitidee verabschiedet, hört auf Wissenschaft zu sein; sie ist außerstande zu unterscheiden zwischen Tatsachen und Fiktionen.4 Wenn die Historie keine Wissenschaft mehr sein will, dann stellen sich augenblicklich zwei Folgen ein:

Erstens wird dann das ›anything goes‹ zur Richtschnur; der disziplinäre Rahmen verliert seine Verbindlichkeit, die methodische Embolie wird zum Dauerzustand, und folglich büßt jedwede Methodendiskussion ihren Zweck ein. Das Erzeugen von ›fake history‹ wird zur legitimen akademischen Aktivität. Der radikale Konstruktivismus treibt in diese Richtung; seine Hochtöner haben die Produktion von ›alternativen Fakten‹ angeheizt, welche heute unsere geistige Welt zumüllen. Zweitens verwandelt sich die Historie als wissenschaftlich geregelte ›histoire‹ in die ›mémoire‹ von politischen, ethnischen, religiösen, sexuellen oder pseudorassischen Partialkulturen. Und diese fabrizieren sich nach Gutdünken Bilder ihrer Vergangenheit, die sie instrumentalisieren, um in der Gegenwart Ansprüche anzumelden und die sie aggressiv gegen alle intellektuelle Kritik abschirmen. Dieser geistige Klimawandel im postfaktischen Zeitalter ist deswegen so beunruhigend, weil er vielleicht weniger reversibel ist als der globale. Wie weit sich Kulturwissenschaften bereits eingefinstert haben, bezeugt die kategorische Aussage des Soziologen Anthony Giddens:

»In science, nothing is certain, and nothing can be proved, even scientific endeavor provides us with the most dependable information about the world to which we can aspire. In the heart of the world of hard science, modernity floats free.«5

Diese emphatischen Wortgebilde dokumentieren, in welchem Ausmaß aus unseren Disziplinen jene theoretische Bildung entwichen ist, welche zu Zeiten von Max Weber oder Emile Durkheim vorausgesetzt wurde. Mathematische Gewißheiten haben immer schon gegolten, im Andromeda-Nebel ebenso wie in der Milchstraße. Nach Giddens könnten wir morgen wieder zum geozentrischen Weltbild zurückkehren und übermorgen die Erde wieder zur Scheibe erklären, während Austronauten zu Raumstationen fliegen, Astronomen Gravitationswellen nachweisen und Genetiker Lebewesen klonen. Die objektive Realität leugnen hieße, sich in einen postfaktischen Zustand zu begeben, den niemand – außerhalb universitärer Seminarräume oder der geschlossenen Psychiatrie – auch nur einen Tag überleben könnte. Wie sollen jene Wissenschaften, die sich als solche verstehen, unsere Disziplinen noch ernst nehmen?

Das zentrale Anliegen der kantischen ›Kritik der reinen Vernunft‹ ist es, den Begriff der Objektivität zu verteidigen. Darum nannte Kant seinen transzendentalen Idealismus einen »empirischen Realismus«. Und weil die Kulturwissenschaft es mit empirischen Sachverhalten zu tun hat, benutzten Wilhelm Dilthey, Georg Simmel, Ernst Troeltsch und Max Weber den Begriff ›Wirklichkeitswissenschaft‹. Hätten jene Kulturwissenschaftler, die auf den dekonstruktionistischen bandwagon aufgesprungen sind, gelesen, was Johann Gustav Droysen etwa 1858 formulierte, dann hätten sie nicht das Rad neu und in quadratischer Form erfinden müssen:

»Die Wissenschaft der Geschichte ist das Ergebnis empirischen Wahrnehmens, Erfahrens und Forschens (ἱστορία). Alle Empirie beruht auf der ›spezifischen Energie‹ der Sinnesnerven, durch deren Erregung der Geist nicht ›Abbilder‹, aber Zeichen von den Dingen draußen […] empfängt. Er entwickelt sich so Systeme von Zeichen, in denen ihm sich die Dinge draußen entsprechend darstellen, – eine Welt von Vorstellungen, in denen er, fort und fort sie in neuen Wahrnehmungen berichtigend, erweiternd, steigernd, die Welt draußen hat, so weit er sie haben kann, sie haben muß, um sie zu fassen und wissend, wollend formend zu beherrschen.«6

Kantianisch orientierten Historikern ist sehr wohl bewußt, daß der forschende Historiker konstruieren muß und deshalb angewiesen ist auf Zeichensysteme und Vorstellungen. Die historischen Phänomene, die wir untersuchen, sind uns nicht als empirische Tatsachen gegeben. Sie sind, sobald wir uns mit ihnen beschäftigen, notwendigerweise gedankliche Gebilde:

»Das Gegebene für die historische Forschung sind nicht die Vergangenheiten, denn diese sind vergangen, sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah, oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein.«

Was vergangen ist, kann nicht gegeben sein. Das verändert den Begriff des empirischen Forschens: »Die objektiven Tatsachen liegen in ihrer Realität unserer Forschung gar nicht vor.«7 Die Niederlage der Römer in der Schlacht bei Cannae ist für den Historiker keine ›vorliegende Tatsache‹. Droysen leugnet damit keinesfalls die ›objektive Realität‹; denn nach seiner Definiton war die Schlacht bei Cannae sehr wohl eine ›objektive Tatsache‹, obschon sie unserer Forschung nicht mehr ›vorliegt‹. Indes, sie lag schon den Mitwirkenden nicht mehr als empirische Tatsache vor, als Karthago 14 Jahre später kapitulierte. Die Kulturwissenschaft hat es zu tun mit Sachverhalten, die existieren oder existierten, ob menschliches Bewußtsein sie wahrnahm oder nicht. Als solche können sie sehr wohl ›objektiv‹ und zutreffend sein, denn sie beziehen sich ja auf Wirklichkeit, obschon diese Wirklichkeit vergangen und empirisch nicht mehr gegeben ist.

Wichtig ist nun, daß diese in Gedanken konstruierte Wirklichkeit eine fundamental andere wird, wenn man sie begrifflich so konzipiert, daß sich aus ihr mehrere verschiedene Geschehensverläufe ergeben können, also historische Alternativen. Mit dieser intellektuellen Operation verwandelt sich – wie Max Weber ausführte – die gedachte Wirklichkeit in einen »Komplex möglicher ursächlicher Beziehungen.« Der nächste Schritt besteht darin, jene Faktoren, die in der analysierten Situation wirkten, gedanklich zu isolieren und sie zu gewichten. Um sie zu gewichten, sind Hypothesen aufzustellen und nacheinander die isolierten Faktoren aus dem Spiel zu nehmen, um zu ersehen, welche Wirkung sich auf die gedachten Verläufe ergibt. Indem man verschiedene Vorgänge konstruiert, deren Verschiedenheit sich daraus ergibt, welche Bedingungen man verändert und welche Faktoren man wegläßt, wird das Gewicht der Faktoren abschätzbar; Weber faßt diese Methode in die lapidare Sentenz: »Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche.« Der tatsächlich eingetretene Ereignisverlauf – also das realiter Geschehene – erscheint als ein logisch konstruierbares Resultat. Eben das versteht Max Weber unter einer ›historischen Erklärung‹.

Indes, wenn man die realen Abläufe eines historischen Geschehens im Geiste abändert, um den eingetretenen Verlauf als eine Möglichkeit unter mehreren zu denken, dann ist eine Grenze zu beachten. Der Historiker hat die »objektiven Möglichkeiten« herauszuschälen; es sind nämlich viele Verläufe aus sachlichen Gründen nicht möglich, obwohl wir sie denken können. Was in Anbetracht der objektiven Gegebenheiten möglich ist, war oder gewesen wäre, das ist nach Max Weber eine »objektive Möglichkeit«. Aber was berechtigt einen Historiker dazu, unter der riesigen Menge von denkbaren Alternativen nur wenige als ›objektiv möglich‹ einzustufen und die weitmeisten auszusondern? Webers Antwort lautet:

»Betrachtet man nun aber diese ›Möglichkeitsurteile‹ – d. h. Aussagen über das, was bei Ausschaltung oder Abänderung gewisser Bedingungen geworden ›wäre‹ – noch etwas genauer und fragt zunächst danach: wie wir denn eigentlich zu ihnen gelangen? –, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es sich durchweg um Isolationen und Generalisationen handelt, d. h. daß wir das ›Gegebene‹ so weit in ›Bestandteile‹ zerlegen, bis jeder von diesen in eine ›Regel der Erfahrung‹ eingefügt und also festgestellt werden kann, welcher Erfolg von jedem einzelnen von ihnen, bei Vorhandensein der anderen als ›Bedingungen‹, nach einer Erfahrungsregel zu ›erwarten‹ gewesen ›wäre‹. Ein ›Möglichkeits‹urteil in dem Sinne, in welchem der Ausdruck hier gebraucht ist, bedeutet also stets die Bezugnahme auf Erfahrungsregeln.«8

Unabdingbar zum Forschen ist demnach ein positives Wissen von ›Regeln des Geschehens‹, ein ›nomologisches‹ Wissen. Dieses erlaubt, Ursachen ›zuzurechnen‹ – genauer: den ermittelten Faktoren verschiedene Grade von Wirksamkeit zuzusprechen.9 Solche Regeln müssen erweitert, modifiziert und differenziert werden. Das verlangt ihr eigener Begriff, denn sie sind nach Weber aus der Erfahrung gewonnen. Die gedanklich vollzogenen Experimente stehen somit auch unter der Kontrolle von empirischen Kenntnissen und empirisch gewonnenen Einsichten. Im Folgenden versuche ich das nach Kräften zu beherzigen.