Johannes Beck-Neckermann

Mit Kindern Musik entdecken

Musikalisches Experimentieren und Gestalten
in der frühpädagogischen Bildungsarbeit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014 Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort

Einleitung zur Wiederveröffentlichung

Teil I
Klangforscherin und Musikgestalterin sein

Sich lauschend in der Welt bewegen

Sich klangvoll in der Welt bewegen

Sich empfindsam in der Welt bewegen

Sich erzählend in der Welt bewegen

Sich kommunizierend in der Welt bewegen

Teil II
Bildungsprozesse mit musikalischem Experimentieren und Gestalten begleiten

In das Sinnesereignis Musik eintauchen

In der Klang erzeugenden Bewegung aufgehen

Vorstellungswelten und Bedeutungen erkunden

Urheber musikalischer Kunstwerke sein

Musikalisches Gestalten begleiten

Ausklang

Nachklang

Literatur

Vorwort

Musik ist von existenziellem kultur- und gemeinschaftsstiftendem Wert für unsere Gesellschaft. Denn sie fragt nicht nach Alter, Geschlecht und Herkunft. Sie verbindet Menschen, berührt und bewegt. Musik hat deshalb eine ganz besondere Rolle in der Kindertageseinrichtung verdient.

Lange war jedoch zu beobachten, dass Musik sich kaum im Alltag von Kitas wiederfand, obwohl sie mittlerweile in allen Bildungsplänen der Länder berücksichtigt wird. Inzwischen begleitet gemeinsames Singen und Musizieren in vielen Kindertageseinrichtungen wieder alltägliche Rituale. Zunehmend mehr Kitas kooperieren mit Musikschulen, die ein musikalisches Angebot für unterschiedliche Gruppen von Kita-Kindern gestalten. Immer mehr Kitas wünschen sich eine verstärkte konzeptionelle Einbindung von Musik in ihren Alltag.

Das Projekt MIKA – Musik im Kita-Alltag hat sich zum Ziel gesetzt, die Musik im pädagogischen Konzept von Kitas zu verankern und damit einen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zu leisten. Darüber hinaus knüpft MIKA auch an die Möglichkeit der Musik an, eine ganze Einrichtung in Bewegung zu setzen, wenn ihr volles Potenzial für die Elementarpädagogik genutzt wird.

Kennzeichnend für MIKA sind eine kindzentrierte partizipative Haltung und ein sehr offener Musikbegriff. Damit setzt die Idee an dem von Geburt an vorhandenen musikalischen Entdeckungs- und Ausdrucksdrang der Kinder an. Ziel ist es, die Begeisterung des einzelnen Kindes für Musik möglichst auch über die Kita-Zeit hinaus wachzuhalten. Dies gelingt besonders gut, wenn das Kind von pädagogischen Fachkräften und anderen Erwachsenen begleitet wird, die selbst Freude am aktiven Musizieren haben.

Das vorliegende Buch macht pädagogischen Fachkräften und auch Eltern Mut, die eigene Musikalität (wieder) zu entdecken und gemeinsam mit den Kindern musikalisch zu experimentieren. Johannes Beck-Neckermann ermutigt dazu, die kindliche Perspektive auf musikalische Prozesse und Klangphänomene einzunehmen und die musikalischen Äußerungen des Kita-Kindes neu einzuordnen. Das Buch enthält Anregungen, wie Erwachsene die musikalischen Aktivitäten gemeinsam mit dem Kind weiterentwickeln können, sodass das Kind Selbstwirksamkeit erlebt und sich in seinen Interessen ernst genommen fühlt. Mit diesem Ansatz passt das Buch »Mit Kindern Musik entdecken« als Material für die Kita-Praxis und für die Arbeit mit Kindergruppen sehr gut zu MIKA. Wir freuen uns, dass wir das Buch im Rahmen unseres Projektes publizieren dürfen.

Ute Welscher

Christoph Ludewig

Nähere Informationen zu allen Bausteinen des Projektes »MIKA – Musik im Kita-Alltag« finden Sie unter www.bertelsmann-stiftung.de/mika.

Einleitung zur Wiederveröffentlichung

In den beinahe sechs Jahren seit der ersten Veröffentlichung dieses Buches hat sich in Bezug auf die Initiierung und Begleitung musikalischer Aktivitäten in Kindertagesstätten einiges entwickelt. So bin ich früher in meiner Fortbildungsarbeit oft Erzieherinnen begegnet, die die musikalischen Angebote ihrer Kita an externe musikpädagogische Fachkräfte delegiert haben. Dies war einer mehr oder weniger reflektierten Tradition geschuldet – aber auch Auswirkung einer Selbstzuschreibung: Ich bin selbst nicht kompetent genug, Musik zu vermitteln.

Heute begegne ich vielen Erzieherinnen, die musikalische Aktivitäten gemeinsam mit den Kindern initiieren und – sich ihrer elementarpädagogischen Kompetenzen bewusst – begleiten. Einige Aspekte, die diesen Wandel begünstigt haben, seien hier skizziert.

In vielen Kitas wird heute der Musikbegriff sehr weit gefasst. Geräusch- und Klangmomente im Sandkasten, beim Händewaschen usw. werden selbstverständlich als musikalische Erfahrung wahrgenommen und sind willkommen als spontaner Anlass für musikalisches Explorieren und Gestalten. Damit geht einher, dass sich vielerorts das »Wir machen Musik« aus der einseitigen Fixierung auf angeleitete (Stuhl-)Kreissituationen gelöst hat. Das Bewusstsein dafür, dass musikalische Erfahrung sich direkt und spontan aus Alltagssituationen und den selbst gewählten Aktivitäten der Kinder entwickeln kann und darf, ist gewachsen.

Dabei hat sich die Vorstellung von der Aufgabe der begleitenden Pädagoginnen und Pädagogen verändert und erweitert. Die Vorgabe, musikalische Angebote müssten vorstrukturiert, durchgeplant und in ihren Ergebnissen vorhersagbar sein, konnte in der Anbindung an ein frühpädagogisches Verständnis einer kindzentrierten Bildungsbegleitung aufgelöst und erweitert werden. Im Kontext einer partizipativen Haltung rückt nun – statt einer vorbereitenden Planung musikalischer Aktivität – die achtsame Wahrnehmung der Aktivitäten der Kinder und ihrer musikalischen Erfahrungswelten an den Anfang. Musikalisches Experimentieren und Gestalten kann so unmittelbar aus dem Tun der Kinder entstehen. Musik, die sich entwickeln darf, wird mehr zur Musik der Kinder als zu einer von Erwachsenen vermittelten Musik.

Dies alles basiert auch auf einem Konzept von musikalischer Aktivität als einer jedem Menschen von Geburt an gegebenen Ausdrucksbewegung. Kein Kind muss diese musikalische Ausdrucksbewegung erlernen und kein Pädagoge kann sie lehren. Sie entfaltet sich individuell, wenn sie Raum erhält und von anderen Menschen mit Aufmerksamkeit und Interesse beantwortet wird. Jedes Kind und jede Erzieherin ist nach diesem Verständnis auf eine individuelle Weise musikalisch und sollte Raum und Zeit erhalten, sich mit dieser Musikalität zu zeigen und weiterzuentwickeln.

Das vorliegende Buch unterstützt mit seinen beiden Teilen diese Entwicklung. Es zeigt Wege auf, musikalische Erfahrung als ein selbstverständliches Element kindlicher Aktivität und elementarpädagogischer Bildungsbegleitung zu begreifen und zu ermöglichen. Ich freue mich sehr, dass die Bertelsmann Stiftung im Zusammenhang mit der Entwicklung des MIKA-Konzeptes dieses Buch – nachdem es vergriffen war – allen Interessierten aus dem Kontext Kindertagesstätte und Elementare Musikpädagogik erneut verfügbar macht.

Im ersten Teil sind fünf Aspekte musikalischer Erfahrung ausgearbeitet, die diese im alltäglichen Wahrnehmen und Handeln jedes Menschen verankern. Neben einführenden theoretischen Texten finden Sie Anregungen,

als Klangforscherin und als Musikgestalterin selbst auf Entdeckungsreise zu gehen,

aufmerksam zu werden für Kinder als geborene Musikkünstler,

gemeinsam mit Kindern im Alltag Ihrer Kindertagesstätte musikalische Momente zu entdecken und zu erleben.

Das Anliegen dieses ersten Teils ist es, Sie zu ermutigen, sich selbst als Musikforscherin und Musikgestalterin wahrzunehmen und sich Ihren Kindern in der Kindertagesstätte als solche zu zeigen.

Im zweiten Teil des Buches wird die musikalische Aktivität von Kindern gezielter auf deren Intentionen hin befragt. Sie finden dort die Unterscheidung von vier Beweggründen, musikalisch aktiv zu sein. Dies will Sie unterstützen,

die individuellen Zugänge von Kindern zu musikalischer Aktivität wahrzunehmen,

die Erfahrungswelten zu erfassen, die Kinder in ihrer musikalischen Aktivität suchen,

sich vom musikalischen Spiel der Kinder inspirieren zu lassen und diese zu inspirieren.

Dieser zweite Teil möchte Ihnen Wahrnehmungshilfen und Handlungsideen anbieten, die es ermöglichen, musikalisches Spiel als Teil des individuellen Bildungsprozesses eines Kindes zu begreifen und entsprechend zu begleiten.

Für eine leichtere Lesbarkeit verwende ich in diesem Buch überwiegend die weibliche Form »Erzieherin«. Dies entspricht der Tatsache, dass in Kindertagesstätten noch immer vorwiegend Frauen arbeiten. Ich hoffe, dass sich alle männlichen Leser gleichermaßen angesprochen fühlen.

Johannes Beck-Neckermann

Teil I
Klangforscherin und Musikgestalterin sein

Kinder handeln von Geburt an musikalisch. Hochsensibel lauschen bereits Säuglinge und Kleinkinder den akustischen Reizen ihrer Lebenswelt. Mit der Stimme erzeugen sie selbst Geräusche, Klänge und Töne. Mit den Händen greifen sie nach den sie umgebenden Gegenständen und Materialien, dabei interessieren sie sich häufig auch für deren Klangeigenschaften. Aus diesem Verständnis vom Kind als geborenem »Klangforscher« und »Musikgestalter« ergeben sich Fragen für die frühpädagogische Bildungsbegleitung. Welche Vorstellungen von »musikalischer Aktivität« und »Musikalität« liegen dieser Haltung zugrunde? Was ist nach diesem Verständnis eine musikalische Erfahrung? Das Spiel der Kinder im folgenden Beispiel macht dies deutlich.

Vier Kinder rennen durch den Raum, jedes Kind in seinem Tempo und immer der eigenen Nase nach. Dabei schütteln sie sehr ausdauernd und lautstark alle verfügbaren Rasseln.

Unmittelbar beim Beobachten entstehen hier Fragen: Sind bei diesem Spiel musizierende Kinder am Werk? Oder machen sie einfach nur Lärm? Mit welcher Haltung zu Musik und zu musikalisch aktiven Kindern müssen wir hinschauen, um zu erkennen, was hier (musikalisch) erforscht und gestaltet wird? Und jenseits dieser theoretisch-reflektierenden Fragen interessiert natürlich die Perspektive der Interaktion: Wie reagiere ich als Spielbegleiter? Soll ich die Kinder reglementieren: »Setzt euch bitte! Ich möchte nicht, dass ihr mit Instrumenten durch den Raum rennt.« Oder wäre es angebracht, das gemeinsame Spiel zu strukturieren: »Kommt mal her, ich zeige euch einen Rasselrhythmus.«

Vielleicht wäre es auch sinnvoll, das Spiel zu kommentieren und eine eigene Forschungsfrage zu stellen: »Ihr verteilt eure Rasselklänge im ganzen Raum. Nur nicht unter dem Tisch. Klingen Rasseln im Schatten nicht?« Jede dieser Reaktionen transportiert unausgesprochen eine Vorstellung von dem, was »Musik« zu »Musik« macht, und von dem, was man als Musiker tun und erleben kann und darf. Die Kinder spüren in der Reaktion der Erwachsenen, was als musikalische Aktivität erkannt und wertgeschätzt wird. Sie merken, für welche musikalischen Erfahrungen sie mit Unterstützung und weiterer Anregung rechnen können.

Im Kontext der Bildungsarbeit in Kindertagesstätten ist es wichtig zu reflektieren, durch welche Reaktionen die Kinder am deutlichsten spüren, dass sie von der Erzieherin als »Klangforscher und Musikgestalter« wahrgenommen werden. Auf dieser Basis lässt sich herausfiltern, zu welchen weiteren musikalischen Erfahrungen die Kinder angeregt werden können. Um hier eine klare Einschätzung zu treffen, muss man sich im Rahmen der frühpädagogischen Erziehungs- und Bildungsarbeit auf ein Konzept von »musikalischer Aktivität« und »Musikalität« beziehen können. Dieses baut darauf auf, musikalische Aktivität als eine jedem Menschen zugängliche und alltägliche Erfahrung zu begreifen, die unabhängig von spezifischen Begabungen ist. Anliegen der folgenden fünf Abschnitte ist es, ein entsprechendes Konzept zu formulieren.

Sich lauschend in der Welt bewegen

Die Geräusch- und Klangwelt am Schreibtisch

Am Schreibtisch sitzend, schließe ich die Augen und lausche. Eher von fern nehme ich das Ticken eines Weckers wahr. Beim genaueren Hinhören bemerke ich einen regelmäßigen Wechsel im Klang des Tickens: hoch und tief und hoch und tief usw. Im tiefen Ticken höre ich ein zweites kurzes Nachruckeln, wie ein leises, kaum wahrnehmbares Echo. Während ich dem Ticken des Weckers zuhöre, gewinnt allmählich ein Rauschen meine Aufmerksamkeit. Unter die Lüftungsgeräusche der Computer-Festplatte mischt sich das Rauschen der Heizung. Beides ist voneinander kaum zu unterscheiden. Ich lausche diesem Klangteppich von rhythmischem Ticken und Rauschen. Ein immerwährendes Weiterklingen, hin und wieder ergänzt von den Geräuschen eines vorbeifahrenden Autos und dem plötzlich alles übertönenden Neun-Uhr-Läuten der Kirchturmglocken.

Musik entsteht, wenn wir »ganz Ohr« werden und um des Lauschens willen lauschen. Ein einfaches akustisches Ereignis kann sich durch aufmerksames Hinhören in Musik verwandeln – wie im obigen Beispiel das Ticken des Weckers. Bei intensivem Hinhören sind dabei im Sekundentakt mehrere Geräusche zu entdecken. Deren regelmäßiger Rhythmus »Ticken–Stille–Ticken–Stille« kann beim Hörer eine Empfindung von Spannung, vielleicht aber auch von Langeweile erzeugen.