Die Fraglichkeit von Religion und Moral
Die Fraglichkeit von Religion und Moral
Eine systematische Untersuchung und eine kurze Geschichte moderner Ethik
Tectum Verlag
Wilfried Stütz
Die Fraglichkeit von Religion und Moral. Eine systematische Untersuchung und eine kurze Geschichte moderner Ethik
© Tectum Verlag Marburg, 2015
ISBN: 978-3-8288-6229-6
(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3511-5 im Tectum Verlag erschienen.)
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Für Ayla, Kenan und Pelin
INHALTSVERZEICHNIS
Kapitel 1: Der Glaube an geoffenbarte Wahrheiten – legitim, weil unvermeidlich, oder unverantwortlich?
Kapitel 2: Die Nichtigkeit aller objektiven Einwände gegen den Glauben. Kierkegaards Rechtfertigung des christlichen Glaubens
Kapitel 3: Gott – eine vernünftige Idee oder ein naives Gedankenkonstrukt?
3.1. Das Gewissen als Hinweis auf die Existenz Gottes
3.2. Die Welt-Wirklichkeit als Hinweis auf die Existenz Gottes
3.3. Das Sinn-Verlangen des Menschen als Hinweis auf die Existenz Gottes
3.4. Die religiöse Erfahrung als Hinweis auf die Existenz Gottes
Kapitel 4: Zu einer Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft. Kants Rechtfertigung des Gottesglaubens
Kapitel 5: Die Erschütterung durch den Tod Gottes und die Versuche zu seiner Bewältigung durch Fr. Nietzsche und A. Camus
Kapitel 6: Die Aufhebung der Absurdität des menschlichen In-der-Welt-Seins durch Einsicht in seine Nichtigkeit. Der Buddhismus und sein „Apologet" Arthur Schopenhauer
Kapitel 7: Die Interessen des Individuums und die Interessen der Gesellschaft – ein unaufhebbarer Konflikt?
Kapitel 8: Wohlwollen und Mitgefühl als verbindende Elemente zwischen den Menschen. Die Ethik David Humes
Kapitel 9: Die Unzulänglichkeit aller Gefühle zur Erklärung des Sittlichen. Die Ethik Immanuel Kants
Kapitel 10: Die phänomenologische Suche nach dem Fundament der Moral. Die materiale Wertethik Nicolai Hartmanns
Kapitel 11: Man kann Moral zwar erklären, aber nicht begründen. Die moralphilosophische Position des Non-Kognitivismus und Emotivismus
Kapitel 12: Sittlichkeit – bloßer Gehorsam gegen gesellschaftliche Normen? Eine Infragestellung des Subjektivismus und Relativismus
Kapitel 13: Freud und Leid als Maßstab richtigen Handelns. Die Ethik des Utilitarismus
Kapitel 14: Sympathie als Basis einer normativen Moraltheorie. Die Ethik Adam Smiths
Kapitel 15: Das Prinzip der Verallgemeinerung. Die Ethik Marcus G. Singers
Kapitel 16: Fairness als Fundament der Moral. Die Moraltheorie John Rawls
Kapitel 17: Diskurs-begründeter Konsens als Grundlage der Moral. Die Ethik Jürgen Habermas'
Kapitel 18: Der Kontrakt als Basis einer rationalen Moralbegründung. Die Ethik Peter Stemmers
Kapitel 19: Die Idee von einem Gesellschaftsvertrag, der die Interessen aller Betroffenen gleichermaßen berücksichtigt. Tugendhats Versuch eines humanen Kontraktualismus
Kapitel 20: Das Problem der praktischen Vernunft. Eine Auseinandersetzung mit der Ethik Thomas Nagels
Kapitel 21: Musste Raskolnikov zum Mörder werden? Die Diskussion zwischen Determinismus und Indeterminismus
Kapitel 22: Die intellektuelle Redlichkeit als Schlüssel zum Verständnis von Freiheit und praktischer Vernunft
Kapitel 23: Die Infragestellung von Intentionalität und Willensfreiheit durch den Kausalnexus. Eine Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten des Leib-Seele-Problems
Kapitel 24: Veranlagung und Prägung als bestimmende Antriebe menschlichen Verhaltens. Eine erneute Infragestellung der Willensfreiheit
Kapitel 25: Sittliche Freiheit und Erziehung zu Gewissen und Moral – ein Widerspruch in sich?
Kapitel 26: Die Achtung als zentrales Prinzip der Moral
Kapitel 27: Der moralische Status der Tiere. Eine Auseinandersetzung mit der Ethik Peter Singers
Kapitel 28: Die moralische Forderung als Anfrage an das Selbstverständnis des Menschen
Kapitel 29: Das Gute – oder das rechte Leben? Das Streben des Menschen nach Selbstverwirklichung in einem schwierigen Spannungsfeld
Kapitel 30: Zur Sinnhaftigkeit weltanschaulicher Sinnangebote. Eine Kritik politischer und religiöser Ideologien
Kapitel 31: Anspruch und Berechtigung der Philosophie angesichts ihrer Infragestellung durch Religion und Wissenschaft
Literaturverzeichnis
Einleitung
Geht es um eine Geldanlage, um den Abschluss einer Versicherung oder gar um den Kauf eines Hauses, so halten wir es für angebracht, uns umfassend zu informieren und alle Argumente sorgsam gegeneinander abzuwägen, um ja keinen Fehler zu machen. Geht es aber um die Frage: Wofür will ich leben, worauf will ich mein Leben bauen, so verhalten wir uns oft ganz merkwürdig irrational. Was wir in viel unwichtigeren Angelegenheiten niemals machen würden, dazu sind wir hier nur allzu schnell bereit: Wir vertrauen unserem bloßen Gefühl, wir glauben, dass die Religion bzw. die Weltanschauung wahr ist, von der wir uns emotional angesprochen, zu der wir uns gerade hingezogen fühlen, oder wir verharren gleich bei jener religiös-weltanschaulichen Deutung, die man uns als Kind angewöhnt hat. Als Erklärung und Rechtfertigung für dieses irrationale Verhalten führen wir in aller Regel an, dass wir von der Wahrheit des Geglaubten zutiefst überzeugt sind, auch wenn wir diese Überzeugung nicht begründen können.
Für die meisten von uns sind die religiös-weltanschaulichen Fragen damit erledigt, noch bevor sie ein echtes Problem waren. Man ist Christ, oder zumindest ein an Gott Glaubender, wie man Deutscher oder Europäer ist, quasi durch Geburt. Genau dies galt lange Zeit auch für mich selbst. Ich war Christ von Kindheit an und Christ aus tiefster Überzeugung, bis eine absolute Nebensächlichkeit – die von Hans Küng aufgeworfene Debatte um die Unfehlbarkeit des Papstes – mir den Anstoß zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben gab. Bei dem bloßen Zweifel an der Unfehlbarkeit blieb es nicht. Denn aufgeweckt durch diesen ersten Zweifel, verloren auch andere Glaubensinhalte bald ihre bisherige Selbstverständlichkeit. Den drohenden Glaubensverlust empfand ich zu jenem Zeitpunkt keineswegs als befreiend, sondern als beängstigend, da mir der Glaube nach wie vor viel, ja sogar sehr viel bedeutete. Ignorieren konnte ich die aufgekommenen Zweifel aber nicht mehr, da ich dies als Selbstbetrug empfunden hätte. Ich musste mich meinen Zweifeln stellen. Zu diesem Zweck verbrachte ich ein halbes Jahr ausschließlich damit, theologische Schriften zu lesen und das Neue Testament zu studieren. Diese Beschäftigung führte mich aber nicht zum Glauben zurück, sie entfremdete mich dem christlichen Glauben vielmehr noch weiter. Um der Sache auf den Grund zu gehen und um ja keine Argumente, die für die Wahrheit des christlichen Glaubens sprechen, zu übersehen, entschloss ich mich, ein Theologiestudium aufzunehmen. Hatte ich zu diesem Zeitpunkt insgeheim noch gehofft, dass sich meine Glaubenszweifel durch das Studium legen würden, so wurde ich enttäuscht. Denn tatsächlich fand ich meine Zweifel hier nur noch bestätigt, ja mehr noch, sie weiteten sich durch das Kennenlernen philosophischer Argumente noch aus und erstreckten sich bald auch auf die Existenz Gottes. Es blieb nicht beim bloßen Zweifel; schon nach einigen Semestern war ich mir sicher: Ich kann, ja ich darf nicht mehr an Gott glauben, wenn ich zu mir selbst ehrlich sein will.
In weltanschaulicher Hinsicht war ich jetzt ohne jegliche Orientierung. Ohne Orientierung aber konnte und wollte ich nicht bleiben. Ich wandte mich deshalb der Philosophie zu, wohl wissend, dass ich dort nicht die Antwort auf alle meine Fragen würde finden können, v.a. nicht die Antwort auf die Frage 'Woher komme ich?' und 'Wohin gehe ich?' Bekam ich in der Philosophie aber zumindest doch plausible Antworten auf die ganz praktischen weltanschaulichen Fragen, die Fragen 'Was soll ich tun?', 'Wie muss ich leben, wenn ich ein gutes und sinnerfülltes Leben führen will?' 'Wer bin ich selbst, zu welcher Freiheit und Erkenntnis bin ich überhaupt befähigt?' Antworten auf diese Fragen fand ich in der Philosophiegeschichte sehr wohl; das Problem war allerdings, dass sich die Antworten von Philosoph zu Philosoph oft erheblich unterschieden. Die Warnung eines ehemaligen Lehrers vor der Philosophie schien also nicht ganz unberechtigt: 'Jeder sagt was anderes und alle wollen recht haben'. Sind plausible Antworten auf die Grundfragen des Menschseins in der Philosophie also genauso wenig zu finden wie in den Religionen? Auch wenn ein erster Blick in die Philosophiegeschichte diesen Eindruck erweckt, so besteht zwischen Philosophie und Religionslehren doch ein sehr entscheidender Unterschied: Der Wahrheitsanspruch der Religionen gründet sich auf Heilslehren und Offenbarungen, die philosophischen Theorien aber auf Argumenten. Die religiösen Botschaften kann man glauben oder auch nicht glauben, mit philosophischen Argumenten aber kann man sich kritisch auseinandersetzen. Sich mit einer philosophischen Position auseinandersetzen aber bedeutet, dass man sie bejaht, sofern sie einsichtig ist, sie aber verwirft, sofern sie nicht überzeugend und schlüssig begründet ist. Dies aber bedeutet zugleich, dass man sich philosophischen Positionen gegenüber sehr differenziert verhalten kann. Man muss sie nicht pauschal akzeptieren oder ablehnen (wie es bei Glaubenslehren der Fall ist), man kann vielmehr auch bestimmte Aspekte bejahen, andere aber verneinen.
Warum aber ist es überhaupt notwendig, sich in dieser differenzierten Weise mit philosophischen Theorien auseinanderzusetzen? Oder anders gefragt: Wie kann es überhaupt dazu kommen, dass Philosophen in Bezug auf ein und dasselbe Problem zu ganz unterschiedlichen Ergebnissenkommen, obwohl ihre Überlegungen dem eigenen Anspruch nach doch auf rationalen Argumenten beruhen? Die Antwort auf diese Frage wurde mir umso deutlicher, je intensiver ich mich mit den unterschiedlichsten Philosophen auseinandersetzte: Die Probleme der Philosophie sind äußerst vielschichtig und sie sind oft aufs Engste miteinander verwoben. In dieser engen Verflechtung der Probleme aber liegt ein großes Gefahrenpotential, und zwar v.a. deshalb, weil Philosophie verständlicherweise dazu tendiert, allgemeine und grundsätzliche Aussagen zu treffen: Berücksichtigt ein Philosoph nicht alle Aspekte eines Problems oder sieht er nicht den Zusammenhang der unterschiedlichen Probleme in rechter Weise, so muss seine Sicht des Ganzen notwendig verzerrt werden. Das aber bedeutet, dass er zu ganz anderen Ergebnissen gelangt als sein Kollege, obgleich er sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht hat, der Sache gerecht zu werden.
Das philosophische Grundproblem ist damit skizziert. Wie aber lässt es sich beheben? Lösen lässt es sich m.E. nur dadurch, dass jeder Philosoph sich ständig bemüht, sein eigenes Problembewusstsein immer stärker zu entgrenzen. Dies aber erreicht er, indem er sich der Sichtweise und den Argumenten anderer Philosophen und Wissenschaftler nicht verschließt, sondern diese als Anregung begreift, sein eigenes Denken zu hinterfragen und gegebenenfalls auch zu korrigieren. Damit aber wird deutlich: Die Kenntnis alternativer Denkansätze ist eine ganz unverzichtbare Voraussetzung kritischen Philosophierens. Die Kenntnis der Philosophiegeschichte bewahrt den Philosophierenden nämlich davor, längst begangene Fehler aufs Neue zu begehen, sie hilft ihm, sein beschränktes Problembewusstsein zu erweitern und sie macht ihn schließlich auch bekannt mit einem Reichtum an philosophischen Lösungsversuchen. Auch wenn Philosophieren selbstständiges Denken meint und auf eigenverantwortliches Handeln zielt, bedeutet dies nicht, dass man dies ganz ohne die Hilfe, d.h. ohne die Anregung anderer tun sollte.
Für mich, der ich v.a. an den praktischen weltanschaulichen Fragen interessiert war, war somit klar, dass ich mich mit den wichtigsten und z.T. auch äußerst kontroversen ethischen Positionen vertraut machen musste. Bedeutet dies, dass ich mich anstelle der mich eigentlich interessierenden systematischen Fragen für lange Zeit nur noch mit der Geschichte der Ethik zu befassen hatte? Nein, diese strikte Trennung zwischen philosophiegeschichtlichem und systematischem Denken schien mir weder notwendig noch sinnvoll. Viel angemessener schien mir das folgende Vorgehen: Ich suchte auch weiterhin an nach systematischen Antworten auf meine Fragen, aber ich tat dies nicht losgelöst von der Philosophiegeschichte, sondern in der lebendigen Auseinandersetzung mit ihr. Dabei blieb es natürlich nicht aus, dass ich ein Konzept, das ich für plausibel hielt, immer wieder modifizieren oder ganz verwerfen musste, eben weil ich durch die Kenntnis neuer Argumente, Gesichtspunkte oder Einwände eines Besseren belehrt wurde. Besteht bei einem solchen Vorgehen aber nicht die Gefahr, dass man in seiner Suche nach einer überzeugenden und stimmigen Theorie nie an ein Ende kommt? Durchaus, und genau diese Tatsache ist es auch, die die Philosophie für viele Menschen so unbefriedigend erscheinen lässt oder gar unerträglich macht.
Ich selbst bin im Laufe meiner Auseinandersetzung mit den Problemen der praktischen Philosophie schließlich aber doch noch zu einer mir zumindest bislang plausibel erscheinenden Position gelangt. Die wichtigste Anregung hierfür verdanke ich dem amerikanischen Philosophen Thomas Nagel. In den auf Thomas Nagel folgenden Kapiteln finden sich dann auch meine Antworten auf die Frage nach dem Grund moralischer Verbindlichkeit, dem Prinzip moralischer Verpflichtung; ich zeige, dass es moralisch relevante Freiheit gibt und in welchem Umfang sie besteht, und ich gebe schließlich auch eine Erklärung dafür, warum ein gutes und ein rechtes Leben keinen Widerspruch bilden.
Ob die hier vorgestellten Lösungsversuche plausibler oder noch unplausibler sind als die von mir dargestellten und kritisierten Moraltheorien, darüber kann und soll sich jeder Leser nach einer detaillierten Auseinandersetzung selbst ein Urteil bilden. Nicht wenige Denker aber werden vermutlich der Ansicht sein, sich diese detaillierte Arbeit sparen zu können, weil für sie ohnehin bereits feststeht, dass es einsichtige Antworten auf die von uns gesuchten praktischen weltanschaulichen Fragennicht geben kann. Hinsichtlich dieser Auffassung stimmen im Übrigen so gegensätzliche Denker wie analytisch orientierte Philosophen, Wissenschaftstheoretiker und Theologen überein. Ihrem grundsätzlichen Zweifel an der Möglichkeit praktischer Erkenntnis begegne ich in meinem letzten Kapitel, in dem ich nun theoretisch begründe, was ich im Vorausgegangenen anhand konkreter Fragen und Probleme bereits gezeigt habe, nämlich dass und warum praktisches Philosophieren durchaus Erkenntniswert haben kann.
Die hier angesprochenen Themen betreffen jeden Menschen und sollten deshalb auch für jeden von Interesse sein. Kann man, dieses Interesse einmal vorausgesetzt, aber wirklich annehmen, dass auch philosophisch unbedarfte Leser die hier anstehenden Fragen und Probleme nachvollziehen und die angebotenen Lösungsansätze verstehen können? Ich denke, dass vorliegende Arbeit dies jedem wirklich Interessierten durchaus ermöglicht. Zum einen, weil sie keine Vorkenntnisse erwartet, den Leser vielmehr dort abholt, wo er steht, bei seinen Fragen und Problemen. Erleichtert wird das Verständnis der durchaus anspruchsvollen Thematik aber auch durch die Art der Darstellung. Die Abfolge der behandelten Probleme orientiert sich auch in den philosophiegeschichtlichen Teilen nämlich nicht an chronologischen Gesichtspunkten, sondern wurde so gewählt, dass eine dialektische Entwicklung des Erkenntnisprozesses, man könnte auch sagen: ein fruchtbarer zeitübergreifender Dialog, entsteht. Diese Darstellungsform scheint mir auch bestens geeignet, um Verständnis zu wecken für die ganz unterschiedlichen philosophischen Positionen, wie auch für die Tätigkeit des Philosophierens als solche. Der Leser wird nämlich mehr und mehr erkennen, dass es in der Begegnung mit der Philosophiegeschichte nicht um das Kennenlernen fremder und vielleicht auch abstrus wirkender Ansichten irgendwelcher verschrobener Denker geht, sondern um Fragen und Probleme, die ihn selbst ganz unmittelbar angehen. Der Prozess des Philosophierens wird für ihn erlebbar, das Unternehmen Philosophie mit ihren oft gegensätzlichen Positionen nachvollziehbar. Indem er die Probleme aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu sehen bekommt, gewinnt der Leser zudem ein recht umfassendes Problembewusstsein, das ihn in die Lage versetzt, sich ein eigenes und verantwortbares Urteil zu bilden.
Einige der hier angesprochenen Fragen, Themen und Probleme klingen in den Ohren von philosophischen Laien möglicherweise trotzdem furchtbar theoretisch, ja vielleicht sogar abgehoben, und schrecken damit den einen oder anderen davon ab, sich näher auf die Philosophie einzulassen – sei es, weil sie glauben, dass sie diese Probleme und Theorien doch nicht verstehen, oder sei es, dass sie die Beschäftigung damit als nutzlos und sinnlos erachten. Diesen Personenkreis möchte ich mit diesem Buch vom Gegenteil überzeugen. Philosophie ist tatsächlich nämlich etwas völlig anderes, als was sie im Bewusstsein vieler zu sein scheint: Sie ist nicht eine langweilige Beschäftigung mit abgehobenen, trockenen, spröden und weltfremden Themen, sie ist ganz im Gegenteil ein lebensnahes, aufwühlendes, ja geradezu spannendes Unternehmen, ein geistiges Abenteuer mit sehr ernsthaftem Hintergrund und mit einem sehr ungewissen Ausgang.
Etwas von der Faszination, die ich in der Arbeit an jenen existentiellen Problemen selbst erlebe, hoffe ich im Folgenden auch dem Leser vermitteln zu können, indem ich ihn mit hineinnehme in den lebendigen Prozess des Philosophierens.
Kapitel 1:
Der Glaube an geoffenbarte Wahrheiten – legitim, weil unvermeidlich, oder unverantwortlich?
„Bedenke ich die kurze Dauer meines Lebens, aufgezehrt von der Ewigkeit vorher und nachher; bedenke ich das bißchen Raum, den ich einnehme, und selbst den, den ich sehe, verschlungen von der unendlichen Weite der Räume, von denen ich nichts weiß und die von mir nichts wissen, dann erschaudere ich und staune, daß ich hier und nicht dort bin; […] weshalb jetzt und nicht dann. Wer hat mich hier eingesetzt? Durch wessen Anordnung und Verfügung ist mir dieser Ort und diese Stunde bestimmt worden?“1
Der Mensch findet sich hineingeworfen in das Dasein – wissend, dass er bald wieder aus diesem herausgerissen werden wird. Dazwischen liegt die Zeitspanne seines Lebens. Dies ist die Grundsituation des Menschseins. Hat der Mensch diese seine Grundsituation erfasst, so kann und will er nicht mehr einfach in den Tag hinein leben, denn mit aller Macht drängen sich ihm die Fragen auf: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Warum bin ich? Wer bin ich? Was ist meine Bestimmung? Wie und woraufhin soll ich leben?
Der Mensch ist sich selbst eine Frage und ein tiefes Geheimnis. Er braucht aber Antworten auf diese Grundfragen seines Menschseins, denn er braucht Orientierung. Orientierung zu haben ist ihm ein theoretisches Bedürfnis, Orientierung zu haben ist für ihn aber auch ein praktisches Erfordernis. Weiß er nämlich nicht, welche Richtung und welches Ziel sein Leben als Ganzes haben soll, so steht er in Gefahr, sein Leben an Nichtigkeiten zu verschwenden und dadurch den Sinn seines Lebens zu verfehlen.
Wo aber findet er Orientierung, wo Antworten auf jene Fragen, die ihn so sehr bedrängen? In aller Regel findet er diese Antworten im religiösen Glauben. Was aber verschafft ihm die Gewissheit, dass diese Antworten wahr sind? Woher weiß er, dass er ihnen trauen und auf diesen Glaubenslehren sein Leben bauen und ausrichten kann? Verfügt er etwa über höhere Einsichten oder übersinnliche Erfahrungen, die ihm diese Gewissheit vermitteln? Nein, wer sich die Lebens- und Glaubensgeschichte der allermeisten Gläubigen ansieht, wird unschwer feststellen, dass derenGlaube auf etwas recht Banalem beruht, nämlich auf der Übernahme tradierter religiöser Überzeugungen. Diese Feststellung gilt keineswegs nur in Bezug auf die Naiven, Einfältigen, Ungebildeten oder Uninteressierten unter den Gläubigen, sondern auch in Bezug auf die geistige Elite der Gläubigen. So räumt etwa der Theologe Heinz Zahrnt ganz unumwunden ein: „Ich bin, gleich anderen Millionen Europäern, in das Christentum hineingeboren worden und habe dann, im Maße des Erwachsenwerdens, meinen zufälligen religiösen Geburtsstand bewußt als eigene Glaubensentscheidung übernommen. Dabei hat kein Sprung oder Sturz in den Glauben stattgefunden; […] überhaupt nichts Abruptes hat sich ereignet. Vielmehr ist es ganz ‚natürlich' und ‚alltäglich' zugegangen, in allmählicher Entwicklung und durch menschliche Vermittlung.“2
Und so kann Zahrnt die Entstehung seines Glaubens denn auch zusammenfassen mit den Worten: „Mein Glaube an Gott ist ein Erzeugnis der christlich-kirchlichen Tradition.“3
Bestimmen nicht sachliche Gründe, sondern die Tradition, in der man zufällig aufwächst, die religiösen Überzeugungen des Menschen, so ist natürlich verständlich, warum Menschen ganz unterschiedliche religiöseÜberzeugungen für wahr halten. Dem Kind, das in einer entsprechenden Tradition aufwächst, fällt das Glauben nicht schwer. Es hält unbezweifelt für wahr, was seine Eltern und Lehrer es in Glaubensdingen lehren. Mit zunehmendem Alter, fortschreitendem Ablösungsprozess von den Eltern und der zwangsläufigen Konfrontation mit unterschiedlichsten religiösen Sichtweisen erlangt das Kind aber die Befähigung, seinen Glauben mit einem gewissen Abstand zu betrachten, wodurch er seinen selbstverständlichen und einzigartigen Charakter verliert. Jetzt erst kann es feststellen: Es gibt ihn gar nicht, den einen religiösen Glauben bzw. die eine Religion, sondern es gibt eine ganze Vielzahl von Religionen bzw. Glaubensrichtungen. Und obwohl diese Religionen und Glaubensrichtungen oft ganz Unterschiedliches lehren, behauptet doch eine jede von ihnen, die wahre zu sein. Und das ganz Merkwürdige: Obwohl doch höchstens eine Religion wahr sein kann, finden doch alle Religionen Glauben. Und auch wenn so viele Menschen ganz Unterschiedliches glauben, glaubt doch jeder Gläubige, dass sein Glaube der wahre Glaube ist. Wie ist dies möglich? Wie können Menschen ganz unterschiedlicher Glaubensrichtungen von der Wahrheit des eigenen Glaubens – und nur des eigenen Glaubens – überzeugt sein?
Doch nicht nur der Glaube im Allgemeinen wird dem Heranwachsenden zum Problem, sondern auch und gerade der eigene Glaube. Unabweisbar stellen sich ihm jetzt die Fragen: Warum glaube ich eigentlich das, was ich glaube, und mit welchem Recht tue ich dies? Warum glauben andere nicht das Gleiche, und warum glaube ich nicht, was andere glauben?
Was dem Glaubenden bislang so vertraut war – jetzt wird es ihm rätselhaft und fraglich. So erging es auch dem jungen Friedrich Engels. Im Gegensatz zu vielen anderen ignorierte und verdrängte er aber nicht die Fraglichkeit seines Glaubens, sondern setzte sich mit ihr auseinander. Die Konsequenz war, dass sich seine Glaubenszweifel noch vertieften: „Ich beschäftige mich jetzt sehr mit Philosophie und kritischer Theologie. Wenn man 18 Jahre alt wird, Strauß, die Rationalisten und die „Kirchen-Zeitung“ kennenlernt, so muß man entweder alles ohne Gedanken lesen oder anfangen, an seinem Wuppertaler Glauben zu zweifeln. Ich begreife nicht, wie die orthodoxen Prediger so orthodox sein können, da sich doch offenbare Widersprüche in der Bibel finden.“4
Und Engels‘ Kritik am eigenen Glauben wird noch grundsätzlicher und radikaler: „Wer gibt uns das Recht, der Bibel blindlings zu glauben? Nur die Autorität derer, die es vor uns getan haben. Ja, der Koran ist ein organischeres Produkt als die Bibel, denn er fordert Glauben an seinen ganzen fortlaufenden Inhalt. Die Bibel aber besteht aus vielen Stücken vieler Verfasser, von denen viele nicht einmal selbst Ansprüche auf Göttlichkeit machen. Und wir sollen sie, unserer Vernunft zuwider, glauben, bloß weil unsere Eltern es uns sagen?“5
Der aus seiner naiv-gutgläubigen Haltung Erwachte nimmt seinen Glauben nicht mehr länger einfach hin, sondern hinterfragt ihn auf seine Berechtigung: Was außer meiner Gewohnheit verbindet mich denn mit den Glaubensinhalten meiner Religion? Welche Veranlassung habe ich, objektiv gesehen, denn überhaupt, mich dieser und nicht jener Glaubensgemeinschaft anzuschließen? Ist es nicht blinder Zufall, welcher Religionsgemeinschaft ich angehöre, welches Glaubensbekenntnis ich spreche? Kann und darf ich denn von der Wahrheit meiner Religion überhaupt überzeugt sein, wenn Religion eine bloße Sache des Glaubens ist? Betrüge ich mich nicht selbst, wenn ich trotzdem die Wahrheit meines Glaubens behaupte und bezeuge? Lässt sich das weitere Festhalten am Glauben also überhaupt rechtfertigen und verantworten?
So gesehen, ist es nur allzu verständlich, dass ein nachdenklicher Mensch wie Engels traurig feststellen muss: „Ja, es gibt wahrhaftig Zweifel, schwere Zweifel, die ich nicht widerlegen kann.“6 Und an seinen Freund Fr. Graeber gerichtet, fährt Engels fort: „Ich hoffe, Du denkst zu gut von mir, dergleichen einer frevlerischen Zweifelsucht und Renommisterei zuzuschreiben; ich weiß, ich komme in die größten Unannehmlichkeiten dadurch, aber was sich mir überzeugend aufdringt, kann ich, so gern ich´s möchte, nicht zurückdrängen.“7
Engels zweifelt nicht deshalb, weil er nicht glauben will, sondern allein deshalb, weil er nicht mehr glauben kann. Das Zweifeln bedeutet ihm nicht Vergnügen, sondern ist ihm eine schmerzhafte Angelegenheit: „Ich bete täglich, ja fast den ganzen Tag um Wahrheit, habe es getan, sobald ich anfing zu zweifeln und komme doch nicht zu Eurem Glauben zurück; und doch steht geschrieben: Bittet, so wird Euch gegeben. Ich forsche nach Wahrheit, wo ich nur Hoffnung habe, einen Schatten von ihr zu finden; und doch kann ich Eure Wahrheit nicht als die ewige anerkennen.“8
Wie man weiß, ist Fr. Engels schließlich von seinem Glauben ganz abgefallen. War dies unvermeidlich, nachdem er erst einmal angefangen hatte, seinen Glauben radikal zu hinterfragen? Zumindest moderne Theologen werden dies kaum gelten lassen können – zu sehr sind sie doch der Auffassung, dass Glauben und kritisches Denken sich nicht zu widersprechen brauchen. Wie aber können sie diese Position vertreten – sehen sie nicht die Widersprüche und Ungereimtheiten, die sich in der Bibel finden? Merken sie nicht, dass hier Mythen erzählt werden, die vielleicht ein Mensch vor 2000 Jahren noch glauben konnte, ohne Anstoß zu nehmen, nicht aber ein Mensch unserer Zeit? Als Bibelkenner sind ihnen diese Tatsachen natürlich nicht fremd; anders als Engels, für den das Auffinden eines einzelnen Widerspruchs schon ein Beweis dafür war, dass die Bibel nicht göttlichen Ursprungs sein kann, stürzen ähnliche Entdeckungen moderne Theologen nicht mehr in eine Glaubenskrise. Als historisch-kritisch Gebildete haben sie es nämlich längst aufgegeben, die Bibel für ein wörtlich inspiriertes Wort Gottes zu halten. Sie sehen die biblischen Schriften auch nicht als historische Tatsachenberichte an, sondern als Glaubenserfahrungen, m.a.W., sie werten sie nicht als 'Reports', sondern als 'Credos'9 Gilt die Heilige Schrift aber nicht mehr als wörtlich inspiriertes Wort Gottes, sondern als Dokument der Glaubensüberzeugung von Menschen, so kann, ja muss sie wie jeder geschichtlich überlieferte Text historisch und kritisch gelesen und interpretiert werden. Das aber heißt: Die Ungereimtheiten und Widersprüche sucht der moderne Theologe nicht mehr durch raffinierte theologische Deutung wegzuinterpretieren, sondern erklärt sie vielmehr aus der geschichtlichen Situation, in der die jeweiligen biblischen Überlieferungen entstanden und durch die sie bedingt und geprägt sind. Nach Auffassung Zahrnts deckt die historisch-kritische Bibelkritik damit den menschlichen Anteil am göttlichen Offenbarungsgeschehen auf und leistet so einen Beitrag zur theologischen Entlastung Gottes. Dem denkenden Menschen von heute aber ermöglicht sie damit, allen Ungereimtheiten in der Bibel zum Trotz, an der in der Bibel erschlossenen Wahrheit festzuhalten.10 Und so bemerkt Zahrnt im Blick auf sich selbst denn auch: „Ich wüßte nicht, wie ich ohne historisch-kritisches Bibelverständnis hätte Christ bleiben können.“11
Wäre die Kenntnis der historisch-kritischen Methode auch geeignet gewesen, die Glaubenszweifel Fr. Engels zu zerstreuen und ihn vor dem Glaubensabfall zu bewahren? Wohl kaum, denn ein radikaler Denker wie er hätte sich auf Dauer vermutlich nicht mit dem Verweis darauf zufrieden gegeben, dass sich die Widersprüche und Ungereimtheiten in der Bibel historisch-kritisch erklären lassen. Vermutlich wäre er schon sehr bald auf die Fragen gestoßen: Wenn die Bibel nicht das verbürgte Wort Gottes ist, warum sollte ich sie dann noch so wichtig nehmen? Wenn die Bibel nur ein Dokument des Glaubens irgendwelcher Menschen ist, warum sollte ich dann gerade dieses Glaubensdokument ernster nehmen als die überlieferten Glaubensdokumente anderer Menschen und Religionen? Wenn nicht die ganze Bibel recht hat, warum sollte ich dann glauben, dass bestimmte Teile in ihr die Wahrheit darstellen? Gesetzt aber einmal den Fall, bestimmte Aussagen in der Bibel sind wahr - lässt sich mit Hilfe der historisch-kritischen Methode wirklich feststellen, welche Aussagen es sind, die als wahr gelten dürfen? Besteht, allem historisch-kritischen Aufwand zum Trotz, nicht die Gefahr, dass sich die Theologen oder auch die einfachen Gläubigen aus der Bibel das als Wahrheit herauspicken, was sie gerne für wahr halten möchten? Wird die Berufung auf die historisch-kritische Methode also nicht als Legitimation für eine Zurechtstutzung des christlichen Glaubens missbraucht - eines Glaubens nämlich, der zeitgemäß ist, der den eigenen Bedürfnissen und Wünschen entspricht und der v.a. nicht anstößig ist? Woher will beispielsweise Zahrnt wissen, dass der Rache- und Kriegsgott eine geschichtlich bedingte Gottesinterpretation ist, der barmherzige, zuvorkommende, liebende Gott aber als das angemessene Bild von Gott gelten kann?12 Durch historischkritische Forschung gewiss nicht. Zahrnt würde vermutlich klarstellen: Historisch-kritische Forschung kann natürlich niemals beweisen, dass Gott ein liebender Gott ist, sie kann aber nachweisen, dass die Botschaft vom liebenden Gott das zentrale Anliegen Jesu war. Damit aber stellt sich sogleich die Frage: Was berechtigt uns, an die Wahrheit der Botschaft Jesu zu glauben? Gibt es denn Gründe dafür, dass die Aussagen Jesu notwendig wahr sind? Gewiss nicht – ein sehr eindeutiges Beispiel dafür, dass Jesus sich geirrt hat, gibt es hingegen sehr wohl, erwartete er doch, dass das Kommen des Reiches Gottes nahe bevorsteht.13
Wenn sich Jesus aber in dieser Sache getäuscht hat, muss man dann nicht auch mit der Möglichkeit rechnen, dass er sich auch in anderen Angelegenheiten – z.B. auch in seiner 'Abba-Erfahrung', d.h. in seiner Auffassung vom unendlich liebenden Gott – geirrt hat? Macht man es sich denn nicht zu leicht, wenn man die enttäuschte Naherwartung Jesu als zeitgeschichtlich bedingte Vorstellung abtut, der eben auch Jesus erlegen war? Zahrnt würde vielleicht antworten: Worauf es ankommt, ist nicht, ob sich Jesus in Nebensächlichkeiten getäuscht hat oder nicht; auf was es ankommt, ist letztlich nur, ob seine zentrale Botschaft für uns glaubhaft ist oder nicht. Nach Auffassung Zahrnts aber ist diese Botschaft glaubhaft und bleibt diese Botschaft trotz enttäuschter Naherwartung glaubhaft, weil Gott diese Botschaft gutgeheißen und beglaubigt hat durch das, was der Glaube als „Auferweckung Jesu“ gedeutet hat. „Ohne diese Glaubenserfahrungen wäre nicht nur der Tod Jesu, sondern auch sein Leben vergessen, und von seiner Botschaft hätte man niemals etwas vernommen.“14
Dieses Argument ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn auch wer das Neue Testament unvoreingenommen liest und bedenkt, muss einräumen, dass sich die Jünger nach Jesu Tod anders verhielten, als es nach der Vorgeschichte eigentlich zu erwarten war: Die gleichen Jünger, die ihren Lehrer verleugnet und in schändlicher Flucht verlassen haben, die sich in ihrem Glauben an Jesus betrogen und getäuscht sahen und deren Hoffnung am Boden zerstört war – die gleichen Jünger bekennen sich plötzlich öffentlich zu Jesus und sind bereit, für ihn ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Als Grund für diese umwälzende Veränderung nennt das Neue Testament die Erscheinungen des lebendigen Jesus. Durch sie kamen die Jünger zur Überzeugung: Jesus hatte recht, denn Gott hat sich durch seine Auferweckung zu ihm bekannt.
Den radikalen Gesinnungswechsel der Jünger bald nach dem Tode Jesu kann man ein Wunder nennen, wenn man damit ausdrücken will, dass hier etwas völlig Unerwartetes eingetreten ist. Gibt uns dieses Wunder einen Grund, an die Auferweckung Jesu und damit auch an die Wahrheit der christlichen Botschaft zu glauben? Der Philosoph Walter Kaufmann verneint diese Frage mit einem guten Argument:
„Wenn ein Wunder definitionsgemäß etwas äußerst Unwahrscheinliches ist, dann ist es viel wahrscheinlicher, daß unsere Sinne uns getäuscht haben oder daß diejenigen, auf deren Zeugnis hin wir an ein Wunder glauben, entweder uns getäuscht oder aber selbst von ihren Gewährsleuten oder von ihren eigenen Sinnen getäuscht worden sind.
Überdies gibt es im Neuen Testament, im Alten Testament oder im Koran kein Wunder, das auch nur halb so gut bezeugt wäre wie die vielen Wunder, die angeblich in Lourdes und an anderen katholischen Wallfahrtsstätten geschehen sein sollen, und dennoch lassen sich Juden, Protestanten und Moslems von diesen 'katholischen Wundern' nicht überzeugen. Ebenso wenig lassen sich die Katholiken durch die Wunder beirren, die man von einigen chassidischen Rabbis erzählt. Und jeder, der einer dieser drei Religionen angehört, wird solche Wunder leugnen, wie sie uns Zauberkünstler, Medizinmänner, Medien und Jogis vorführen.
Mit anderen Worten: Ein Wunder ist keine blanke Tatsache; die Bezeichnung 'Wunder' ist nicht gleichbedeutend mit 'wunderbares Ereignis'. Es gibt einige Ereignisse, die von bestimmten Leuten als Wunder gewertet werden; von den gleichen wird aber gleichzeitig eine Unzahl anderer wunderbarer Ereignisse nicht so gewertet.
Zum Wunder gehört Glaube: Für den, der keinen Glauben hat, ist es kein Wunder. Wer sich auf Wunder beruft, um damit Glaubensmeinungen zu beweisen, bewegt sich also im Kreis.“15
Sehen Theologen und Religionsapologeten dies völlig anders? Nicht unbedingt, denn die Auffassung Kaufmanns wird von manchen Theologen durchaus bestätigt. So schreibt etwa Hans Küng: „Schon die Erstzeugen kamen am Glauben nicht vorbei. Als Prediger des Glaubens waren sie vom Glauben wie am Anfang so erst recht in der Folge nicht zugunsten eines einfachen Sehens dispensiert. Von ihnen wurde kein unbeteiligtes, sondern ein glaubendes Sehen erwartet“.16
Wenn die Auferweckung aber schon für die Urzeugen keine objektive Tatsache ist, die auch ohne den Auferweckungsglauben sinnvoll gedacht werden kann,17 wie soll diese Botschaft dann für uns Menschen von heute, die über keinerlei Ostererfahrungen verfügen, einen Grund abgeben, an Jesus Christus zu glauben? Was wissen wir denn von jenem Osterereignis, das das Fundament der christlichen Botschaft darstellt, wirklich? Wir wissen, dass vor ca. zweitausend Jahren geistig überwiegend sehr einfach strukturierte Menschen, einige von ihnen wohl auch ziemlich labil, aufgrund äußerst sonderbarer, nicht nachvollziehbarer Ereignisse und ihrer vielleicht naiven Deutung oder lediglich durch unkontrollierte Berichte, wohl bloßer Gerüchte, zum Glauben an die Auferstehung ihres Rabbi Jesus gelangt waren.18 Was aber hat das mit uns zu tun? Warum sollten wir als selbstständig denkende und einigermaßen kritische Menschen unserer Zeit die Glaubensüberzeugung jener Menschen ernst, ja sogar wichtig nehmen? Was sollte uns veranlassen, von diesen Behauptungen unser Heil zu erwarten, ja unser Leben von den Überzeugungen jener Menschen bestimmen zu lassen? Wäre es nicht verantwortungslos, blind darauf zu vertrauen, dass es schon wahr sein wird, was jene Menschen von Jesus berichteten? Nein, ihr braucht nicht blind glauben und ihr dürft es gar nicht, gibt der Theologe Gollwitzer zu verstehen. „Und in einem Volk, dem ein ‚Glaubensrausch' zum schlimmsten Verhängnis geworden ist, wird Erziehung zum kritischen Fragen und Warnung vor jeder Leichtgläubigkeit höchst wichtig sein.“19 Dann aber fährt Gollwitzer fort: Die Aufforderung des Evangeliums zum Glauben an Gott unterscheidet sich aber grundlegend von einer Aufforderung zur Leichtgläubigkeit, die auf jedwede unbegründete Behauptung und Verführung hereinfällt.20 Diese Behauptung aus der Feder eines Theologen kann uns nicht überraschen. Wie aber rechtfertigt er seine These? Wie praktisch alle Theologen, so stellt auch Gollwitzer klar: Glauben im christlichen Sinn meint nicht ein Für-wahr-Halten von irgendwelchen Lehren oder Sachverhalten. Schon das hebräische Wort für Glauben bedeutet: sich festmachen, festhalten, trauen.21 Glauben, wie Theologen es verstanden wissen wollen, meint also ein Festhalten an den Verheißungen Gottes in der Weise des Vertrauens, ein Sich-Festmachen an der Treue und Verlässlichkeit des Bundespartners.22 „Es geht“ nach Gollwitzer „also nicht darum, 'an' die einzelnen Vorkommnisse dieser Geschichte, von denen das Evangelium erzählt, zu 'glauben', sondern aus diesen Vorkommnissen das Sich-Verheißen Gottes zu hören, dieses Sich-Verheißen mit Dank zu empfangen und sich darauf zu verlassen.“23 Man glaubt an Gott also nicht, wie man an eine Zeitungsmeldung glaubt. Glauben, wie es im christlichen Glaubensbekenntnis gemeint ist, heißt vielmehr: „seine ganze Existenz auf die Freundschaft und das Können eines anderen stellen, einem anderen vollkommenen Kredit des Zutrauens gewähren.“24
Nun kann man dem Theologen durchaus zugestehen, dass der Glaube sich nicht in einem Für-wahr-Halten erschöpft, aber ebenso klar gilt es den Theologen darauf hinzuweisen, dass jenes Vertrauende-sich-Einlassen auf den Gott des Alten und Neuen Testaments ein Für-wahr-Halten impliziert und voraussetzt. Dass ich mich zu diesem Gott bekenne, ihm vertraue, setzt doch voraus, dass ich dessen Existenz für wirklich halte und dass ich für wahr halte, dass er sich in Jesus Christus geoffenbart hat usw.
Mit seinen Feststellungen darüber, was der 'Glaube' ist oder auch was er nicht ist, hat Gollwitzer im Hinblick auf die Verantwortbarkeit des christlichen Glaubens somit nichts gewonnen. Seine Überlegungen lassen die Problematik sogar noch schärfer hervortreten: Ich soll meine ganze Existenz auf die Freundschaft und das Können eines anderen stellen und ihm vollkommenen Kredit des Zutrauens gewähren – obwohl mir nach wie vor nicht einsichtig gemacht werden konnte, dass dieser andere existiert, und wahr ist, was über ihn gelehrt wird. Können die Glaubenden keine wirklichen Gründe angeben, die für die Wahrheit ihres Glaubens sprechen, so verbindet mich sachlich betrachtet nichts mit ihm, ja, ich kann ihn im Grunde überhaupt nicht ernst nehmen.
Das ist deine Entscheidung, wird mir der Theologe entgegnen, aber du sollst wissen, was diese Entscheidung für oder gegen den vom Christentum verkündigten Gott bedeutet. Die Entscheidung ist „keine neutrale, d.h. nicht eine, nach der man unverändert weiterleben könnte nach dem Motto des Drei-Groschen-Oper-Songs: 'Es geht auch anders, doch so geht es auch!' Die Antwort bedeutet vielmehr Leben oder Tod. Denn die positive Antwort ist ja als Bejahung auf die Frage: 'Ist dieser wahr?' zugleich die Beantwortung der Fragen: 'Wovon leben wir?' und 'Wofür leben wir?' und 'Wie kommen wir über die Einsamkeit unseres Ichs hinaus?' Die menschlichen Grundfragen der Wahrheit, des Lebens und der Gemeinschaft sind hier in einem beantwortet, also aufs engste verbunden. Die negative Beantwortung der Wahrheitsfrage ist darum, wenn diese in dieser Beziehung gestellt wird, zugleich negative Antwort auf die Frage nach der Quelle und dem Sinn des Lebens und nach der Gemeinschaft.“25
Wenn Gollwitzer angesichts der heillosen und haltlosen Welt-Wirklichkeit auf Gott als einen möglichen Garanten von Sinn verweist, so ist dies ganz ohne Zweifel ein bedenkenswerter Gesichtspunkt. Die Frage ist nur: Lässt sich von daher für die Botschaft des Christentums argumentieren? Ist es denn nicht so, dass die Verheißung von Heil nichts charakteristisch Christliches ist, sondern den Menschen von allen Religionen, zumindest aber von allen Hochreligionen, in Aussicht gestellt wird? Nach den letzten Überlegungen Gollwitzers habe ich zwar einen Grund, die christliche Botschaft zu bedenken, diese Überlegungen geben mir aber genauso gut einen Grund, den Lehren der anderen Heils- und Erlösungslehren Bedeutung beizumessen.
Wenn man nicht annehmen will, dass die Wahrheit einer Verheißung mit der Schönheit oder Größe der Verheißung korrespondiert, d.h., wenn man nicht unterstellt, dass eine Verheißung je glaubwürdiger ist, desto mehr sie eine Erfüllung der menschlichen Sehnsüchte verspricht, muss man zum Schluss kommen, dass die alles entscheidende Frage von Gollwitzer noch immer nicht beantwortet ist, die Frage nämlich: Welchen Grund habe ich, gerade der christlichen Botschaft – und nicht irgendeiner anderen Religionslehre – mein Vertrauen zu schenken?
Gerade weil die Sache, die hier auf dem Spiel steht, so ungeheuer wichtig ist, wie Gollwitzer völlig zu Recht vermerkt, kann und darf ich es mir nicht so einfach machen, kann und darf ich nur ja sagen zur christlichen Botschaft, wenn mir deren Wahrheit plausibel gemacht werden kann. Dieses Argument will Gollwitzer nicht gelten lassen: Wenn man wirklich offen sein will für die Glaubenswahrheit, so darf man für das, was als akzeptabler Grund angesehen werden kann, nicht apriorische Bedingungen aufstellen, durch die schon dogmatisch entschieden ist, wie Wahrheit sich zu offenbaren hat – und also auch: wie Gott sich präsentieren muss, um von uns als Wahrheit und als Gott anerkannt zu werden. Wenn es wirklich um die Wahrheit geht, muss man die Möglichkeit offenhalten, dass Gott sich uns anders präsentiert, als wir es vorgesehen und vorausgesehen haben.26 Der Einwand Gollwitzers scheint nicht ganz unberechtigt: Wem es wirklich um die Wahrheit geht, der darf nicht von vornherein festlegen, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit etwas als wahr gelten kann, er muss sich frei halten für die Möglichkeit, dass es verschiedene Weisen der Bewahrheitung gibt, je nach der Eigenart dessen, was bewahrheitet werden soll.27 Ist diese Feststellung aber tatsächlich geeignet, die Forderung nach einem einsichtigen Grund für die Annahme des christlichen Glaubens zurückzuweisen? Nein, die Forderung nach Einsichtigkeit ist keine ungebührliche, dogmatische oder ideologische Forderung, sie ist nur legitim und billig. Dieser Auffassung ist auch Wilhelm Weischedel: „Ich kann nicht verstehen, wie es als dogmatische Vorentscheidung bezeichnet werden kann, wenn ich den Theologen darum bitte, dass er mir seine Sache einleuchtend mache, und zwar so, dass er sich dabei auf meine Verstehensmöglichkeiten einläßt, die denn doch, wie ich meine, keine anderen als die des Menschen überhaupt sind.“28 Und Weischedel erklärt und begründet diese seine Position noch näher, indem er an späterer Stelle ausführt: „Damit keine Mißverständnisse entstehen, will ich deutlich sagen, was ich unter Einsicht und Einsichtigmachen verstehe. Es ist keineswegs so, wie Gottwitzer vermutet, dass hinter der Forderung nach Einsichtigkeit ein a priori angenommener Katalog von Kriterien steht, die erfüllt sein müßten, damit etwas als einsichtig bezeichnet werden kann […] Das einzige Postulat, das ich in den Prozeß des Einsehens mitbringe, ist dies, daß ich meine Zustimmung nicht unter Ausschaltung des fragenden und kritisch fragenden Denkens zu geben genötigt werde, daß ich kein sacrificium intellectus zu bringen habe. Aber diese Voraussetzung ist mir erstens vom Theologen selber konzediert, und zweitens ist sie nichts anderes als die Voraussetzung der philosophischen Existenz als solcher. Aber noch nicht einmal an ihr halte ich dogmatisch fest. Ich lasse die Möglichkeit offen, daß ich eines Tages gezwungen sein könnte, sie aufzugeben; dann aber nur so, daß mir eben diese Selbstaufgabe ihrerseits einsichtig gemacht wird, und zwar mir als dem philosophierenden Menschen.“29
Hätten wir Einsicht in die Wahrheit des christlichen Glaubens, so wäre nicht der Glaube, sondern die Erkenntnisfähigkeit des Menschen gefordert, gibt der Theologe zu bedenken. Glaube ist in seinem Wesen Wagnis. Dieses Wagnis besteht in einem Vertrauensvorschuss, den es hier zu leisten gilt. Es ist deshalb ungerechtfertigt, von den Glaubenden einen Beweis für die Wahrheit ihres Glaubens zu fordern.
Spätestens hier scheint ein weiteres Gespräch zwischen dem Philosophierenden und Verteidiger des Glaubens sinnlos zu werden, da ihre Postionen ganz diametral auseinanderliegen: Der eine beharrt auf Einsicht, der andere aber hat keine einsichtigen Argumente anzubieten und fordert stattdessen Glauben ein. Täte der nach Wahrheit und Klarheit Suchende also nicht gut daran, das Gespräch mit dem Christen zu beenden, um anderswo nach Antworten auf seine Fragen Ausschau zu halten? Nein, antwortet Gollwitzer als Vertreter des Glaubens mit aller Entschiedenheit. Für den nach Wahrheit fragenden und suchenden Menschen lohnt das Gespräch mit den Glaubenden dennoch. Denn er kann sich von ihnen über ihre Glaubenserfahrungen berichten lassen. Die Glaubenserfahrungen anderer können für den noch Suchenden eine Einladung darstellen, es mit der Treue der Verheißung und des Verheißenden selbst auch ernsthaft zu wagen und zu probieren. Das Erzähltwerden der Glaubenserfahrungen hat also den Sinn, dazu zu reizen, das gleiche Vertrauen zu wagen.30
Welche Erfahrung aber ist es denn ganz konkret, die der Glaubende macht und die den Noch-nicht-Glaubenden zum Glaubenswagnis ermuntern soll? Es ist die Erfahrung des Glaubenden, dass der Glaube sich in seinem Leben bislang bewährt hat, verbunden mit der zuversichtlichen Hoffnung, dass er sich auch in Zukunft bewähren wird.31 Mit diesem Argument der 'Lebensbewährung' soll nicht kurzschlüssig von einer behaupteten Vorzüglichkeit christlichen Lebens auf die Wahrheit der christlichen Botschaft geschlossen werden; das Argument will lediglich sagen, „daß die Lebensmöglichkeiten, die diese Botschaft, wo sie Ernst genommen wird, erschließt, Hinweis auf ihren lebensspendenden Charakter sind. Daß mit einer Botschaft gelebt werden kann, daß sie uns positiv über uns hinausführt, spricht für sie, es ist Hinweis darauf, daß hier nicht Absurdität, nicht bloße Behauptung, sondern ernstzunehmende Antwort auf unsere Lebensfragen vorliegt.“32
Den für die Rechtfertigung des Glaubens so wichtigen Gedanken, dass sich die Richtigkeit der positiven Glaubensentscheidung zwar nicht beweisen lässt, sich für den, der das Wagnis des Glaubens eingegangen ist, aber erschließt, betont auch H. Küng: „Aber wie das Grundvertrauen, so ist auch das Gottvertrauen keineswegs irrational. Wenn ich mich der Wirklichkeit nicht verschließe, sondern mich ihr öffne, wenn ich mich dem allerletzten - allerersten Grund, Halt und Ziel der Wirklichkeit nicht entziehe, sondern es wage, mich dran- und hinzugeben: so erkenne ich zwar nicht bevor, aber auch nicht nur erst nachher, sondern indem ich dies tue, daß ich das Richtige, ja im Grunde das 'Allervernünftigste' tue. Denn was sich im voraus nicht beweisen läßt, das erfahre ich im Vollzug, im Akt des anerkennenden Erkennens selbst: Die Wirklichkeit vermag sich in ihrer eigentlichen Tiefe zu manifestieren; ihr erster Grund, tiefster Halt, letztes Ziel, ihr Ursprung, Ursinn, Urwert schließen sich mir auf, sobald ich mich selber aufschließe.“33
Der Glaubende hat, wie es scheint, dem Nicht-Glaubenden eine wichtige Erfahrung voraus – eine Erfahrung, die er dem Nicht-Glaubenden zwar nicht direkt vermitteln kann, die aber auch diesem offensteht – wenn er sich nur dazu entschließen kann, das Wagnis des Glaubens einzugehen. Muss man es also nicht als Voreingenommenheit oder Trotz deuten, wenn der Nicht-Glaubende noch immer einsichtige Argumente für den Glauben fordert? Oder zeugt es nicht von Vermessenheit, wenn der Nicht-Glaubende mit dem Glaubenden über die Echtheit von dessen Erfahrungen meint streiten zu müssen? Muten die Argumentationen des Nicht-Glaubenden so gesehen nicht an wie der Disput eines Blinden mit einem Sehenden über die Erfahrung von Licht?