Alida Leimbach

Wintergruft

Kriminalroman

Zum Buch

TATORT OSNABRÜCK Die umstrittene Osnabrücker Pfarrerin Heike Meierbrink ist spurlos verschwunden. Nach einem Streit mit ihrem Mann Udo, der ebenfalls als Seelsorger tätig ist, hinterließ sie einen Abschiedsbrief, aus dem hervorgeht, dass sie sich von ihm trennen will. Dies war das letzte Lebenszeichen. Zwar stand es bereits seit längerer Zeit nicht gut um ihre Ehe, doch Udo Meierbrink hegt erhebliche Zweifel an der Echtheit des Schreibens und informiert die Polizei. Seine Bedenken werden zunächst nicht ernst genommen. Dies ändert sich erst, als Heikes Auto gefunden wird. Im Kofferraum liegt ein blutverschmierter Drehmomentschlüssel. Birthe Schöndorf und Daniel Brunner, Kommissare der Osnabrücker Polizei, beginnen im Umfeld der Pfarrerin zu ermitteln und stoßen dabei auf brisante Informationen …

Alida Leimbach, Jahrgang 1964, ist in Lüneburg geboren und in Osnabrück aufgewachsen. Nach ihrer Buchhandelslehre studierte sie Sprachen und war einige Jahre als Übersetzerin in Frankfurt am Main tätig. Dann entschloss sie sich, noch einmal zu studieren: Evangelische Theologie, Germanistik und Englisch auf Lehramt. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt und schreibt erfolgreiche Krimis und Romane.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Die Tote von der Maiwoche (2019)

Deichkrone (2017)

Ostfriesenkind (2016)

Börsentöpfchen (2014)

Villenzauber (2013)

Wintergruft (2011)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

4. Auflage 2019

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © Photonz / Fotolia.com und

nurmalso / photocase.com

ISBN 978-3-8392-3762-5

Widmung

In liebevoller Erinnerung
an meine Mutter Sonja

Prolog

Der Betonboden war eiskalt. Sie wollte sich ein bisschen hinlegen, wusste aber nicht, wie sie es machen sollte, ohne dass die Schmerzen wieder stärker wurden. Wie gern hätte sie eine Decke gehabt oder wenigstens eine Jacke. Der Kellerraum war so penibel aufgeräumt, dass sie nichts fand, mit dem sie sich hätte zudecken können, nicht einmal einen alten Kartoffelsack. Am liebsten wäre sie einfach weggedämmert, hätte eine Runde geschlafen, bis dieser Albtraum vorbei war. Aber ihr Instinkt sagte ihr, dass sie wach bleiben musste. Im Schlaf hätte sie überhaupt keine Chance, sich zu wehren.

Sie wusste nicht, was schlimmer war, die Schmerzen in ihren Knien, die Kälte, die erbarmungslos in ihr hochkroch, oder der Durst.

Schon seit einem Tag hatte sie nichts mehr getrunken. Ihr Mund fühlte sich staubtrocken an, ihre Lippen brannten und die Gier nach einem großen Schluck Wasser raubte ihr fast den Verstand.

Noch nie zuvor hatte sie solch eine Todesangst gehabt. Sie war dieser geisteskranken Person gnadenlos ausgeliefert und wusste, dass es kein Entkommen gab. Der Raum war fensterlos und die feuerfeste Tür aus Eisen. Sie saß mit klopfendem Herzen wie ein in die Falle getriebenes Tier in der hintersten Ecke des Raumes, mit dem Rücken an die kalte Wand gelehnt, den Blick fest auf den Ausgang gerichtet.

Eine einzige Glühbirne baumelte von der Decke herab und verbreitete ein schwaches Licht. Ab und zu flackerte es ein wenig, sodass sie fürchtete, es könne ganz ausgehen.

Sie starrte eindringlich auf die feuerfeste Tür, als könne sie sie rein gedanklich dazu bewegen, sich zu öffnen.

Laut betete sie, bis ihre Stimme versagte. Sie dachte an ihre warme Wohnung, an ihren Sohn, der auf sie wartete. Wahrscheinlich saß er gerade auf der gemütlichen Rundcouch vor dem Fernseher, mit einer großen Schüssel Popcorn oder Chips auf den Knien und zwei Colas mit Strohhalmen neben sich auf dem Beistelltisch und fragte sich so langsam, wo sie bliebe. Bei dem Gedanken an ihren Sohn machte ihr Herz einen Satz. Hoffentlich kam er früh genug auf die Idee, die Polizei einzuschalten. Aber das konnte man in seinem Alter nie wissen. Er war viel zu sehr mit sich selbst und seiner Clique beschäftigt. Und vor allem neuerdings mit seiner Freundin Denise. Vielleicht war sie gerade bei ihm und kuschelte mit ihm auf der Rundcouch. Auf ihrer neuen, beigefarbenen Rundcouch mit den eleganten Seidenkissen, die sie sich mühsam zusammengespart hatte. »Hoffentlich leecht die nich ihre schwaaz gefärbtn Haare da drauf. Jeeden Fleck sieht man doch auffe empfind­liche Kissen. Un dass die man blooß hintaheea wieda ’nen oantlichen Knick inne Mitte machen. Unne Schippskrüümel aufsammeln tun. Oh Gott …« Wie konnte sie nur an Chipskrümel denken, wo es doch viel Wichtigeres gab. Nicht nur ihr Leben, auch das ihres Sohnes war in Gefahr. »Hoffenlich geets ihm auch wüaklich guut!«, murmelte sie. »Was, wenn jetz dea Vabrecha …« Bestimmt kannte das Monster die Adresse. Grausame Bilder kamen in ihr hoch aus ›Aktenzeichen XY … ungelöst‹-Sendungen. Brutale Gewaltverbrecher, die ihren Opfern auflauerten, um ihnen die Kehle durchzuschneiden. Sie müsste auf der Stelle zu ihrem Kind, um ihm beizustehen und es zu beschützen, und stattdessen vermoderte sie hier in diesem Kellerloch.

Sie begann zu weinen und stellte fest, dass sie nicht einmal ein Taschentuch bei sich hatte.

Mittwoch, 13. Oktober 2010

Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht.

Als Udo Meierbrink den Kiesweg betrat, der direkt zum alten Pfarrhaus führte, stand Heike schon in der Tür – mit seinem BlackBerry in der Hand. Er hielt in seiner Bewegung inne und starrte sie an. In ihrem Gesicht konnte er es lesen. Sie wusste es. Wie konnte er auch nur so dumm sein und sein Handy zu Hause liegen lassen? Seine Hand krampfte sich um den Tragegriff seiner Aktentasche, während er wie in Zeitlupe auf das Haus zusteuerte. Er spürte den Regen nicht.

»Kannst du mir bitte mal verraten, was das hier soll: Indisch 3 G und nackt DVD 22–24. Okt., bei mir, 1000 K. TL?«, schleuderte sie ihm entgegen. Sie hielt ihm das Handy hin. Ihr Make-up war verschmiert, der Pullover fleckig, die Haare zerzaust. Er sah ihr an, dass sie geweint hatte. Nie zuvor hatte er seine Frau in diesem Zustand gesehen.

Er merkte, wie seine Beine zu zittern anfingen und drohten, unter seinem Körper wegzuknicken. Er hatte Angst, die Kontrolle zu verlieren. Ihm brach der Schweiß aus, als ihm bewusst wurde, dass alles aufgeflogen war. Ob Heike schon von Nadine wusste? ›TL‹ war die Kurzform für ›Tigerlady‹. Das konnte sie nicht wissen, aber sie kannte natürlich Nadine, die Kirchenmusikerin der Gemeinde.

Udo taxierte seine Frau mit unsicherem Blick. Er musste vorsichtig sein. Klar, die Tatsache, dass er eine Affäre hatte, konnte er nicht mehr leugnen, aber er würde sich eher auf die Zunge beißen, als Nadine zu verraten. Er sandte ein Stoßgebet zum Himmel, aber das würde ihm jetzt auch nicht mehr helfen.

Heike war vorausgegangen und wartete im Hausflur auf ihn. Er folgte ihr wie ein geprügelter Hund und schloss leise die Tür. Er kannte seine Frau und ahnte, was jetzt kommen würde. Am besten sagte er erst einmal gar nichts und wartete ab. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so dreckig gefühlt hatte.

Heikes Wutausbruch ließ nicht lange auf sich warten. Sie riss die Tür zur Gästetoilette auf und warf sein BlackBerry ins Klo. Dann drehte sie sich um und funkelte ihn an. »Wie lange geht das schon«, zischte sie, »du und diese Schlampe? Sag’s mir, los, sag’s mir!« Sie holte aus und wollte ihn ohrfeigen. Er hielt ihre Arme fest, so gut er konnte, denn sie war mindestens so stark wie er.

»Du triffst dich mit einer anderen Frau und ich dumme Nuss krieg das nicht mit. Sauberer Pastor, du!«, fauchte sie und versuchte immer noch, auf ihn einzudreschen. »Für wie blöd hältst du mich eigentlich, denkst du, so was kriege ich nicht irgendwann raus, oder was? Hast du das nötig, mit einer anderen herumzumachen, hinter meinem Rücken, brauchst du das für dein Ego? Auf einmal, nach 20 Jahren? Erklär mir das bitte, denn ich kapier das nicht!«

Heike ließ plötzlich von ihm ab und musterte ihn hasserfüllt. Sie sah grotesk aus mit ihren von Wimperntusche schwarz unterlaufenen Augen. Mit dem Handrücken strich sie sich eine Strähne aus der Stirn, bevor sie atemlos fragte: »Würdest du jetzt bitte die Güte haben und mir sagen, wer TL ist? Und wie lange das geht zwischen euch? Ich habe ein Recht, alles zu erfahren, und zwar sofort.«

Udo schwieg und sah betreten zur Seite.

»Du sagst es mir jetzt. SOFORT!«

Udo betrachtete angestrengt seine Schuhspitzen.

»Schon klar, du willst es mir nicht sagen. Schläfst mit einer anderen Frau, aber hast nicht den Mumm, das zuzugeben. Du bist ein solcher Feigling.« Ihre Stimme versagte und sie kämpfte mit den Tränen.

»Heike, bitte!«, flehte er. Er fand es überflüssig zu erwähnen, dass es sich bei ›Indisch 3 G‹ nur um Nadines Kochkünste handelte. Sie kochte grundsätzlich in drei Gängen, am liebsten asiatisch. Sollte Heike doch glauben, was sie wollte.

»Kannst dir dein Handy wiederholen«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es liegt da, wo es hingehört. Oder möchtest du, dass ich es für dich runterspüle?«

Sie machte auf dem Absatz kehrt und klapperte an ihm vorbei in Richtung Küche. Seit wann hatte sie diese grässlichen Clogs? Oder war ihm dieses Geräusch auf dem Fliesenboden bisher noch nicht aufgefallen? Er folgte ihr und hielt sie am Arm fest.

»Heike, ich …«, setzte er an, »ich … es tut mir so leid. Das hat mit uns nichts …«

»Fass mich nicht an!«, schrie sie und machte sich mit einem Ruck von ihm frei, »fass mich nie wieder an!«

Udo steuerte auf die Kloschüssel zu und starrte fassungslos auf sein neues BlackBerry, das auf dem Toilettenboden lag. Schließlich überwand er sich, nahm die Klobürste und fischte es umständlich heraus. Er sah zu, wie das Wasser langsam abtropfte. Das Display war dunkel. Er drückte verzweifelt auf den Tasten herum, aber vergebens. Mist.

Wieder klappernde Schritte auf den Fliesen. Argwöhnisch drehte er sich um. Da stand Heike mit einer Weinflasche in der Tür. In ihrem Gesicht zeigten sich die verräterischen roten Flecken, die sie immer bekam, wenn sie sich aufregte.

»Schau mal, was ich hier Feines habe. Das kannst du doch deiner TL mitbringen, wenn du sie das nächste Mal besuchst«, höhnte sie und riss die Flasche hoch wie eine Hantel. Udo duckte sich instinktiv.

»Ist das nicht ein tolles Geschenk? Damit könnt ihr euren nächsten DVD-Abend im Bett begießen.«

Doch im letzten Moment kam sie zur Besinnung und warf ihm die Flasche sachte zu. Gerade noch konnte er sie auffangen. Er stand da wie ein begossener Pudel, während sie an ihm vorbeilief in Richtung Garderobe.

Udo sank kraftlos auf den Boden nieder und krallte sich an seinem kaputten BlackBerry fest. Er hörte es in der Garderobe rumoren und rascheln. Schlüssel klapperten, die Clogs wurden in eine Ecke gepfeffert und vermutlich gegen Heikes heiß geliebte Stiefeletten ausgetauscht, dann knallte die Haustür ins Schloss. Durch das gekippte Toilettenfenster hörte er Heikes Schritte auf dem Kies. Sie schien es sehr eilig zu haben. Kurz darauf heulte der Motor ihres Polos auf. Udo zuckte zusammen und spürte das Blut in seiner Halsschlagader pulsieren. Er wartete noch den Moment ab, bis sich das Auto entfernt hatte. Dann ging er in die Küche, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Er machte kein Licht an, um nicht von den Nachbarn gesehen zu werden. Die kleine Lampe, die auf der Flurkommode brannte, brachte genug Licht, um sich im Raum zu orientieren.

Mit dem Glas in der Hand stand er lange am Küchenfenster und starrte in die Dunkelheit. Am liebsten hätte er geweint, um den Kloß im Hals loszuwerden, aber es kamen keine Tränen. Schließlich rief er seinen Hund, der die ganze Zeit über verängstigt in seinem Körbchen in der Küche gelegen hatte, und ging mit ihm eine Runde um den Block.

Wieder zu Hause, schaltete Udo den Fernseher ein. Es lief eine Sondersendung über die geretteten Bergleute aus Chile. Der sonst so mitfühlende Udo saß stumpf und leer in seinem Fernsehsessel und ließ sich von dem allgemeinen Freudentaumel berieseln. Nach den Tagesthemen nahm er zwei Schlaftabletten ein und fiel wie ein Stein ins Bett.

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Wie lange er so am Küchentisch gesessen hatte, wusste er nicht mehr. Er hätte auch nicht sagen können, wie er den Tag verbracht hatte. Er war irgendwie versumpft, hatte verschiedene Dinge begonnen, aber nichts zu Ende gebracht.

Durch das gegenüberliegende Fenster konnte er die Kirche und das Gemeindehaus sehen, bis beides mit der einsetzenden Dämmerung Stück für Stück verschwand. Er schaltete jetzt die Tischlampe an und erschrak, als er mit seinem Spiegelbild im Küchenfenster konfrontiert wurde. Für einen Moment dachte er, ein Greis starre ihn an. Er musste über Nacht um Jahre gealtert sein. Mann, wie lange war er schon nicht mehr beim Friseur gewesen. Die Haare, grau und wirr, standen wie elek­trisiert vom Kopf ab. Der Vollbart müsste dringend mal wieder gestutzt werden. Dünn sah er aus. Noch hagerer als sonst, wie ein Schatten seiner selbst. Angewidert wandte er sich ab.

Mechanisch griff er nach der bereits zur Hälfte geleerten Rotweinflasche und füllte erneut sein Glas. Seine Hände zitterten dabei und er fluchte leise.

Vor ihm lag der Brief seiner Frau, computergeschrieben, was ihn ärgerte. War er jetzt schon nur noch eine Sache für sie, eine Geschäftsbeziehung, die man jederzeit kündigen konnte? Wieder las er ihn, und er merkte, wie sich vor lauter Müdigkeit ein Schleier über die Buchstaben zog. Wann hatte sie ihn hierhin gelegt? Sie musste noch einmal zurückgekommen sein, während er geschlafen hatte. Vor allem fragte er sich, wo sie jetzt war. Heike war noch nie vor ihm weggelaufen. Das war nicht ihre Art. Sie stellte sich den Problemen, war diskussionsfreudig, kämpferisch, voller Energie und Tatendrang. An Heike konnte man sich die Zähne ausbeißen, aber Weglaufen, nein, das passte nicht zu ihr.

Mit Heike teilte sich Udo Meierbrink in Sandfelde, unweit von Osnabrück, eine Pfarrstelle. Sie liebte es, an diesem abgenutzten Kieferntisch ihre Predigten vorzubereiten, obwohl sie ein eigenes Arbeitszimmer hatte. Aber hier, an diesem Tisch, kamen ihr die besten Gedanken, wie sie immer sagte. Kein Wunder, das Küchenfenster zeigte zum Dorfplatz. Kirche, Gemeindehaus und die umliegenden Häuser mit ihren gepflegten Vorgärten und Gehwegen waren deutlich zu erkennen. Am Morgen, wenn die Schulkinder hier vorbeiliefen und die Hausfrauen ihre Einkäufe erledigten, und am Abend, wenn die Dorfbewohner zu ihren Vereinen aufbrachen, war hier immer etwas los.

Trotz der einsetzenden Dunkelheit konnte er Aloisius Kannengießer vom Haus schräg gegenüber ausmachen, der seit dem Vormittag an seinem Auto herumwerkelte. Wie üblich trug er einen roten, verblichenen Arbeitsover­all und zog von Zeit zu Zeit genüsslich an seiner Pfeife. Nichts liebte er so sehr wie sein Auto, einen silberfarbenen Audi. Der Regen schien ihm nichts auszumachen, im Gegenteil, Herr Kannengießer wusch sein Auto immer bei diesem Wetter. Wahrscheinlich nutzte er den Regen für die Vorwäsche. Erst hatte er den Audi liebevoll eingeseift, mit viel Schaum und viel Wasser, und ihn dann so auf Hochglanz poliert, dass Udo schon fürchtete, die äußere Lackschicht könne sich auflösen. Als es am Nachmittag endlich aufhörte zu regnen, traf Herr Kannengießer seine umfangreichen Vorbereitungen für den Reifenwechsel. Erst holte er die mehrfach eingepackten Winterreifen aus der Garage und legte sich dann in aller Ruhe ein umfangreiches Werkzeugsortiment zurecht. Den Anfang machte wie immer ein riesiger Schraubenschlüssel, mit dem er kraftvoll an den Muttern zog. Die Prozedur des Reifenwechselns nahm bei ihm jedes Mal Stunden in Anspruch. Jede einzelne Schraube wurde gesäubert und vom Rost befreit. Zunächst mit einem Schraubenzieher und dann mit verschiedenen Läppchen und Tinkturen wurden die Felgen und das gesamte Werkzeug gereinigt und anschließend mit Talg oder etwas Ähnlichem eingerieben und poliert. Udo schüttelte den Kopf. Diese Liebe und Hingabe zu einem Auto – das machte ihn jedes Mal fassungslos.

Vor dem Gemeindehaus, das dem Pfarrhaus gegenüber lag, herrschte reger Betrieb. Natürlich, es war Donnerstag, da probte immer der Kirchenchor. Vor dem Eingang hatten sich einige Leute versammelt. Sie steckten die Köpfe zusammen und schienen sich über irgendetwas aufzuregen. Was war dort los?

Wenige Augenblicke später kam ein giftgrünes Motorrad angerattert. Darauf saß – in voller Ledermontur – Sebastian von Hegendorff, Kantor und Organist der Gemeinde. Ein großer Typ mit stahlblauen Augen und blondem Pferdeschwanz, Mitte 30, ledig. Könnte direkt als Double von David Garrett, dem Stargeiger, durchgehen. Vor allem was sein Faible für ausgefallenen Silberschmuck und Tattoos anging, was eher untypisch für einen Organisten war. Der Chorleiter stellte sein Motorrad ab, klemmte seinen Helm unter den Arm und steuerte geradewegs auf die Gemeindehaustür zu. Er schloss sie auf und bedeutete der Gruppe mit einem Kopfnicken, ihm zu folgen. Sofort kehrte Ruhe ein.

Binnen Sekunden war der Vorplatz wieder wie leergefegt.

»Hättest auch Sektenführer werden können, bei deinem Charisma«, brummelte Udo. »Das Zeug dazu hättest du allemal.«

Er griff nach der Rotweinflasche. Während er sich einschenkte und den Wein eine Weile im Glas rotieren ließ, wanderten seine Gedanken wieder zu Heike und seiner gescheiterten Ehe. Trübsal und Melancholie breiteten sich in ihm aus. Er hatte das alles nicht gewollt. Die erste Träne fiel ins Weinglas. Mit seinem Pulloverärmel wischte er sich über die Augen. Endlich konnte er das.

Eigentlich hätte er damit rechnen müssen, dass eines Tages alles herauskommen würde. Nadine war die zweite Kirchenmusikerin und gleichzeitig eine Freundin von Heike. Das konnte auf Dauer nicht gutgehen. Anfangs hatte er noch aufgepasst. Jede Nachricht von ihr auf dem Anrufbeantworter oder Handy hatte er sofort gelöscht, ebenso jede E-Mail auf seinem Computer. Nach jedem Zusammensein mit Nadine hatte er seine Kleidung sofort in den Wäschekorb gestopft, ganz nach unten, damit Nadines Parfüm ihn nicht verraten konnte.

Irgendwann wurde er jedoch nachlässiger. Erst kürzlich hatte Heike an ihm geschnuppert und dabei die Bemerkung fallen lassen: »Du riechst irgendwie anders.« Dabei hatte sie ihn herausfordernd angesehen. So, als wüsste sie Bescheid.

Einmal war er aus der Stadt gekommen, mit zwei Einkaufstüten in der Hand. Sie trugen den Aufdruck eines bekannten Osnabrücker Herrenausstatters. Noch bevor er die Taschen an ihr vorbeischmuggeln konnte, riss Heike ihm sie weg. Nachdem sie einen Blick hinein geworfen hatte, stellte sie fest: »Aha, schon wieder neue Klamotten. Und total modisch. Lauter Markensachen. Sonst hast du dir doch nie was draus gemacht.«

Die Verachtung in ihrer Stimme war unüberhörbar.

»Du weißt, das ist Berufskleidung«, entgegnete er. »Damit ich bei Amtsbesuchen nicht immer gleich angezogen bin.«

»So?«, sagte sie und zog dabei eine Augenbraue hoch, was ihr einen spöttischen Ausdruck verlieh. »Bei Amtsbesuchen trägt der feine Herr neuerdings Polo-Shirts von Lacoste und Calvin-Klein-Unterhosen, die beim Bücken dezent aus der Boss-Jeans herauslugen. Interessant. Da haben die Weiber ja was zu gucken.«

Sie ahnte etwas, das spürte er. Schon lange hatte er das gespürt, wenn er jetzt so darüber nachdachte. Doch sie hatte ihn nie direkt gefragt. Er wollte sie nicht anlügen, aber er hatte darauf gewartet, dass sie ihn fragen würde.

Und plötzlich wurde alles anders. Gestern Abend um 19 Uhr hatte er ein Trauergespräch. Bereits auf der Fahrt zur Familie des Verstorbenen fühlte er sich seltsam fahrig und zerstreut. Im Autoradio brachten sie gerade die Meldung, dass der 15. Bergarbeiter aus Chile gerettet werden konnte, aber diese Nachricht konnte kaum zu Udo durchdringen.

Während des Gesprächs fiel ihm ein, dass er sein Handy nicht ausgeschaltet hatte. Unmöglich, wenn es plötzlich klingeln würde. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und stellte fest, dass er es gar nicht dabeihatte. Die Unruhe, die ihn die ganze Zeit über schon befallen hatte, wurde auf einmal so beklemmend, dass er sich nicht mehr auf das Gespräch konzentrieren konnte. Er notierte sich kurz die Wünsche der Hinterbliebenen und verabschiedete sich rasch. Während der Rückfahrt verkündete ein Sprecher, dass der 16. Bergarbeiter gerade in der Rettungskapsel nach oben befördert wurde, aber Udo war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um sich davon beeindrucken zu lassen.

Wieder und wieder ließ Udo den gestrigen Abend Revue passieren.

Er sah Heike in der Tür stehen, wutentbrannt, mit seinem Handy in der Hand. Er ging in Gedanken den Streit mit ihr durch, versuchte sich jedes einzelne Wort ins Gedächtnis zu rufen. Er erinnerte sich daran, wie Heike weggerannt war, wie der Motor ihres Polos aufheulte. Offensichtlich war sie noch einmal zurückgekommen. Er fragte sich, wann sie den Brief auf den Tisch gelegt hatte, wann sie beschlossen hatte, ihn zu verlassen. In der Nacht, als sie zurückgekommen war, oder heute früh?

Während er wie ein Stein schlief, musste sie einige ihrer persönlichen Sachen mitgenommen haben, das ging aus dem Brief hervor. Udo schluckte. Er verfluchte sich selbst, dass er so tatenlos herumsaß. Aber er wusste nicht, was er tun sollte oder wo er nach ihr suchen könnte. Am ehesten vielleicht bei ihrer Freundin Sybille, aber Udo traute ihr nicht. Die würde sofort losrennen und in der ganzen Gemeinde herumerzählen, dass Udo seine Frau betrogen hatte.

Das wäre das Letzte, was er im Moment gebrauchen könnte. Er hasste jeden Wirbel um seine Person.

Natürlich war nicht auszuschließen, dass seine Affäre auch so bekannt werden würde, aber die Chance war geringer, wenn Udo sich zurückhielt, denn Heike war eine starke, autonome Persönlichkeit und hatte ihren Stolz. Sie würde nicht öffentlich herumlamentieren, das wusste er. Die Rolle der betrogenen und verlassenen Ehefrau stand ihr nicht.

Dennoch musste sie den Schock von gestern Abend erst einmal verkraften, das war klar. Auch die so selbstbewusste Heike würde die nötige Zeit brauchen, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden. Udo beschloss, sie einfach in Ruhe zu lassen. Sie käme schon von selbst zurück, da war er sich sicher. Morgen, vielleicht übermorgen, nach spätestens drei Tagen wäre sie wieder da.

Er schenkte Rotwein nach und betrachtete lange das tiefe Rubinrot in seinem Glas.

Freitag, 15. Oktober 2010

An diesem Tag kam Eva Siebkötter etwas später als sonst. Frau Siebkötter war die Putzfrau der Meierbrinks, die freitags das Pfarrhaus auf Vordermann brachte. Ihr pubertierender Sohn war krank und hatte erst einmal mithilfe der homöopathischen Hausapotheke versorgt werden müssen. Als sie die schwere Eichentür aufschloss – sie besaß einen eigenen Schlüssel – kam ihr etwas merkwürdig vor. Es war ungewöhnlich still im Haus für die Tageszeit.

»Frau Meierbrink?«

Niemand antwortete.

»Hallo? Frau Meierbrink? Sind Sie da?« Frau Siebkötter schüttelte ihren Regenschirm aus und stellte ihn in den dafür vorgesehenen Behälter.

Immer noch keine Antwort. Normalerweise war Frau Meierbrink freitags um diese Zeit zu Hause. Meistens hielt sie sich in ihrem Arbeitszimmer auf, erledigte Telefonate, saß am Computer, schrieb E-Mails oder diktierte Briefe auf Band, die ihre Sekretärin später für sie abtippen würde. Frau Meierbrink war gern für sich allein, das wusste Eva. Es reichte, sie kurz zu begrüßen und sich dann möglichst unauffällig an die Arbeit zu machen. Die Pfarrerin konnte sehr ungehalten werden, wenn man sie in ihrem Büro störte. Schon eine kurze Frage genügte, um sie aus der Fassung zu bringen. Eva hatte diese Erfahrung anfangs machen müssen und sich schnell angewöhnt, sich selbst zu helfen und im Pfarrhaus unsichtbar zu machen.

Wie gewohnt stellte sie ihre Schuhe hinter der Treppe ab und tauschte sie gegen ihre ausgetretenen Birkenstock-Sandalen, die sie in einem Stoffbeutel mitgebracht hatte. Sie stutzte, als sie die Clogs von Frau Meierbrink unordentlich in einer Ecke liegen sah und stellte sie ins Schuhregal. Dann hängte sie ihre Jacke an einen Bügel. Sie kam am dreiteiligen Kalender vorbei, den die Meierbrinks jedes Jahr von der Autowerkstatt Reifen Müller geschenkt bekamen, und schob den roten Plastikrahmen auf die 15 vor. »Kinners, nee, wie de Zeit rennt«, sagte sie laut zu sich selbst, »de rennt un rennt un rennt. Schon wieda Herbst, ich werd’ bekloppt. In zwei Monaten is Weihnachten.«

Sie wuchtete den Staubsauger aus dem Putzschrank und machte sich an die Arbeit. Wenig später klingelte das Telefon. Eva wartete einen Moment ab und nahm dann zögerlich das Gespräch entgegen. »Hiea bei de Meierbrinks«, sagte sie. Am Apparat war Sybille Vonhoff, eine Freundin von Frau Meierbrink.

»Och, das tut mia aber jetz leid, hörnsema, ich weiß nich, wo de Frau Meierbrink steckt. Ich hab se heut noch nich jeseenn, nich waa«, sagte Eva stockend.

»Würden Sie ihr bitte ausrichten, dass sie mich zurückrufen soll, sobald sie da ist?«, ertönte die piepsige Stimme von Frau Vonhoff. Wegen ihrer roten Haare, die bei Feuchtigkeit in der Luft schnell kraus wurden, und der vielen Sommersprossen, erinnerte sie Frau Siebkötter an Pumuckl.

»Tüüalich, Frau Vonhoff, wird gemacht«, sagte Frau Siebkötter und legte auf.

Bald war sie mit dem Staubsaugen fertig und machte sich daran, den Fliesenboden in der Küche zu wischen. »Keale noch ma, was iss ’n das wieda für ’n Schmutz hiia. Da brauchsse doch Wassa ohne Ende.« Als sie gerade den Feudel auswrang, fiel ihr Blick zufällig auf den Tisch. Darauf befanden sich ein Kaffeebecher, ein Stielglas, eine leere Rotweinflasche und ein antiker, silberner Kerzenleuchter mit drei lilafarbenen Kerzen.

Und ein Briefumschlag. Nein, sie war kein neugie­riger Mensch. Sie wusste, was sich gehörte und las keine fremden Briefe. Der Umschlag war allerdings nicht zugeklebt und es stand nichts darauf, weder Empfänger noch Absender. »Kann ja wool nich vabootn sein, den ma kuaz aufzumachn. Vielleicht issa ja für mich.« Also zog sie ihn heraus und begann zu lesen.

Hallo Udo,

wenn du diesen Brief liest, bin ich nicht mehr da. Ich packe jetzt meine Sachen und gehe. Such bitte nicht nach mir. Von nun an führe ich mein eigenes Leben.

Heike.

»Wass ’n jetz kaputt? De Meierbrinks auseinanda, ich werd bekloppt. Warum dass ’n jetz?« Eva schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank es in hastigen Schlucken. Ihre rechte Hand wanderte fast automatisch in Richtung Hals und dann zu ihrem linken Handgelenk. »Keale, mein Puls, der rast ma wieda wie varrückt. Kann mir doch egaal sein, das mitte Meierbrinks. Is dea iare Sache. Nich, dass ich weegn deen noch krank werden tu. Muss ma wiida Dr. Köhler anruufn weegn de Mediziin. Das hemopa­thische Zeuchs hilft üagendwie üübahaupt nich mea. Ach nee, der Köhler meckert dann nua wiida, weil ich zu fett bin. Dann doch besser de Nietsche un ia Hemopathie.« Eva Siebkötter führte gern Selbstgespräche, wenn sie allein war. Und sie war oft allein. Sie strich sich die verschwitzten dunklen Strähnen aus der Stirn und dachte fieberhaft nach.

Gab es in letzter Zeit irgendwelche Anzeichen dafür, dass diese Ehe zerrüttet war? Gab es Auseinandersetzungen, mehr als sonst? Viel miteinander gestritten hatten die Meierbrinks ja immer schon, das war eigentlich nichts Neues.

Eva Siebkötter überlegte, was sie jetzt tun sollte. Wie sollte sie Herrn Meierbrink gegenübertreten, da sie ja nun den Inhalt des Briefes kannte? Wo steckte er überhaupt? Sie sah sich suchend um, als stünde er bereits hinter ihr. »Wenn dea gleich kommt, ich weiß von nix. Wegen mia sind de zwei noch ’n Paar. Ob die im Dorf wohl schon was wissn? Muss mal de Theea heute nachmittach anruufn.«

Es klingelte. Stöhnend richtete sie sich auf. Ein Mann stand vor der Tür, groß und breit wie ein Bär. Lange, ungepflegte, graue Haare, zotteliger Bart, ungesunde Gesichtsfarbe, Klamotten offensichtlich aus der Kleiderkammer der Diakonie. Er trug einen dunklen Rucksack bei sich, den er neben der Tür abstellte. Evas Instinkt sagte ihr, dass es sich um einen Penner handeln musste. Sie setzte eine möglichst einschüchternde Miene auf.

»Ich daaf Ihn nix geem«, sagte sie mit Blick auf seine nackten Füße, die trotz Kälte und Regen in Jesuslatschen steckten. »Wia hamm auch keine Einkaufsguutscheine meea, nich waa. Se müssn waatn, bis Heea oder Frau Meierbrink wieda da sind.«

Der Mann brach in schallendes Gelächter aus. Eva starrte ihn misstrauisch an und wusste nicht, was sie von ihm zu halten hatte. Er machte ihr Angst, aber sie wollte es auf keinen Fall zeigen. Sie nahm ihren ganzen Mut beisammen und richtete sich mit fester Stimme an den Mann: »Ealich gesacht is mia das egaal, ob das jetz reechnet, ich tu Se jeenfalls nich reinlassn.«

»Gnädigste, ich will doch keinen Einkaufsgutschein«, lachte er in tiefem Bass, »lassen Sie den ruhig stecken und schenken Sie ihn jemandem, der ihn nötiger hat als ich. Ich will zu Udo Meierbrink. Ich bin sein Vorgänger hier in der Gemeinde. Wenn ich mich vorstellen darf: Mein Name ist Schlehenkamp. Dr. Richard Schlehenkamp, selbst Pastor, sozusagen ein Amtskollege von Udo.«

Eva starrte ihn ungläubig an. »Wolln Se mich hoochneem, oder was?«

»Nicht im Geringsten, Gnädigste«, brummte der Bär, »ich will mich doch nicht verheben. Wenn Sie jetzt bitte mal dem Udo Meierbrink Bescheid geben könnten, das wäre nett. Ich stehe ein bisschen unter Zeitdruck. Habe nachher eine Teamsitzung. Das verstehen Sie doch sicher, ich möchte mir einfach mal wieder meine alte Wirkungsstätte ansehen. Ich war 13 Jahre lang Pastor in dieser Gemeinde, müssen Sie wissen. Der Udo kennt mich gut. Wir haben schon mal zusammengearbeitet. Hier ist meine Karte.« Er steckte Eva seine Visitenkarte zu, die sie zögerlich entgegennahm.

›Pastor Schlehenkamp‹, las sie, ob das wirklich der Pastor Schlehenkamp war, von dem sie schon viel gehört hatte? Er war bekannt dafür, sich für die Nicaragua-Hilfe einzusetzen und hatte dort durch Spendengelder Schulen und Kindergärten gebaut.

Das Blut schoss ihr in den Kopf. Sie war sich nicht sicher. Wenn das stimmte, dann hatte sie sich gehörig blamiert.

Nachdem sich der Mann verabschiedet hatte, ging Frau Siebkötter in die Küche zurück, um noch ein Glas Wasser zu trinken. Die Visitenkarte warf sie vorsichtshalber in den Müll. »Du liebes Lottchen, wass ’n ungefleechte Peasoon. Nachheea hatta diese Visittnkaate nua geklaut un is in Wüaklichkeit ’n Vabrecha. Wer weiß, was dea in seim Rucksack hatte. Vielleicht issa ja dea Hammamöada, nachdem se jetz übaall suchen. Hoffenlich kommta nie wieda. Wo happ ich denn jetz blooß mein Fegeblech hingelecht? Ich glaub, ich werd langsam rammdösich. Bin doch noch gaa nich so alt, grad man erst bisschen was üüba de 40.«

*

Udo Meierbrink hatte sich den ganzen Tag über schlecht gefühlt. Der Rotwein vom Vorabend hatte ihn vorübergehend betäuben können und er war dank der Schlaftabletten schnell eingeschlafen. Aber heute Morgen war er bereits um 4 Uhr mit dröhnenden Kopfschmerzen aufgewacht und fühlte sich seitdem wie gerädert. Stundenlang war er in seinem Büro auf- und abgegangen. Es lag im Obergeschoss des Gemeindehauses, eines gesichts­losen 60er-Jahre-Baus, was den Vorteil hatte, dass er morgens ungestört arbeiten konnte. Das Gemeindehaus lag nur einen Steinwurf vom Pfarrhaus entfernt.

Doch heute war an Arbeit nicht zu denken. Für Sonntag hatte er noch eine Predigt zu schreiben, zu der ihm absolut nichts einfiel. Die Kirchenzeitung von letzter Woche lag ungelesen auf seinem Schreibtisch. Nach Hause gehen wollte er auf keinen Fall, da freitags immer die Putzfrau kam, der er auf keinen Fall über den Weg laufen wollte. Sie war eine furchtbar neugierige Person, steckte ihre Nase überall hinein.

Trotz seines ursprünglichen Vorhabens hatte er mehrmals versucht, Heike auf ihrem Handy zu erreichen, doch jedes Mal sprang ihre Mailbox an. Beim vierten Versuch hinterließ er eine Nachricht: »Hier ist Udo. Heike, bitte melde dich. Unser Streit tut mir leid. Ich mache mir Sorgen.«

Dann schlug er die Zeitung auf und versuchte sich auf den Leitartikel zu konzentrieren.

Von Zeit zu Zeit ging er ans Fenster und beobachtete das Pfarrhaus gegenüber, immer dicht gefolgt von Bo, der Podenco-Mix-Hündin. »Ja, Bo, gleich geht’s raus«, murmelte er.

Draußen herrschte nasskaltes Wetter. Es war an der Zeit, Reifen zu wechseln. Herr Kannengießer hatte ihn durch die stundenlange Prozedur vom Vortag daran erinnert, einen Termin bei der Werkstatt auszumachen. Dinge dieser Art überließ Udo vorsichtshalber einem Fachmann. Jetzt war sein Nachbar gerade damit beschäftigt, trotz Wind und Regen sein Auto mit einem Gartenschlauch zu bearbeiten. Er war schon klatschnass in seinem ehemals roten Overall und stand mit seinen Gummistiefeln in einer tiefen Pfütze, aber das schien ihn nicht im Geringsten zu stören. Unablässig spritzte er auf sein wehrloses Auto ein und stieß mit seiner Pfeife wabernde Wölkchen in die feuchte Herbstluft.

Udo schüttelte ungläubig den Kopf. Was für eine Verschwendung von Energien. Und das in jeder Hinsicht.

Er zog seine Wachsjacke an und griff nach Bos Leine. Sofort kam der Hund grinsend angesprungen und winselte vor Freude. »Also los«, seufzte er, »auch wenn wir ganz schön durchgepustet werden.«

Beim Anblick der treuen Hundeaugen kamen ihm die Tränen. Dass Heike ihn eines Tages verlassen würde, damit musste er rechnen. Aber niemals hätte er gedacht, dass sie sich von ihrem über alles geliebten Hund trennen würde. Bo war immer ihr Ein und Alles. Sie hatte sie vor ein paar Jahren vom Tierschutz übernommen. Bo war ein ehemaliger Straßenhund aus Spanien, der aufgegriffen und in ein Madrider Tierheim gebracht worden war. Nachdem sich monatelang niemand für die Hündin interessiert hatte, sollte sie eingeschläfert werden. Quasi in letzter Minute hatte sie das Glück, mithilfe von Flugpaten nach Deutschland gebracht zu werden. Vom Frankfurter Flughafen aus ging es dann weiter nach Osnabrück, wo sie im Tierheim in Hellern eine vorübergehende Bleibe fand. Heike hatte von ihrem Schicksal in der Zeitung gelesen und war sofort ins Tierheim gefahren, um sie sich anzuschauen. Sie fand sie abgemagert und völlig verängstigt in einer Ecke des Zwingers, den sie mit zwei anderen ehemaligen Straßenhunden teilte.

Es war Liebe auf den ersten Blick. Bo fasste sofort Zutrauen zu Heike, ließ sich von ihr streicheln und leckte ihr die Hände. Heike überlegte nicht lange und adoptierte sie.

Seitdem brachte Heike es kaum übers Herz, die Hündin mal länger als zwei Stunden allein zu lassen; meistens nahm sie Bo einfach mit. Für alle Fälle hatte sie mehrere Haustürschlüssel bei Bekannten deponiert, bei Sybille, Nadine und Eva, der Zugehfrau. Eine von den dreien kümmerte sich in Zeiten der Abwesenheit von Heike und Udo um Bo.

Urlaubsreisen wurden so geplant, dass die Hündin problemlos mitgenommen werden konnte. Udo verstand einfach nicht, wie sich Heike so einfach von Bo trennen konnte. Sie schien sich keinerlei Gedanken darüber gemacht zu haben, wer sich in Zukunft um den Hund kümmern sollte. Jedenfalls gab es in ihrem Abschiedsbrief keinen Hinweis darauf – auch das war ungewöhnlich für Heike, die sich stets für alles und jeden verantwortlich gefühlte.

Udo hatte jedenfalls keine Lust auf regelmäßige Spaziergänge, das stand schon mal fest.

20 Minuten später traf er wieder im Gemeindehaus ein, völlig durchnässt und durchgefroren. Er und Bo hinterließen eine Schmutzspur, die sich durch das komplette Treppenhaus zog. Er hatte vergessen, ein großes Handtuch für den Hund bereitzulegen. Normalerweise sorgte Heike dafür. Da die Küsterin, die auch für das Gemeindehaus zuständig war, erst am Montag wiederkäme, kümmerte er sich heute ausnahmsweise selbst um den Dreck.

Als er Frau Siebkötter gegen Mittag gehen sah, packte er ein paar Unterlagen zusammen und ging zurück ins Pfarrhaus. Sein Ziel war das Arbeitszimmer seiner Frau. Er hoffte, dort irgendetwas zu finden, was ihm Aufschluss über ihren Verbleib geben könnte. Er hatte schon den Papierkorb ausgeleert, den Posteingangskorb sowie die Ablagefächer auf dem Schreibtisch, als das Telefon klingelte. Er fuhr zusammen, als wäre er ertappt worden.

Am Apparat war Heikes Freundin Sybille Vonhoff, die unbedingt Heike sprechen wollte und betonte, dass sie schon zum zweiten Mal anrufe.

Udo konnte seine Enttäuschung kaum verbergen. Er hielt den Hörer weit von sich, da er Sybilles piepsig-schrille Stimme ohnehin kaum ertragen konnte und jetzt mit diesen Kopfschmerzen erst recht nicht. Er überlegte kurz, Sybille zu fragen, ob Heike bei ihr gewesen war, unterließ es aber.

Sybille arbeitete halbtags als Lohnbuchhalterin in einer Autowerkstatt und war zugleich Laienvorsitzende im Synodalvorstand der Kirche. In dieser Funktion kannte sie sich in den höchsten Kirchenkreisen aus, sodass selbst der noch amtierende Superintendent schon bald über das Verschwinden seiner Frau informiert sein würde. Udo hatte den Eindruck, dass Sybille noch nichts wusste. Deshalb teilte er ihr lapidar mit, seine Frau sei für zwei Tage zu ihrer Mutter nach Hamburg gefahren. Jetzt war er diese Nervensäge erst einmal los.

Er stand auf, warf sich seinen Parka über, schnappte sich den Brief und den Schlüssel zu seinem alten Volvo und machte sich auf den Weg zu Nadine.

Nadine Wagenbach lebte im Nachbardorf. Sie bewohnte zusammen mit ihrem Mann Norbert ein schmales Reihenhaus aus den 70er-Jahren. Ihr Mann war selten zu Hause, da er als Ingenieur auf einer Bohrinsel in der Nordsee arbeitete.

Auf sein Klingeln hin reagierte Nadine nicht. Das war er schon gewohnt – wenn sie am Klavier saß, konnte sie alles um sich herum vergessen. Als Kirchenmusikerin leitete sie zwei Chöre und teilte sich den Organistendienst mit Sebastian von Hegendorff. Udo ging um das Haus herum und betrat die Terrasse, die an einen kleinen Garten grenzte. Im Sommer war das Grundstück in einem tadellosen Zustand, mit akkurat gepflegtem Rasen, Rosenbeeten und zurückgeschnittenen Hecken, aber jetzt sah hier alles grau und trist aus. Keine Spur mehr von einem goldenen Oktober.

Einen Moment lang beobachtete er Nadine fasziniert bei ihrem Klavierspiel. Er fand sie wunderschön mit ihren langen, hellblonden Locken, dem Elfenbeinteint und den vollen Lippen. Dass sie etwas füllig war, störte ihn nicht, im Gegenteil, ihre üppige Figur hatte für ihn etwas Sinnliches. Im Aussehen ähnelte sie seiner Frau, aber sie war weniger kompliziert und launisch. Natürlich sah sie jünger und knackiger aus. Und vor allem war sie eine Frau zum Anfassen. Udo seufzte tief. Nadine hatte aus ihm einen ganz neuen Menschen gemacht. Er erkannte sich selbst nicht mehr, war auf einmal wieder jung, wild, leidenschaftlich und erotisch. Vor allem aber fühlte er sich an ihrer Seite frei, und das war das Beste von allem. Er, der geachtete Gemeindepfarrer, 49 Jahre alt, der von den meisten Dorfbewohnern mit ›Herr Pastor Meierbrink‹ angeredet wurde, eine Respektsperson, ein Vorbild für alle. Niemand in der Gemeinde hätte sich vorstellen können, dass es eine Affäre geben könnte zwischen ihm und der drallen, blonden Kirchenmusikerin.

Er wollte gerade an die Terrassentür klopfen, als sie ihn entdeckte und sofort aufsprang. Bei seinem Anblick erschrak sie jedoch, sodass die Begrüßung nicht so stürmisch ausfiel wie sonst. Er musste aussehen wie ein Zombie, mit wirren Haaren und aschfahl im Gesicht. Selbst seine sonst so schönen braunen Augen wirkten heute erloschen.

»Du bist blass. Was ist los?«

»Das fragst du? Weißt du wirklich nichts?«, Udo war irritiert.

»Nein. Aber ich nehme an, du wirst es mir gleich sagen.«

»Kannst du mir bitte einen Tee machen? Deine Spezialmischung? Ich bin fix und fertig.« Udo schälte sich aus seinem Parka und ließ sich matt auf das lindgrüne Sofa fallen.

»Okay, du bekommst deinen Tee. Aber ich habe nicht viel Zeit. Du weißt ja, Norbert hat Urlaub. Du hast Glück, dass er gerade nicht da ist, er ist beim Arzt. Er kann jeden Moment zurück sein.«

Wortlos reichte er ihr Heikes Brief.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einfach so verschwunden ist«, sagte Nadine, nachdem sie die Zeilen gelesen hatte. »Das passt nicht zu ihr. Sie ist eine Kämpfernatur. Sie würde nie von sich aus alles aufgeben.« Das Telefon klingelte. »Entschuldigst du mich bitte für einen Moment?«, fragte Nadine und ging nach nebenan.

Udo lehnte sich zurück und überflog zum wiederholten Male die Buchtitel im weißen Ikearegal. Hauptsächlich Liebesromane von Rosamunde Pilcher und Nora Roberts, das passte zu Nadine. Außerdem unzählige Bildbände und Fotoalben.

Das Wohnzimmer war nicht unbedingt nach Udos Geschmack. Zu viel weiß, zu viel Lack, zu viel Messing. Die halbhohen Gardinen lagen Falte neben Falte. Es gab eine große Schrankwand mit Vitrine aus weißem Schleiflack, einen auf Antik getrimmten weißen Sekretär, auf dem gerahmte Familienfotos standen, die lindgrüne Sesselgarnitur mit Fransen, einen kleinen Messingcouchtisch mit Glasplatte, eine weiße Essgruppe mit Stühlen im Zebramuster und einen großen, weinrot grundierten Teppich im Orientstil. Auf kleinen, weißen Beistelltischchen und Hockern mit gedrechselten Beinen standen Vasen in verschiedenen Größen mit künstlichen Blumensträußen.

An den Wänden hingen Spiegel mit vergoldeten Rahmen, Aquarelle mit Sonnenuntergängen und Stillleben, weitere Familienfotos und eingerahmte Urkunden, die Nadine wahrscheinlich bei irgendwelchen Klavier- oder Orgelwettbewerben gewonnen hatte.

Über dem Klavier prangte ein riesiges, goldumrandetes Hochzeitsfoto von Nadine und Norbert, das im Schlosspark von Bad Iburg aufgenommen war und sie beide in einer romantischen Pose zeigte: Sie lag lasziv zu seinen Füßen und strahlte ihn verliebt an, während er sich kniend über sie beugte und dabei einen eher angestrengten Gesichtsausdruck hatte. Besonders toll sah Norbert nicht gerade aus. Vielleicht hatte er andere Qualitäten. Der strahlend blaue Himmel und das frische Grün des Rasens zeugten von einem wunderschönen Frühsommertag. Das Bild war mit Weichzeichner bearbeitet. Damals wog Nadine noch mindestens zehn Kilo weniger.

In diesem Wohnzimmer hatten sie sich das erste Mal geliebt. Norbert saß wieder einmal für 14 Tage auf seiner Bohrinsel fest und Nadine hatte sich allein gefühlt und Udo angerufen. Er hatte sich sofort auf den Weg zu ihr gemacht. Sie hatte ihm einen Holunderblütentee gekocht und ihre neue CD von Katie Melua vorgespielt.

Als sie sich zu ihm herunterbeugte, um ihm Tee einzuschenken, blieb sein Blick an ihrem prallen Busen hängen, der ein Stück aus ihrem körperbetonten Strickkleid herausgerutscht war. Natürlich rein zufällig, aber es genügte, um bei Udo einen Schalter umzulegen.

Bei ›Nine Million Bicycles‹ hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, erst schüchtern und zart, dann wild und leidenschaftlich wie zwei Ertrinkende.

Bei ›Thank You, Stars‹ hatten sie sich gegenseitig ausgezogen und waren auf dem lindgrünen Sofa übereinander hergefallen.

Bei ›I Cried For You‹ wurden sie endgültig zum Liebespaar und gestanden sich, dass sie schon lange ineinander verliebt waren.

Und seitdem waren sie zusammen.

Udo zog sich die Schuhe aus und legte sich aufs Sofa. Er musste wieder an Heike denken und wurde wütend. Was bildete sie sich eigentlich ein? Ließ alles stehen und liegen und haute ab, einfach so. Was dachte sie sich dabei? Wollte sie ihn bestrafen, bloßstellen, seine Karriere ruinieren? Dieses eigensüchtige Miststück.