HARLAN COBEN
WER EINMAL LÜGT
THRILLER
DEUTSCH
VON GUNNAR KWISINSKI
PAGE & TURNER
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Die Originalausgabe erschien 2012
unter dem Titel »Stay Close« bei Dutton, a member of
Penguin Group USA (Inc.), New York.
Page & Turner Bücher erscheinen im
Wilhelm Goldmann Verlag, München,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe
Random House GmbH.
Copyright © der Originalausgabe 2012
by Harlan Coben
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013
by Page & Turner/Wilhelm Goldmann Verlag,
München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Vera Thielenhaus
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotiv: © Winfried Wisniewski/Corbis und
FinePic®, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-09705-9
V005
www.goldmann-verlag.de
Dieses Buch ist für
Tante Diane und Onkel Norman Reiter
sowie für
Tante Ilene und Onkel Marty Kronberg.
In Liebe und Dankbarkeit.
Well now everything dies, baby that’s a fact.
But maybe everything that dies, someday comes back.
Bruce Springsteen, Atlantic City
EINS
In diesem Sekundenbruchteil, wenn er auf den Auslöser drückte und die Welt im grellen Blitzlicht verschwand, sah Ray Levine manchmal das Blut. Er wusste natürlich, dass er es nur vor seinem inneren Auge sah, aber gelegentlich – wie jetzt gerade – war die Vorstellung so real, dass er die Kamera senken und eine Weile auf den Boden starren musste. Dieser fürchterliche Moment – der Moment, in dem sich Rays Leben für immer verändert hatte, in dem er sich von einem Mann mit klaren Zielen und einer äußerst vielversprechenden Zukunft in den totalen Loser verwandelt hatte, der er jetzt war – überkam ihn nie in seinen Träumen oder wenn er allein in der Dunkelheit lag. Diese erschütternden Visionen warteten auf Situationen, in denen er hellwach, unter Menschen und mit etwas beschäftigt war, was manche Leute etwas sarkastisch vielleicht als Arbeit bezeichnet hätten.
Gnädigerweise verblasste das Bild, als Ray fortfuhr, den Bar-Mizwa-Jungen zu fotografieren.
»Guck mal hierher, Ira«, rief Ray hinter dem Objektiv. »Mit wem hast du was? Ist es wahr, dass Jen und Angelina immer noch deinetwegen im Clinch liegen?«
Ray bekam einen Tritt gegen’s Schienbein. Jemand stieß ihn zur Seite. Ray schoss dennoch weiter Fotos von Ira.
»Wo ist nachher die Party, Ira? Welches glückliche Mädchen bekommt den ersten Tanz?«
Ira Edelstein runzelte die Stirn und versuchte sein Gesicht vor der Kamera abzuschirmen. Unerschrocken sprang Ray weiter vor und schoss aus jedem Winkel Fotos. »Aus dem Weg!«, rief jemand. Wieder wurde Ray zur Seite gestoßen. Er versuchte, sich auf den Beinen zu halten.
Klick, klick, klick.
»Verdammte Paparazzi!«, rief Ira. »Kann man denn nie seine Ruhe haben?«
Ray rollte die Augen. Er wich nicht zurück. Wieder erschien das Blut vor seinem inneren Auge. Er versuchte, es wegzublinzeln, was aber nicht funktionierte. Ray ließ den Finger auf dem Auslöser. Ira, der Bar-Mizwa-Junge, flackerte jetzt in zeitlupenhaften, stroboskopartigen Bewegungen.
»Ihr Parasiten«, schrie Ira.
Ray fragte sich, ob man noch tiefer sinken konnte.
Ein weiterer Tritt gegen’s Schienbein beantwortete die Frage: Nein.
Iras »Leibwächter« – ein riesiger Kerl mit kahlrasiertem Schädel namens Fester – wischte Ray mit seinem baumdicken Unterarm zur Seite. Er tat das mit etwas zu großer Begeisterung, so dass Ray fast gestürzt wäre. Ray sah Fester mit einem »Was soll der Scheiß?«-Blick an. Fester entschuldigte sich lautlos.
Fester war Rays Chef und Freund und der Besitzer von Celeb Experience: Paparazzi for Hire – und die Firma tat genau das, was der Name besagte. Ray legte sich nicht etwa wie ein echter Paparazzo auf die Lauer, um kompromittierende Fotos von Prominenten zu machen und sie an die Boulevardpresse zu verkaufen. Nein, Ray stand noch weit darunter – wie Beatlemania zu den Beatles –, indem er Möchtegern-Prominenten anbot, sich ein paar Stunden lang wie echte Prominente zu fühlen. Gegen Bezahlung. Seine – häufig extrem selbstgefälligen und vermutlich von Erektionsschwierigkeiten geplagten – Kunden bestellten sich ein paar Loser, die ihnen folgten und Fotos schossen, um ihnen damit, wie es in der Broschüre hieß, »das ultimative Prominenten-Erlebnis mit ihren eigenen, exklusiven Paparazzi« zu ermöglichen.
Natürlich wusste Ray, dass er durchaus noch tiefer hätte sinken können. Er ging jedoch davon aus, dass es dazu eines Akts höherer Gewalt bedurft hätte.
Die Edelsteins hatten das Megapaket von der A-Liste bestellt – zwei Stunden mit drei Paparazzi, einem Leibwächter, einem Journalisten und einem Typen mit Mikrofonangel, die dem »Prominenten« die ganze Zeit folgten und Fotos schossen, als wäre er Charlie Sheen, der sich heimlich in ein Kloster schleicht. Zum Megapaket der A-Liste gehörte außerdem eine Gratis-DVD mit den Fotos und eines dieser kitschigen gefälschten Klatschmagazine mit dem eigenen Gesicht auf dem Titel und einer passenden Schlagzeile.
Der Preis für das Megapaket von der A-Liste?
Vier Riesen.
Um die unvermeidliche Frage zu beantworten: Ja, Ray hasste sich dafür.
Ira schob sich an ihm vorbei und verschwand im Tanzsaal. Ray ließ die Kamera sinken und sah seine beiden Paparazzi-Kollegen an. Keiner von beiden hatte das Loser-L auf die Stirn tätowiert, weil das, ehrlich gesagt, schlicht unnötig gewesen wäre.
Ray sah auf die Uhr. »Mist«, sagte er.
»Was ist?«
»Wir haben noch eine Viertelstunde.«
Seine Kollegen – kaum klug genug, ihre Namen mit dem Finger in den Dreck zu schreiben – grunzten. Noch eine Viertelstunde. Das bedeutete, dass sie reingehen und auch während der Aufnahmeprozedur weiterarbeiten mussten. Ray hasste das.
Die Bar-Mizwa fand im Wingfield Manor statt, einem absurd protzigen Bankettsaal, den man, wenn man ihn etwas zurückgebaut hätte, für einen von Saddam Husseins Palästen hätte halten können. Er war voller Kronleuchter, Spiegel, falschem Elfenbein, Holzschnitzereien und viel glänzender Goldfarbe.
Wieder hatte er das Blut vor Augen. Er blinzelte es weg.
Bei der Feier herrschte Smokingpflicht. Die Männer waren reich und abgespannt, die Frauen gut gepflegt und chirurgisch optimiert. Ray drängte sich in Jeans, einem verknitterten grauen Blazer und schwarzen Chuck-Taylor-Basketballschuhen durch die Menge. Ein paar Gäste sahen ihn an, als hätte er sich auf ihre Salatgabel erleichtert.
Auf der Bühne befanden sich eine achtzehnköpfige Band und ein Animateur, dessen Aufgabe es war, die Gäste in einen Zustand fröhlicher Ausgelassenheit zu versetzen. Er hatte frappierende Ähnlichkeit mit einem schlechten Gameshow-Moderator – oder auch mit dem guten Robert aus der Sesamstraße. Dieser Animateur griff nun zum Mikrofon und sagte im Tonfall eines Boxkampf-Ansagers: »Ladys and Gentlemen, hier ist er, heißen Sie ihn willkommen. Zum ersten Mal, seit er aus der Tora gelesen hat und damit zu einem Mann geworden ist, begrüßen Sie ihn mit einem großen Applaus, den einmaligen und einzigen … Ira Edelstein!«
Ira erschien mit zwei … Ray wusste nicht, wie man sie angemessen bezeichnete, am ehesten aber wohl als Edelstripperinnen. Als die beiden heißen Bräute ihn in den Raum geleiteten, befand sich der Kopf des Jungen auf Höhe ihrer Dekolletés. Ray machte die Kamera bereit und drängte sich kopfschüttelnd weiter vor. Der Typ war dreizehn. Wenn ihm in dem Alter solche Frauen so nahe gekommen wären, wäre er eine ganze Woche mit einem Ständer rumgelaufen.
Ach, die Jugendzeit …
Stürmischer Beifall brandete auf. Ira begrüßte die Menge mit einem majestätischen Winken.
»Ira!«, rief Ray. »Sind das deine neuen Angebeteten? Stimmt es, dass du noch eine dritte zu deinem Harem hinzufügen könntest?«
»Bitte«, sagte Ira mit routinierter Weinerlichkeit. »Auch ich habe ein Recht auf meine Privatsphäre.«
Es gelang Ray, sich nicht zu übergeben. »Aber das interessiert die Leute.«
Fester, der Leibwächter mit der Sonnenbrille, legte Ray eine große Hand auf die Schulter, so dass Ira an ihm vorbeigehen konnte. Ray drückte den Auslöser und achtete darauf, dass das Blitzlicht seinen Zauber entfachte. Die Band donnerte los – wann hatte das angefangen, dass bei Hochzeiten und Bar-Mizwas die Musik unbedingt in Stadionlautstärke gespielt werden musste? Es war die neue Feier-Hymne, Club Can’t Handle Me. Ira führte mit seinen zwei bezahlten Helferinnen einen anzüglichen Tanz auf. Dann stürmten seine dreizehnjährigen Freunde die Tanzfläche und sprangen einfach senkrecht in die Luft wie beim Pogo. Ray »kämpfte« sich an Fester vorbei, machte noch ein paar Fotos und sah auf die Uhr.
Noch eine Minute.
»Paparazzi-Schwein!«
Wieder ein Tritt gegen’s Schienbein von einem der kleinen Kretins.
»Au, Scheiße, das tat weh!«
Der Kretin huschte davon. Notieren, dachte Ray: Schienbeinschützer besorgen. Er sah Fester mit einem Blick an, der um Gnade flehte. Fester ließ ihn los und forderte ihn mit einem kurzen Kopfnicken auf, ihm in die Ecke des Saales zu folgen. Weil es dort zu laut war, gingen sie nach draußen.
Fester deutete mit seinem riesigen Daumen auf den Ballsaal. »Er hat seine Haftara-Abschnitte wirklich toll gelesen, findest du nicht auch?«
Ray starrte ihn wortlos an.
»Ich hab morgen einen Job für dich«, wechselte Fester das Thema.
»Groovy. Was denn?«
Fester wandte den Blick ab.
Das gefiel Ray nicht. »Uh-oh?«
»George Queller.«
»Du meine Güte.«
»Ja. Das Übliche.«
Ray seufzte. George Queller versuchte seine Partnerinnen bei der ersten Verabredung zu beeindrucken, indem er sie komplett überwältigte – und damit in Angst und Schrecken versetzte. Er bestellte Celeb Experience, um ihn und sein Date zu umschwärmen, während er mit ihr in ein kleines, romantisches Bistro ging. Vor einem Monat war eine Frau namens Nancy an der Reihe gewesen. Kaum saß sie, wurde ihr – unglaublich, aber wahr – eine eigene Speisekarte überreicht, auf der »Georges und Nancys erstes von vielen, vielen Dates« stand. Darunter waren die Adresse, der Tag, der Monat und das Jahr angegeben. Beim Verlassen des Restaurants wurden sie von den Miet-Paparazzi erwartet, die anfingen, Fotos zu machen, und erzählten, wie George das Wochenende auf den Turks- und Caicosinseln für die liebreizende und zu diesem Zeitpunkt bereits zu Tode erschrockene Nancy abgesagt hatte.
George hielt solche »romantischen« Tricks für das Vorspiel zu einem glücklichen und zufriedenen gemeinsamen Leben. Nancy und ihresgleichen hielten diese »romantischen« Tricks für ein Vorspiel zu Ballknebeln und Fesseln in einem abgelegenen Lagerraum.
George war noch nie weiter als bis zum ersten Date gekommen.
Fester nahm die Sonnenbrille ab. »Du sollst bei dem Job die Führung übernehmen.«
»Erster Paparazzo«, sagte Ray. »Ich muss meine Mutter anrufen, damit sie in ihrer Mah-Jongg-Gruppe damit angeben kann.«
Fester gluckste. »Ich liebe dich, das weißt du doch?«
»Sind wir hier fertig?«
»Ja.«
Ray nahm das Objektiv vom Kameragehäuse, packte beides sorgfältig ein und hängte sich die Tasche über die Schulter. Er hinkte zur Tür, nicht wegen der Tritte, sondern aufgrund des Schrapnellsplitters in seiner Hüfte – der Splitter war der Anfang seines Abstiegs gewesen. Aber nein, das war zu einfach. Der Schrapnellsplitter war nur eine Ausrede. Es hatte schließlich einmal eine Zeit in seinem jämmerlichen Leben gegeben, in dem Ray fast unerschöpfliches Potenzial besaß. Er hatte seinen Abschluss an der Columbia University School of Journalism gemacht, wo ihm ein Professor ein »fast übernatürliches Talent« im Bereich Fotojournalismus bescheinigt hatte – das jetzt brachlag. Aber im Endeffekt hatte dieses Leben für ihn nicht funktioniert. Manche Menschen wurden vom Ärger geradezu angezogen. Manche Menschen, ganz egal, wie einfach und gut erkennbar der Weg ist, den sie im Leben beschreiten sollten, fanden immer eine Möglichkeit, alles zu vermasseln.
Ray Levine war einer dieser Menschen.
Es war dunkel draußen. Ray überlegte, ob er einfach nach Hause fahren und sich ins Bett legen oder noch in eine Bar gehen sollte, die so schmierig war, dass sie Tetanus hieß. Schwierige Entscheidung, wenn einem so viele Möglichkeiten offenstanden.
Wieder dachte er an die Leiche.
Die Visionen ereilten ihn jetzt immer häufiger und unvermittelter. Das war wohl nur zu verständlich. Heute war immerhin das Jubiläum des Tages, an dem das alles zu Ende ging, des Tages, an dem jede Hoffnung auf ein glückliches Weiterleben dahinstarb wie … Na ja, eine logische Metapher würde jetzt auf die Visionen in seinem Kopf Bezug nehmen, oder?
Er runzelte die Stirn. Hey, Ray, ist das nicht alles ein bisschen übertrieben melodramatisch?
Er hatte gehofft, dass der alberne heutige Job ihn davon ablenken würde. Das hatte aber nicht funktioniert. Stattdessen musste er nun an seine eigene Bar-Mizwa denken, an den Moment auf der Kanzel, als sein Vater sich zu ihm heruntergebeugt und ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte. Er erinnerte sich noch, dass sein Vater nach Old Spice roch, als er seine Hand ganz sanft um Rays Ohr legte und mit Tränen in den Augen sagte: »Ich liebe dich so sehr.«
Ray schob den Gedanken beiseite. Es tat weniger weh, wenn er an die Leiche dachte.
Da der Parkservice bei der Ankunft Geld von ihm verlangt hatte – so etwas wie professionelles Entgegenkommen gab es da wohl nicht –, war Ray wieder gefahren und hatte in einer Seitenstraße drei Blocks entfernt einen Parkplatz gefunden. Als er um die Ecke bog, sah er seinen beschissenen, zwölf Jahre alten Honda Civic, bei dem eine Stoßstange fehlte und ein Seitenfenster mit Klebeband befestigt war. Ray rieb sich das Kinn. Unrasiert. Unrasiert, vierzig Jahre alt, Scheißwagen, Kellerwohnung, die, wenn sie ordentlich renoviert werden würde, gerade noch als Drecksloch durchgehen könnte, keine Zukunft, Trinker. Er wäre vor Selbstmitleid vergangen, wenn es ihm nicht so gleichgültig gewesen wäre.
Ray wollte gerade den Autoschlüssel aus der Tasche ziehen, als er einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf bekam.
Was zum …?
Er sank auf ein Knie. Die Welt wurde dunkel. Ein Kribbeln lief über seine Kopfhaut. Er drohte die Orientierung zu verlieren und versuchte, den Kopf zu schütteln, um ihn wieder klar zu bekommen.
Ein weiterer Schlag landete neben seiner Schläfe.
Etwas in seinem Kopf explodierte in weißem Licht. Rays Körper sackte lang ausgestreckt auf die Straße. Vielleicht verlor er kurz das Bewusstsein – er war sich nicht sicher, spürte nur, wie plötzlich etwas an seiner rechten Schulter zog. Einen Moment lang blieb er einfach bewegungslos liegen, konnte oder wollte sich nicht wehren. In seinem Kopf drehte sich alles vor Schmerz. Der primitive Teil seines Gehirns, in dem die Ur-Instinkte beheimatet waren, hatte in den Überlebensmodus geschaltet. Meide weitere Schmerzen, sagte er. Roll dich einfach zusammen und schütze die lebenswichtigen Organe.
Durch ein weiteres, kräftiges Ziehen wäre ihm fast der Arm ausgekugelt worden. Dann ließ es nach und wanderte die Schulter und seinen Arm hinab. Bei der folgenden Erkenntnis riss Ray die Augen auf.
Da klaute jemand seine Kamera.
Die Kamera war eine klassische Leica mit einem kürzlich nachgerüsteten digitalen Übertragungs-Feature. Er spürte, wie sein Arm angehoben und der Riemen hinuntergezogen wurde. In höchstens einer Sekunde wäre die Kamera weg.
Ray besaß nicht viel. Die Kamera war das Einzige, was ihm wirklich etwas bedeutete. Natürlich war sie zum einen das Werkzeug, das er zu seinem Broterwerb brauchte – außerdem aber war sie die einzige Verbindung zum alten Ray, zu dem Leben, das er vor dem Blut geführt hatte. Er war nicht bereit, das kampflos aufzugeben.
Zu spät.
Der Riemen war nicht mehr an seinem Arm. Er überlegte, ob er noch eine Gelegenheit bekäme, sich zur Wehr zu setzen, ob der Räuber versuchen würde, an die vierzehn Dollar in seinem Portemonnaie heranzukommen, und Ray so eine zweite Chance geben würde. Er brannte darauf, das herauszufinden.
Mit benebeltem Kopf und weichen Knien schrie Ray: »Nein!«, versuchte aufzuspringen und sich auf den Angreifer zu stürzen. Er erwischte etwas, wahrscheinlich die Beine, umschlang sie mit den Armen, und obwohl er sie nicht richtig in den Griff bekam, reichte der Aufprall.
Der Angreifer stürzte. Auch Ray landete wieder auf dem Bauch. Er hörte einen lauten Knall und hoffte inständig, dass er nicht gerade seine eigene Kamera zertrümmert hatte. Er versuchte, die Augen zu öffnen, hatte es nach kurzem Blinzeln auch bis zu zwei schmalen Schlitzen geschafft, durch die er die Kamera etwa ein oder zwei Meter vor sich sah. Er fing an darauf zuzukrabbeln, sah dann aber zwei Dinge, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließen.
Das erste war ein Baseballschläger auf dem Asphalt.
Das zweite – und wichtigere – war die behandschuhte Hand, die danach griff.
Rays Versuch, nach oben zu blicken, scheiterte. Die Erinnerung an ein Sommerlager blitzte auf. Sein Vater hatte es geleitet, als Ray noch klein war. Dad – die Jugendlichen hatten ihn Uncle Barry genannt – hatte gerne Staffelläufe veranstaltet, bei denen man sich einen Basketball direkt über den Kopf hielt, ihn ansah und sich so schnell wie möglich drehte. Dann musste man den Ball über das ganze Feld dribbeln und auf der anderen Seite in den Korb werfen. Das Problem bestand darin, dass einem vom Drehen so schwindlig war, dass man in eine Richtung fiel, der Ball aber in die andere rollte. So fühlte Ray sich jetzt – als ob er nach links stürzte, während der Rest der Welt nach rechts schwankte.
Der Kameradieb nahm den Baseballschläger und kam auf ihn zu.
»Hilfe!«, schrie Ray.
Es kam niemand.
Panik ergriff ihn – gefolgt von einer instinktiven Überlebensreaktion. Flucht. Er versuchte aufzustehen, schaffte es aber noch nicht. Ray war schon so ein schwer mitgenommenes Häufchen Elend. Noch ein Schlag, ein harter Treffer mit dem Baseballschläger …
»Hilfe!«
Der Angreifer kam zwei weitere Schritte auf ihn zu. Ray hatte keine Wahl. Auf allen vieren krabbelte er davon wie ein verwundeter Krebs. Prima, so war er bestimmt schnell genug, um dem verdammten Schläger zu entkommen. Der Arsch mit dem Baseballschläger war praktisch über ihm. Er hatte keine Chance.
Ray stieß mit der Schulter gegen etwas. Sein Wagen.
Er sah, wie der Schläger über seinem Kopf angehoben wurde. Noch ein, vielleicht zwei Sekunden, dann würde man ihm den Schädel einschlagen. Er hatte nur eine Chance – also nutzte er sie.
Ray drehte den Kopf zur Seite, legte die Wange auf den Asphalt, machte sich so flach wie möglich und glitt unter den Wagen. »Hilfe!«, rief er wieder. Dann, zum Angreifer: »Behalten Sie die Kamera und hauen Sie ab!«
Und genau das tat der. Ray hörte, wie sich die Schritte auf der Straße entfernten. Er versuchte, unter dem Auto hervorzukriechen. Sein Kopf rebellierte, aber er schaffte es. Dann setzte er sich auf den Gehweg und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Beifahrertür. So blieb er eine Weile sitzen. Wie lange, konnte er nicht sagen. Vielleicht war er zwischendurch sogar wieder kurz bewusstlos.
Als es ihm wieder etwas besser ging, verfluchte Ray die Welt, stand auf, stieg in den Wagen und ließ ihn an.
Eigenartig, dachte er. Das Jubiläum des vielen Bluts – und fast wäre genau da auch der Großteil seines eigenen vergossen worden. Ein Zufall, der ihm beinahe ein Lächeln entlockt hätte. Doch als er losfuhr, verschwand jeder Anflug eines Lächelns aus seinem Gesicht.
Zufall? Ja, es war nur Zufall. Und nicht einmal ein besonders großer, wenn er es recht bedachte. Die blutige Nacht war vor siebzehn Jahren gewesen – es war kein runder Geburtstag oder so etwas. Außerdem war Ray schon öfter ausgeraubt worden. Erst letztes Jahr hatte man ihn ausgenommen, nachdem er um zwei Uhr morgens betrunken aus einem Striptease-Club gekommen war. Die Idioten hatten sein Portemonnaie geklaut und auf diese Weise ganze sieben Dollar und eine Kundenkarte vom CVS-Drogeriemarkt ergattert.
Trotzdem.
Er fand einen Parkplatz auf der Straße vor dem Reihenhaus, das Ray sein Zuhause nannte. Er lebte in der Mietwohnung im Keller. Das Haus selbst gehörte Amir Baloch, einem pakistanischen Immigranten, der mit seiner Frau und vier ziemlich lauten Kindern oben wohnte.
Jetzt nimm doch mal eine Sekunde an – oder auch nur einen Sekundenbruchteil –, dass es kein Zufall war.
Ray stieg aus. Ihm dröhnte immer noch der Kopf. Morgen würde es noch schlimmer sein. Er ging an den Mülltonnen vorbei, die Treppe hinunter zur Kellertür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Er zermarterte sein schmerzendes Hirn und versuchte, eine Verbindung herzustellen – eine noch so obskure, vage oder gar abwegige Verbindung – zwischen der tragischen Nacht vor siebzehn Jahren und dem heutigen Überfall.
Nichts.
Das heute war einfach ein ganz banaler Raubüberfall. Man zog einem Typen einen Baseballschläger über den Schädel, schnappte sich seine Kamera und verschwand. Außer, na ja, – würde man ihm nicht auch noch das Portemonnaie klauen? Es sei denn, es war derselbe Täter, der Ray damals vor dem Striplokal ausgenommen hatte und der wusste, dass da nur sieben Dollar drin waren? Scheiße, vielleicht war ja auch das der große Zufall. Vergiss das Timing und das Jubiläum: Es handelte sich einfach um denselben Täter, der Ray vor einem Jahr ausgenommen hatte.
Oje, was für ein Unsinn. Wo zum Teufel waren die Schmerztabletten?
Er schaltete den Fernseher ein und ging ins Bad. Als er den Medizinschrank öffnete, fielen zig Fläschchen und Packungen ins Waschbecken. Er wühlte in dem Haufen herum, bis er die Flasche mit dem Vicodin fand. Er hoffte zumindest, dass es Vicodin war. Er hatte die Tabletten auf dem Schwarzmarkt von jemandem gekauft, der behauptet hatte, sie aus Kanada in die USA geschmuggelt zu haben. Nicht auszuschließen, dass es Vitamintabletten für Kinder waren.
In den Lokalnachrichten wurde ein brennendes Haus aus der Gegend gezeigt, dann befragte man einige Anwohner, was sie über das Feuer dachten, weil das ja immer so wunderbare neue Erkenntnisse brachte. Rays Handy klingelte. Er sah Festers Nummer im Display.
»Was gibt’s?«, fragte Ray und setzte sich auf die Couch.
»Du klingst ja schrecklich.«
»Ich bin auf dem Weg von Iras Bar-Mizwa zum Wagen überfallen worden.«
»Ehrlich?«
»Yep. Hab einen Baseballschläger über den Kopf gekriegt.«
»Haben sie was geklaut?«
»Meine Kamera.«
»Was? Dann sind die Fotos von heute weg?«
»Nein, nein, keine Sorge«, sagte Ray. »Eigentlich ist alles okay.«
»Du weißt schon, innerlich sterbe ich fast vor Sorge. Ich frag nur nach den Fotos, um von meiner Besorgnis abzulenken.«
»Die Fotos hab ich«, sagte Ray.
»Wieso?«
Sein Kopf schmerzte zu sehr, um das zu erklären, außerdem schickte ihn das Vicodin langsam ins Traumland. »Mach dir wegen der Fotos keine Sorgen. Die sind in Sicherheit.«
Vor ein paar Jahren, als Ray sich kurzfristig als »echter« Paparazzo versucht hatte, waren ihm ein paar wunderbar kompromittierende Bilder eines prominenten schwulen Schauspielers bei einem Seitensprung mit – huch! – einer Frau gelungen. Der Leibwächter des Schauspielers hatte Ray daraufhin gewaltsam die Kamera abgenommen und die Speicherkarte zerstört. Kurz darauf hatte Ray einen Wireless-Transmitter in die Kamera einbauen lassen – er funktionierte ganz ähnlich wie das, was die meisten Leute in ihren Foto-Handys hatten –,der neue Fotos von seiner SD-Speicherkarte alle zehn Minuten automatisch per E-Mail verschickte.
»Deshalb ruf ich an«, sagte Fester. »Ich brauch die Fotos sofort. Such fünf aus und schick sie mir noch heute Nacht. Iras Dad will unseren neuen Bar-Mizwa-Briefbeschwererwürfel schon morgen haben.«
In den Fernsehnachrichten schwenkte die Kamera langsam über die »Meteorologin«, eine üppig gebaute, junge Frau in einem engen roten Pullover. Ein echter Quotenköder. Als die heiße Braut mit der Erläuterung des Satellitenfotos fertig war und wieder an den zu gut frisierten Sprecher übergab, fielen Ray die Augen zu.
»Ray?«
»Fünf Fotos für einen Briefbeschwererwürfel.«
»Genau.«
»Ein Würfel hat sechs Seiten«, sagte Ray.
»Hey, nicht übel, bist ja ein echtes Mathe-Genie. Auf die sechste Seite kommen der Name, das Datum und ein Davidsstern.«
»Okay.«
»Ich brauch es sofort.«
»Geht klar.«
»Dann ist ja alles bestens«, sagte Fester. »Außer, na ja, du kannst morgen nicht ohne Kamera zu George Queller. Aber keine Sorge, ich find schon was für dich.«
»Also kann ich jetzt in Ruhe schlafen?«
»Du bist schon ein komischer Kerl, Ray. Schick mir die Fotos. Und dann hau dich hin.«
»Ich bin echt gerührt, wie herzlich du dich um mich kümmerst, Fester.«
Sie legten auf. Ray sank wieder auf die Couch. Die Tablette wirkte wunderbar. Beinah hätte er gelächelt. Im Fernsehen verkündete der Nachrichtensprecher mit Grabesstimme: »Der ortsansässige Carlton Flynn wird vermisst. Sein Auto wurde verlassen mit geöffneter Tür in der Nähe des Piers …«
Ray öffnete ein Auge und spähte auf den Fernseher. Dort erschien das Foto eines gerade erwachsen gewordenen Jugendlichen mit einem Kreolen-Ohrring und hochgegelten kurzen Haaren mit blonden Strähnen, der die Lippen zu einem Kussmund gespitzt hatte und direkt in die Kamera sah. Unter dem Bild stand »Vermisst«, wobei »Schwachkopf« es vermutlich besser getroffen hätte. Ray runzelte die Stirn, weil ein vages Gefühl in seinem Hinterkopf nagte, das er aber nicht zuordnen konnte. Sein ganzer Körper sehnte sich nach Schlaf, aber wenn er die fünf Fotos nicht schickte, würde Fester noch einmal anrufen, und das konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. Unter größter Anstrengung rappelte Ray sich auf, taumelte zum Küchentisch, fuhr den Laptop hoch und sah nach, ob die Fotos wirklich auf seinem Computer angekommen waren.
Das waren sie.
Das beunruhigende Gefühl nagte immer noch in seinem Hinterkopf, aber Ray wusste nicht, was es bedeutete. Vielleicht störte ihn nur irgendeine Kleinigkeit. Vielleicht erinnerte er sich aber auch an etwas wirklich Wichtiges. Oder vielleicht waren durch den Schlag mit dem Baseballschläger auch nur ein paar Fragmente vom Knochen abgesplittert, die jetzt in seinem Gehirn herumscheuerten.
Die Bar-Mizwa-Fotos erschienen in umgekehrter Reihenfolge – das zuletzt gemachte zuerst. Ray sah schnell die Thumbnails durch und entschied sich für ein Tanzfoto, ein Familienfoto, eins mit der Tora, eins mit dem Rabbi und eins, auf dem Ira einen Wangenkuss von seiner Großmutter bekam.
Das waren fünf. Er schickte eine ansonsten leere E-Mail mit diesen Fotos im Anhang, gab Festers Adresse ein und klickte auf Senden. Erledigt.
Ray war so müde, dass er nicht wusste, ob er vom Stuhl hochkommen und es bis ins Bett schaffen würde. Er überlegte, ob er den Kopf einfach auf den Küchentisch legen und in der Haltung schlafen sollte, als ihm die anderen Fotos auf der Speicherkarte einfielen. Die Fotos, die er vor der Bar-Mizwa gemacht hatte.
Überwältigende Trauer breitete sich in seiner Brust aus.
Ray war wieder einmal in dem verdammten Park gewesen und hatte Fotos gemacht. Idiotisch, aber er machte es jedes Jahr. Warum, konnte er nicht sagen. Oder vielleicht hätte er es doch sagen können, aber das würde es nur noch schlimmer machen. Der Blick durch das Kameraobjektiv schaffte etwas Distanz, setzte alles in Perspektive und gab ihm so eine relative Sicherheit. Vielleicht war es das? Vielleicht half es ihm, diesen furchtbaren Ort aus einem eigenartig beruhigenden Blickwinkel zu sehen – vielleicht änderte sich dadurch etwas, das natürlich eigentlich nicht zu ändern war.
Als Ray sich auf dem Laptop die Fotos ansah, die er vor der Bar-Mizwa gemacht hatte, fiel ihm noch etwas anderes ein.
Ein Mann mit Kreolen-Ohrring und blondierten Strähnen.
Nach zwei Minuten fand er das Gesuchte. Ein eiskalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als ihm etwas bewusst wurde.
Der Angreifer hatte es nicht auf die Kamera abgesehen. Er hatte es auf ein Foto abgesehen.
Auf dieses Foto.