Inhalt

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Impressum

Ilona Andrews

DUELL DER SCHATTEN

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Jochen Schwarzer

 

Für Anastasia und Helen

Kapitel 1

An manchen Tagen war mein Job ganz schön stressig.

Ich klopfte mit der flachen Hand an die Leiter. »Sehen Sie? Die ist absolut stabil, Mrs McSweeny. Sie können jetzt runterkommen.«

Mrs McSweeny sah von der Spitze des Telefonmasts zu mir herab und zweifelte offenkundig, ob mir und der Leiter zu trauen sei. Sie war eine zerbrechlich wirkende Dame von sicherlich schon über siebzig Jahren. Der Wind zauste ihr feines weißes Haar und wehte ihr Nachtgewand auseinander, wobei Dinge zum Vorschein kamen, die vielleicht besser im Verborgenen geblieben wären.

»Mrs McSweeny, kommen Sie doch bitte runter.«

Sie beugte den Rücken und holte tief Luft. Nicht schon wieder. Ich hockte mich auf den Boden und hielt mir die Ohren zu.

Ihr Geheul zerriss die Stille der Nacht. An der Front des Wohnblocks brachte es die Fensterscheiben zum Klingen. Ein Stück die Straße hinab stimmten etliche Hunde in erstaunlichem Gleichklang mit ein. Dieses Klagelied schwoll zu einem vielstimmigen Chor an, in dem das einsame Heulen eines Wolfs mitklang, das verzweifelte Kreischen eines Vogels und das herzzerreißende Weinen eines kleinen Kindes, und der schließlich alles andere übertönte. Die alte Dame heulte und heulte, und es war wirklich zum Steinerweichen.

Dann war die Woge der Magie mit einem Mal vorüber. Hatte sie eben noch die ganze Welt durchdrungen und der Wehklage der alten Dame große Kraft verliehen, war sie nun, nur einen Augenblick später, ohne Vorwarnung verschwunden, wie eine von der Flut weggewischte Linie im Sand. Die Technik kehrte zurück. Die bläuliche Feenlampe, die oben am Mast hing, erlosch, denn die mit Magie gespeiste Luft in ihrem Innern hatte ihre Wirksamkeit verloren. In dem Wohnblock sprangen elektrische Lichter an.

Man bezeichnete das als Nachwende-Resonanz: Die Magie überschwemmte in einer Woge die ganze Welt und setzte dabei allem zu, was irgendwie komplex und technisch war: Fahrzeugmotoren verweigerten den Dienst, automatische Waffen blockierten, hohe Gebäude begannen zu bröckeln. Dann verschossen Magier Pfeile aus Eis, Wolkenkratzer sanken in sich zusammen, und magische Wehre erwachten zum Leben und hielten unerwünschte Gestalten aus meinem Haus fern. Bis schließlich die Magie, einfach so, wieder verschwand und nur die Monster blieben. Keiner vermochte zu sagen, wann die Magie wiederkehren würde, und keiner vermochte es zu verhindern. Uns blieb weiter nichts übrig, als irgendwie mit diesem wahnwitzigen Hin und Her zwischen Magie und Technik zurechtzukommen. Aus diesem Grund trug ich stets ein Schwert bei mir. Das funktionierte immer.

Der letzte Widerhall des Geheuls war verklungen. Mrs McSweeny sah mich aus traurigen Augen an. Ich erhob mich und winkte ihr zu. »Bin gleich wieder da.«

Ich ging in den Eingangsbereich des Wohnblocks, wo sich fünf Mitglieder der Familie McSweeny in eine dunkle Ecke duckten. »Erklären Sie mir bitte noch mal, warum Sie nicht rauskommen und mir helfen können.«

Robert McSweeny, ein Mann mittleren Alters mit dunklen Augen und lichtem braunem Haar, schüttelte den Kopf. »Mom glaubt, wir wüssten nicht, dass sie eine Banshee ist. Miss Daniels, können Sie sie da runterholen oder nicht? Sie sind doch immerhin ein Ritter des Ordens.«

Also, erstens war ich kein Ritter. Ich arbeitete bloß für den Orden der Ritter der mildtätigen Hilfe. Und zweitens waren solche Verhandlungssituationen wirklich nicht meine Stärke. Ich war sonst eher fürs Töten zuständig schnell und mit großem Blutvergießen. Und betagte, realitätsblinde Banshees von Telefonmasten herunterholen das machte ich nun mal nicht alle Tage.

»Fällt Ihnen nicht irgendwas ein, das mir weiterhelfen könnte?«

Roberts Frau Melinda seufzte. »Also mir nicht Sie hat das immer vor uns verheimlicht. Wir haben sie zwar schon mal so heulen hören, aber sie hat dann immer so getan, als ob nichts wäre. Das hier ist überhaupt nicht ihre Art. Sie ist sonst nicht so.«

Eine ältere schwarze Dame in einem weiten, roten Hauskleid kam die Treppe herab. »Hat die Kleine Margie schon von dem Mast runtergekriegt?«

»Ich bin dabei«, erwiderte ich.

»Sagen Sie ihr, sie soll unseren Bingoabend morgen nicht vergessen.«

»Danke.«

Ich ging zurück zu dem Mast. Einerseits tat mir Mrs McSweeny leid. Die drei Ordnungskräfte, die seit der Wende das Leben in den Vereinigten Staaten regelten die Supernatural Defense Unit des Militärs, die Paranormal Activity Division der Polizei sowie mein glorreicher Auftraggeber, der Orden der Ritter der mildtätigen Hilfe –, stuften Banshees übereinstimmend als harmlos ein. Niemandem war es je gelungen, ihr Geheul mit irgendwelchen Todesfällen oder Naturkatastrophen in Zusammenhang zu bringen. Der volkstümliche Aberglaube jedoch gab den Banshees die Schuld an den schandbarsten Dingen. Manche Menschen trieben sie mit ihrem Geschrei angeblich in den Wahnsinn, und es hieß, sie könnten kleine Kinder mit einem einzigen Blick töten. Viele Leute hätten nur äußerst ungern eine Banshee in der Nachbarschaft gehabt, und ich verstand nur zu gut, wieso Mrs McSweeny unbedingt verbergen wollte, dass sie eine war. Sie wollte verhindern, dass ihr Freundeskreis sich von ihr und ihrer Familie abwandte.

Doch leider, leider holte einen auch das bestgehütete Privatgeheimnis irgendwann unweigerlich ein und biss einen in den Allerwertesten, und dann hockte man mit einem Mal auf einem Telefonmast, ohne zu wissen, wie man da hinaufgekommen war und was man da oben überhaupt wollte, während sich die Nachbarschaft geflissentlich bemühte, die durchdringenden Schreie, die man ausstieß, zu überhören.

Tja. Bei dem Thema konnte ich ein Wörtchen mitreden. Wenn es darum ging, seine wahre Identität zu verbergen, war ich schließlich Top-Expertin. Ich verbrannte meine blutigen Verbände, damit mich niemand anhand der Magie in meinem Blut identifizieren konnte. Ich verbarg meine Macht. Ich gab mir große Mühe, mich mit niemandem anzufreunden, und in den meisten Fällen gelang mir das auch. Denn wenn mein Geheimnis ans Licht käme, würde das nicht nur damit enden, dass ich auf einem Telefonmast hockte. Wenn mein Geheimnis ans Licht käme, war ich mausetot und alle meine Freunde mit mir.

Ich näherte mich dem Mast und sah zu Mrs McSweeny hinauf. »Also gut, ich zähle jetzt bis drei, und dann kommen Sie herunter.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Mrs McSweeny! Sie führen sich unmöglich auf! Ihre Familie macht sich große Sorgen um Sie, und denken Sie an den Bingoabend morgen. Den wollen Sie doch nicht verpassen, oder?«

Sie biss sich auf die Unterlippe.

»Wir machen das gemeinsam.« Ich stieg die Leiter drei Sprossen weit hinauf. »Bei drei. Eins, zwei, drei, Schritt!«

Ich stieg einen Schritt die Leiter hinab und sah zu, wie sie es mir nachmachte. Gott sei Dank.

»Und jetzt noch einen. Eins, zwei, drei, Schritt.«

Wir stiegen noch einen Schritt weiter runter, und den nächsten Schritt tat sie schon ganz von allein. Ich sprang von der Leiter. »Geschafft.«

Mrs McSweeny hielt inne. Oh, nein, bitte nicht.

Sie sah mich aus ihren traurigen Augen an und sagte: »Das erzählen Sie aber niemandem, nicht wahr?«

Ich sah zu den Fenstern des Wohnblocks hinüber. Sie hatte laut genug geheult, um Tote zu wecken und dazu zu bringen, die Bullen zu rufen. Doch in diesen Zeiten hielten die Menschen zusammen. Man konnte sich weder auf die Technik noch auf die Magie verlassen nur auf seine eigene Familie und seine Nachbarschaft. Und wenn sie alle willens waren, ihr Geheimnis, so absurd es auch erschien, zu wahren, war ich es auch.

»Ich erzähle niemandem davon«, versprach ich.

Zwei Minuten später war sie auf dem Weg zurück in ihre Wohnung, und ich mühte mich damit ab, die Leiter wieder in dem Kabuff unter der Treppe zu verstauen, aus dem der Hausmeister sie für mich herausgeholt hatte.

Mein Arbeitstag hatte am späten Nachmittag begonnen, als ein verzweifelter Mann über den Korridor der hiesigen Ordensniederlassung gelaufen war und gerufen hatte, ein katzenköpfiger Drache sei in die New Hope School eingedrungen und drauf und dran, die Kinder dort zu verschlingen. Der Drache hatte sich zwar als kleinerer Tatzelwurm entpuppt, aber da es mir nicht gelungen war, ihn zu überwältigen, hatte ich ihm schließlich den Kopf abschlagen müssen. Das war an diesem Tag das erste Mal gewesen, dass ich von oben bis unten mit Blut bespritzt worden war.

Anschließend hatte ich Mauro dabei helfen müssen, eine doppelköpfige Wasserschlange aus einem Teich bei der Ruine des One Atlantic Center in Buckhead zu fischen. Von da an war es mit dem Tag immer nur noch weiter bergab gegangen. Jetzt war es schon nach Mitternacht. Ich war verdreckt, erschöpft und hungrig, mit viererlei Sorten Blut beschmiert und wollte nur noch nach Hause. Und außerdem stanken meine Stiefel, denn die Schlange hatte mir einen halb verdauten Katzenkadaver draufgekotzt.

Es gelang mir schließlich, die Leiter zu verstauen, ich verließ das Haus und ging zu dem Parkplatz, wo meine Maultierstute Marigold an einem eigens für derlei Zwecke dort angebrachten Metallständer festgemacht war. Als ich näher kam, sah ich, dass ihr jemand mit grüner Farbe ein halb fertiggestelltes Hakenkreuz aufs Hinterteil gemalt hatte. Der Pinsel lag zerbrochen auf dem Boden. Daneben sah ich einige Blutflecke und etwas, das wie ein Zahn aussah. Ich guckte genauer hin. Ja, tatsächlich: ein Zahn.

»Hatten wir ein kleines Abenteuer, hm?«

Marigold antwortete nicht, aber ich wusste aus Erfahrung, dass es keine gute Idee war, von hinten an sie heranzutreten. Sie hatte einen mörderischen Tritt am Leib.

Hätte sie auf der anderen Backe kein Brandzeichen des Ordens gehabt, so wäre Marigold in dieser Nacht womöglich gestohlen worden. Doch glücklicherweise waren die Ritter des Ordens dafür bekannt, dass sie Diebe auf magischem Wege verfolgten und dann auf brachiale Weise zur Strecke brachten.

Ich band Marigold los und stieg auf, dann ritten wir in die Nacht hinaus.

Normalerweise wechselten sich Technik und Magie alle paar Tage ab. Zwei Monate zuvor jedoch war ein Flair über uns hereingebrochen, eine Flutwelle der Magie, die unsere Stadt wie ein Tsunami unter sich begrub und die unglaublichsten Dinge Wirklichkeit werden ließ. Drei Tage lang lebten Dämonen und Götter mitten unter uns, und die menschlichen Monster hatten größte Schwierigkeiten, sich zu beherrschen. Ich hatte den Flair auf einem Schlachtfeld verbracht und einigen Gestaltwandlern dabei geholfen, eine Horde von Dämonen niederzumachen.

Es war ein bombastisches Ereignis gewesen. Ich träumte immer noch lebhaft davon. Es waren nicht unbedingt Albträume, sondern eher berauschende, surreale Visionen von Blut, funkelnden Klingen und Tod.

Der Flair war vorübergezogen und hatte der Technik wieder die Weltherrschaft überlassen. Seit zwei Monaten sprangen Autos problemlos an, hielt elektrisches Licht die Finsternis in Schach und machten Klimaanlagen den August ausgesprochen erträglich. Wir hatten sogar Fernsehen. Am Montagabend hatten sie einen Film gezeigt Terminator 2, der nachdrücklich klargemacht hatte, dass es immer noch schlimmer kommen konnte.

Dann, am Mittwoch, um die Mittagszeit, kehrte die Magie zurück, und in Atlanta brach die Hölle los.

Ich weiß nicht, ob sich die Leute der Illusion hingegeben hatten, dass die Magie nicht wiederkehren würde, oder ob sie schlicht auf dem falschen Fuß erwischt wurden jedenfalls hatten wir, seit ich dabei war, noch nie so viele Hilfsgesuche gehabt. Im Gegensatz zur Söldnergilde, für die ich ebenfalls tätig war, halfen die Ritter des Ordens jedermann, ganz egal, ob und wie viel er zahlen konnte. Sie stellten einem nur so viel in Rechnung, wie man erübrigen konnte, oft verlangten sie auch gar nichts. Wir wurden jedenfalls mit Hilfsgesuchen förmlich überschwemmt. Mittwochnacht bekam ich vier Stunden Schlaf und war anschließend gleich wieder im Einsatz. Kalendarisch war es nun schon Freitag, und meine Gedanken kreisten fast nur noch um eine schöne warme Dusche, etwas zu essen und ein weiches Bett. Ein paar Tage zuvor hatte ich einen gedeckten Apfelkuchen gebacken, und das letzte Stück davon wollte ich mir an diesem Abend gönnen.

»Kate?« Maxines strenge Stimme hallte in meinem Kopf wider. Sie kam aus der Ferne, war aber klar und deutlich zu verstehen.

Ich zuckte nicht zusammen. Nach dem Marathon der vergangenen achtundvierzig Stunden erschien es mir vollkommen normal, in meinem Kopf die Stimme der telepathisch begabten Sekretärin des Ordens zu hören. Traurig, aber wahr.

»Tut mir leid, meine Liebe. Der Apfelkuchen muss wohl noch ein wenig warten

Maxine las nicht absichtlich meine Gedanken, aber wenn ich mich auf etwas konzentrierte, bekam sie unweigerlich etwas davon mit.

»Ich habe hier einen Grün-Sieben, gemeldet von einem Zivilisten

Ein toter Gestaltwandler. Alles, was mit Gestaltwandlern zu tun hatte, landete bei mir. Die Gestaltwandler misstrauten Außenstehenden, und ich war der einzige Mitarbeiter der hiesigen Sektion des Ordens, der den Status eines »Freunds des Rudels« genoss. Wobei »genießen« in diesem Zusammenhang ein ausgesprochen relativer Begriff war. Dieser Status bedeutete im Grunde nur, dass mich die Gestaltwandler noch ein paar Worte sagen lassen würden, ehe sie Hackfleisch aus mir machten. Sie trieben die Paranoia in ungeahnte Höhen.

»Wo ist es?«

»Ponce de Leon, Ecke Dead Cat

Mit dem Maultier zwanzig Minuten. Es war gut möglich, dass das Rudel bereits von dem Todesfall erfahren hatte. In diesem Fall würde es dort nur so von Gestaltwandlern wimmeln, und sie würden herumfauchen und die Sache unter sich regeln wollen. Tolle Aussichten. Ich wendete Marigold und ritt in Richtung Norden weiter. »Ich kümmere mich drum.«

Die unermüdlich wirkende Marigold zuckelte die Straßen hinab. Langsam zog die schartige Silhouette der Stadt vorüber, einstmals stolze Gebäude, von denen nur bröckelnde Ruinen geblieben waren. Es sah aus, als hätte die Magie Atlanta erst in Brand gesteckt und die Flammen dann wieder erstickt, ehe die Stadt gänzlich niederbrennen konnte.

Vereinzelt leuchteten elektrische Lichter aus der Dunkelheit. Von den Alexander on Ponce Apartements zog der Duft von Holzkohlenrauch und gegrilltem Fleisch herüber. Dort briet offenbar jemand einen Mitternachtsschmaus. Die Straßen waren menschenleer. Wer auch nur ein Fünkchen gesunden Menschenverstand besaß, hielt sich nach Einbruch der Dunkelheit gemeinhin nicht mehr im Freien auf.

Das Heulen eines Wolfs hallte durch die Stadt und jagte mir einen Schauder über den Rücken. Ich hatte das Tier förmlich vor Augen, wie es auf der Betonrippe eines eingestürzten Wolkenkratzerskeletts stand, das helle Fell in silbernen Mondschein getaucht, den Kopf emporgereckt, die zottige Kehle entblößt, und sein schwermütiges Jagdlied anstimmte.

Ein schmaler Schatten huschte aus einer Gasse, gefolgt von einem zweiten. Es waren hagere, haarlose Gestalten, die sich ruckartig und ungelenk auf allen vieren fortbewegten. Sie überquerten vor mir die Straße und verharrten. Irgendwann einmal waren es Menschen gewesen, doch nun waren beide schon seit über zehn Jahren tot. Ihren Körpern war kein Fett und nichts Weiches mehr geblieben. Sie bestanden nur noch aus stahlharten Muskelsträngen unter lederzäher Haut. Zwei Vampire auf Streifzug. Und sie befanden sich hier außerhalb ihres Territoriums.

»Name?«, sagte ich. Die meisten Navigatoren kannten mich, wie alle Mitarbeiter des Ordens, vom Sehen.

Der erste Blutsauger klappte das Maul auf, und leicht verzerrt drang die Stimme des Navigators heraus. »Geselle Rodriguez, Geselle Salvo.«

»Wer ist euer Herr und Meister?«

»Rowena.«

Von allen Herren und Herrinnen der Toten hasste und verabscheute ich Rowena noch am wenigsten. »Ihr seid hier weit weg vom Casino.«

»Wir«

Der zweite Blutsauger öffnete das Maul und entblößte dabei seine hellen Reißzähne vor dem dunklen Schlund. »Er hat Mist gebaut. Seinetwegen haben wir uns in Warren verlaufen.«

»Ich hab mich genau an den Stadtplan gehalten.«

Der zweite Blutsauger reckte einen klauenbewehrten Finger zum Himmel. »Der Stadtplan bringt dir gar nichts, wenn du nicht in der Lage bist, dich zu orientieren. Der Mond geht nicht im Norden auf, du Schwachkopf.«

Zwei Idioten. Es wäre sogar halbwegs lustig gewesen, wenn ich die Blutgier nicht gespürt hätte, die von den beiden Vampiren ausging. Wenn die Blödmänner, die sie lenkten, nur für eine Sekunde die Kontrolle über sie verloren, würden sich die Blutsauger sofort auf mich stürzen.

»Weitermachen«, sagte ich und setzte Marigold wieder in Bewegung.

Die Vampire huschten davon, und die sie lenkenden Gesellen zankten sich wahrscheinlich irgendwo in den Tiefen des Casinos. Der Immortuus-Erreger beraubte die, die er befiel, ihres Egos. Da ihr Verstand ausgelöscht war, gehorchten die Vampire nur mehr ihrer Blutgier und metzelten alles nieder, was noch über einen Puls verfügte. Die Leere im Geist der Vampire machte sie zu perfekten Vehikeln für die Nekromanten, die Herren der Toten. Und die meisten dieser Herren standen im Dienste des »Volkes«. Dieses Volk, eine rundherum Brechreiz erregende Kombination aus Kultgemeinschaft, Forschungsinstitut und Konzern, widmete sich der Erforschung und Betreuung der Untoten. Wie auch der Orden verfügte es über Niederlassungen in den meisten größeren Städten. Hier in Atlanta hatte es sich im Casino eingenistet.

Das Volk war einer der bedeutendsten Machtfaktoren von Atlanta. Was das Zerstörungspotenzial anging, kam ihm nur noch das Rudel gleich. Geführt wurde das Volk von einer geheimnisvollen, legendären Gestalt, einem Mann, der sich Roland nannte. Roland verfügte über immense Macht. Er war es auch, den zu töten ich mein ganzes Leben lang trainiert hatte.

Ich umkurvte ein großes Schlagloch in dem alten Straßenpflaster, bog in die Dead Cat Street ab und erblickte unter einer demolierten Straßenlaterne den Tatort. Von Polizisten oder Zeugen keine Spur. Im fahlen Mondschein sah ich sieben Gestaltwandler. Und keiner von ihnen war tot.

Zwei Werwölfe in Tiergestalt schnupperten die Straße nach Geruchsspuren ab. Gestaltwandler in Tiergestalt waren meist größer als ihre tierischen Pendants, und diese beiden waren keine Ausnahme: Es handelte sich um zottige Bestien, größer und kräftiger als Deutsche Doggenrüden. Weiter hinten verstauten zwei ihrer Kollegen in Menschengestalt etwas, das verdächtig nach einem Leichnam aussah, in einem Plastiksack. Drei weitere Gestaltwandler gingen am Rand der Szene auf und ab, vermutlich, um Schaulustige fernzuhalten. Als ob irgendjemand so dumm gewesen wäre, lange genug hier zu verharren, dass er einen zweiten Blick darauf werfen konnte.

Als ich näher kam, hielten sie alle inne. Sieben glühende Augenpaare starrten mich an vier grüne und drei gelbe. Der Leuchtkraft nach stand der Gestaltwandlertrupp kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Einer der ihrigen war ums Leben gekommen, und jetzt wollten sie Blut sehen.

Ich ging die Sache betont locker an. »Habt ihr schon mal überlegt, euch als Christbaumbeleuchtung engagieren zu lassen? Damit könntet ihr ’ne Menge Geld verdienen.«

Der nächstpostierte Gestaltwandler kam zu mir. Er war Anfang vierzig und ein ziemliches Muskelpaket. Sein Gesichtsausdruck war der, den das Rudel Außenstehenden gegenüber mit Vorliebe präsentierte: höflich, aber zugleich knallhart. »Guten Abend, Ma’am. Das hier ist eine Privatangelegenheit des Rudels. Gehen Sie bitte weiter, es gibt hier nichts zu sehen.«

Ma’am Au backe.

Ich griff unter mein Hemd, holte die Brieftasche aus durchsichtigem Plastik hervor, die ich an einem Band um den Hals trug, und reichte sie ihm. Er warf einen Blick auf meinen Dienstausweis, der mit einem kleinen Rechteck aus verzaubertem Silber versehen war, und rief hinter sich: »Achtung!«

Auf der anderen Straßenseite tauchte ein Mann aus der Dunkelheit auf. Etwa eins neunzig groß, eine Hautfarbe wie Bitterschokolade und gebaut wie ein Profiboxer. Meist trug er einen schwarzen Mantel, heute aber hatte er sich mit schwarzen Jeans und schwarzem T-Shirt begnügt. Als er auf mich zukam, regten sich die Muskeln seiner Brust und seiner Arme. Beim Anblick seines Gesichts hätte es sich jeder, der sich mit ihm anlegen wollte, noch einmal anders überlegt. Er sah aus, als würde er hauptberuflich Knochen brechen und als machte ihm dieser Job richtig Spaß.

»Hallo, Jim«, sagte ich in weiterhin freundlichem Ton. »Das ist ja ’n Ding, dass ich dich hier treffe.«

Der Gestaltwandler, der mich angesprochen hatte, zog sich zurück. Jim kam näher und tätschelte Marigolds Hals.

»Eine lange Nacht?«, fragte er. Seine Stimme klang sonor und melodiös. Er sang nie, aber man merkte, dass er hätte singen können und dass ihm die Frauen dann förmlich zu Füßen gelegen hätten.

»Könnte man so sagen.«

Jim war damals, als ich noch ausschließlich für die Söldnergilde gearbeitet hatte, mein Partner gewesen. Bei manchen Söldnerjobs wurde mehr als nur ein Mann gebraucht, und die übernahmen Jim und ich dann gemeinsam, größtenteils, weil wir es nicht ertragen konnten, mit sonst jemandem zu arbeiten. Jim war außerdem das Alphatier des Katzenklans und der Sicherheitschef des Rudels. Ich hatte ihn kämpfen sehen, und statt mit ihm hätte ich es lieber jeden Tag aufs Neue mit einer gut bestückten Schlangengrube aufgenommen.

»Du solltest nach Hause gehen, Kate.« Ein schwaches grünes Leuchten tauchte in seinen Augen auf und verschwand gleich wieder. Seine animalische Seite war für einen Moment an die Oberfläche gedrungen.

»Was ist hier geschehen?«

»Das geht nur das Rudel etwas an.«

Der Wolf links von uns jaulte kurz auf. Eine Gestaltwandlerin eilte zu ihm und hob etwas vom Boden auf. Ich erhaschte einen Blick darauf, ehe sie es in einen Beutel stopfte. Es war ein Menschenarm, der am Ellenbogen abgetrennt war und noch in einem Ärmel steckte. Wir waren soeben von Kode Grün-Sieben zu Kode Grün-Zehn übergegangen. Ein Tötungsdelikt. Denn ein Unfalltod führte eher selten dazu, dass abgetrennte Gliedmaßen auf der Straße herumlagen.

»Wie gesagt, das geht nur das Rudel etwas an.« Jim sah mich an. »Du kennst doch die rechtliche Lage.«

Die rechtliche Lage sah so aus, dass die Gestaltwandler eine unabhängige Gemeinschaft waren, ähnlich wie die Stämme der amerikanischen Ureinwohner, und die Befugnis besaßen, sich selbst zu regieren. Sie erließen ihre eigenen Gesetze, und solange sie die Rechte von Nicht-Gestaltwandlern dabei nicht einschränkten, waren sie auch befugt, für die Einhaltung dieser Gesetze zu sorgen. Wenn das Rudel bei dieser Ermittlung meine Hilfe nicht wollte, konnte ich nicht allzu viel dagegen tun. »Als Abgesandte des Ordens biete ich dem Rudel unsere Unterstützung an.«

»Das Rudel lehnt das Unterstützungsangebot des Ordens dankend ab. Geh nach Hause, Kate«, sagte Jim noch einmal. »Du siehst müde aus.«

Klartext: Mach dich vom Acker, mickriger Mensch. Die großen, mächtigen Gestaltwandler brauchen deine lächerlichen Ermittlungsfähigkeiten nicht. »Habt ihr das mit der Polizei abgeklärt?«

Jim nickte.

Ich seufzte, wendete Marigold und machte mich auf den Heimweg. Jemand war ums Leben gekommen. Und ich würde nicht diejenige sein, die herausfand, wie es dazu gekommen war. Irgendwie fühlte ich mich dadurch bei meiner Berufsehre gepackt. Wenn es jemand anderes als Jim gewesen wäre, hätte ich darauf bestanden, den Leichnam sehen zu dürfen. Doch wenn Jim Nein sagte, meinte er Nein. Meine Beharrlichkeit hätte nichts gebracht und nur zu einer Verstimmung zwischen Rudel und Orden geführt. Jim machte keine halben Sachen, und daher war davon auszugehen, dass sein Trupp professionelle Arbeit leisten würde.

Dennoch ging mir die Sache gegen den Strich.

Ich würde am nächsten Morgen bei der Paranormal Activity Division anrufen und fragen, ob ein Bericht eingereicht worden war. Die Polizisten würden mir natürlich nichts über den Inhalt eines etwaigen Berichts verraten, aber dann wusste ich wenigstens, ob Jim sich tatsächlich mit ihnen in Verbindung gesetzt hatte. Nicht, dass ich Jim nicht traute, aber es konnte ja nicht schaden, das zu überprüfen.

Eine Stunde später ließ ich Marigold in einem kleinen Stall auf dem Parkplatz zurück und ging die Treppe zu meiner Wohnung hinauf. Ich hatte diese Wohnung von Greg geerbt, meinem ehemaligen Vormund, der als Wahrsager des Ordens tätig gewesen war. Er war ein halbes Jahr zuvor ums Leben gekommen, und er fehlte mir sehr.

Ich betrat die Wohnung, schloss die Tür hinter mir ab, zog mir die stinkenden Stiefel aus und ließ sie in der Ecke stehen. Um die würde ich mich später kümmern. Dann löste ich den Ledergurt, der Slayer, mein Schwert, auf meinem Rücken festhielt, zog das Schwert heraus und legte es neben mein Bett. Der Apfelkuchen lockte. Ich schleppte mich in die Küche, öffnete den Kühlschrank und starrte den leeren Kuchenteller an.

Hatte ich den Kuchen schon aufgegessen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Und wenn ich es getan hätte, hätte ich den leeren Teller aus dem Kühlschrank herausgenommen.

Der Wohnungstür waren keinerlei Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen anzusehen gewesen. Ich schaute mich schnell einmal in der Wohnung um. Es fehlte nichts. Alles befand sich an seinem Platz. Gregs Bibliothek, mit all ihren Sammlerstücken und wertvollen Büchern, wirkte unberührt.

Ich musste den Kuchen selbst aufgegessen haben. Angesichts des Wahnsinns der vergangenen achtundvierzig Stunden hatte ich es wahrscheinlich einfach vergessen. Das gefiel mir überhaupt nicht. Ich nahm den Kuchenteller heraus, und dann stellte ich ihn an seinen Platz unter dem Herd. Gab es also keinen Kuchen aber eine schöne warme Dusche konnte mir niemand verwehren. Ich zog mich aus, ließ die einzelnen Kleidungsstücke auf dem Weg ins Bad auf den Boden fallen, stellte mich unter die Brause, überließ mich dem warmen Wasserstrahl und der Rosmarinseife und blendete den Rest der Welt komplett aus.

Ich war gerade damit fertig, mir die Haare abzutrocknen, als das Telefon klingelte.

Ich kickte die Schlafzimmertür auf und starrte den Apparat an, der auf dem kleinen Nachttisch neben meinem Bett vor sich hin schrillte. Telefonanrufe hatten für mich noch nie etwas Gutes bedeutet. Es ging es immer nur darum, dass jemand ums Leben gekommen war, im Sterben lag oder gerade jemanden umbrachte.

Klingeling.

Klingeling, klingeling.

Klingeling?

Ich seufzte und nahm ab. »Kate Daniels.«

»Hallo, Kate«, sagte eine mir nur allzu bekannte, samtige Stimme. »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.«

Saiman. So ziemlich der letzte Mensch, mit dem ich jetzt reden wollte.

Saiman war ein wandelndes Lexikon der Magie. Außerdem war er auch so eine Art Gestaltwandler. Er hatte mich einmal für einen Einsatz engagiert, als ich noch ausschließlich für die Söldnergilde tätig war, und damals hatte er Gefallen an mir gefunden. Und weil er mich so sympathisch fand, bot er mir seine Dienste als Magie-Experte zu einem mehr als großzügigen Rabatt an. Dummerweise jedoch waren wir uns das letzte Mal mitten während des Flairs begegnet, auf einem Hochhausdach, wo Saiman nackt im Schnee getanzt hatte. Mit der größten Erektion, die ich je bei einem menschlichen Wesen gesehen hatte. Hinzu kam, dass er mich nicht mehr von diesem Dach hatte herunterlassen wollen. Ich hatte springen müssen, um ihm zu entkommen.

Ich blieb ganz höflich. Kate Daniels, die Meisterin der Diplomatie. »Ich will nicht mit dir reden. Und ich betrachte unsere Zusammenarbeit als beendet.«

»Das ist sehr bedauerlich. Aber wie dem auch sei: Ich habe hier etwas, das möglicherweise dir gehört, und ich möchte es dir gerne wiedergeben.«

Was konnte das sein? »Schick’s mit der Post.«

»Das würde ich gern, aber er passt einfach in kein Päckchen.«

Er? Er klang gar nicht gut.

»Er weigert sich zu sprechen, aber ich werde ihn dir beschreiben: etwa achtzehn Jahre alt, dunkles, kurzes Haar, große, braune Augen, finsterer Blick. Auf eine jünglingshafte Art recht attraktiv. Danach zu schließen, wie das Tapetum lucidum hinter der Netzhaut seiner Augen auf Licht reagiert, handelt es sich um einen Gestaltwandler. Ich tippe auf einen Wolf. Du hattest ihn mitgebracht bei unserer letzten, bedauerlichen Begegnung. Es tut mir übrigens wirklich sehr leid.«

Derek. Mein junger Werwolfkumpel. Was zum Teufel tat er in Saimans Wohnung?

»Halt ihm bitte mal den Hörer hin.« Ich blieb ganz ruhig. »Derek, antworte mir, damit ich weiß, dass das kein Bluff ist. Bist du verletzt?«

»Nein«, knurrte Derek. »Ich habe alles im Griff. Komm nicht her. Es ist zu gefährlich.«

»Es ist doch bemerkenswert, dass er sich so um dein Wohlergehen sorgt, wenn man bedenkt, dass er derjenige ist, der hier in einem Käfig hockt«, murmelte Saiman. »Du hast wirklich interessante Freunde, Kate.«

»Saiman?«

»Ja?«

»Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, sorge ich dafür, dass dir zwanzig tollwütige Gestaltwandler auf die Bude rücken.«

»Keine Sorge. Ich will wirklich keinesfalls den Zorn des Rudels auf mich ziehen. Dein Freund ist unverletzt, und ihm geschieht hier nichts. Ich werde ihn jedoch den Behörden übergeben, falls du ihn nicht bis Sonnenaufgang abgeholt hast.«

»Gut, ich komme.«

Saimans Stimme hatte einen ganz leicht spöttischen Beiklang. »Ich freu mich drauf.«