Vorspiel

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Wittenberg, Januar 1540

Wie eine Schmerle oder eine Kaulbärschin schwebte sie im fließenden Wasser, so kam es ihr vor. Zu ihrem Erstaunen hatten sich die Schmerzen und die Schwere ihres Körpers aufgelöst. Mit geschlossenen Augen lauschte sie der Stimme des Mannes neben ihr. Es war eine vertraute, angenehme Stimme. Hell, klar, deutlich. Die Stimme war wie das Seil an der Wand der Kellertreppe im Kloster, an dem sie sich vor langer Zeit festgehalten hatte, wenn sie den Eimer mit den Rüben hochtrug. Sie verstand die Sätze nicht, während sie zuhörte. Dazu war sie zu schwach. Aber es waren gute Sätze, wohltuende Worte. Sie galten ihr, Katharina. In ihrer Schwäche konnte sie nicht antworten. Zugleich wusste sie, es war nicht erforderlich. Sie musste nichts tun, es war nichts zu besorgen.

Die Augen zu öffnen wäre zu mühsam gewesen, deswegen unterließ sie es. Sie spürte trotzdem die Helligkeit, die sie umgab. Sie fror jetzt nicht mehr und ihr Atem ging wieder leichter, war mühelos geworden. War sie wirklich Katharina oder nicht doch der Mann, der unaufhörlich neben ihr sprach? Ja, so war es wohl, sie war auch der Mann und das, was er sagte, gehörte zu ihr. Vielleicht waren sie beide eine Person, eine männlich – weibliche.

„Komm zurück, Käthe“, sagte der Mann, sie verstand ihn plötzlich.

Aber sie war doch da, neben ihm. Sie hatte sich nicht entfernt. Sie war nur sehr schwach und alles war unklar geworden.

„Deine Kinder brauchen dich. Sie sind noch hilflos. Denk an Paulchen und Marulla.“

Wovon sprach er überhaupt? Warum schwieg er jetzt? Wahrscheinlich war er genau so müde wie sie. Aber es war wichtig, dass er weitersprach, auch wenn sie ihn nicht verstand. Die Stimme musste wieder einsetzen. Ja, dachte sie, es ist meine Stimme, die einzige, die ich habe. Wenn sie verstummt, muss ich sterben.

Es war jetzt dunkel im Zimmer geworden. Sie spürte die Dunkelheit um sich, so wie vorher die Helligkeit. Nach einer Weile hörte sie die ruhigen Atemzüge des Mannes neben sich auf dem Boden. Er war eingeschlafen. Eine leichte Unruhe überkam sie. Dass er auf dem Boden lag, war nicht richtig, aber es war nicht zu ändern. Seine Nähe gab ihr Ruhe und Zuversicht.

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Dann spürte sie die Helligkeit eines neuen Morgens. Aus irgendeinem Grund begann sie wieder zu verstehen.

„Sie ist schon unterwegs zu Gott.“ Das war eine andere Stimme, die eines Mannes, den sie kannte. „Geht jetzt, gönnt Euch etwas Ruhe. Denkt an Euch und Eure Gesundheit, Doktor.“

„Ich bleibe hier auf meinem Posten.“

„Lasst sie sterben. Das kann sie nur, wenn Ihr sie gehen lasst. Ihr haltet sie fest mit Euren Gebeten. Sie ist nur noch ein atmender Leichnam.“

„Schweigt still, Ihr seid ein Narr.“

„Was Ihr von Eurem Weib verlangt, ist nicht christlich. Haltet sie nicht auf, während sie zu Gott in die Ewigkeit wandert.“

„Sie muss zu uns zurückkehren. Gott möge mein Gebet erhören.“

„Seit Tagen hat sie keine Nahrung mehr aufgenommen. Sie lässt sich keine Flüssigkeit mehr einflößen. Sie hat angefangen zu sterben, auch wenn Ihr es nicht wahrhaben wollt. Glaubt endlich Eurem Medicus.“

„Ihr überschätzt Eure Kunst. Ich verhandele mit Gott, dem einzigen, der über Leben und Tod entscheidet.“

„Seine Entscheidung ist längst gefallen. Katharina von Bora gehört schon auf die Seite der Toten.“

„Hinaus, Quacksalber! Lasst Euch hier nie wieder sehen!“ Ein Stuhl flog durch das Zimmer.

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Es folgte eine längere Zeit der Stille. Doch schließlich setzte der Mann mit der angenehmen Stimme sein Gebet fort. Es war ein flehentliches Gebet, unterbrochen von Schluchzen.

Sie befand sich im Kloster. Vor langer Zeit war sie in einem anderen Kloster gewesen, in dem sie schweigen musste. Oft hätte sie gerne geredet, doch sie hatte das Gelübde abgelegt, ihre Tage in Schweigen zuzubringen. Vor dem Kloster aber hatte der Mann, der jetzt bei ihr war, gepredigt. Unablässig hatte er gesprochen, seine Stimme war hinter den Klostermauern deutlich zu hören gewesen. Er hatte den Nonnen befohlen, ihr Schweigen aufzugeben. Der Mann wollte, dass sie, Katharina, mit ihm redete. Sie bewegte die Zunge im Mund und öffnete die Lippen.

Die Magd machte sich an ihrem Körper zu schaffen. Es tat gut, gewaschen zu werden. Die Feuchtigkeit auf ihren Lippen war ebenfalls angenehm.

„Sie hat nach dem Schwamm geleckt“, sagte die Magd. „Zum ersten Mal seit Tagen.“

„Das ist die Besserung vor dem Tod.“ Die Stimme des Medicus.

Wieder flog ein Stuhl durch den Raum.

„Hinaus!“, brüllte der Mann, der immer betete. In verändertem Ton sagte er dann: „Gib ihr mehr Wasser. Sie verlangt danach.“ Seine Hände tasteten über ihr Gesicht. Seine Lippen berührten die ihren.

Sie konnte die Augen nicht öffnen, es war zu schwierig. Aber etwas Wasser saugte sie aus dem Schwamm, den die Magd ihr an die Lippen hielt, Wasser gemischt mit Wein, das schmeckte sie.

„Sie hat gelächelt“, schrie der Mann.

„Ich weiß nicht“, sagte die Magd.

„Bleib bei mir, mein Käthchen“, flüsterte der Mann. „Gott lässt dich nicht sterben, ich weiß es.“

Wieder breitete sich Stille aus, ihr Körper entspannte sich und wurde noch leichter und befreiter. Vielleicht war Sterben so. Vielleicht hatte der Medicus recht damit, dass das Wohlgefühl in ihr ein Vorzeichen des nahenden Endes war. Ihre Gedanken wurden lebhafter. Bilder tauchten vor ihr auf. Sie hörte Glocken. Sie sah ganz deutlich den Wald und die Lichtung mit den Gebäuden des Klosters aus rötlichem Stein. Nimbschen, Mariathron. Und da war der Kuhstall.

Karfreitag 1513

Dumpfes Muhen erfüllte den niedrigen Stall. Mit Schaum vor dem Maul lag die gefleckte Kuh im Stroh des mit Holzbrettern abgetrennten „Geburtszimmers“ im großen Eingangsbereich, wo die Milcheimer an der Wand aufgehängt waren. Der Klosterstall dampfte von der Wärme der angebundenen Kühe, die in langer Reihe nebeneinander im Stroh vor ihren Raufen standen. Erst im Mai war Weideauftrieb. Die Tiere hatten aufgehört zu fressen. Alle hatten sie die schweren Häupter zu Schwarzlock gewendet, die sich seit Stunden plagte, ihr Kalb zu gebären.

Die Kellermeisterin Schwester Anna, zu deren Verwaltungsaufgaben auch das Amt der Stallmeisterin gehörte, und die vierzehnjährige Käthe, beide in ärmellosen, derben Arbeitsgewändern, knieten vor dem Hinterteil des schweren Tiers. Der Stallknecht stemmte die Geburtshelferscheibe gegen das Rind, damit es nicht auf die beiden rutschte. Der Orden der Zisterzienser hatte seit seiner Gründung durch den heiligen Bernhard über tausend Klöster in ganz Europa gegründet, die alle nach der gleichen Regel und den gleichen Lebensgewohnheiten lebten. Allesamt waren sie an einsamen Orten, entfernt von Städten, oft in sumpfigen Tälern oder moorigen Ebenen erbaut worden, gegen die Widerstände einer rauen Natur mit harter körperlicher Anstrengung. Es galt der Grundsatz „Ora et labora“ – bete und arbeite. In jeder Zelle stand neben dem Bett der Nonne ihr Arbeitsgerät, auch wenn es im Fall der Geweihten in der Klausur meist nur der Rocken zum Wollespinnen war.

Käthe war von zarter Statur, aber ihre nackten Arme waren muskulös von der täglichen Arbeit. Mit beiden Händen umklammerten das Mädchen und die ältere Nonne den Strick an ihrer Seite, der aus der Körperöffnung der Kuh hervorragte. Ihre Gesichter waren schweißüberströmt. Eine neue Wehe erschütterte den schweren Körper Schwarzlocks. Schwester Anna und Käthe zogen gleichzeitig, jede auf ihrer Seite, und hielten inne, als die Wehe verebbte. Vorderfüße und Kopf des Kalbs waren erschienen, eine glitschige dunkle Masse.

„Wird es leben?“, fragte Käthe.

„Der Brustkorb darf nicht gequetscht werden“, erklärte die Ältere. „Jetzt wieder ziehen.“

Schwarzlock hob den Kopf und muhte dumpf unter der nächsten Wehe auf. Und dann plötzlich glitt das Kalb, noch halb in der geplatzten Fruchtblase, vor den Helferinnen ins Stroh. „Gott dem Herrn sei Lob und Dank“, riefen die beiden wie aus einem Mund.

„Dann gehe ich jetzt“, ließ sich der Stallknecht vernehmen.

„Ein Riesenkalb“, stellte Schwester Anna fest und beugte sich vor, um die Stricke von den Vorderfesseln des Neugeborenen zu lösen. Dann tastete sie über den dunkelbraunen Körper. „Das habe ich mir gedacht, ein Bulle. Ein Kuhkalb wäre kleiner gewesen.“

„Du darfst ihm jetzt einen Namen geben“, schlug sie vor und legte die Stricke zur Seite.

„Jesus!“, rief Käthe. „Weil er am Karfreitag geboren ist.“

Die Verwalterin runzelte die Stirn. „Du kannst ein Rind nicht Jesus nennen. Das wäre Sünde.“

„Aber es ist der richtige Name für das Kalb.“

Schwarzlock erhob sich schwerfällig und leckte mit ihrer breiten Zunge über das verklebte Fell des Neugeborenen.

„Dann eben Je“, schlug Käthe vor. „Nur Je.“

Eine Tür knarzte und schlug wieder zu.

„Aha, im Stall seid Ihr, Jungfer Käthe, tief im Schmutz. Und nicht in der Kirche.“

Die beiden sahen auf. Eine Wolke von Weihrauch schien plötzlich über ihnen zu schweben. Es war Bruder Maximin, der sich in seiner schwarz-weißen Ordenstracht über den Bretterzaun beugte. „Überall habe ich nach Euch gesucht.“ Die kleinen Augen unter den buschigen dunklen Brauen funkelten vor Zorn. Er schnaufte vor Anstrengung. Der übergewichtige Zisterziensermönch war einer der beiden Beichtväter, die im Vordergebäude des Klosters wohnten. Sie hielten die Messen und berichteten ihrem Abt über das Verhalten der Nonnen. Daneben gab es noch Bruder Thalheim für den Dienst an der Eingangspforte. Er hatte nur die niederen Weihen empfangen, war aber kräftig und unfreundlich genug, um Gesindel abzuschrecken, das Einlass begehrte.

Kloster Porta hatte die Oberaufsicht über das Nonnenkloster Mariathron. Glücklicherweise lag das Männerkloster vier Tagesreisen entfernt an der Saale. Selbst schnelle Boten zu Pferd brauchten zwei Tage für den Weg. Alle zwei Jahre erschien Abt Balthasar persönlich, besprach sich mit der Mutter Äbtissin, ging durch alle Räume, prüfte nach, ob Staub auf den Heiligenfiguren lag, und lauschte dem Gesang der Nonnen. Am Ende seiner Inspektion hinterließ er dann jedes Mal einen ellenlangen Bericht voller Vorwürfe und Klagen. Diesen musste die Priorin, die die Äbtissin vertrat, den Nonnen und Klosterschülerinnen viermal im Jahr vorlesen. Die Klagen über die Zustände im Kloster waren ernst: Nonnen hielten ihr Schweigegelöbnis nicht ein. In den Gängen wurde gelacht und gekichert. Die Gesänge des Chors in der Kirche waren zu lebhaft und fröhlich. Abt Balthasar ordnete an, nur noch die Kirchengesänge aus dem alten Gesangbuch zu verwenden und sie gleichmäßig auf einer Tonhöhe zu singen. Das Auf und Ab beim Singen sei für die Gemüter zu aufregend, brächte die Seelen in Aufruhr. Es war der größte Stolz der Chormeisterin Schwester Magdalena gewesen, zur Ehre Gottes Lieder mit den Klosterfrauen und Schülerinnen in zwei Stimmen einzuüben, zumal es in der Kirche eine Orgel gab. Schweren Herzens musste die Äbtissin das Verbot des Abts verkünden. Dabei war sie selbst eine begeisterte Sängerin, und auch die Nonnen liebten es zu singen, denn miteinander zu sprechen war in der Klausur verboten. So verlangte es die strenge Regel des heiligen Bernhard. Gesang und Gebet waren erlaubt, in ihnen lag weder Hochmut noch die Gefahr der Geschwätzigkeit.

Die erste Zeit nach der Inspektion hatte die Chormeisterin sich widerwillig gefügt, nach einer Weile hatte sie die Verfügung des Abts Schritt für Schritt gelockert. Die Gesänge waren schneller und bewegter geworden, sie selbst wieder fröhlicher. Zu fürchten hatte sie wenig, denn die alten Patres hörten nicht mehr gut. Und die Äbtissin tat so, als bemerke sie die Veränderungen nicht. Margarethe von Haubitz war eine kluge, verständige Frau. Bei Lob und Bestrafung der Nonnen hielt sie ein vernünftiges Maß ein. „Modum adhibendum est“, pflegte sie zu sagen: Nichts übertreiben!

„Schwester Anna, eine Kälbergeburt ist kein Anblick für eine Jungfer, die einmal zur Nonne geweiht werden will!“

„Es ist doch die Kuh, die Käthe ins Kloster eingebracht hat“, erklärte die Stallmeisterin. „In zwei Jahren ist jedes Mal das Kalb gestorben. Deshalb wollte Käthe in diesem Jahr dabei sein.“

Pater Maximin bebte vor Entrüstung. „Bei einer Geburt steht Satan in der Nähe! Eine Jungfer gehört nicht hierhin.“

Käthe wusste, dass sie dem Mönch nicht widersprechen durfte. Er war strenger als die Priorin und die Äbtissin zusammen. Und das Schlimmste war, dass diese beiden Respektspersonen den Anweisungen der Mönche folgen mussten.

„Ich muss es dem Abt berichten.“

„Ist es nicht genug, wenn Ihr es der Äbtissin meldet?“, erkundigte sich Schwester Anna.

„Eine Sünde am Karfreitag wiegt doppelt und dreifach.“

„Wiegt sie doppelt oder dreifach?“, fragte Käthe.

„Jungfer, ich ermahne Euch, seid nicht vorwitzig.“

„Käthe von Bora war von Anfang an so“, meinte Muhme Anna. „Sie gleicht ihrer verstorbenen Mutter und unserer gnädigen Frau, der Äbtissin.“ Als Tante des Mädchens fühlte sie sich verantwortlich. Und außerdem, fand sie, sollte mit der Nichte der Klosterherrin etwas nachsichtig umgegangen werden.

„Sie muss sich die Keckheit abgewöhnen. Im Kloster ist dafür kein Platz.“

„Aber das Mädchen ist noch nicht eingesegnet“, beharrte die Stallmeisterin.

„Sie ist immerhin Postulantin, kein Kostkind mehr. Selbst die Kostkinder des Klosters müssen erzogen werden. Besser eine tote Tochter als eine ungehorsame. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

Der Mönch erhob segnend die Hand, ehe er ging. Er hatte es eilig, denn er wollte in die Kirche zur Karfreitagsandacht, die heute von Pater Antonius zelebriert wurde.

„In Ewigkeit. Amen“, erwiderten Käthe und ihre Muhme, die Kellermeisterin, wie aus einem Mund. So schnell würde Pater Maximin nicht wieder in den Stall kommen.

Das neugeborene Kalb lag immer noch am Boden. Die Muhme kniete jetzt neben der Kuh, molk an einer Zitze des schweren Euters und schob den Kopf des Neugeborenen näher daran. Einen Moment hielt sie inne.

„Wir sind nichts als ein Tropfen Wasser am Eimer Gottes“, sagte sie. „Der Pater hat recht. Du solltest besser bei den anderen Mädchen in der Kirche sein.“

„Warum ist es so schlimm, bei einer Geburt dabei zu sein?“, wollte Käthe wissen.

„Weil es ein weltliches Ding ist“, antwortete die Muhme unwirsch und rieb sich die Hände am Kittel sauber. „Weil es deine Gedanken auf allzu irdische Dinge lenkt.“

Schwester Anna tat wieder einmal, was ihr in diesem Leben das Liebste war: Sie redete. Im Stall war das erlaubt, ja sogar notwendig. Innerhalb der Klausurgebäude für die geweihten Nonnen und die Novizinnen war dagegen jedes gesprochene Wort eine Sünde, die gebeichtet und bereut werden musste. Um sich zu verständigen, bedienten sich die Nonnen einer komplizierten Zeichensprache, die sie schon vor dem Vorbereitungsjahr gelernt hatten.

Die Kellermeisterin war ebenso wie die Äbtissin berechtigt, sich im Kloster frei zu bewegen und zu sprechen, soviel für ihre Arbeiten nötig war, wenn sie den Laienschwestern die täglichen Aufträge erteilte. Auch besaß sie die Schlüsselgewalt für alle Vorräte, die im Keller, den Speisekammern und den Kleidertruhen.

„Aber das Kloster braucht die Kühe, die Milch und die Kälber“, wandte Käthe ein.

„Klosterfrauen müssen wirtschaften können“, sagte die Stallmeisterin. „Sterben die Schweine, hungern wir im Kloster. Der Abt aus Porta wird uns keinen Schinken senden.“ Sie senkte die Stimme. Auch ihr war aufgetragen, so wenig wie möglich zu sprechen. „Das Kloster muss sich seine Nahrung selbst erwirtschaften. Und es sind mehrere Tausend Mahlzeiten, die im Jahr ausgegeben werden. Die Vorgängerinnen unserer Äbtissin haben einen Berg an Schulden aufgehäuft. Überall haben sie Geld aufgenommen, noch jetzt zahlt das Kloster jedes Jahr Zinsen dafür und muss viele Gulden zurückzahlen.“

„Dann kommt es auf jeden Eimer Milch an“, stellte Käthe fest. Auch sie unterhielt sich gerne. Außerdem war sie neugierig und stellte Fragen, um zu erfahren, wie alles miteinander zusammenhing.

„Ja, mein Kind. Jeder Apfel an unseren Bäumen, jede Zwiebel aus unserem Garten muss nicht auf dem Markt gekauft werden.“

„Und wenn die Ernte gut ist, kann die Äbtissin umso mehr Gulden abbezahlen“, überlegte Käthe. Ein Gulden war ja schon so viel, davon konnte ein Mädchen wie sie monatelang ernährt werden. Ihr schauderte beim Gedanken an die Schuldenlast auf Kloster Mariathron. „Am besten würde sie noch mehr Obstbäume pflanzen lassen.“

„Das wird sie tun. Denn die Mauern des Speisesaals in der Klausur sind brüchig. Es muss gebaut werden. Dafür werden Leute kommen, die Lohn bekommen. Und außer dem Lohn jeden Tag, den sie arbeiten, Essen aus der Klosterküche.“

Nachdem das Kalb nun doch noch gesund geboren war und auch Schwarzlock keinen Schaden genommen hatte, war die Stallmeisterin bester Laune. Sie drückte das Mädchen kurz an sich und gab ihm einen Kuss auf jede Wange.

„Bald ist es so weit. Die Schafherden des Klosters sind größer denn je. Sobald die Wolle verkauft ist, werden die Bauleute kommen.“ Schwester Anna strahlte über das ganze Gesicht. „Über tausend Schafe sind es jetzt auf den Vorwerken und dem Schafhof vor dem Kloster.“

Käthe freute sich in diesem Moment mit ihr. Sie beschloss, noch fleißiger mit ihrem Rocken Wolle zu spinnen. Alles, was sie tat, kam dem Kloster zugute. Singen und Beten genügten nicht. Nur wenn sie und die anderen Klosterfrauen jeden Tag fleißig waren, konnte das Kloster gedeihen. Kloster Mariathron – das war auch sie und ihre Arbeit und ihre Gebete, obwohl sie noch keine Geweihte war.

„Was würde denn geschehen, Muhme, wenn die Äbtissin wieder Schulden aufnehmen müsste?“

„Käme es noch einmal so weit wie unter den Vorgängerinnen –“, Muhme Annas Blick verdüsterte sich, „so wäre es das Ende. Alles würde verfallen, der Abt würde das Kloster schließen, und die Nonnen müssten in die Klöster der Umgebung ausweichen. Die Gemeinschaft wäre für immer auseinandergerissen. Alles wäre vorbei.“

Beide schwiegen eine Weile. Alles wäre vorbei, hallte es in Käthe nach. Das Kloster wäre kein Kloster mehr. Undenkbar.

„Solche Fälle sind schon vorgekommen“, schloss die Stallmeisterin.

„Ihr wisst alles über das Leben.“ Käthe sah ihre Tante bewundernd an. Die ältere Schwester ihrer Mutter war auch in der Nonnentracht eine schöne Frau, mit lebhaften blauen Augen, einer feinen Nase und einem kleinen Mund in einem breiten freundlichen Gesicht. Die beiden sahen sich unverkennbar ähnlich. Käthe trug ihr dunkelblondes Haar in zwei geflochtenen Zöpfen, während die Haare der Nonne unter dem verrutschten Schleier kurz gehalten waren. Jede Nonne musste schon bei der Einsegnung als Novizin das lange Haar abschneiden.

Schwester Anna seufzte. „Ich weiß alles über das Leben. Aber ich bin nicht im Leben, mein Kind.“

„Wie meint Ihr das, Muhme?“

„Das Kloster ist nicht das Leben.“

„Aber Ihr habt hier alles, was der Mensch im Leben und für die Seligkeit braucht. Ihr werdet in den Himmel kommen.“

„Das Kloster ist nicht das Leben“, wiederholte die Stallmeisterin. „Und das Leben da draußen, glaub mir, ist mehr als der Himmel.“

So redete Schwester Anna manchmal, und dabei traten ihr Tränen in die Augen, was Käthe jedes Mal etwas verlegen machte. „Ihr müsst jetzt zur Kirche?“

Schwester Anna wischte sich mit dem Rock über das Gesicht. „Ja. Vorher muss ich mich reinigen und frische Kleidung anlegen. Bleib im Stall bei den beiden, bis das Kalb aufgestanden ist. Es dauert etwas länger, weil es so schwer ist.“

Käthe nickte, dankbar dafür, im Stall bleiben zu dürfen, obwohl Jesus in diesen Stunden aufs Neue leiden musste.

„Und steig über das Gitter“, mahnte die Stallmeisterin. „Schwarzlock will jetzt mit ihrem Kind allein sein. Sie muss es lecken und dazu bringen, aufzustehen.“

Käthe seufzte, ihre Gedanken gingen hinüber zu den Klosterschülerinnen, die jetzt alle beteten. War sie eine Verräterin? Für ein paar Augenblicke war ihr, als hörte sie die klare Stimme der Mutter Äbtissin, die aus dem Evangelium vorlas: „Ehe der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verraten haben.“

„Und nimm dein Osterbad am besten jetzt in der Badstube. Ich sage der Badmeisterin, dass du kommst!“

Käthe legte den Kopf auf den klebrigen Rücken des neugeborenen Je und atmete seinen guten Kälbergeruch ein. Dann richtete sie sich auf und umarmte ihn. Schwarzlock muhte tief und dunkel. Und Käthe beeilte sich, über den Holzzaun zu klettern. Draußen setzte sie sich auf einen Melkschemel, durch die Lücken zwischen den Brettern hatte sie die Mutterkuh und das Kalb gut im Blick. Schwarzlock muhte sanft mit ihrem Kind, leckte es und stupste ihm die Schnauze in die Flanken. Mehrmals stemmte das Kalb die Knie der Vorderläufe ins Stroh und versuchte, sich zu erheben, sank aber immer wieder zurück. „Du heißt eben doch Jesus, auch wenn ich dich Je nenne“, sagte Käthe leise. „Das ist jetzt unser Geheimnis.“ Aus dem hinteren Teil des Stalles drang das gleichförmige Schmatzen wiederkäuender Kühe.

Die Glocke vom Kirchturm läutete. „Jetzt ist Christus gestorben“, murmelte Käthe. „Und ich war nicht bei ihm.“ Mit einem Seufzer erhob sie sich. Der kleine Je mühte sich immer noch aufzustehen, doch es gelang ihm nicht. Trotzdem beschloss Käthe, den Stall zu verlassen. Sie hatte keine Lust, noch einmal von Bruder Maximin ausgeschimpft zu werden. Draußen vor dem Stall schlug ihr ein eiskalter Windstoß entgegen. Langsam ging sie über die Wiese hinüber zum Eingang des Badhauses, der Stube im Vorderhaus des Klosters.

Die Äbtissin

Es war Samstag, und die Menschen im Kloster bereiteten das Osterfest vor. Die Küchenmägde klapperten mit dem Geschirr, das sie für die festliche Tafel am Sonntag blank rieben. Von allen Seiten hörte man das Scharren der Reisigbesen, mit denen die Laienschwestern in ihren braunen Arbeitskutten Hof und Gänge fegten. Aus der Badestube drangen Dampfwolken über den Innenhof. Orgeltöne dröhnten durch das Gebäude, Magdalena von Staupitz, die Chormeisterin, übte in der Kirche für den feierlichen Gottesdienst.

Käthe fasste nach der Hand von Muhme Anna. Beide dufteten sie nach der Seife, die zum warmen Bad gehörte. Sie hatte noch gestern das Osterbad genommen und frische Kleidung angelegt, ein ärmelloses weißes Obergewand und einen weißen Überhang. Ihr Herz klopfte wild und heftig. Wieder einmal hatte sie ihrer Muhme Margarethe, der Klosterherrin, Kummer bereitet. Tränen schossen ihr in die Augen. Die Äbtissin würde sie fortschicken. Darauf lief es hinaus. Ein Mädchen, das so viele Sünden beging wie sie, war ungeeignet, Nonne zu werden. Muhme Margarethe würde sie zurück zur Stiefmutter aufs Landgut schicken.

An diesem Ostersamstag des Jahres 1513 fröstelte es Käthe trotz des Sonnenscheins, als sie mit der Verwalterin die Treppe zur Wohnung der Äbtissin hochstieg. Als Herrin des Klosters durfte die Äbtissin sich anders als die übrigen Nonnen völlig frei bewegen und jederzeit in die Klausur des Klosters eintreten wie auch in die übrigen Gebäude. Ihre Wohnung lag zwischen dem für die Laien abgesperrten Gebäude und dem Vorderbau.

Das Haus war aus dem gleichen schmutzigroten Stein erbaut wie die anderen Bauten und hatte einen mit Heiligenfiguren geschmückten Eingang. Im Erdgeschoss befanden sich Lager- und Verwaltungsräume und eine eigene Küche für den Äbtissinnenhaushalt und das dazugehörige Gästehaus. Äbtissin Margarethe bewohnte die Räume im ersten Stock. Oben unter dem Dach waren die Kammern des Gesindes, zweier Jungen für die Botengänge und der „Maiden“ für die persönliche Bedienung der Herrin.

Mit jeder Stufe, die Käthe der Klosterherrin näher kam, wurde ihr schwerer ums Herz. Margarethe von Haubitz war die älteste Schwester ihrer verstorbenen Mutter. Alle Klosterschülerinnen wussten, dass Käthe, wie Katharina von allen gerufen wurde, immer den dicksten Apfel bekam, wenn die Äbtissin Belohnungen verteilte. Aber wenn Käthe einen Fehler gemacht hatte, war der Ärger der Tante größer als bei jeder anderen ihrer Altersgenossinnen. Margarethe von Haubitz erwartete von keiner so viel wie von Käthe. Doch statt lateinische Gebete auswendig zu lernen, verbrachte die Nichte jeden freien Moment im Stall bei den Kühen und den Pferden. Und die Stallmeisterin unterstützte sie dabei. Schließlich war das Wohlergehen des Viehs wichtig für das Kloster. Vierzig Nonnen lebten hier, dazu kamen zehn Klosterschülerinnen. Diese fünfzig Bewohnerinnen entstammten ausnahmslos den Adelsfamilien der näheren Umgebung. Viele von ihnen waren Verwandte, Schwestern oder Cousinen oder Tante und Nichte. Mit der Äbtissin und Schwester Anna hatte Käthe zwei Schwestern ihrer Mutter in der Nähe. Hinzu kam noch die gütige Lene von Bora, die Siechenmeisterin des Klosters, die Schwester ihres Vaters. Jede auf ihre eigene Weise behielten die drei Frauen das Mädchen im Auge.

Zur Klostergemeinschaft gehörten noch die Laienschwestern, die für Gottes Lohn außerhalb der Klausur im Kloster arbeiteten, außerdem das Gesinde, ein Schweine- und ein Ziegenhirt, der Stallmeister und viele andere, ohne die das Kloster seinen Wirtschaftsbetrieb nicht hätte erhalten können. All diese fleißigen Hände bedeuteten hungrige Mäuler, die gefüllt werden wollten.

Es musste geschlachtet und gewaschen, gewebt und gewalkt werden. Zweimal am Tag wurden die Kühe von den Mägden gemolken. Auch eine Getreidemühle besaß das Kloster sowie ein Backhaus, ein Brauhaus und sogar eine Ziegelei mit Ziegelofen.

Über all dem stand Margarethe von Haubitz als Äbtissin, die die Nonnen sich im Jahr 1509 aus ihren Reihen erwählt hatten. Sie führte die Rechnungsbücher, stellte das Gesinde ein und entlohnte es. Unterstützt wurde sie von ihrer Stellvertreterin, der Priorin, und Muhme Anna, der Verwalterin mit den Schlüsseln für die Vorratskeller und Ställe.

„Muhme Anna“, sagte das Mädchen, als sie die Tür mit dem verzierten Steinbogen im ersten Stock erreicht hatten. „Sie wird uns hart bestrafen.“

„Das müssen wir ertragen. Ich habe ewigen Gehorsam gelobt, und du wirst es bald auch tun.“

„Muhme, kann es sein, dass Ihr Euer Gelöbnis bereut?“

„Kind“, sagte die Nonne. „Es hat seinen guten Grund, dass die Schwestern in der Klausur nicht miteinander sprechen dürfen.“

„Warum antwortet Ihr mir nicht?“

„Kind, es gibt Fragen, die man niemals stellen darf.“

„Ich weiß nicht, ob ich ertragen werde, den ganzen Tag über kein einziges Wort zu sprechen.“

„Bis zur Einsegnung nächstes Jahr ist noch reichlich Zeit. Und es sind nur die vorläufigen Gelübde. Mit den Novizinnen wird es nicht so streng genommen.“

Auf Muhme Annas Klopfen öffnete der Botenjunge Endres, ein dünner, sommersprossiger Bursche mit rotem Haar, und winkte ihnen, sie sollten um die Ecke in das Amtszimmer gehen.

Der große, helle Raum enthielt ein Bücherregal an der Wand, das sich unter dem Gewicht der Gebetbücher und einer in Leder gebunden handgeschriebenen Bibel bog. Ab und zu unterrichtete Margarethe von Haubitz selbst die Klosterschülerinnen hier im Lateinischen. Dazu gehörte es, dass die Mädchen aus einem der Bücher vorlasen und das Gelesene übersetzten. Die Wände waren bis in Hüfthöhe holzvertäfelt und darüber auf weißem Untergrund mit Szenen aus dem Leben des heiligen Benedikt bemalt. Gebrochenes Licht fiel durch die großen Fenster mit den bleigefassten Butzenscheiben. Auf einem Bord an der Wand lag die weiße Mitra, Zeichen ihrer Äbtissinnenwürde, die Margarethe von Haubitz in der Kirche aufsetzte.

Die Äbtissin erwartete sie schon. Den Hirtenstab in der rechten Hand stand sie vor ihrem großen Arbeitstisch und blickte ihrer Schwester und der Nichte Käthe ernst entgegen. Über dem Ärmelrock aus leichter weißer Wolle trug sie das schürzenartige schwarze Skapulier, das an Brust und Rücken bis auf den Boden reichte, und darüber einen weißen Überhang, der sie mit seinen langen weiten Ärmeln wie eine Glocke umgab. Ihre hohe Gestalt, größer als die der Schwester, und das trotz ihrer fast fünfzig Jahre faltenlose Gesicht beeindruckten Käthe immer wieder aufs Neue.

„Kniet nieder“, befahl die Äbtissin. „Ihr habt beide gesündigt.“

„Gelobt sei Jesus Christus“, murmelten Käthe und Muhme Anna, als sie sich auf die Knie fallen ließen.

„Demut und Gehorsam sind die Grundlage des Klosterlebens. So war es von Anfang an. So wird es bleiben bis zum Jüngsten Tag.“

„Gelobt sei Jesus Christus“, murmelten Käthe und die Muhme mit gesenkten Köpfen.

„Versteht, was Demut und Gehorsam bedeuten“, erklärte Margarethe von Haubitz. „Es ist Demütigung und Unterordnung unter den höheren Willen. Aber durch diese Tugenden kommen die Nonnen auch dem Königreich Gottes näher als die Menschen draußen in der Welt.“

Ja, überlegte Käthe, zweifellos beneideten viele Mädchen draußen in den Dörfern die Jungfrauen hier in Mariathron, die von morgens bis abends in der Kirche beteten, sangen und zwischendurch Lesen und Schreiben und sogar Latein lernten. Das Kloster mit seinem Reichtum wirkte von außen wie ein Schloss. Der Tisch der Schülerinnen war reich gedeckt, und das Brauhaus lieferte für alle genug vom täglichen Klostergetränk, dem Kofent. In der Fastenzeit brachte der Händler aus Torgau Fässer voll Salzhering und Stockfisch mit dem Wagen, Karpfen und Hechte schwammen im Teich vor der Klostermauer. Und in den Wäldern der Umgebung wimmelte es von Rehen und Wildschweinen, die im Herbst gejagt werden konnten, da das Kloster über das sonst nur Adeligen vorbehaltene Jagdrecht verfügte.

Die Jagdtreiber nahm die Äbtissin aus den umliegenden Dörfern und entlohnte die jungen Bauern dafür fürstlich: für ein Reh mit zwei Groschen, für ein Wildschwein mit drei oder vier, und für einen Hasen gab es immerhin noch einen. Dagegen war die Fronarbeit der Dörfler auf den Feldern kaum oder gar nicht bezahlt und dementsprechend unbeliebt. Die Menschen in den vom Kloster abhängigen Dörfern hungerten in manchen Jahren. Doch in der Räucherkammer von Mariathron hingen leckere Wildschweinwürste und fette Schinken. Selbst im Winter musste man sich um das tägliche Brot nicht sorgen. Was das Kloster mit seinen Gütern selbst nicht hergab, wurde auf den Märkten in Grimma und in Leipzig erworben. Erkrankte jemand, hatte die Siechenmeisterin immer die passende Medizin. Das helle Brot vom Backhaus schmeckte herrlich. Aus dem Obstgarten gab es gelbe Äpfel und dicke Birnen. Und nichts war schöner, als Altartücher und Messgewänder zu besticken. Es gab goldene und seidene Fäden in allen Farben für diese Arbeit und aufrechte Webstühle, auf denen feines Leinen gewirkt wurde. Auch das war die Aufgabe geschickter Nonnen und Klosterschülerinnen. Ja, sie war hier im Paradies, von Gott eingerichtet für die Jungfrauen, die ihm ihr Leben geweiht hatten. Sie musste sich hüten, dass sie nicht daraus vertrieben wurde. Käthe war jetzt erstarrt vor Angst. Ein trockenes Schluchzen stieg in ihr auf.

„Ihr lebt unmittelbar neben den heiligen Reliquien im Schutz der Heiligen und in der besonderen Fürsorge der Gottesmutter Maria.“

„Gelobt sei Jesus Christus“, antworteten die beiden Sünderinnen.

„Schwester Anna, du hast dich versündigt, indem du dieses Kind bei der Geburt der Kuh hast zusehen lassen.“

„Es ist mir von Herzen leid. Ich bitte um Buße und Lossprechung“, sagte die Stallmeisterin.

„Pater Maximin hat mir getreulich berichtet, wie es war.“ An dieser Stelle seufzte die Äbtissin kurz. Die beiden Beichtväter waren bei den Nonnen verhasst, und Margarethe von Haubitz stand auf der Seite ihres Konvents. Doch gegen die geistlichen Aufseher des Frauenklosters, die der Abt aus dem Männerkloster Porta nach Mariathron abgeordnet hatte, war auch sie machtlos.

„Darf ich morgen wieder in den Stall zu Schwarzlock? Ich muss sehen, wie es Je geht.“

„Das viele Reden musst du dir abgewöhnen“, erwiderte die Äbtissin, statt eine Antwort auf Käthes Frage zu geben. „Als Novizin wirst du den ganzen Tag schweigen. Im Schlafsaal, in der Kirche und im Speisesaal, sogar in der Küche.“

„Aber jetzt ist mir das Sprechen noch erlaubt“, rief Käthe.

Beide Klosterfrauen sahen sie ärgerlich an. „Zur Vorbereitung auf dein kommendes Leben musst du dich schon jetzt an das Schweigen gewöhnen. Das Postulantinnenjahr dient dem Einüben. Später als Novizin lebst du bereits in der Klausur“, erklärte Muhme Margarethe in sanftem Ton.

Käthe begann zu weinen. Es war ihr peinlich, doch die Tränen flossen unaufhaltsam, und sie schüttelte sich vor Schluchzen. Was war das für ein Leben, in dem man sich nicht mehr mit den anderen unterhalten durfte?

Was ging nur in ihr vor? Sie verstand sich selbst nicht mehr. Ratlos über diese Käthe, der die Kraft fehlte, der Muhme zu gehorchen, schlug sie den Kopf auf die Bodenplatte. Sie hatte hier ein üppiges Leben. Jeden Tag genug zu essen. Saubere neue Kleidung in doppelter Ausfertigung. Die Kaminöfen wurden gut befeuert, keine Nonne musste frieren. Warum weinte sie eigentlich? Es gab nur die eine Gefahr, dass Muhme Margarethe sie in das heruntergekommene Landgut zurückschickte, das die Stiefmutter mit den drei Brüdern bewohnte. Erst seit sie in dem gut ausgestatteten, reinlichen Klosteranwesen lebte, wusste Käthe, wie schlecht es um die Familie von Bora nach dem Tod des Vaters stand. Ein Dach auf Lippendorf war eingestürzt, und nur mit Mühe konnte die Stiefmutter das Gesinde bezahlen. Wie ärgerlich würde sie werden, wenn Muhme Margarethe sie aus Mariathron zurückschickte. Eine Mitgift für eine Heirat war gar nicht möglich, zumal es noch die kleine Schwester Maria gab. Hans von Bora, der wie seine adligen Verwandten gleichen Namens das Wappen mit dem roten Löwen im goldenen Feld führte, hatte wenig Glück mit seinen Rittergütern gehabt, dem zu Lippendorf drei Meilen südlich von Leipzig und dem Sitz in Weißenfels an der Sale. Missernten und Schweinesterben hatten ihn gezwungen, Schulden zu machen. Käthes Tränen flossen unaufhaltsam. Sie umklammerte den Rosenkranz ihrer zu früh verstorbenen Mutter, die ebenfalls Katharina geheißen hatte. Ja, sie wollte ihnen Ehre machen, diesen Eltern. Sie wollte eine fleißige, fromme Nonne werden und eines Tages vielleicht Äbtissin dieses Klosters, so wie ihre Muhme. Alle sollten stolz auf sie sein, die Stiefmutter, die Brüder, die Schwester. Auf Käthe von Bora, die jeden Tag für sie betete. Die ihnen eines Tages den Platz im Himmel sicherte. Das war ihre Aufgabe.

„Sie bereut“, sagte Muhme Anna.

„Sie fürchtet sich vor dem Leben einer geweihten Nonne“, sagte die Äbtissin.

Die Strafe

Zu den Aufgaben der Äbtissin gehörte es, die Beichte der Nonnen entgegenzunehmen, sofern es sich um kleinere, lässliche Sünden handelte. Für diese besaß sie das Recht der Absolution.

Die Klosterfrauen warteten, bis die Postulantin sich wieder gefasst hatte.

„Schickt mich bitte nicht fort, meine gnädige Frau“, sagte Käthe schließlich und schluchzte ein letztes Mal auf. „Die Stiefmutter ist streng. Sie schlägt mich, wenn sie hört, dass Ihr mich nicht mehr im Kloster haben wollt.“

„Du musst bereuen, mein Kind. Nur dann wird Gott deine Strafe anerkennen“, sagte Margarethe von Haubitz.

Muhme Anna und Käthe knieten immer noch vor der Klosterherrin, die sich auf den Abtsstab stützte.

„Betet beide vor dem Altar der Gottesmutter zehn Ave Maria. Für Euch, Schwester Anna, möge es damit genug sein. Du, liebes Kind, sollst zusätzlich eine Woche schweigen wie eine geweihte Nonne. Damit es dir leichter fällt, werde ich auch deine Freundin Metze für eine Woche zum Schweigen verpflichten“, entschied die Äbtissin.

„Gelobt sei Jesus Christus“, sagte die Verwalterin, erhob sich und strich Gewand und Schleier gerade.

„Aber ich muss in den Stall, um nach Je zu sehen“, schoss es aus Käthe heraus.

„Die Zeit des Schweigens zählt für dich ab jetzt für eine Woche. Bis zum nächsten Samstag sind dir nur Gebete und Gesang erlaubt.“ Die Äbtissin sprach leise und eindringlich. „Es gibt noch eine andere Strafe für dich. Nein, es ist gar keine Strafe, es sind besondere Aufgaben.“

Muhme Anna räusperte sich warnend. Schweren Herzens verstand Käthe, dass sie sich fügen musste.

„Gelobt sei Jesus Christus“, sagte sie leise. Immerhin hatte Muhme Margarethe ihr nicht verboten, den Stall zu betreten. „Und die andere Strafe, Muhme Margarethe?“, fragte Käthe. „Die besondere Aufgabe?“

„Du holst in der nächsten Woche die Rüben aus dem Keller für die Küche“, sagte die Äbtissin und sah ihre Nichte dabei nicht an. „Und außerdem gehst du Muhme Lene im Infirmarium zur Hand bei den Kranken. Du hilfst, sie zu waschen, gibst ihnen Medizin, fütterst sie mit dem Löffel. Muhme Lene wird dir Anweisungen geben.“

Käthes Augen füllten sich mit Tränen.

„Ja, Muhme. Gelobt sei Jesus Christus.“

„In Ewigkeit. Amen“, verabschiedete sich auch Margarethe von Haubitz. „Bleib noch ein paar Augenblicke hier“, sagte sie zu Käthe. „Ich will dir etwas mitgeben.“

Die Stallmeisterin verneigte sich und ging.