Carolin Wiedemann

Zart und frei

Vom Sturz des Patriarchats

Inhalt

Einleitung

1. Patriarchat

1.1 Kurze Geschichte der Patriarchatskritik

1.2 Postfeminismus, Neopatriarchat und die Rückkehr der Kritik

2. Antifeministische Mobilisierungen

2.1 Rechtsruck gegen den Feminismus

2.2 Bürgerlicher, pseudoliberaler »Gender-Wahn«

2.3 Klassenkampf und Nebenwidersprüche

3. Kapitalismus und Patriarchat

3.1 Bürgerliche Gesellschaft: Zweigeschlechtlichkeit, romantische Liebe und Kleinfamilie

3.2 Kontinuitäten und Verwebungen

4. Beziehungen befreien

4.1 Queerfeministische Bewegungen

4.2 Kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit

4.3 Begehren nach Sex ohne Sexismus

4.4 Post-romantisches Lieben

4.5 Neue Familienbande: Zusammenleben jenseits der bürgerlichen Kleinfamilien

Schluss

Körper und die Sehnsucht nach dem Ende der Herrschaft

Anhang

Danksagung

Bemerkung zu den Bezeichnungen

Literaturverweise und -empfehlungen

Einleitung

2016 beschloss der Bundestag die Reform des Sexualstrafrechts und gab dem Grundsatz »Nein heißt Nein« damit Gesetzesstatus; 2018 folgte die Einführung der Dritten Option, die Möglichkeit des Geschlechtseintrags »divers«. 2019 entschied der Spiegel, seine Ressortleitungen künftig jeweils mit mindestens einer Frau zu besetzen, und die Redaktion der Süddeutschen Zeitung diskutierte, in Artikeln nicht mehr nur das generische Maskulinum zu verwenden. Die Jugendformate der beiden Medienhäuser, Jetzt und Bento, gingen zum Gender-Sternchen über, um auch alle nichtbinären Menschen zu berücksichtigen. 2020 übernahmen die Fernsehstars Joko und Klaas die inklusive, geschlechterneutrale Ausdrucksweise zur Primetime auf ProSieben. Unter dem Hashtag #Frauenzählen bewiesen Feminist*innen, wie sexistisch der Literaturbetrieb ist, während neue Läden eröffneten, die nur Bücher von Frauen und Queers verkaufen. Der Wiener Musiker Mavie Phoenix, der in der Öffentlichkeit zunächst als Frau gegolten hatte, gab bekannt, kein Pronomen mehr für sich zu verwenden, bevor er schließlich das männliche wählte; die Vogue porträtierte ihn daraufhin als einen der wichtigsten Popstars unserer Zeit. Die Rapper von der Antilopen Gang kritisierten erneut mackeriges Verhalten. Und die Künstlerin Janelle Monáe, die sich als pansexuell bezeichnet, also keine Geschlechter begehrt, sondern Menschen an sich, nutzte ihren Auftritt bei der Eröffnung der Oscar-Verleihung 2020, um die Machtverhältnisse der Branche von innen heraus anzuprangern. Sie rief ins Mikrofon: »Wir feiern alle Frauen, die phänomenale Filme gemacht haben«, und weiter: »It’s time to come alive«. Das ist der Aufbruch, jubelten die Fans im Internet: Das Ende der sexistischen Verhältnisse im Film und in der echten Welt ist nah!

Aber da sind wir noch nicht, weder in Hollywood noch andernorts, allen queerfeministischen Errungenschaften zum Trotz. Der Widerstand des Patriarchats gegen seine Überwindung ist groß.

Während in Los Angeles die Oscars verliehen wurden, erklärte sich in Polen eine weitere Gemeinde zur »LGBTIQ-freien Zone« und verkündete, keine Menschen zu dulden, die sich nicht als heterosexuelle cis Frauen oder Männer definieren, wie Gott sie vermeintlich erschuf; in Berlin bespuckten zwei Jugendliche eine 51-jährige trans Frau, besprühten sie mit Pfefferspray und drohten, ihr die Haare anzuzünden. Allein in einem Monat wurden in der Hauptstadt fünf weitere transfeindliche Gewalttaten gemeldet. 2019 war dort laut Angaben des Antigewaltprojekts Maneo die Zahl von Übergriffen, die sich gegen die sexuelle Orientierung oder die geschlechtliche Identität von Menschen richteten, um fast 50 Prozent höher als im Vorjahr. Martin Sellner, Chefstratege der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich erklärte, der Feminismus bringe Übel, weil er Frauen gegen ihre Natur vom Herd trenne, und Björn Höcke, der nach der Wahl in Thüringen triumphierte, forderte erneut, dass Männer endlich wieder »mannhaft« sein sollten – freilich nur diejenigen, die bei der Geburt als solche galten. Am 8. März 2020 wurde erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Demonstration zum Weltfrauentag, die feministische Demonstration in Aachen, von Nazis angegriffen. Und ein knappes halbes Jahr später, am 5. September, zerrissen sogenannte Querdenker in Wien auf der großen Bühne einer Kundgebung gegen Corona-Schutzmaßnahmen eine Regenbogenflagge, das Symbol der LGBTIQ-Bewegung, und riefen: »Ihr seid nicht Teil unserer Gesellschaft.«

Am Umgang mit der Frage nach Geschlechtern, nach Identitäten, nach Begehrens- und Beziehungsformen zeigt sich, wie frei unsere Gesellschaft tatsächlich ist und wie gerecht wir sind. An diesen Fragen entscheidet sich, wohin wir steuern. Oft wird jedoch genau das Gegenteil behauptet: Die Postmoderne, Gender-Theorie und queere Aktionen seien irrelevante, elitäre Unterfangen, die unsere Gesellschaften nur spalten und uns auf Abwege bringen würden. Der Feminismus sei über das Ziel hinausgeschossen, als er zum Queerfeminismus wurde, heißt es dann. Ich will in diesem Buch zeigen, wie falsch diese Aussage ist. Dass etwa die Einführung einer Dritten Option Teil einer Entwicklung ist, die alle freier machen kann. Und dass es populistisch ist und den Rechten in die Hände spielt, sich gegen diese Entwicklung auszusprechen und den vermeintlichen »Gender-Wahn« zu kritisieren, wie es der Papst tut, wie es auch liberale Journalist*innen betreiben, etwa die Zeit-Autoren Harald Martenstein, der sich von Feministinnen diskriminiert fühlt, und Jens Jessen, der die #MeToo-Bewegung mit dem Gulag verglich. Und wie es auch Sigmar Gabriel macht, wenn er befindet, die SPD habe sich zu lange mit Homosexuellen und anderen Minderheitenfragen befasst statt mit dem deutschen Arbeiter, wenn er also Klassenpolitik und Queerfeminismus gegeneinander ausspielt statt den Menschen klarzumachen, dass sie gemeinsam um Teilhabe und gegen alle Formen der Ausbeutung kämpfen müssten.

Im Antifeminismus dieser Aussagen zeigt sich das Aufbegehren eines patriarchalen Systems und seiner Hauptfigur, des weißen, heterosexuellen cis Mannes, dessen Ordnungen zunehmend bröckeln. Zum Glück und zum Gewinn aller.

Aller. Das müsse man den Menschen vermitteln, sagte die Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser 2017, die deutschsprachige Ikone des Cyborg-Feminismus. Sie und ihre Kolleg*innen, die postmodernen Theoretiker*innen, so Harrasser, hätten vergessen, die Menschen jenseits der Gender Studies mitzunehmen, als sie begannen, von Cyborgs, von der Überwindung der Geschlechterbinarität und einer anderen Welt zu schwärmen. Das sei einer der Gründe dafür, dass die Menschen jetzt Trump und die AfD wählen. Sie folgte damit gerade nicht dem Anti-Gender-Argument von Sigmar Gabriel, man habe sich zu sehr mit queeren Toiletten befasst und dabei die Arbeiterklasse aus den Augen verloren. Nein, Harrasser meinte, dass sie, die progressiven Intellektuellen, es versäumt hätten, allgemein verständlich zu machen, warum alle von den Gender Studies profitieren.

Verständlich zu machen, dass alle Menschen gewinnen würden, wenn sie queerer werden, wenn sie die vermeintlich natürliche Unterteilung in zwei Geschlechter mit zugeschriebenen Eigenschaften immer weiter hinterfragen, wenn das »Cyborg-Manifest« weniger Utopie wäre, wenn gender, race und class keine Geltung mehr hätten, wenn Grenzziehungen verschwämmen und Herrschaftsverhältnisse verschwänden, wenn die Menschen sich weniger über Gene und Geld miteinander verbunden fühlen würden. Wenn sie stattdessen Familien jenseits von Mutter-Vater-Kind bilden würden, Wahlverwandtschaften, neue Formen der Solidarität jenseits alter Identitäten, wenn sie sich freier und zarter zugleich aufeinander bezögen, wenn sie freier und zärtlicher zugleich miteinander und beieinander schliefen.

Denn es ist nicht nur so, dass Frauen, wie die Ethnografin Kristen Ghodsee kürzlich belegt hat, im Sozialismus besseren Sex haben. Alle hätten besseren Sex, wenn das Patriarchat beendet wäre. Auch darum wird es in diesem Buch gehen.

Während ich im ersten Teil frage, wie sich das Patriarchat eigentlich aktuell konstituiert, wie stark es noch ist, wie beharrlich, und wie es antifeministische Strömungen über verschiedene Lager hinweg mobilisiert, gehe ich im zweiten Teil auf verschiedene gegenwärtige Phänomene ein, die patriarchale Ordnungen herausfordern, indem sie das Verständnis von Geschlecht und Sexualität zunehmend verschieben. Phänomene, die eine Befreiung aus der bürgerlichen Kleinfamilie, aus der Keimzelle der Nation bedeuten und damit andere, neue Formen der solidarischen Verbindung erschaffen: In Kursen zur kritischen Auseinandersetzung mit Männlichkeit lernen Typen, Männlichkeitsanforderungen zu unterlaufen, sie lernen etwa, leiser zu reden und gleichzeitig ihre Bedürfnisse besser zu artikulieren. In polyamoren Beziehungskonstellationen versuchen Menschen die Verquickung von romantischer Liebe und Besitzansprüchen zu überwinden, die überhaupt erst durch die kapitalistische, sexistische Arbeitsteilung entstehen konnte. Beim Co-Parenting kümmern sich Freund*innen-Kreise gemeinsam um Kinder, ganz egal ob sie die biologischen Eltern sind, und bewahren damit Alleinerziehende vor der Prekarität und Paare vor dem Gender-Trouble. Auf sexpositiven Partys wird feministischer Porno gefeiert und Pansexualität genau wie Asexualität, so wie es die Menschen gerade mögen.

Ich will zeigen, dass sich jene neuen Umgangs- und Lebensformen, die von Kritiker*innen oft als elitär oder als neoliberal abgetan werden, nicht nur aus einer queerfeministischen Perspektive als subversiv deuten lassen. Zeigen, dass sie eine emanzipatorische Perspektive für alle bergen, und zwar auch deshalb, weil sie die Herrschaftsverhältnisse, welche die Menschen unterjochen, im Allgemeinen herausfordern.

Das patriarchale Geschlechterverhältnis ist mit der Entwicklung kapitalistischer Ausbeutung innerhalb der gegenwärtigen nationalstaatlichen Ordnung zutiefst verbunden. Angesichts dieser Verknüpfung klärt sich, inwiefern jene antipatriarchalen Phänomene das Potenzial haben, die bürgerliche Gesellschaft und ihren Ausbeutungsapparat im Gesamten zu erschüttern. Alexandra Kollontai sagte: Ohne Sozialismus keine Befreiung der Frau, ohne Befreiung der Frau kein Sozialismus. Und so lässt sich noch immer hoffen, dass wir, wenn es keinen Kapitalismus, keinen Nationalstaat und kein Patriarchat mehr gibt, zart und solidarisch miteinander sein können, geborgen und frei.

Das Buch soll nicht diejenigen umerziehen, die weiter von den tradierten Ordnungen profitieren wollen und daher all jene, die ihnen ihre Privilegien streitig machen, als minderwertig diffamieren. Aber vielleicht kann es denen die Hand reichen, die verunsichert sind, die insgeheim selbst lieber in einer anderen Welt leben würden, aber keine Ideen von ihr haben, die unter Druck stehen, ihre Männlichkeit zu beweisen, Überlegenheit und Erhabenheit zu performen, obwohl sie doch gern freier und gleichzeitig geborgener wären. Und vielleicht kann es auch diejenigen inspirieren, denen das Wort »Gender« noch fremd ist, denen die aktuellen politischen Entwicklungen, der Erfolg von Politikern wie Trump, der AfD und der FPÖ aber Sorge bereiten, die sich fragen, wo der Fortschritt, an den sie einmal glaubten, geblieben ist.

Und es kann hoffentlich denen Mut machen, die sich seit Langem mit sexistischen Geschlechterverhältnissen und anderen Formen der Herrschaft auseinandersetzen, sie bekämpfen und sich selbst aber doch so oft in ihrem Alltag nicht aus ihnen befreien können.

1.Patriarchat

Auf dem Fahrrad mit kurzer Hose durch Berlin. Eine Strecke von 20 Minuten. Einer ruft mir »Fotze« hinterher, ein anderer pfeift mir nach. Durchschnittliche Quote.

Ich bin auf der Geburtstagsfeier einer Freundin, spreche mit zwei Journalisten, die gegen den Kapitalismus schreiben. Sie fragen nach meinen Themen. Ich erzähle von einem Interview zur Frage, wie sich die misogyne und queerfeindliche maskulinistische Bewegung über Social Media organisiert. Der eine schlägt dem anderen auf den Oberschenkel und ruft: »Mensch, sie ist uns auf die Schliche gekommen!« Beide lachen lauthals.

Der Physiotherapeut duzt mich ungefragt und tätschelt mir die Wange.

Der Bekannte, der seine Lippen zum Abschied auf meine drückte und seine Zunge hervorschnellen ließ, obwohl ich den Kopf zum höflichen Wangenkuss zur Seite gedreht hatte, schreibt wieder eine SMS: Dass er traurig sei, dass ich mich so selten melde. Ob wir nicht mal wieder was trinken gehen wollen. Meine Email mit der Erklärung, warum ich sein Verhalten übergriffig fand, hat er wahrscheinlich schon vergessen.

Mein Kollege fragt: Warum denn vom Patriarchat schreiben? Warum immer so negativ? Wir hätten schließlich eine Kanzlerin. Ein anderer pflichtet bei: Spätestens nach #MeToo seien die Beschwerden nun wirklich übertrieben.

Es gibt einen Zusammenhang zwischen diesen Erfahrungen, die ich alltäglich mache. Und die andere alltäglich machen. All jene, die nicht als männlich gelten: Die Erfahrung von Abwertung und die gleichzeitige Erfahrung, dass diese nicht ernst genommen wird. Die Grade der Abwertung sind unterschiedlich, doch strukturell sind alle Frauen und Queers von ihr betroffen.

»Patriarchat« ist der Begriff für diese Struktur. So wird sie von denen genannt, die sie bekämpfen.

1.1Kurze Geschichte der Patriarchatskritik

Ein paar Monate nachdem mehrere Frauen die ersten Vorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein wegen Vergewaltigung und sexualisierter Belästigung erhoben hatten, schaltete Steve Bannon in Washington seinen Fernseher ein, um sich die Preisverleihung der Golden Globes anzusehen. Natalie Portman sollte die Nominierten in der Kategorie »Regie« vorstellen, die zehn männlichen Nominierten, wie sie bitter betonte. Die Frauen und Queers im Saal, Schauspieler*innen, Regisseur*innen und Filmemacher*innen, die allesamt Schwarz trugen, schüttelten empört die Köpfe. Bis Oprah Winfrey ihre Rede hielt und ins Mikrofon rief, sie seien zu lange nicht gehört worden, zu lange habe man ihnen nicht geglaubt, wenn sie es doch wagten zu sprechen. Die Zeit der mächtigen Männer sei vorbei. Ein neuer Tag sei schon am Horizont zu sehen, rief sie ins Publikum, und das rief sie auch all den jungen Menschen zu, die die Verleihung zuhause verfolgten.

Als Bannon das sah, so schilderte er es seinem Biografen, sei ihm klar gewesen: Das ist der Beginn einer Revolution: »Frauen werden die Kontrolle über die Gesellschaft übernehmen. Die Bewegung gegen das Patriarchat wird die Geschichte der vergangenen 10 000 Jahre rückgängig machen.« Das Interessante an dieser Aussage ist, dass Bannon hier 10 000 Jahre Herrschaft des Patriarchats anerkennt. Und dass er zur Beschreibung unserer gesellschaftlichen Ordnung einen Begriff verwendet, den genau diejenigen selbst gerade (wieder-)entdecken, die damit Akteur*innen wie Bannon bekämpfen.

Die Geschichte des Begriffs Patriarchat ist die Geschichte feministischer Kämpfe. Immer wenn der Begriff ausgesprochen oder niedergeschrieben wurde, dann um eben jene Zustände zu kritisieren, die er bezeichnet. Und immer, wenn Patriarchatskritik laut wurde, wenn sie öffentlich wurde, war klar, dass der feministische Kampf gerade eine neue Welle ins Rollen brachte. Diesmal ist es vielleicht ein Tsunami wie Janelle Monáe in ihrem Lied »Django Jane« rappt.

Aber erst einmal zurück zum Ursprung des Begriffs: Wann wurde überhaupt vom Patriarchat gesprochen? Wann kam der Begriff auf? Und was sollte er bezeichnen?

Jahrhundertelang oder vielmehr jahrtausendelang war die patriarchale Ordnung so selbstverständlich, dass niemand von ihr sprach, dass es also nicht einmal einen Namen, ein Konzept für die Vorherrschaft des Mannes gab. Die Vorstellung seiner natürlichen Überlegenheit erfüllte sich von selbst, da diejenigen, die die Gesetzestexte, Gedichte und religiösen Schriften verfassten, Männer waren. Alle anderen wurden aus der Geschichtsschreibung ausgeschlossen, ihnen wurde die Möglichkeit verweigert, die Vergangenheit der Menschen zu ordnen und zu interpretieren, wie Gerda Lerner in ihrem berühmten Buch Die Entstehung des Patriarchats festhält – womit unsichtbar gemacht wurde, dass sie selbst diese Geschichte mitproduzierten.

Mary Wollstonecraft war die erste Autorin, die diese Zustände skandalisierte. Sie beschrieb eine »Tyrannei der Männer« (1792), allerdings noch ohne dafür das Wort »Patriarchat« zu verwenden. Dieser Begriff tauchte zur Bezeichnung von Geschlechterverhältnissen erstmals sechzig Jahre später beim Schweizer Rechtswissenschaftler und Altphilologen Johann Jakob Bachofen auf, der Mitte des 19. Jahrhunderts die entwicklungsgeschichtliche Abhandlung Das Mutterrecht veröffentlichte. Wie keine Schrift zuvor thematisiert dieses Buch eine Herrschaft der Männer und verweist dabei auch ausführlich auf ein »Vorher«, auf eine sehr lange zurückliegende Zeit, in der die Abstammung der Menschen über die Mutter ermittelt worden sei, in der Frauen geherrscht haben sollen, bis Männer sie schließlich unterworfen hätten. Auf die Frage nach dem Beginn des Patriarchats gehe ich im Kapitel zum Zusammenhang von Kapitalismus und Patriarchat noch einmal ein, auch in Bezug auf die Analysen von Friedrich Engels, der sich in seinem berühmten Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates 1884 ausführlich damit befasste. Für die Geschichte der feministischen Kritik ist Engels’ zentrales Werk gerade deshalb wichtig, weil es Bachofens Begriff des Patriarchats und die Kritik an patriarchalen Zuständen unter linken, kapitalismuskritischen Intellektuellen verbreitete.

Noch vor dem Erscheinen von Engels’ Buch hatte die erste »Frauenkonferenz« stattgefunden, die als »Leipziger Frauenschlacht« 1865 in den Zeitungen des Landes verunglimpft wurde, aber enorm erfolgreich war. Dort wurde der Allgemeine Deutsche Frauenverein (ADF) ins Leben gerufen, der wiederum die Gründung verschiedener Frauenverbände in ganz Deutschland nach sich zog – was als Beginn der hiesigen organisierten Frauenbewegung gilt.

In dieser Zeit schrieb auch die britische Literatin Virginia Woolf vom Patriarchat. Als erste Autorin bezog sie das Konzept der Männerherrschaft auf ihre eigenen Erfahrungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf ihre Sozialisation innerhalb der Familie, einer bürgerlichen Familie: Dort verfügte der Vater über die Autorität und die ökonomische Macht, die Jungen wurden auf ein Leben in der Öffentlichkeit vorbereitet, den Mädchen dagegen blieb eine ernstzunehmende Ausbildung verschlossen und damit auch die Möglichkeit, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sie waren in die Sphäre des Privaten, in die Abhängigkeit vom Vater und dann vom Ehemann verbannt.

Woolf und ihre Mitstreiter*innen aus der ersten Frauenbewegung kämpften schließlich enorm erfolgreich für mehr Rechte, für das Recht auf Bildung, das Recht zu wählen und arbeiten zu gehen. Doch damit war ihre Unterdrückung noch längst nicht beendet. Im Bereich der Wissenschaft etwa, selbst in jener Forschung, die sich mit Machttheorien befasste, tauchte der Begriff des Patriarchats noch nicht einmal auf: Die Soziologie etwa interessierte sich noch nicht für die Herrschaft des Mannes, und sie selbst wurde hauptsächlich von Männern betrieben.

Der grundsätzliche soziale Charakter der Geschlechterungleichheit wurde dann zum zentralen Kritikpunkt der Feminist*innen der Siebzigerjahre, der zweiten Welle also, womit der Patriarchatsbegriff gleichzeitig eine Ausweitung erfuhr. Kate Millett etwa schrieb 1970 mit Sexualität und Herrschaft laut der New York Times »die Bibel des Feminismus«, die das Patriarchat als das »grundlegendste Machtkonzept« der Gesellschaft identifizierte und dabei alle Normen des Zusammenlebens auf ihre patriarchalischen Züge hin abklopfte: die romantische Liebe, die bürgerliche Familie. Frauen würden so erzogen, dass sie Männern gefallen, ihnen schmeicheln und sie zufriedenstellen wollen. Millett sprach von »einer raffinierten Form ›innerer Kolonisierung‹«, die »robuster« sei »als jede Form der Segregation und rigider als die soziale Schichtung, gleichförmiger und mit Sicherheit von größerer Dauer«.

In dieser Zeit gründeten sich auch in Deutschland im Zuge der und im Anschluss an die Student*innenbewegung verschiedene autonome Frauengruppen und Netzwerke, die eine ähnlich radikale Kritik äußerten wie Millet. Und auch die weniger radikalen unter ihnen forderten das Recht auf Selbstbestimmung: aktives Mitspracherecht in der Politik, uneingeschränkten Zugang zu qualifizierten Tätigkeiten und die Abschaffung des Paragrafen 218, der den Schwangerschaftsabbruch verbot. Parallel dazu entstanden die ersten Frauenzentren, Lesbengruppen, Frauencafés, Frauenkneipen und autonome Frauenprojekte wie Frauenhäuser – Zufluchtsorte für Opfer häuslicher Gewalt. Feminist*innen dieser zweiten Welle schafften es schließlich, ihre Kritik, die Patriarchatskritik, durch Frauenbeauftragte und -büros in Verwaltungen und im Rahmen von Women Studies an Universitäten zu etablieren und so weiter Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu nehmen.

Doch mit einem Konzept des Patriarchats, das monolithisch angelegt war und andere Machtverhältnisse außen vor ließ, ignorierten sie, wie verschieden die Erfahrungen von Herrschaft und Unterwerfung doch auch innerhalb der Gruppe derer waren, die zu Frauen gemacht wurden. Sie waren selbst zu weiß, um ihre eigene Privilegiertheit zu berücksichtigen, worauf besonders prominent die antirassistische feministische Autorin bell hooks hinwies. Die »white supremacy«, die Vorherrschaft der Weißen strukturiert(e) die Welt, jene Welt, in der Kate Millett gelesen wurde, eine Welt, in der manche Männer stärker unterdrückt und ausgebeutet wurden und werden als manche Frauen und starke Unterschiede zwischen Frauen verschiedener Klasse herrsch(t)en, erst recht, wenn sie noch mit verschiedenen ethnisierenden Zuschreibungen versehen werden.

Und dass auch lesbische Frauen und vor allem Menschen, welche die binäre Matrix in Gänze herausfordern, weniger Handlungsspielraum als heterosexuelle cis Frauen haben, war in der Patriarchatskritik der zweiten Welle der Feminist*innen ebenfalls noch kaum ein Thema. Darauf verwies vor allem Judith Butler Anfang der Neunzigerjahre. In ihren Augen übersah die Annahme eines universell geltenden Patriarchats nicht nur andere Formen subtiler und mehrschichtiger Unterdrückung. Butler wies vor allem darauf hin, dass das Konzept des Patriarchats, wie es bis dahin Anwendung gefunden hatte, die »Natürlichkeit« von Geschlechtern, von »Männern« auf der einen und »Frauen« auf der anderen Seite, implizierte und damit selbst sexistische Züge aufwies, weil es missachtete, dass auch die vermeintlich biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern immer schon Zuschreibungen enthalten, dass diese vermeintlich biologischen Unterschiede also immer schon sozial vermittelt waren und sind und dass die Zuschreibungen nie als neutral aufgefasst werden können, sondern immer bestimmten Bedeutungszusammenhängen dienen.

In jener Phase, in der Butler schrieb und damit die Gender Studies an den Universitäten mit etablierte, war es ruhiger um die feministische Bewegung geworden. Die sogenannte zweite Welle des Feminismus war abgeebbt. Sie hatte ja auch viel erreicht, zu viel, wie viele fanden.

Die Ära des Postfeminismus begann – »Postsexismus ist das leider nicht«, schrieb die feministische Autorin Katharina Voß sehr treffend dazu. Im Gegenteil: Im Zusammenhang mit der Verbreitung neoliberaler Logiken konnte sich eine neue, subtilere Form des Sexismus etablieren, die auch für unsere Zeit bestimmend ist.

1.2Postfeminismus, Neopatriarchat und die Rückkehr der Kritik

Um 2010 prägte die Gender-Forscherin Stevie Schmiedel den Begriff »Pinkifizierung«, und er schien perfekt zu beschreiben, was sich damals zeigte: die Rückkehr des Sexismus und seine Verbreitung bis ins Kinderzimmer. Plötzlich waren alle Spielzeugartikel nach Geschlechtern getrennt, sogar Überraschungseier gab es extra für Mädchen – in rosa. Welch Rückschritt, dachten wohl alle, die in den Jahrzehnten zuvor aufgewachsen waren. In den Achtzigern hatte ich als Kind selbstverständlich blaue T-Shirts und kurze Haare tragen können und war im Freibad nur mit einer Badehose bekleidet ins Becken gesprungen. In den Nullerjahren aber zog man plötzlich schon Babys Bikini oder Badeanzug an – den Mädchen, auch wenn sie erst ein paar Monate alt waren. Und als ich in einer Kinderboutique für den Säugling meiner Freundin die graue statt die rosa Spieluhr wählte, rief die Verkäuferin empört: »Aber es ist doch ein Mädchen!« und wickelte den Plüschstern gleich zweimal in fliederfarbenes Geschenkpapier. Der Zwang zur Binarität war zurück, analysierten feministische Autor*innen. Kleine Kinder sollten wieder zu einem alten Stereotyp hin erzogen werden. Das Mädchenaccessoire der 2000er schlechthin, Prinzessin Lillifee, war dessen Repräsentantin: niedlich, roter Kussmund, Wespentaille, pudert sich gern die Nase und backt Kuchen.

Doch das war nicht die Rückkehr der Binarität, das war keine Rückkehr des Sexismus. Erstens hatte es keine Sexismus-freie Zeit gegeben. In den Achtzigerjahren konnte ich als Kind zwar kurze Haare und blau tragen und etwa auch den Wunsch äußern, Ingenieurin zu werden, ohne dass jemand irritiert schaute. Doch wirkten weiterhin jahrhundertealte Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern fort. Zweitens gab es einen zentralen Unterschied zu jenem Früher, aus dem der Sexismus angeblich zurückkam. Das, was in der »Pinkifizierung« tatsächlich zum Ausdruck kam, war ein neuer Sexismus, der denen, die als Mädchen galten, ein anderes Ideal vermittelte, der sie ganz anders adressierte als der Sexismus der Fünfzigerjahre. »Cinderella ate my daughter«, schrieb dazu die amerikanische Autorin Peggy Orenstein und zeichnete die Entwicklung und Veränderung des Sexismus am Wandel Aschenputtels nach: Die alte Cinderella sei eine Erwachsene gewesen, die neue ein Teenager: ein Teenager, dessen Dekolleté tiefer, dessen Taille schmaler, dessen Lippen pinker und dessen Haare blonder waren als bei Aschenputtel, und der das Gegenüber keck anflirtete – Aschenputtel war zu Paris Hilton geworden.

Die neuen Mädchen sollten süß und sexy sein. Und dieses Leitbild fand sich längst nicht nur in der Spielzeugabteilung. Die Vogue fotografierte 2011 das Model Thylane Loubry Blondeau auf einem Tigerfell: ihre perfekt geschminkten Augen lasziv in die Kamera blickend, die langen Haare in einer aufwendigen Hochsteckfrisur, die glatt rasierten Beine in die Luft gestreckt, an den Füßen Stilettos – sie war da gerade zehn Jahre alt. Im gleichen Jahr trug die dreijährige Lexci aus Heanor, Derbyshire, bei den ersten Mini-Miss-Wahlen in Großbritannien High Heels und einen Bikini-artigen Zweiteiler. Und bei Germany’s Next Topmodel hießen die konstant halbnackten Kandidatinnen 15 Jahre lang »die Mädchen«, wobei mehr als ein Drittel der Zuschauer*innen vor dem Fernseher zwischen drei und 13 Jahre alt war und selbst nichts lieber wollte, als sich in der Sendung auszustellen.

Wie war es dazu gekommen?

Wie erwähnt hatten die Feminist*innen der zweiten Welle in den Augen derjenigen, die vom Patriarchat profitierten, bereits zu viel erreicht. Ronald Reagan, einer der ersten prominenten Advokaten des »Backlashs«, behauptete schon in den Achtzigerjahren, dass an der zunehmenden Arbeitslosigkeit nicht so sehr die Rezession schuld sei, sondern viel mehr berufstätige Frauen, die den Männern immer mehr Jobs wegnähmen. Und tatsächlich war es ja auch so, dass in dieser Zeit immer mehr Frauen berufstätig wurden, was sowohl an den Erfolgen der zweiten feministischen Welle lag, die Zugänge erkämpft hatte, als auch daran, dass gleichzeitig der Dienstleistungssektor wuchs und Arbeitskräfte mit vermeintlich weiblichen Eigenschaften, Kommunikationsfähigkeit und Fleiß, benötigte. Die alte Geschlechterhierarchie geriet also weiter ins Wanken: Frauen machten Männern beruflich Konkurrenz und manchen Ehemann in seiner Rolle als Ernährer überflüssig. Gerade diejenigen, die finanziell unabhängig wurden und aufstiegen, mussten sich ab da in Acht nehmen, nicht geächtet zu werden.

1991, als Susan Faludi diesen »Backlash« in den USA in ihrem gleichnamigen Buch analysierte, lauteten die Schlagzeilen deutscher Zeitungen alarmiert »Wegen der Karriere – Frauen geben Kinder zur Adoption frei« (Münchner Abendzeitung) oder »Sozialer Notstand: Vernachlässigte Kinder!« (Stern); »Karrierefrauen« galten als egoistisch, und diejenigen, die noch vom Patriarchat sprachen, als hysterische Emanzen oder verbitterte Linksradikale.

Die Ära des Postfeminismus war angebrochen, und in dieser Ära, so zeigt es vor allem die britische Autorin Angela McRobbie in ihrem Buch Top Girls, hatten Frauen »ihre Weiblichkeit« besonders zu beweisen: Sie mussten sich davor schützen, als Lesbe oder Mannsweib abgestempelt zu werden, je mächtiger (also »männlicher«) sie wurden, desto mehr. McRobbie analysierte diese »postfeministische Maskerade« anhand der extrem populären Figur der Bridget Jones, die mit allerlei Schmuck und Schminke ihre Rivalität mit den Männern in der Arbeitswelt maskierte. (Jungen) Frauen wurde zwar ein besserer Zugang zu bestimmten Freiheiten und Möglichkeiten eingeräumt (wie sexuelle Autonomie und berufliche Chancen), allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie sich vom Feminismus als einer kollektiven politischen Bewegung für radikale gesellschaftliche Veränderung distanzierten.

Der Neoliberalismus war zu dieser Zeit dabei, sich als vermeintlich ideologiefreie Ideologie zu verbreiten und die Leute immer mehr glauben zu machen, das Schicksal läge jeweils in ihrer eigenen Hand: Wer an sich arbeite, habe auch jede Chance auf Aufstieg, denn strukturelle Diskriminierung gehöre in den liberalen Gesellschaften der Vergangenheit an. Alle könnten Erfolg haben, und diejenigen, die es nicht schafften, seien wohl selber schuld, würden sich nicht genug anstrengen. Der Neoliberalismus vertrug sich also bestens mit dem Postfeminismus, der die Gleichberechtigung der Geschlechter aufgrund formal gleicher Rechte für verwirklicht hielt, und so ignorierte, dass das Bild der Frau als Objekt, das dem Mann gefallen müsse, bestehen blieb und damit sogar noch stärker wurde.

So kam es schließlich, dass sich Anfang der Nullerjahre kaum noch jemand Feminist*in nannte und dass diejenigen, die dann doch als Teil der sogenannten dritten Welle versuchten, Feminismus wieder cool zu machen, permanent betonten, wie sehr sich ihr Feminismus von dem der früheren Frauenbewegung unterscheide. Und das tat er eben auch: Er hatte keinen Begriff vom Patriarchat mehr und war selbst oft neoliberal geprägt. So schrieben junge, vermeintlich feministische Autor*innen etwa, bei den Feminist*innen »alten Typs« handle es sich um »ungeschminkte Birkenstockträgerinnen«, die dem weiblichen Freiheitsrecht auf »knappes Outfit«, »High Heels« und »Brustvergrößerung« im Wege ständen.

Angela McRobbie befand 2009, das Patriarchat habe sich in den Bereichen Mode und Beauty reterritorialisiert, habe also in diesen Bereichen auf neue Weise Fuß gefasst. Beatrix Campbell nennt die Epoche, die damals begann, »neoliberales Neopatriarchat«.

Und da sind wir auch 2020 noch: Junge Frauen wollen, sollen, dürfen schön, süß und sexy sein, dem Chef gefallen und dafür Diäten, Pilates und Gesichtsmasken machen. Einem Bild entsprechen, das Burn-out und Magersucht erzeugt und ganze Industrien belebt von Kosmetikkonzernen über Fernsehshows und Fotoportale bis zu Spielzeugfirmen. Die Garderobe der dreijährigen britischen Schönheitskönigin Lexci kostet monatlich 400 Pfund. Um »sexy« zu sein, geben acht- bis zwölfjährige Amerikanerinnen im Jahr mehr als 480 Millionen Dollar für Schönheitsprodukte aus. In Deutschland ist die Zahl der Faltenunterspritzungen und Botoxbehandlungen allein von 2017 auf 2018 um 15 Prozent gestiegen – laut der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie seien die meisten Kundinnen aus der Generation »Selfie« und damit Frauen, die nach 1995 geboren wurden, die also noch kaum Falten haben.

Doch ein Selfie kann eben nie perfekt genug sein. Instagram und Co befeuern mit den Bewertungsfunktionen die wechselseitige Überwachung der Arbeit am eigenen Bild und an sich selbst, sie legen eine Peer-to-peer-Beobachtung nahe, die den unternehmerischen Geist der Menschen im Neoliberalismus anspricht. Und die besonders gut bei denjenigen funktioniert, die im Patriarchat schließlich auch noch als Frauen sozialisiert werden, also lernen, sich ohnehin permanent von außen zu betrachten, anderen zu gefallen. So kommt es auf Instagram zum Trend des thigh gap (wenn die Oberschenkel sich beim Stehen nicht berühren) – während vom Pay Gap, vom Einkommensunterschied zwischen denen, die als Männer gelten, und denen, die es nicht tun, kaum jemand spricht.

Dabei konnte sich dieser in den postfeministischen Zeiten fast unbemerkt über Jahre hinweg halten: 2019 lag der Verdienstunterschied zwischen Frauen und Männern in Deutschland immer noch bei rund 20 Prozent. Frauen verdienten pro Stunde durchschnittlich 16,59 Euro brutto, Männer 21 Euro. Und selbst innerhalb des »Gesundheitsund Sozialwesens«, wo deutlich mehr Frauen als Männer arbeiten, sah es genauso aus. In keiner Branche verdienten Frauen mehr als Männer.

Der Gender Care Gap war sogar noch eklatanter als der Pay Gap. Denn was Frauen neben Sexyness 2020 natürlich immer noch vorweisen müssen – Prinzessin Lillifee steht mit ihrem Kussmund und dem Kuchenblech dafür –, ist die Fähigkeit, ein schönes Zuhause zu gestalten und sich liebevoll um die Kinder zu kümmern. Obwohl sich die Beschäftigungsquote von Frauen von 1992 bis 2017 (da wurde das Gutachten zum Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung verfasst) von 60 auf 80 Prozent vergrößert hat, verbrachten Männer 2017 kaum mehr Zeit mit den fürsorglichen und haushälterischen Tätigkeiten als damals. Erwachsene Frauen in Deutschland verrichteten im Durchschnitt täglich 87 Minuten mehr Care-Arbeit als Männer, sie wendeten 2017 also immer noch gut anderthalbmal so viel Zeit für unbezahlte Betreuungs- und Hausarbeit auf wie Männer. Am krassesten war der Unterschied in heterosexuellen Paarhaushalten mit Kindern, also in der Kleinfamilie. Dort übernehmen selbst dann die Frauen im Schnitt zuhause noch nebenbei all die unbezahlten Aufgaben, wenn sie deutlich mehr verdienen als ihre Partner, wenn sie also Haupternährerinnen sind und Vollzeit arbeiten, wie Sarah Speck und Cornelia Koppetsch in ihrer Studie Wenn der Mann kein Ernährer mehr ist zeigten.

Da ist es auch kein Wunder, was passiert, wenn heterosexuelle Eltern sich trennen: Kinder bleiben in neun von zehn Fällen nach der Trennung der Eltern bei der Mutter.