Wolfgang Kaleck erregte international Aufsehen, als er Strafanzeige gegen Donald Rumsfeld wegen Kriegsverbrechen und Folter erstattete. Als Teil eines internationalen Netzwerkes von Anwälten und Aktivisten verteidigt er die Menschenrechte – mit den Mitteln des Rechts. Hier erzählt er, was ihn geprägt hat und wie er vom jungen Idealisten zum weltweit agierenden politischen Juristen wurde, der auch den scheinbar Unantastbaren entgegentritt – ob es um ungesühnte Verbrechen aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur geht oder um die Mittäterschaft transnationaler Unternehmen. Bei all dem geht es ihm immer um die Menschen, für deren Rechte er kämpft – ihre Geschichten sind das Herz dieses Buches.
Hanser Berlin E-Book
Mit Recht
gegen die Macht
Unser weltweiter Kampf
für die Menschenrechte
Hanser Berlin
ISBN 978-3-446-25022-2
© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2015
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München.
Foto: © Götz Schleser
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Greiner & Reichel, Köln
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen
finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur
Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
»Und sein französischer Freund sagte, ja natürlich, das mache er sofort, und fragte noch, was ist das für ein Geräusch?, weinst du?, und El Ojo sagte ja, er könne nicht aufhören zu weinen, er wisse nicht, was mit ihm los sei, er weine schon seit Stunden. Und sein französischer Freund riet ihm, sich zu beruhigen. Und El Ojo lachte unter Tränen und sagte, das werde er tun, und legte auf. Und weinte dann weiter, ununterbrochen.«
Roberto Bolaño, Mörderische Huren
»Lieber Gott, erspare mir, in einer uninteressanten Zeit zu leben.«
Scharfrichter Völpel in Thomas Braschs Engel aus Eisen
Prolog: Ein Jahr im Leben eines anderen Juristen
Der Verweigerer: Von Jülich nach Bonn und Berlin
Der solidarische Beobachter
Mexiko und Guatemala 1990
Der Nomade
Montevideo und Patagonien 1996
Die Mütter der Plaza de Mayo
Buenos Aires 1999
Die verschwundenen Gewerkschafter von Mercedes-Benz
Buenos Aires 1999
Siegen, ohne zu gewinnen: Von Videla zu Rumsfeld
New York und Berlin 2004
Der Kampf um die Erinnerung
Patagonien, Buenos Aires und Asunción 2005
Ruinen in Monrovia
Liberia 2005
Wieder scheitern, besser scheitern
New York, Jerusalem, Ramallah, Berlin 2006
Erfolge im Kampf gegen die Straflosigkeit
Buenos Aires und Jujuy 2008
Neue Bewegungen
Bogotá, Delhi, Peking 2010–2013
Epilog: Fundierte Hoffnung
Zum Weiterlesen
Danksagung
Surreales Reisen. Ich kann mich bis heute nicht daran gewöhnen. Ein Flug ans andere Ende der Welt, von Berlin nach Montevideo, aus dem europäischen Winter in den lateinamerikanischen Sommer. Ich versuche, zur Ruhe zu kommen. Es fällt mir schwer, ich bin erschöpft. Ein langer Spaziergang in den Dünen, den Sand unter den Füßen spüren, ein Bad im kalten, aufgewühlten Wasser. Die Luft ist klar, gestern sind unwetterartige Regenfälle auf uns niedergegangen. Jetzt sitze ich auf dem Rasen an einem weißen Plastiktisch inmitten einer riesigen Pfütze. Um mich herum quaken Frösche, in einem Strauch mit orangen Blüten schwirren Bienen, Schmetterlinge, schwarze Kolibris und goldgelbe Finken. Ich genieße es. Die Sonne wird langsam stärker, ich will zum Strand zurück, die Arbeit, auch die Arbeit an diesem Text, hinter mir lassen und ausspannen. Noch aufgewühlt vom auslaufenden Jahr, das mit einem Ausrufezeichen für mich begann und ebenso endete, beginne ich zu schreiben. Über meine Reisen, Begegnungen und meine Arbeit: Gemeinsam mit anderen kämpfe ich mit den Mitteln des Rechts für Gerechtigkeit. Es war für uns ein bewegtes Jahr, ein Jahr, das neben den unvermeidbaren Rückschlägen auch Hoffnung auf eine andere Welt weckte.
Die 1823 gegründete Law Society in der Londoner City flößt Respekt ein, dunkelrote Teppiche, Leuchter und Säulen geben dem hohen geräumigen Festsaal eine herrschaftliche Atmosphäre. Phil Shiner, Rechtsanwalt aus Birmingham, Ende fünfzig, läuft nervös auf und ab, blättert immer wieder in seinen Papieren. Seit zehn Jahren führt seine Kanzlei Verfahren für Hunderte von irakischen Mandanten, die durch die britischen Besatzer nach der Invasion im März 2003 gefoltert wurden. Heute Abend wollen wir diese Fälle gemeinsam der Londoner Öffentlichkeit vorstellen, gebündelt in einer Strafanzeige an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Im November 2011 suchte Shiner uns in Berlin auf. Uns, das heißt: das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), das ich mit Freunden und anderen Anwälten 2007 gegründet habe und seither als Generalsekretär leite. Unser großes Ziel: Wir wollen dazu beitragen, weltweit Menschenrechte mit juristischen Instrumenten zu schützen und durchzusetzen. Unsere Mittel sind die Einleitung von Strafverfolgung, oft auch Zivilklagen und Beschwerden vor UN-Stellen; unsere Arenen sind die Gerichtshöfe, Staatsanwaltschaften und die Öffentlichkeit. Phil Shiner war in seinem eigenen Land mit den Verfahren an einen toten Punkt gekommen. Zwar hatte er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg zwei bahnbrechende Urteile in Folterfällen gegen Großbritannien erstritten. Offizielle Untersuchungskommissionen beschäftigten sich mit Todesfällen in Haft wie dem von Baha Mousa, der als gesunder 26-Jähriger im September 2003 in Basra in der britischen Besatzungszone im Süden Iraks aufgrund von Schlägen und Misshandlungen durch britische Soldaten nach 36 Stunden verstarb. An einige Betroffene wurden zwar Entschädigungen gezahlt. Doch die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen, vor allem der höchsten Beamten aus dem Verteidigungsministerium und der Spitze von Militär und Geheimdiensten, blieb bisher aus.
Andauernde Straflosigkeit für die höchsten Verantwortlichen – das ist genau die Konstellation, für die der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag vorgesehen ist und die wir gemeinsam mit Anwälten und Menschenrechtsorganisationen aus aller Welt immer wieder angreifen. Deswegen war Phil nach Berlin gekommen. Wir kennen uns schon lange: Seitdem die USA und ihre Verbündeten nach dem 11. September 2001 massiv die Menschenrechte Terrorverdächtiger verletzen, gehören wir zu einem kleinen Kreis europäischer Anwälte, die dagegen juristisch vorgehen. In Berlin analysieren wir ellenlange Berichte über Folter und Misshandlungen durch britische Soldaten, von denen viele mit sexualisierter Gewalt einhergegangen sind.
Das Publikum am heutigen Abend in London besteht nicht nur aus Sympathisierenden von den Universitäten oder den hier tätigen Menschenrechtsorganisationen. Es sitzen da auch gut gekleidete Herren mittleren Alters, die uns offenkundig feindlich gesinnt sind. Sie gehören zur Militär- und Geheimdienstcommunity und wollen hören, so berichtet es mir nachher ein Kollege, was wir ihnen persönlich vorwerfen. Den Ton hat der britische Außenminister William Hague vorgegeben, der in der BBC sofort auf unsere Anzeige reagierte und das britische Militär als das beste der Welt bezeichnete. Sie fühlen sich getroffen und sind nervös. Ich bin es nicht. Wie sich der Fall entwickeln wird, abgesehen von den ersten positiven Reaktionen in den Medien und in unseren Netzwerken, vermag ich nicht vorauszusehen. Aber in diesem Moment lasse ich mich nicht davon leiten. Wir haben hart gearbeitet und das Recht ist auf unserer Seite.
Einige Wochen später sitzen wir mit unseren Teams aus Berlin und Birmingham im Internationalen Strafgerichtshof, einem modernen Zweckbau am Rande Den Haags, in einer Besprechung mit Vertretern der Anklagebehörde. Diese haben die mehreren Hundert Seiten unseres Schriftsatzes studiert und stellen nun detaillierte Fragen dazu. Nach dem Treffen haben wir ein gutes Gefühl. Wir haben den richtigen Moment getroffen, um die britischen Folterfälle in Den Haag einzureichen. Gerade entzündet sich weltweit Kritik daran, dass dort bisher ausschließlich gegen afrikanische Tatverdächtige wie den sudanesischen Präsidenten Al Bashir ermittelt wird.
Uns geht es um einen systemischen Ansatz. Darum, dass im internationalen Strafrecht mit zweierlei Maß gemessen wird. Es war die Idee der Nürnberger Kriegsverbrechertribunale, das Strafrecht nicht nur dieses eine Mal gegen die besiegten Naziverbrecher, sondern zukünftig universell einzusetzen – also potenziell auch gegen die Alliierten, die seinerzeit in Nürnberg zu Gericht saßen. Das Projekt scheiterte zunächst. Ein ständiger Strafgerichtshof kam nicht zustande. Nicht nur die Russen und Chinesen, die sich gar nicht erst dem Anspruch des Rechts unterwarfen, haben nach dem Zweiten Weltkrieg und der Allgemeinen Menschenrechtserklärung vom 10. Dezember 1948 Menschenrechte verletzt. Auch die westlichen Alliierten verübten bei den antikolonialen Befreiungskämpfen massive Kriegsverbrechen, ohne dass nationale oder internationale Strafgerichte eingriffen: Frankreich im damaligen Indochina und in Algerien, Großbritannien in Kenia, die USA in Vietnam.
Vor dem Internationalen Strafgerichtshof sind bisher nur Afrikaner angeklagt, und bei Verfahren vor nationalen Gerichten gelten ebenfalls Doppelstandards. Die militärischen und ökonomischen Großmächte jedenfalls werden im Völkerstrafrecht verschont. Wenn aber nicht gleiches Recht für alle gilt, entfällt der universale Geltungsanspruch dieser Gesetze. Die Legitimität bröckelt, das System internationaler Strafjustiz gerät in Gefahr.
Im Unterschied zu anderen Kritikern sehe ich dieses Problem jedoch nicht als Beleg dafür, dass es von vornherein keinen Sinn ergibt, das Recht in Anspruch zu nehmen, sondern begreife es als Ansporn, den beschriebenen Zustand zu ändern. Und wir erzielen auf diesem Weg zumindest kleine Erfolge.
Denn überraschend schnell erhalten wir gute Nachrichten aus Den Haag: Anfang Mai leitet die Chefanklägerin Fatou Bensouda auf der Grundlage unserer Strafanzeige Vorermittlungen wegen der britischen Folter im Irak ein. Ihr Vorgänger hatte das Verfahren noch vor wenigen Jahren im Keim erstickt. Es ist ein ermutigender Moment, den ich in Berlin am gleichen Abend mit Freunden teile. Unter ihnen ist Michael Ratner, der langjährige Präsident des New Yorker Center for Constitutional Rights, dessen Arbeit uns inspirierte, eine ähnliche Organisation in Europa aufzubauen.
Für einen Moment zurück in die kalte Jahreszeit: Am 26. Januar fliege ich mit Aeroflot vom Provinzflughafen Berlin-Schönefeld, dessen Personal noch den Befehlston der realsozialistischen Vergangenheit exerziert, zum modernen Flughafen Moskau-Scheremetjewo. Eine Taxifahrt durch den Moskauer Winter, Hochhäuser, Trabantensiedlungen, dichter Verkehr, Leuchtreklamen, Vergnügungsstätten, imposante Bauten allenthalben. Im Hotel in der Innenstadt stoße ich zu einer kleinen Gruppe von Anwaltskollegen. Den Wortführer, Ben Wizner von der American Civil Liberties Union, kenne ich seit einem Jahrzehnt, wir haben im Fall von Khaled al-Masri zusammengearbeitet, einem Deutschen, der von der CIA nach Afghanistan verschleppt und dort gefoltert worden war. Jetzt sind wir hier, um uns mit Edward Snowden zu treffen.
Seit den Enthüllungen Edward Snowdens im Sommer des Vorjahres hatten mein Kollege Carsten Gericke und ich uns in Berlin bereitgehalten, um seine juristische Vertretung in Europa vorzubereiten. Wir wollten hier die Möglichkeiten einer Zuflucht ausloten und ihn bei seinen Aussagen als Experte und als Zeuge vor staatlichen Untersuchungsausschüssen wie dem Deutschen Bundestag und internationalen Stellen wie dem Europarat und dem Europäischen Parlament unterstützen. Im Herbst 2013 stellen wir ein kleines Team europäischer Anwälte zusammen und treffen uns in Berlin. Das ist bisher nicht öffentlich geworden. Ich habe Snowden selbst noch nicht getroffen, bin daher gespannt auf die bevorstehende Begegnung.
Dann sitzen wir im Taxi zum verabredeten Ort.
Edward Snowden wirkt so schmächtig und jung wie auf den Fotos. Doch statt des erwarteten Nerds begrüßt uns ein freundlicher, offener Mensch, der erst einmal jedem von uns eine Matrjoschka schenkt. Die Unterhaltung läuft direkt und schnörkellos. Snowden erklärt, fragt, fordert und gibt Direktiven, hört aber auch zu, versteht und lässt sich überzeugen. Die Liste unserer Themen ist lang, doch wir verständigen uns schnell auf gemeinsame Positionen. Ich fühle mich gewappnet für die kommenden Aufgaben.
So selbstverständlich dieses Anwaltsgespräch verläuft, so verstörend sind die Umstände, die selbst Teil und Ausdruck des Problems der Überwachung sind: Wer hört uns ab, wer verfolgt uns, wie sicher sind mein heimisches Büro und meine Wohnung? Mein Mobiltelefon geht plötzlich kaputt, die Daten werden auch für Spezialisten in Berlin später nicht mehr zu rekonstruieren sein. Es bleibt ein Gefühl der Bedrohung.
Das Mandat bedeutet mir viel und verlangt mir einiges ab. Es ist eng mit unserer sonstigen Arbeit verbunden. Wenn wir Beweise für Menschenrechtsverletzungen suchen, sind wir häufig auf Enthüller wie Snowden oder Wikileaks angewiesen. Die umfassende Überwachung von vermeintlichen und wirklichen Staatsfeinden eint Geheimdienstapparate in aller Welt. Oft müssen wir aktiv werden, weil neben den inhaftierten Whistleblowern vor allem unsere Anwaltskollegen und Menschenrechtsverteidiger im Globalen Süden ständig überwacht und mit Haft und Folter bedroht werden.
Ich stehe jetzt mehr im Fokus als zuvor und muss einen Spagat hinbekommen: In meiner Rolle als Anwalt bin ich an die Verschwiegenheit gebunden und soll die Interessen meines Mandanten vertreten. Daher muss ich manches Mal ruhig bleiben – obwohl mir als politischer Beobachter und Akteur die selbstreferenzielle deutsche Diskussion oft genug aufstößt. Die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland ist von einem diffusen Betroffenheitsgefühl geprägt; es wird nach deutschen Berührungspunkten gesucht, anstatt das Problem der Überwachung global zu begreifen und auf dieser Ebene anzugehen.
Doch es macht auch Spaß, für diesen sympathischen Menschen in dieser wichtigen Angelegenheit wirken zu können. Ihn als Helden zu verehren, halte ich zwar für falsch, aber Edward Snowden ist besonders für jüngere Menschen zum Symbol dafür geworden, dass man als Einzelner etwas bewegen kann. Er hat den Impuls gegeben, jetzt muss sein und unser Anliegen politisch vorangetrieben werden. Noch mehrere Male fliege ich nach Moskau, lerne Snowden besser kennen und seine intellektuellen Fähigkeiten schätzen, die weit über seine technische Expertise hinausgehen.
In Argentinien geht der Sommer zu Ende. Seit 1997 besuche ich Buenos Aires jedes Jahr, als Anwalt, aber auch, um Freunde zu treffen. Mittlerweile hat sich für mich ein Kreis geschlossen. Zwei Dekaden lang sind die Verbrechen der Militärdiktatur ungesühnt geblieben, dagegen hatten auch wir in Deutschland die letzten fünfzehn Jahre gekämpft. Seit kurzem sind die Dinge allerdings in Bewegung gekommen. Jetzt lädt die Sonderstaatsanwaltschaft für die Aufklärung der Diktaturverbrechen vierzig Staatsanwälte aus ganz Argentinien zu einem Workshop ein, ich nehme als externer Experte teil. Wir treffen uns in einem Hochhaus an der Avenida de Mayo im Zentrum von Buenos Aires, fünfhundert Meter vom rosaroten Präsidentenpalast entfernt, wo seit 1977 die Mütter vom Plaza de Mayo mit ihren weißen Kopftüchern Donnerstag für Donnerstag ihre Runden drehen und die Wahrheit über das Schicksal ihrer verschwundenen Kinder einfordern. Wahrheit und Gerechtigkeit.
Dass eine solche Staatsanwaltschaft überhaupt existiert und ernsthaft arbeitet, fast vierzig Jahre nach den Ereignissen, ist bemerkenswert. In vielen anderen Ländern werden derartige Verbrechen nicht aufgeklärt, geschweige denn von der Strafjustiz verhandelt. In Argentinien hingegen verurteilten die Gerichte in den letzten Jahren über fünfhundert hohe Militärs, Polizisten und Geheimdienstler für ihre damaligen Taten. Aber zunächst war in den Prozessen nur von den uniformierten Tätern die Rede – nicht von den zivilen und nicht von denen, die von der Diktatur profitierten und sie unterstützten, den Agrar-, Minen- und Industrieunternehmen.
Jetzt endlich beginnen die Staatsanwälte und Richter gegen Industrielle zu ermitteln, nicht immer so effizient, wie wir uns das wünschen würden, nicht überall in gleichem Maße. Ich befasse mich seit 1999 mit dem Thema und habe ein transnationales Unternehmen wegen Verbrechen in Argentinien verklagt: Zwischen 1976 und 1977 waren Gewerkschafter der dortigen Niederlassung von Mercedes-Benz verschleppt und ermordet wurden. Im Workshop diskutieren Strafverfolger aus dem ganzen Land, wie man die Beteiligung der Unternehmer ermitteln, belegen und strafrechtlich belangen könne. Mir fällt kein anderes Land mit einer jüngeren Unrechtsgeschichte ein, in dem derartige Bemühungen sichtbar wären.
Die zuletzt positive Entwicklung in Argentinien geht auch auf Prozesse in Spanien zurück, wo seit Ende der 1990er Jahre Richter und Staatsanwälte engagierter als anderswo gegen Diktatoren und Folterer – zunächst aus Lateinamerika, später aus China und den USA – vorgehen. Ihr Engagement begründen sie mit dem Prinzip der universellen Jurisdiktion: dem Weltrechtsprinzip. Das besagt, dass die Justiz eines Staates bei schwersten Menschenrechtsverletzungen auch dann aktiv werden kann, wenn sich die Ereignisse entfernt vom eigenen Territorium abgespielt haben und weder Opfer noch Täter eigene Staatsbürger waren. Spanien hat diesen Kurs lange gegen alle politischen Widerstände durchgehalten. Jetzt hat die konservative Regierung die Gesetze geändert, die Strafverfolgungsbehörden sollen sich zukünftig auf die Fälle beschränken, die eine besondere Verbindung zu Spanien aufweisen. 2011 gab es schon einen Rückschlag, als der umtriebige Ermittlungsrichter Baltasar Garzón suspendiert wurde – formal wegen einer Rechtsverletzung in einem Korruptionsverfahren, in Wirklichkeit aber, weil er begann, die Verbrechen aus Spaniens franquistischer Vergangenheit aufzuklären, und damit das Schweigen über die Vergangenheit in der spanischen Politik brach. Nun hat er eine Konferenz zur universellen Gerichtsbarkeit organisiert, mit der er zugleich Widerstand gegen die Rechtsreform einleiten will.
Auf der Bühne des Madrider Goya-Theaters sitze ich neben Garzón. Ich freue mich, hier sprechen zu können. Vieles von dem, was meine Arbeit seit Jahren bestimmt, geht auf Aktivitäten in Spanien zurück. Hier ermittelten Garzón und andere so ernsthaft gegen argentinische und chilenische Militärs, dass Scotland Yard am 16. Oktober 1998 den chilenischen Exdiktator Augusto Pinochet in London verhaften konnte. Ein Ereignis, das für mich und andere eine Initialzündung bedeutete. Nunmehr wurde vorstellbar, dass wir als Anwälte gemeinsam mit Betroffenen und sozialen Bewegungen von Europa aus grenzüberschreitend bei Menschenrechtsverletzungen juristisch eingreifen konnten.
Vorzeitig verlasse ich das Theater, um mit dem Madrider Anwalt Gonzalo Boye nach Algeciras im Süden des Landes zu fahren: dorthin, wo Europa seine Grenzen gegen Flüchtlinge sichert. Boye, Ende vierzig, wurde in Chile geboren und musste eine achtjährige Gefängnisstrafe verbüßen, wegen der vermeintlichen Beteiligung an der Entführung eines Industriellen. Auch im Gefängnis von Huelva saß er ein, er zeigt es mir unterwegs, als wir daran vorbeifahren. In der sumpfigen Landschaft der Gegend wurden die Häftlinge von Insekten derart geplagt, dass Boye aufgrund von Allergien lebensgefährlich erkrankte. Er, der sich zu Unrecht verurteilt sah, nutzte die Zeit in Haft, um Jura zu studieren und hinterher anderen in ähnlichen Situationen helfen zu können. Ein willensstarker Mensch.
Die Hafenstadt Algeciras liegt neben dem von den Briten okkupierten Felsen von Gibraltar. Von hier aus kann man den afrikanischen Kontinent sehen, die Nähe Marokkos ist überall spürbar.
Am Morgen gehen wir im ersten Licht an Bord der Fähre nach Ceuta, der von Spanien bis heute besetzten Enklave auf der anderen Seite der Meerenge von Gibraltar. Im dortigen Hafen wehen die spanische und die europäische Flagge. Die Realität in Ceuta sieht allerdings anders aus, als Spanien und die Europäische Union, der Friedensnobelpreisträger 2012, sie gern präsentieren.
Ahmed, in dessen Taxi wir am Hafen steigen, fährt uns zu den Hügeln von El Príncipe, von wo wir auf die Grenzstation hinunterschauen. Dort attackierte am 6. Februar 2014 die spanische Guardia Civil mit Gummigeschossen Dutzende schwarzafrikanische Migranten beim Versuch, die Grenze schwimmend zu überwinden, mindestens 15 von ihnen starben. Deswegen sind wir hier.
Ahmed spürt unser Interesse und erzählt uns, wie er am Morgen des Vorfalls mit seinem Taxi vor Ort stand. Hunderte marokkanische Arbeiterinnen und Arbeiter überquerten gerade die Grenze, auf dem Weg zu ihren prekären Beschäftigungen als Gärtner oder Haushaltshilfen. Viele beobachteten, wie die spanischen Uniformierten schossen, wie wehrlose Menschen starben und andere rechtswidrig zurück über die Grenze geschafft wurden. Doch die Menschen haben Angst auszusagen. Die Marokkaner müssten mit dem Entzug ihrer Visa rechnen, ihre Existenz wäre bedroht. Ahmed befürchtet trotz seines spanischen Passes Schikanen auf der Polizeiwache.
Die Strafverfahren gegen die verantwortlichen Grenzschützer, die wir gemeinsam mit spanischen Menschenrechtsorganisationen führen, sollen verdeutlichen, dass die skandalösen Zustände an den EU-Außengrenzen ein gesamteuropäisches Problem darstellen. Es geht um die Durchsetzung der Rechte derer, die bisher keinen Zugang zum Rechtssystem haben, um die Durchsetzung des von Hannah Arendt proklamierten Rechts auf Rechte.
Auch anderswo wird Menschen dieses Recht verweigert. Im Dezember 2014 hat der US-Senat seinen lange erwarteten Bericht über die Folter an Gefangenen durch die CIA nach dem 11. September 2001 herausgegeben. Immer wieder sickerte durch, dass darin über drastische Misshandlungen zu lesen sein wird. Bis zuletzt versuchten Republikaner und Geheimdienststellen, die Teilveröffentlichung zu verhindern. Jetzt wissen wir auch, warum: Die Protagonisten der Ära Bush junior folterten – und sie logen. Für viele Betrachter wird jetzt ein Apparat sichtbar, der außerhalb jeder politischen, gerichtlichen und öffentlichen Kontrolle agierte. Eine kriminelle Vereinigung, die darum kämpft, trotz zahlreicher Rechtsbrüche rechtlich unbehelligt zu bleiben und gar als Retter der Nation vor dem Terrorismus in die Historie einzugehen.
Der Inhalt des Berichts überrascht mich kaum, ich arbeite seit einem Jahrzehnt zu diesem Thema. Erfreut bin ich aber über das weltweite Echo, es wird in Indien und Australien berichtet, die Londoner Times, der Guardian und CNN möchten Interviews führen. Meine Erinnerungen an den November 2004 und den November 2006 kommen hoch. Damals reichte ich gemeinsam mit dem New Yorker Center for Constitutional Rights Strafanzeigen wegen der massiven Folter an Kriegsgefangenen im Irak, in Abu Ghraib und Guantánamo ein. Sie richteten sich gegen Donald Rumsfeld und den Ex-CIA-Chef George Tenet, Letzterer auch im Fokus der neuen Veröffentlichungen. Unsere Anläufe der letzten zehn Jahre wurden zwar viel beachtet und diskutiert. Doch juristisch blieben wir zunächst erfolglos, weil sich die Justiz nicht an die mächtigen USA herantraute. Das war für uns mitunter schwer auszuhalten. Aber ich bin mir sicher: Das Thema wäre nicht so präsent, auch der Bericht wäre nicht veröffentlicht worden, hätten unsere Netzwerke innerhalb und außerhalb der USA die Geschehnisse nicht immer wieder in Artikeln und juristischen Schriftsätzen beschrieben, gedeutet und angeprangert.
Auch spürbare Wirkungen haben wir erzielt: Der ehemalige CIA-Chefjurist John Rizzo erklärt öffentlich, dass viele Hundert CIA-Agenten und ihre Oberen auf Empfehlung ihrer Anwälte seit einiger Zeit nicht mehr nach Europa reisen. Sie haben Angst, von einer der Staatsanwaltschaften oder einem der Gerichte, die die CIA-Entführungsfälle untersuchen, zu einer Vernehmung geladen oder gar festgenommen zu werden.
Obwohl die CIA-Folter auch in den USA heftig diskutiert wird, werden dort, selbst nach dem Bericht, weder Straf- noch Zivilverfahren gegen die namentlich bekannten Täter und Architekten dieses Systems stattfinden. Diese politische Linie hat Präsident Obama seit seinem Amtsantritt im Januar 2009 vorgegeben. Also sind erneut wir in Europa an der Reihe. Wenige Tage nach den ersten Nachrichten über den Bericht erstatten wir eine Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, um einmal mehr gegen die mächtigen Folterer aus den USA vorzugehen.
Die Arbeit in internationalen Netzwerken, die Begegnungen und Reisen sind mir zur Selbstverständlichkeit geworden. Ich wurde Teil einer Gegenbewegung, die in den neunziger Jahren eingesetzt hatte. Zunächst war auf dem Papier ein besseres Recht geschaffen worden. An das Vermächtnis der Nürnberger Prozesse anknüpfend wurden die schlimmsten Straftaten wie Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit geächtet. Sie waren nun international, über die Grenzen hinweg, verfolgbar. Die UN-Tribunale zu den Völkermorden im ehemaligen Jugoslawien und Ruanda sowie der Internationale Strafgerichtshof etablierten sich. Juristen, Überlebende von politischer Gewalt und soziale Bewegungen begannen, dieses neue Rechtsmittel gegen viele Widerstände einzusetzen. Ende der neunziger Jahre wurde nach der Pinochet-Verhaftung deutlich, dass wir als Juristen von Madrid, London oder Berlin aus mit unseren Mitteln gegen Menschenrechtsverletzungen kämpfen können, die andernorts begangen werden, deren Ursachen jedoch häufig nach Europa und Nordamerika führen. Aus den Anfängen erwuchsen über die Jahre ernsthafte Interventionen, aus individuellen Aktionen die systematische Zusammenarbeit von Akteuren an unterschiedlichen Orten der Welt. Diese Entwicklung möchte ich beschreiben, als jemand, der zunächst beobachtete, kritisierte und sich empörte, bevor er dann schließlich seinen Beruf darin fand, juristisch einzugreifen. Es ist mein großes Glück, in dieser Zeit vielen beeindruckenden Menschen begegnet zu sein. Es sind ihre Erfahrungen, von denen ich profitiere, und ihre Kämpfe, zu denen ich versuche beizutragen.
Doch wie hatte das alles für mich begonnen?
»Denn daß wir nirgendwo sonst zuhause waren als in unsrer Parteilichkeit, das war mir, obgleich ich erst am Anfang meiner Reise stand, deutlich geworden. (…) Was in Deutschland geschah, verbanden wir mit den Vorgängen in Frankreich, in Spanien, in China, und wenn ich mir Menschen dachte in Prag, in Paris, in Berlin, in einem Raum, dessen Adresse nicht mehr festzustellen, aus dem Gedächtnis gestrichen war (…), Menschen in einem kleinen Kreis, die zukünftige Entwicklung ihres Landes planend, so legte sich um ihre Worte jedesmal dieses weltweite Netz, das Besprochne wurde aufgenommen von einem Schwirren, hing unlösbar zusammen mit dem, was in Afrika, in Asien, den amerikanischen Kontinenten entworfen wurde und im Entstehn begriffen war. Wir waren Vereinzelte und gleichzeitig von einer Totalität umfangen, unsre Aufgabe war es, uns so viel wie möglich bewußt zu machen von dem, was ringsum geschah (…).«
Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands1
Lange hatte ich keine Antwort auf die Frage, warum ich mich eigentlich seit meiner Jugend politisch engagiere. Es gehört für mich einfach zu meinem Leben, seit ich denken kann. Bis vor wenigen Jahren wäre ich aber nicht auf die Idee gekommen, mein Antrieb könnte etwas mit meiner Familiengeschichte zu tun haben.
Ich wuchs in den sechziger und siebziger Jahren in Jülich auf, einer Kleinstadt im Rheinland. In meiner Familie redete man wenig über die Vergangenheit. Meine Mutter wurde 1936 als Teil der deutschsprachigen Minderheit in Siebenbürgen geboren. Doch wenn die Eltern uns Kindern von früher erzählten, begannen sie mit Kinobesuchen im München der Nachkriegsjahre, wo sie sich im Krankenhaus in der Heßstraße begegnet waren – meine Mutter arbeitete dort als Köchin, mein Vater finanzierte als Nachtportier sein Physikstudium. Über das, was davor war, sprachen sie nicht. Bei Kriegsende befand sich mein Großvater mütterlicherseits in sowjetischer Gefangenschaft, wo genau, wusste meine Großmutter nicht. Sie bestach rumänische Beamte, um dem Rest der Familie die Ausreise zu ermöglichen. Mit der Eisenbahn flüchtete sie mit meiner Mutter und deren jüngeren Geschwistern 1950 über Budapest und Österreich nach Freilassing in Bayern. Dort trafen sie den Großvater, er war beinamputiert, doch die Russen hatten ihn gut behandelt.
Mein Großvater war auch der Einzige, der später über seine Herkunft redete. Daheim, das war für ihn Siebenbürgen, »meine Leut«. Seine Erzählungen waren nicht vom Revanchismus der Heimatvertriebenenverbände geprägt, dennoch ging er den anderen aus der Familie mit seinem Heimweh ziemlich auf die Nerven. »Du und deine Siebenbürger«, sagten sie dann.
Im Sommer 2008 besuchte ich meinen Onkel Fritz, den Bruder meiner Mutter. Er war als junger Mann Fabrikarbeiter, immer hatte er hart gearbeitet, mittlerweile besaß er mehrere Häuser in einem kleinbürgerlichen Stadtteil in München. Er kehrte gerade die Straße vor dem Block. Als wir das nahe gelegene Wirtshaus betraten, wurde er von einem ganzen Stammtisch begrüßt. Wir setzten uns an einen anderen Tisch, und als wir mit unserem ersten Hellen anstießen, sagte er: »Das sind meine Leut – von der Münchener Tafel.« Jeden Freitag teilten sie Essen an Obdachlose und andere Bedürftige aus, er war einer der Organisatoren. Ich hörte das erste Mal davon.
Fritz und ich kamen auf die Nachkriegszeit zu sprechen, als er mit meiner Mutter und den Geschwistern in Deutschland ankam. Bettelarm seien sie gewesen, beim Konsum-Laden mussten sie immer anschreiben lassen. Meine Mutter, obwohl sie die älteste der Geschwister war, habe nie eingekauft, weil sie sich geschämt habe. Ich erinnerte mich an meinen Großvater, der später in der Haushaltsgeräte-Fabrik von Weidenkaff in München-Milbertshofen als Arbeiter eine feste Anstellung bekam und deswegen stolz betonte: »Ich bin ein gemachter Mann.« Und der von seinem Arbeiterlohn spendete, wenn er vom Unglück anderer Menschen in der Zeitung las, einem Erdbeben in Peru, einer Überschwemmung in der Türkei. Auch die Familie meines Vaters wurde vom Krieg stark getroffen. Seine Mutter musste in den Wirren der letzten Kriegsmonate alleine mit ihm, seinem Bruder und seiner Schwester aus dem damaligen Königsberg und heutigen Kaliningrad vor der Roten Armee fliehen und geriet dabei immer zwischen die wechselnden Frontverläufe.
Während der Schulzeit saß ich oft mit meiner Mutter in der Küche, und als ich nach und nach meine politische Identität entwickelte, versuchte ich ihr klarzumachen, dass der Weg des Einfamilienhaus- und Autoeigentümers nicht der richtige für mich sei. Ich hielt ihr vor, mich unbedingt zum Kleinbürger erziehen zu wollen. Ihre entwaffnende Antwort: »Ich will, dass ihr normal seid und dass ihr nicht auffallt.« Schon damals hatte ich eine Ahnung, dass meine Eltern von ihren Migrationserfahrungen geprägt waren. Aber erst viel später begriff ich, dass es auch mein eigenes Werden beeinflusst hat, dass ich aus einer Familie komme, deren Geschichte wie die vieler Millionen Europäer von traumatischen Erlebnissen, von Flucht und von Armut handelt.
Ich bin meinen Eltern dankbar dafür, dass sie nie ein abstraktes Unglück für diese Erfahrung verantwortlich machten, sondern mir immer vermittelten, dass die Deutschen den Krieg verursacht und einen großen Teil der europäischen Juden ermordet hatten. Schon als Kind wusste ich, dass alle männlichen Verwandten, die alt genug dafür waren, die Uniform der Wehrmacht getragen hatten, und dass einer meiner Großonkel ein derart schlimmer Nazi gewesen war, dass die Familie deswegen mit ihm gebrochen hatte. Meine Mutter engagierte sich in der evangelischen Kirche und bei Terre des Hommes, sie ist alte SPD-Wählerin. Mein Vater klebte zwar noch Plakate für Willy Brandt, doch dann wurde ihm die SPD zu rechts und er ging zu den Grünen, bis er auch diese verließ, weil sie die Kriege in Afghanistan und Irak unterstützten. Beide haben mir Empathie und Solidarität für Ausgegrenzte vermittelt, und heute weiß ich, wie viel das mit dem zu tun hatte, was sie und ihre Familien erleben mussten.
2009 wurde ich zu einer Konferenz in Bukarest eingeladen, bei der es um die Verschleppung und Folter von Terrorverdächtigen durch die CIA und die Komplizenschaft der Europäer ging. Auch Rumänien stand im Verdacht, ein CIA-Geheimgefängnis unterhalten zu haben. Ich hatte selbst nie etwas unternommen, um in das Geburtsland meiner Mutter zu reisen. Doch jetzt war ich dort und nutzte die Einladung, um vor der Tagung nach Siebenbürgen zu fliegen. Ich schlenderte durch das historische Zentrum des mit europäischen Fördergeldern sanierten Sibiu/Hermannstadt. Dann fuhr ich nach Pretai, dem Herkunftsort meiner Mutter und Großeltern. Helena, eine rumänische Freundin unserer letzten Verwandten, die in den neunziger Jahren nach Deutschland kamen, empfing mich in ihrem Haus mit Süßspeisen, hausgemachtem Speck und selbstgebranntem Schnaps. Ich drehte eine Runde durch das Dorf. Auf den matschigen, ungepflasterten Straßen waren Hunde und Pferdefuhrwerke unterwegs, vor einigen Häusern standen Mittelklasseautos. Der ruhige Ort wirkte freundlich, fast alle Häuser waren bunt gestrichen. Auf dem Friedhof fand ich die Gräber meiner Urgroßeltern, und dann stand ich vor einem orangefarbenen Haus mit schiefergedecktem Holzdach – dem Gebäude, in dem meine Mutter geboren wurde. Die jetzigen Eigentümer, eine Roma-Familie, begrüßten mich. Die Frau wollte sich nur mit mir fotografieren lassen, wenn man auf dem Foto nicht sieht, dass sie zu der roten Jogginghose unterschiedliche Turnschuhe trug. Ich rief meine Mutter an, um ganz sicher zu sein. Doch als ich gerade ansetzen wollte, ihr das Haus zu beschreiben, fiel sie, die zuletzt vor über sechzig Jahren dort gewesen war, mir ins Wort und sagte mir, was ich sah: »Hinter dem Haus ist ein kleiner Hügel mit Obstbäumen. Da, wo du stehst, fließt ein Bach. Die Straße links hinunter siehst du die Schule und rechts die Kirche.«
Kurz nach der Rückkehr von meiner Rumänienreise traf ich meinen Freund Nino Pusija auf einer Ausstellungseröffnung in Kreuzberg. Nino stammt aus Sarajewo und ist Fotograf. Als er hörte, von welcher Reise ich gerade zurückgekehrt war, umarmte er mich, dann rief er nach Schnaps und stieß mit mir an: »Wir Bosnier sagen, erst wenn du das Geburtshaus deiner Mutter gesehen hast, bist du ein vollständiger Mensch.«
Wie so viele spätere Berliner wuchs ich also in der Provinz auf. Jülich liegt im flachen Land nahe der niederländischen Grenze, der größte Arbeitgeber der Stadt war eine Kernforschungsanlage. Beides, das Forschungszentrum und die Grenznähe, strahlte zwar eine gewisse Internationalität aus, dennoch wurde es einem als junger Mensch schnell zu eng dort. Die Hauptattraktion für uns Schüler waren nicht von ungefähr die leicht zu erreichenden holländischen und belgischen Diskotheken, die Kneipen Aachens und der Ratinger Hof in Düsseldorf. Ich war froh, Jülich nach dem Abitur verlassen zu können.
Die können mir gar nichts!