Über Asta Scheib

Foto: Catharina Hess

Asta Scheib schrieb in den siebziger Jahren die Vorlage für Rainer Werner Fassbinders Film Angst vor der Angst. Sie arbeitete als Redakteurin bei verschiedenen Zeitschriften, bevor sie in den achtziger Jahren ihren ersten Roman veröffentlichte, dem zahlreiche folgten. Heute gehört sie zu den bekanntesten deutschen Schriftstellerinnen. Ihr Roman Eine Zierde in ihrem Hause. Die Geschichte der Ottilie von Faber-Castell wurde zum gefeierten Bestseller. Seit 2002 erscheinen ihre Werke bei Hoffmann und Campe, darunter: In den Gärten des Herzens. Die Leidenschaft der Lena Christ, Sonntag in meinem Herzen. Das Leben des Malers Carl Spitzweg und ihr großer Erfolg Das Schönste, was ich sah, eine Romanbiographie über den Maler Giovanni Segantini. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in München.

I

1

Den Mann im Mond kannte Martin. Es war Gott, und er blickte auf ihn hinunter. Das hatte Martin allein herausgefunden. In vielen schweren Gedanken. Er würde noch in diesem Jahr vier Jahre alt werden. Bald sei es Zeit für ihn, die Schule zu besuchen, sagte der Vater. Martin hoffte inständig, Jesus Christus oder die Heilige Mutter Gottes würden sich dann um ihn kümmern. Gottvater kam immer erst, wenn es Zeit war, schlafen zu gehen. Er brachte Licht mit, das dann golden über den Häusern hing, über den Speichern und Scheunen. Es roch nach Heu und Pferden, und der Nachtwächter rief die Stunde aus.

Martin sollte lieber sofort ins Haus gehen. Berblin hatte ihm zwar erlaubt, noch für eine Weile in dem Abendgold stehen zu bleiben und zum Himmel zu schauen, zum Mond, der schon stark leuchtete. Noch war die Mutter am Herd beschäftigt, aber sehr bald würde sie ihn am Ohr ins Haus ziehen. Oh Mutter. Besser, er folgte einfach.

Im Haus hörte er die Stimme des Vaters aus der Stube. Und die Stimmen anderer Männer, die vorhin ins Haus gekommen waren. Einer von denen schrie etwas von Mergelschächten in Mansfeld, von Schmelzhütten, von Kupfer und Silber, vom Schürfen. Vom Lohn. Und davon, dass er ständig auf der Seite liegend arbeiten müsse. Auf dem nassen Boden. Er habe schon längst einen Schiefhals und die größten Kopfschmerzen. Martin verstand nicht, warum der Mann sich beklagte, doch das Geschrei machte ihm Angst, und er schlüpfte leise unter den großen Tisch, an dem die Männer saßen.

Plötzlich erhob sich der laute Mann von der Sitzbank und schrie den Vater an, dass der zwar ein Vierherr sei, ein Bürgerschaftsvertreter, dass er in Mansfeld viel zu sagen habe, aber nichts für die Bergarbeiter tue! Da sprang der Vater seinerseits auf, bückte sich, raffte den Kittel über seiner nackten Kehrseite zusammen und schrie, dass der Mann ihn im Arsche lecken könne. Martin, solidarisch, kam rasch unter dem Tisch hervor, stellte sich neben seinen Vater, bückte sich, zog den Kittel weg von seinem nackten Hintern und rief: »im Arsche lecken«. Mehr Worte hatte er sich nicht merken können.

Die Männer am Tisch verstummten kurz, dann brachen sie in Gelächter aus, sogar der wütende Vater musste lächeln über seinen unerwarteten Verbündeten. Zwar war sofort die Mutter zur Stelle, um Martin am Ohr zu packen und aus der Stube zu seiner Schlafstatt zu befördern, doch Martin war beseelt von seinem Erfolg, der das Ungemach bei Weitem überwog.

Er würde das Präsentieren seiner nackten Kehrseite im späteren Leben noch öfter anwenden. Mitsamt der dazugehörigen Aufforderung. Dieses drastische Abwehrmittel, das bekanntlich auch gegen Teufel und böse Geister half, machte jedem Ärger Luft. Und es verschaffte Respekt.

Martin war am Einschlafen, als die Türe knarzte und Berblin leise eintrat. Sie trug seinen kleinen Bruder Jakob auf dem Arm und setzte sich mit ihm an Martins Bett. »Wir haben noch nicht gebetet«, sagte sie leise. »Wir wollen Gott dafür um Entschuldigung bitten, dass du geflucht hast. Er wird dir gern vergeben, weil du deinem Vater helfen wolltest. Ich will für dich sprechen, deshalb hör mir gut zu:

Das helfe Gott uns allen gleich,

dass wir von Sünden lassen,

und führe uns zu seinem Reich,

dass wir das Unrecht hassen.

Herr Jesu Christe, hilf uns nu

Und gibt uns Deinen Geist dazu,

dass wir Dein Warnung fassen.«

Berblin strich Martin liebevoll über die Wange, nahm die brennende Kerze und ging mit Jakob aus dem Zimmer. Unbemerkt von ihr lehnte Hans Luther im Türrahmen. Er trat auf sie zu und nahm ihr seinen kleinen Sohn ab. Jakob war eingeschlafen.

»Berblin, es ist gut, dass du mit den Kindern betest. Und ihnen beistehst.«

2

Es gab gute Kinder. Es gab böse Kinder. Zu Letzteren gehörte Martin. Das wusste er von seiner Mutter, die es ihm oft genug vorhielt. Ihm selbst war eigentlich nicht klar, was das bedeutete, gut und böse. Es schien ein Geheimnis zu sein. Auf jeden Fall holte der Teufel die Bösen. Das sagten alle. Der Pfarrer, die Lehrer, die Mutter, der Vater. Und jeder von denen hatte eine Rute.

Wenn Martin in der Schule einschlief, wenn ihm das Essen auf dem Tisch nicht schmeckte, wenn er Hunger hatte und in der Speisekammer Trockenobst und Nüsse stahl, hallte es in seinen Ohren: »Der Teufel soll dich holen«. Meist wurde er dann mit der Rute gestrichen. Martin sah in seinen Vergehen nie ein Unrecht, die Alten aber wohl. Und die hatten immer recht.

»Der Teufel soll dich holen!« Immer wieder wurde ihm damit gedroht. In der Kirche hatte er gelernt, dass Satan und die Teufel ursprünglich Engel gewesen waren. Sie hatten sich gegen Gott aufgelehnt und wurden in einer großen Schlacht im Himmel besiegt und in die Hölle geworfen. Sie dienten von nun an als Gottes Handlanger, die die Gottlosen und Bösen bestraften.

Der Pfarrer hatte Martin und den anderen ein Bild gezeigt, auf dem Gott mit einem riesigen Speer dem Satan in den Rachen stach. Der Satan selbst hatte Hörner, glimmende Kohlenaugen und eine furchtbare Gaumenspalte. Der könne schreien wie ein Stier, hieß es. Und erst das Jüngste Gericht! Da zermalmen die Teufel alle Gottlosen in ihren Händen und werfen sie ins Feuer.

Tagsüber, wenn es überall hell war und die Sonne schien, kamen die Teufel Martin nicht so nahe. Bei einem Gewitter jedoch, oder bei Nacht, wenn er den Teufel, Satan und sonstige Geister im Traum gesehen hatte, dann fürchtete er sich so sehr, dass er am ganzen Körper schwitzte.

Allein wenn er sich vorstellte, dass der Satan ihn auf dem Monster Behemoth verfolgte – er wollte in seinem ganzen Leben nie mehr heimlich in die Vorratskammer gehen.

An diesem Tag hatte er Schläge bekommen, weil die Mutter ihn verdächtigte, ihr einen Kreuzer gestohlen zu haben.

Martin hatte noch nie Geld gestohlen. Trotzdem kniete er jetzt in der Stube und hatte einen riesigen Holzbottich mit getrockneten Erbsen vor sich. Zur Strafe musste er bis zum Abend die schlechten aussortieren.

Nicht einmal hinsetzen konnte er sich, so weh tat ihm der Hintern. Und überhaupt war es nicht zu schaffen, so viele Erbsen bis zum Abend zu sortieren. Wenn wenigstens Berblin da wäre. Sie würde ihm beim Sortieren helfen und nichts verraten.

So aber konnte er sich schon auf die nächste Tracht Prügel gefasst machen. Deshalb wollte er weglaufen. Er würde in den Wald gehen und nicht mehr zurückkehren. Martin war schon oft im Wald gewesen. Dort konnte man Holz finden für ein Feuer oder zum Bauen einer Hütte. Ernähren würde er sich von der Natur. Schließlich hatte er schon oft Früchte und Pilze gesammelt und am Waldrand kleine Vögel gefangen.

Von der Straße riss ihn ein lautes Wiehern aus seinen Gedanken. Er stieg aufs Fensterbrett und schaute hinaus. Der Nachbar, Wirt vom Goldenen Ring, spannte gerade fluchend und umständlich sein Pferd ins Geschirr. Das Pferd fluchte auch, so schien es Martin zumindest.

Er hatte auch ein Pferd! Es stand bei ihnen im Stall und gehörte eigentlich dem Vater. Aber Martin hatte es schon oft aus dem Stall geführt, wenn der Vater anspannen wollte. Frieder war ihm gegenüber immer sanft gewesen, und er hatte ihn gern gestreichelt und mit ihm geredet. Doch als Reitpferd war Frieder ein hoher Bock.

Martin überlegte, ob er sein Pferd vor dem Fenster postieren, dann ins Haus laufen und aus dem Fenster heraus aufsteigen konnte. Tatsächlich. Es ging ganz leicht. Gnade und Friede in Christo!

O je – was würde Jesus Christus zu Martins Pferdediebstahl sagen? Das musste er sich später überlegen. Jetzt war keine Zeit. Jesus Christus musste ja gesehen haben, wie oft seine Mutter ihn ungerecht bestraft hatte.

Als er seine Fersen sanft gegen den Bauch des Pferdes drückte, ging Frieder los. Martin griff in seine wollige Mähne, er wollte ihn zum Umdrehen bewegen und die Straße hochreiten, an der Kirche vorbei. Ins offene Land. Frieder gehorchte bereitwillig. Schade, dass niemand sah, wie gut er mit seinem Pferd umgehen konnte! Er hatte die hohe Kunst des Reitens noch nicht richtig gelernt. Doch wenn er die Mansfelder Grafen auf ihren Pferden gesehen hatte, war stets der Wunsch in ihm aufgestiegen, ebenso hoheitsvoll zu reiten.

Innerlich jubelte er, doch er tat so, als wäre es für ihn das Selbstverständlichste der Welt, auszureiten. Und tatsächlich gelang es ihm, die Stadt ohne Aufsehen am hellichten Tag zu verlassen. Nur einmal, als er am Haus des Barbiers vorbeikam, schüttete der gerade Seifenwasser aus und rief:

»He Martin! Wohin, wo aus?«

Martin hob die Hand zum Gruß: »Feuerholz holen für die Mutter!«

Der Barbier war es zufrieden.

Als Martin die Stadt hinter sich gelassen hatte, verlor sich sein Hochgefühl rasch. Es peinigte ihn, dass er niemanden um Erlaubnis gebeten hatte. Das war böse gewesen, und dafür würden die Eltern ihn bestrafen. Schwer bestrafen. Aber er würde ja ohnehin nicht zurückkommen. Nie mehr.

 

»He, Frieder!« Martin musste sich festhalten. Dem Pferd, das sonst auf dem Feld arbeitete und hochbeladene Wagen zog, schien es zu gefallen, mit Martin auszureiten. Es begann zu traben, und Martin hatte gehörig Mühe, sich auf dem breiten Rücken des Gauls zu halten. Schließlich beugte er sich vor und schlang seine Arme um Frieders Hals. Er hatte das Gefühl, zu fliegen. Wenn doch Berblin ihn sehen könnte! Sie würde sein Glück mit ihm teilen. Und nur ihretwegen tat es Martin weh, dass er nicht mehr heimkehren würde.

Gnade und Friede in Christo! Am Waldrand blieb Frieder endlich stehen. Martin, verstrickt in Frieders Mähne, mühte sich, seine Finger freizubekommen. Sie schienen ihm hart wie Eisen und auch so gefühllos. Endlich konnte er sich vom Rücken des Gauls hinuntergleiten lassen. Sein Hintern schmerzte wie nie.

Er suchte eine Stellung, in der er verschnaufen konnte, ohne sich auf den Hintern zu setzen. Also legte er sich auf den Bauch ins Gras. Frieder begann, um ihn herum zu weiden. Er schnaubte und rupfte genussvoll. Martin beneidete ihn. Sein Pferd hatte keine Sorgen, keine Schmerzen und genug zu essen.

»Frieder, komm, wir müssen noch ein Stück tiefer in den Wald.« Frieder schnaubte freundlich, fraß aber ungerührt weiter. »Komm, Frieder, wir müssen uns verstecken. Sie dürfen uns nicht finden. Los jetzt!«

Das Pferd schien sich nur ungern vom Grasen zu verabschieden. Martin tätschelte sanft seinen Kopf, und plötzlich sprang es weg und lief los. Martin rannte hinterher und fand es schließlich auf einer schönen, besonnten Lichtung, wo es seinen Kopf wieder ins Gras steckte. Es hatte wahrscheinlich noch nie so zartes Gras gefressen, wie es auf den Lichtungen hochschießt, und jetzt konnte es nicht genug davon kriegen.

Martin betrachtete das schwarze kräftige Wurzelwerk in der Erde, das bestimmt alles Wasser aus dem Boden saugte, damit der Baum, an den er sich lehnte, wachsen und stark werden konnte. Er sah an dem mächtigen Stamm hoch, bewunderte die Äste mit den dichten sattgrünen Blättern. Der Stamm, die Äste und die Blätter schienen alle nach oben zu schauen. In den Himmel. Das konnte Martin verstehen. Auch er liebte es, in den Himmel zu schauen, besonders wenn dieser so strahlend blau war, dass die Blätter der Bäume zu glühen begannen.

Auf die Schönheit der Natur hatte ihn Berblin aufmerksam gemacht. Liebe Berblin. Du findest mich bestimmt.

Martin betrachtete den Baum so lange, bis er völlig neue Gedanken im Kopf hatte. Wenn sie in den Himmel schauten, die Äste und Blätter, dann wussten sie vielleicht, ob dort oben Gott wohnte. Ganz sicher wusste der Baum das. Vielleicht würde er Gott das Vogelnest schenken, das Martin schon erspäht hatte.

Frieder zupfte nur noch hier und da einen Grashalm. Er war satt. Martin war hungrig. Und wie. Müde war er auch. Er setzte sich zwischen zwei kräftige Wurzeln, lehnte sich an den Baum und überlegte, was er und Frieder tun sollten. Darüber schlief er ein. Erst das laute Wiehern seines Pferdes weckte ihn wieder auf.

Es war dunkel. Durch die Bäume leuchtete das Licht von Kienspänen. Martin hörte Stimmen. Der Vater, die Mutter, Berblin und der Knecht Jockel riefen nach ihm. Auch die Reinickes hörte er und die Oemlers. Die Stimme des Barbiers lag schrill über dem Rufen der anderen.

Frieder nahm dies zum Anlass, nochmals kräftig zu wiehern. Aus Richtung der Fackeln kam sofort Antwort.

»Martin! Martin!« Die Stimme seiner Mutter klang anders als gewohnt. Hoch und verzweifelt rief sie nach ihrem Sohn. »Wo bist du, Martin?«

Es war ihm, als erwachte er aus einem Traum. Die Stimme der Mutter berührte ihn tief. Martin musste schlucken, sonst hätte er geweint. Ihr Ton machte, dass er die Härte und Strenge und vor allem die Schläge vergessen wollte. Auch, dass er sich oftmals sinnlos herumgezerrt und ausgeschimpft fühlte. Etwas in Martin sagte ihm, dass die Mutter auch anders sein konnte als streng und böse. Dieser anderen Mutter wollte er glauben. Plötzlich hatte er keine Angst mehr. Er wollte auch nicht mehr weglaufen.

Martin nahm Frieder an der Leine und ging mit ihm auf die Fackeln zu. Er meinte in den Wurzelverschlingungen und Astgebilden die Gesichter der Eltern zu sehen, aber ihre Züge wirkten nicht unheimlich und anklagend. Er dachte an die Bäume um ihn herum, vor allem an den unvergleichlich schönen, in dessen Wurzeln er sich geborgen gefühlt hatte.

Alle diese Bäume führten ihren stillen Kampf gegen Wind, Wetter und Gestein. Wie die Menschen auch. Er, Martin, wollte einer von ihnen werden.

3

Martin war als Erster am Teich, legte sich in die Sonne und betrachtete das Wasser. Ein Fisch sprang hoch und hinterließ Kreise, die sich langsam verloren. Er war ziemlich groß gewesen. Vielleicht gar ein Hecht? Sofort fuhr Martin mit der Hand ins Wasser, tastete den Boden an der Stelle ab, wo der Fisch eingetaucht war. Nichts. Nur aufgewühlter Lehm, trübes Wasser. Martin fragte sich, ob der Hecht es gut hatte in dem Teich. Einsam und allein war er schon mal nicht. Teichrosen blühten, Büschel von Binsen und Sumpfdotterblumen, Rohrkolben, Schwertlilien.

Das alles hatte Gott gemacht. Da konnte der blutfinstere Teufel in seinem Drachengespann noch so durch die Nächte jagen – den Tag, die Sonne und alles Schöne in der Welt hatte Gott erschaffen. Gott allein hatte aus finsteren Gebirgen die Welt ins Helle geholt. Und Martin wohnte mittendrin.

Als er sich kniend näher über das Wasser beugte, sah er Stichlinge, kleine Frösche und Molche. Eine Ringelnatter wand sich zwischen den Steinen, weiter hinten, in den Rohrkolben, sah er eine Stockente. Ein Schmetterling, richtig gelb, taumelte zwischen den Pflanzen.

Die Vögel. Hier draußen hörten sie sich anders an als bei ihm zu Hause. Viel lustiger. Die Krähen, die Spatzen, die kleinen Amseln und die Buchfinken, jeder von ihnen sprach eine andere Sprache. Die Singdrosseln und die Rotkehlchen machten plötzlich Lärm oder flöteten lieblich. Manchmal versuchte Martin, eine Krähe oder eine Drossel nachzumachen – doch er gab es jedes Mal schnell wieder auf, weil er sich blöd vorkam.

Keine Frage, die Vögel waren bessere Sänger als er und seine Mitstreiter beim Kurrende-Singen. Viel bessere.

Martin versuchte, auf einem gespaltenen Grashalm wenigstens ein bisschen zu flöten. Es klang quäkend, und er ließ es bald bleiben, sank wieder träge ins Gras. Er genoss seine Freiheit. Das Glück, einmal nicht unter der strengen Fuchtel der Eltern zu stehen. Gemeinsam mit seinen Schulfreunden hatte er sich eine eigene Welt geschaffen.

Als er noch klein gewesen war, vier oder fünf, da hatte er jedes Mal in panischem Entsetzen versucht, auszureißen, wenn Vater oder Mutter die Rute vom Schrank geholt hatten. Es war ihm selten gelungen, und wenn doch, war die aufgeschobene Strafe umso härter ausgefallen.

Mit unbewegtem Gesicht schwang die Mutter dann die Rute. Vielleicht wusste sie sich nicht anders zu helfen. Ihr verkniffenes, schroffes Gesicht blieb für ihn verschlossen. Gut, dass er nun schon zwölf war und sich nicht mehr ganz so fürchtete wie früher.

Was hatte er einst für Nöte ausgestanden. Als man ihn eingeschult hatte, war er viereinhalb Jahre alt gewesen. An diese Zeit – acht Jahre waren das her – musste er jetzt wieder denken. Berblin hatte ihn damals jeden Tag in die Schule gebracht, weil sie besorgt war, dem kleinen Jungen könne auf dem Weg etwas Schlimmes passieren. Der Weg zur Schule war zwar nicht sonderlich weit – das Schulgebäude mit dem spitzen Giebel lag direkt hinter der Kirche –, aber die Straße vom Elternhaus bis zur Kirche stieg doch recht steil an. Jedenfalls für ein kleines Kind. Und überall wurde gebaut, es lagen Bretter herum oder Eimer standen im Weg. Und Menschen tummelten sich vor allem rund um die Kirche, wo Markt abgehalten wurde. Da konnte einem kleinen Jungen schon viel passieren. Was, wenn ein Pferd nach ihm schlagen würde? Gleich in den ersten Schultagen war einem Bauern sein Ochse entwischt. Und er hatte seine Freiheit weidlich genutzt, war durch die Gassen gestürmt, hatte Stände der Händler umgeworfen, und neben einem Hund und mehreren Hühnern auch eine Marktfrau verletzt, die ihre Eier, Butter und Milch vor ihm retten wollte.

Als das Berblin zu Ohren gekommen war, wurde ihre Sorge um Martin noch größer. Ständig erwähnte sie die Geschichte mit dem Ochsen. Martin dürfe keineswegs allein in die Schule gehen. Er müsse auch abgeholt werden. Da hatten die Eltern gebrummt, Martin solle kein Hätschelhans sein.

Doch Berblin hatte sich nicht darum geschert, was die Eltern Luther einwandten. Einer müsse Martin beschützen, hatte sie bestimmt gesagt, außerdem – er sei überhaupt noch viel zu jung für die Schule.

Und damit hatte sie recht gehabt. In der Schule hatte es ihm keinen Tag gefallen. Er heulte und wollte sich ständig drücken, indem er sich schier die Seele aus dem Leib kotzte, doch die Eltern blieben hart. Für Martin hatte eine weitere Prügelzeit begonnen.

 

Martin schreckte auf aus seinen Gedanken. Ein Insekt hatte sich auf seinem Gesicht niedergelassen. Das kitzelte genau über dem Auge, und Martin hatte Sorge, dass es eine Wespe sein könnte. Einen Wespenstich direkt über dem Auge wollte er nicht riskieren. Er blinzelte vorsichtig, half mit der Hand ein wenig nach und hatte Glück, die Wespe, es war tatsächlich eine gewesen, flog davon.

Er streckte sich wieder behaglich im warmen Gras aus. Es war so gut, nicht zu Hause zu sein. Dort erinnerte man ihn ständig daran, dass er mitzuhelfen habe im Haus, im Stall beim Pferd und bei den Ziegen und Schafen. Ständig hieß es, er müsse lernen, dass aus ihm etwas Rechtes werde. Das Leben sei nicht dazu da, müßigzugehen, jedermann müsse bitter arbeiten. Gut, dass die Eltern heute in Eisleben Geschäfte hatten. Sie würden erst am Abend zurückkommen, frühestens. Liebe Berblin, dank dir, dass du mir erlaubt hast, meine Freunde Nicolaus und Hans zu treffen. Sie werden beide daheim nicht so hart gehalten. Ich dagegen – wenn ich dich nicht hätte …

Martin begann unter diesen Gedanken zu schwitzen, und er steckte seinen Kopf in das kühle Wasser des Teichs. Er bekam Lust, ganz hineinzusteigen, doch dazu müsste er seine Kleider ausziehen, und er traute Hans Reinicke nicht. Er und Nicolaus Oemler mussten jeden Moment hier sein. Hans brächte es fertig, mit Martins Kleidern abzuhauen oder ihn auf andere Weise in Verlegenheit zu bringen.

Aber nein, Nicolaus würde Hans niemals erlauben, Martin zu schaden, und sei es nur aus Spaß. Nicolaus Oemler war Martins bester Freund. Punktum. Er war bereits ein Jahr in der Schule gewesen, als Martin eingeschult worden war. Nicolaus war viel größer und dazu kräftiger als die anderen Schüler in seinem Alter. Martin, Nicolaus und Hans kannten sich gut. Ihre Väter waren Bergvögte und Vierherren, die gemeinsam mit dem Rat die Stadt verwalteten. Später würden sie zu Ratsherren ernannt werden. Sie hatten Kontakte zum nahe gelegenen Hof und zur Landesregierung.

Die Amtspflichten des Vierherrn Hans Luther erstreckten sich auch auf kirchliche Angelegenheiten. Vor allem an der Stadtpfarrkirche St. Georg, die nah am Lutherschen Anwesen lag.

Der oftmals anmaßende Hans war der Sohn des vornehmen Hüttenmeisters und Bergvogts Peter Reinicke aus Thal-Mansfeld. Die Schächte der Familie lagen bei Möllendorf, also in der Nachbarschaft der Schächte von Martins Vater. Nicolaus Oemlers Elternhaus war auch nur wenige Schritte vom Haus der Familie Luther entfernt.

Die Söhne der Familien hielten seit jeher unverbrüchlich zusammen. Zu Beginn seiner Schulzeit, als Martin eher schmächtig gewesen war, hatte ihn Nicolaus Oemler ganz selbstverständlich auf dem Rücken zur Schule getragen. Martin würde das niemals vergessen. Pünktlich, jeden Morgen, hatte er vor der Tür der Luthers gestanden, und dann war er mit Martin auf dem Rücken den Berg hinangestiegen. Er musste oftmals über Bauzäune und Balken klettern. Bauern und ihren Fuhrwerken ausweichen. War Markt, schimpften die Bäuerinnen, wenn Nicolaus ihren Eiern und Hühnern zu nahe kam.

Am Anfang hatte sich Martin geniert. Obwohl er heilfroh war, dass der kräftige Nicolaus ihn beschützte und den Berg hinaufschleppte. Berblin legte ihm einen Fußverband an, den sie immer mal wieder erneuerte. So vermutete jeder, dass Martin verletzt und nicht in der Lage war, sich allein in die Schule zu mühen.

Über diesen Gedanken schlief Martin schließlich am Rand des Teiches ein und verfiel in einen wüsten Traum. Er sah einen Wagen, ein Fuhrwerk, wie sein Vater es benutzte. Von Frieder, ihrem Pferd, gezogen, doch alles stand in gelbroten Flammen. Martin war allein auf dem Wagen, er wollte nur weg, doch die Flammen schlugen höher, und als er endlich entschlossen war zu springen, erwachte er von einem Wasserguss.

Er rappelte sich auf, wischte sich das Wasser aus dem Haar und aus den Augen. Obwohl er um sich herum noch nichts sehen konnte, war ihm klar, dass Hans und Nicolaus eingetroffen waren. Hans brachte sich jetzt rasch hinter einem Baum in Sicherheit, doch Martin hatte keine Lust auf Verfolgungsjagden. Hans war sein Freund, auch wenn er manchmal heimtückisch war, ein Mistvieh, unberechenbar. Martin verdankte ihm eine Narbe am Kopf, weil er einen Stein nach ihm geworfen hatte.

Dennoch – Hans, der gutmütige Nicolaus Oemler und er waren unzertrennlich, drei Schelme sondergleichen. Das sagte jedenfalls die Mutter von Hans Reinicke.

»Verdammter Hund«, fluchte er jetzt also lediglich, und dann überlegten die drei friedlich, was sie als Nächstes machen wollten.

Der Becher, eher ein kleiner Eimer, den Hans dabeihatte, erinnerte sie daran, dass sie sich sputen mussten, ihn mit wilden Erdbeeren zu füllen. Das hatte die Mutter von Hans Reinicke jedenfalls verlangt. Reinickes hatten zwar ihre eigenen Erdbeeren im Garten, aber die waren schon abgeleert, bevor sie richtig reif waren, und Mutter Reinicke kannte die Diebe: Hans und seine Schwester Barbara.

Schon wegen Barbara wollte Martin den Hans als Freund behalten. Sie hatte ihn einmal auf die Wange geküsst. Vielleicht war es auch kein Kuss gewesen. Oder kein richtiger. Martin wusste es nicht. Nur, dass er selig gewesen war. Es fiel ihm kein anderer Ausdruck ein.

»He«, rief Nicolaus, »schlaf nicht wieder ein! Wir wollen doch noch in meine Höhle!«

»Erst müssen wir Erdbeeren suchen, ihr kennt ja meine Mutter«, sagte Hans.

Allerdings. Ihre robusten Erziehungsmethoden dehnte Frau Reinicke gewissenhaft auch auf die Freunde ihres Sohnes aus. Eine Kopfnuss war da für jeden drin. Es hieß also, Erdbeeren zu finden. Vom Vorjahr kannten sie ein paar Stellen, wo es wilde Erdbeeren gab. Martin beobachtete, wie Hans erst einmal eine Handvoll Blätter auf dem Boden des Eimers verteilte. Nie würde er selbst sich das trauen. Das würde für Hans schlecht ausgehen. Aber ihm sollte es recht sein. Er gönnte dem Freund jederzeit einen Nasenstüber.

Sie fanden tatsächlich reichlich Früchte, und Martin musste sich zusammennehmen, um nicht jede Beere, die in sattem Rot durch die Blättchen schimmerte, gleich aufzuessen. Allein der Duft! Hatten Erdbeeren schon immer so gut gerochen?

»Nur pflücken! Nicht essen!«, mahnte Hans. Doch Nicolaus erwischte ihn dabei, wie er sich selbst eine Handvoll Beeren in den Mund warf.

»Du bist so verfressen wie der Papst«, schimpfte Nicolaus. »Sieh doch zu, wie du deinen Topf voll kriegst.«

Die Sonne war schon im Sinken, als sie schließlich matt und mit leidlich gefülltem Topf vor dem Eingang der Höhle saßen.

Martin dachte, dass er jetzt lieber mit Barbara hier säße, und er wettete, dass Nicolaus dasselbe dachte. Auch er suchte ständig die Nähe Barbaras, die zart und hübsch war, im Gegensatz zu ihrer bäuerlich deftigen Mutter, deren Vornamen sie trug. Nicolaus war für Martin kein Konkurrent, denn schließlich hatte er den Kuss bekommen und nicht sein Freund.

So wie Barbara musste seine Berblin als Mädchen ausgesehen haben. Barbara hatte ein feines Gesicht, dünne, fast weißblonde Haare, die in Zöpfen um ihren Kopf befestigt waren. Und immer lösten sich feine Strähnen heraus, wie bei Berblin.

»He, was ist los, schlaft ihr schon wieder? Kommt endlich mit in die Höhle.« Nicolaus war bereits ein Stück hineingegangen, aber man sah nichts mehr von ihm, so duster war es.

Martin schaute in den Eingang der Höhle, der sehr eng und niedrig war. Er konnte sich nur zu gut vorstellen, dass, wenn man nur weit genug hineinging, die Hölle dort tobte. Da lebten bestimmt Geister mit Pferdefuß und buschigen Schwänzen, vielleicht sogar der Teufel selbst.

In diesem Moment kam Nicolaus aus der Höhle herausgeschossen: »Da drinnen liegt einer«, rief er. »Heilige Anna, hilf, da drinnen liegt einer.«

»Was? Ein Mensch oder ein Tier?«, fragte Martin hastig. Er wollte dringend weg von hier. Ihm war es bei Strafe verboten, in alte Stollen hineinzugehen. Und er war sich sicher, dass es sich bei der Höhle, die Nicolaus entdeckt hatte, um einen alten Bergwerksstollen handelte. Auch Hans war es nicht wohl, sein Vater hatte ihn ebenfalls gewarnt, dass die alten Stollen jederzeit einbrechen könnten. Und dass er da drinnen nichts verloren habe.

»Lasst uns abhauen!«, rief er, und die drei rannten davon, minutenlang, bis sie zu einem Bach kamen, der kühl und schimmernd über flachen Steinen dahinfloss. Nicolaus zog seine Schuhe und Strümpfe aus und platschte durch das klare Nass, als müsse er sich abkühlen. Sein Gesicht war bleich, und Martin hatte noch nie gesehen, dass Nicolaus eine derart spitze Nase hatte.

»Da lag einer. Ich glaube, der war tot. Vielleicht aber auch nicht. Fast wäre ich über den gefallen. Ich sag euch, das war grausig!«

»Hör zu – wir waren nie bei der Höhle, niemals, uns geht das nichts an, am besten, du vergisst das«, sagte Hans im Befehlston. Dann suchte er sich flache Steine und begann, diese möglichst flach über das Wasser zu werfen. Jedesmal, wenn der Stein mehrmals über das Wasser hüpfte, schnalzte er mit der Zunge.

»Hans hat recht«, sagte Martin zu Nicolaus. »Wir kriegen nur Ärger, wenn wir das irgendwo erzählen.« Bei dem Gedanken an den Mann in der Höhle schnürte die Angst ihm schier die Luft ab. Immer wieder stellte Martin sich vor, dass er es war, der tot in der Höhle lag. Er musste sich ablenken. Deshalb versuchte er das Kunststück mit den Steinen ebenfalls, aber seine Steine waren offenbar nicht glatt genug oder er stellte sich zu blöd an, sie zum Hüpfen zu bringen, und so ließ er es wieder. Er wollte jetzt nur noch nach Hause. Ehe die Sonne unterging und die Eltern heimkamen, sollten wenigstens die Tiere gefüttert sein. Sonst gab es wieder Ärger.

»Beim nächsten Mal bauen wir uns hier ein Baumhaus«, schlug Hans vor. »Ich weiß genau, wie man das macht. Wir brauchen nur gute Messer. Und dünne Bänder aus Leder.«

Martin und Hans nahmen Nicolaus zwischen sich, der immer wieder von dem Toten oder Kranken in der Höhle anfing. Sie gingen nicht darauf ein, wollten nicht mehr daran denken, und bald verstummte auch Nicolaus. Schweigend liefen sie den Rest des Weges nach Hause.

4

»Und du, was hast du heute gemacht?«, wollte der Vater von Martin wissen. Sie saßen am Tisch, löffelten die Abendsuppe, für die Berblin ein Rippenstück vom Schwein, Möhren und Linsen gekocht hatte. Für die Eltern und Berblin gab es Most zu trinken. Die Kinder bekamen zum Nachtisch Birnen und Nüsse.

Martin wusste, dass der Vater davon ausging, dass er nichts gemacht hatte. Wenigstens nichts Nützliches. Und weil er sofort an den Stollen mit dem Toten denken musste, trank Martin zu hastig, verschluckte sich und verließ rasch den Tisch.

Er hörte noch, wie Berblin dem Vater antwortete. Die Gute. Gnade und Friede in Christo.

»Martin hat der Ziege geholfen, ein Junges auf die Welt zu bringen«, log sie ungerührt. Die Wahrheit war, dass sie selbst der Ziege, die noch ein junges Tier war, beigestanden hatte. Der Kopf des jungen Zickleins war zwar schon zu sehen gewesen, aber dann hatte sich die Ziege erschöpft ins Heu fallen lassen, und sie hatte das Jungtier mühsam herausziehen müssen. Immerhin hatte Martin das Kleine noch mit Heu abgerieben, als er schließlich zu Hause eingetroffen war. Zusammen hatten sie das Zicklein zum Trinken ermuntert. Martin hatte die Ziege festgehalten, und Berblin hatte das Junge immer wieder mit der Schnauze zu den Zitzen seiner Mutter geschoben.

Insofern hatte Martin auch einen kleinen Anteil an der Geburt.

Mehr aber auch nicht. Danke, Berblin.

»Redet mir nicht über Ziegenmilch«, brachte seine Mutter gerade noch heraus, dann rannte sie aus der Stube und alle wussten, dass sie wieder erbrach wegen des Kindes, das sie erwartete.

»Kriegen wir eine Schwester?«, fragte Jakob. Er richtete die Frage an Martin, der ihm neben Berblin der liebste Mensch in der Familie war.

»Es kann auch ein Bruder werden, dass weiß man vorher nicht«, belehrte ihn Martin freundlich, und Jakob war es zufrieden. Er hätte zwar lieber einen kleinen Hund gehabt, einen für sich allein. In jedem Haus, das Jakob von innen kannte, gab es Hunde. Große und kleine. Sie bewachten das Haus und hielten auch die Ratten in Schach. Vor großen Hunden hatte Jakob Respekt, auch vor dem riesigen David, der das Luthersche Haus bewachte. Dieses Vieh schnappte nach Jakob, wenn es schlechte Laune hatte. Und es hatte dauernd schlechte Laune.

Martin ließ es nicht durchgehen, wenn der Hofhund nach Jakob schnappte. Einmal schlug er ihm sogar mit der Faust aufs Maul. Das half. Aber niemand konnte wissen, wie lange.

Das mit dem kleinen Hund hatte Jakob noch niemandem gesagt. Er wollte mit Berblin darüber sprechen.

 

Später am Abend lag Martin in seinem Bett und lauschte. All die Geräusche im Haus. Irgendwo grollte oder knackte es immer. Aus den Ställen ihres Hofes hörte er die Stimmen der Tiere. Das war ihm lieber, als wenn alles still blieb. Ein Haus voll Stille, nein, da würde er sich fürchten. Er stellte sich die Gesichter vor, die er jeden Tag sah. Es waren viele. Die Eltern, Berblin, Jakob, der Knecht Jockel, die junge Magd Tine. Der Pferdeknecht. Jeder von ihnen hatte nicht nur ein Gesicht, sondern viele. Allein Jakob. Er sah aus wie ein Cherub, ein Engel, mit seinen langen Locken und dem weichen, lieblichen Mund. Doch wenn Jakob traurig war oder verzweifelt, verzog sich der schöne Mund, die schöne Stirn kräuselte sich über der Nase, es flossen Tränen und Rotz.

So ähnlich verhielt es sich mit der Mutter, die der Vater und Berblin Margarethe nannten. Sie war immer blass, und wenn sie sich nicht aufregte, hatte sie schöne graue Augen und einen weichen Mund wie Jakob. Aber oftmals, aus Gründen, die Martin meist nicht kannte, war sie gereizt, die Augen wurden klein und trüb, der Mund hart und bitter. Martin ging ihr dann lieber aus dem Weg.

Das Gesicht seines Vaters zeigte sich auch sehr wandelbar. War er in guter Stimmung, trank er mit Freunden, wirkte sein Gesicht glatt und jung. Die dunklen Augen konnten dann fröhlich leuchten. Doch wenn er sich ärgerte, wurden die Falten an Nase und Mund schartig, die Lippen schmal, das Gesicht abweisend und fremd. Vor diesem zweiten Gesicht seines Vaters hatte Martin große Angst.

Vor Berblin hatte er niemals Angst. Sie war die Einzige, deren Gesicht immer glatt blieb und hell. Selbst wenn sie anderer Meinung war als er, blieb sie ruhig. Leise, aber immer bestimmt, sagte sie, was sie dachte und was sie von anderen wollte. Doch das Allerschönste an ihr war, dass sie Martin nie, aber auch gar nie, verraten würde. Deshalb wollte er zu ihr gehen und ihr von dem Mann in der Höhle berichten. Es musste etwas geschehen. Sie wusste sicher Rat. Und bestimmt schlief sie noch nicht.

Leise stand Martin auf und schlich sich in ihr Zimmer. Wie immer klopfte er ganz leise, und er hatte sich nicht getäuscht. Berblin saß in ihrem Tageskleid auf dem Bett. Im Licht einer dicken Kerze nähte sie an einem Stück Leinen.

»Na«, fragte sie leise und verschwörerisch, »was hast du verbrochen?« Dabei lächelte sie ihn so liebevoll an, dass Martin sie am liebsten umarmt hätte.

Wie gut, dass Berblin sich immer Zeit für ihn nahm. Sein Vater war von morgens bis abends im Amt oder im Bergwerk, die Mutter in häuslichen Geschäften unterwegs. Sie wussten ihre Kinder und den Haushalt bei Berblin in guten Händen.

Martin fühlte sich eigentlich mehr als Sohn von Berblin. Er hatte sich oft gefragt, warum sie keine eigenen Kinder hatte, keine eigene Familie. Sie sprach niemals darüber. Die Eltern auch nicht. Aus irgendeinem Grund traute er sich nicht, sie danach zu fragen. Es war ihm auch nicht wirklich wichtig. Wichtig war nur, dass sie bei ihm blieb. Nur mit ihr konnte er über seine Sorgen sprechen.

»Berblin, wir haben einen alten Stollen gefunden, also gefunden hat ihn der Nicolaus, und er ist auch reingegangen, aber wirklich nur ein kleines Stück, Hans und ich sind draußen geblieben. Und dann hat der Nicolaus drinnen einen Schrei ausgestoßen, und er hat immer gesagt, dass da drinnen ein Toter liegt oder ein Halbtoter oder ein Viertelstoter, so genau hat er es nicht sagen können, und wir haben uns nicht mehr hineingetraut in den Stollen. Wir dürfen ja gar nicht hinein, das weißt du ja.«

Martin hielt inne und sah erwartungsvoll auf Berblin, die sorgfältig ihre Handarbeit auf ein Wandbord legte. Sie sah ihn fragend an.

»Wie tot ist er denn nun?«, fragte sie mit leisem Tadel. »Halb oder viertel oder ganz tot, das müsste ich zuerst einmal wissen.«

»Na ja«, sagte Martin verlegen, »ich war ja nicht drinnen. Also nicht richtig drinnen.«

»Was hat Nicolaus denn gesehen? Hat sich der Mensch noch bewegt? Gestöhnt, geschnarcht oder so etwas?«, wollte sie wissen. »Wie sah er denn aus? Wie ein Herr oder wie ein Bettler? Jung oder alt?«

Sie blieb hartnäckig, fragte nach der Größe, ob Haare auf dem Kopf oder keine. Doch Martin stotterte, dass Nicolaus das so genau nicht geschildert habe, aber ein Bettler, doch, das möchte schon stimmen. »Bestimmt war es ein Bettler, Berblin.«

»Jetzt weiß ich auch, warum du noch angekleidet bist. Du glaubst, dass du dem Mann helfen solltest, stimmt’s? Und ich werde verpflichtet, mitzumachen.«

Berblin räumte ihr Nähzeug weg, und während Martin noch wartete, wie sie reagieren würde, sagte sie unbewegt, dass er sich sputen solle. »Hol die Wasserflasche, den Beutel mit dem Rotwein, und dann schließt du geräuschlos die Haustüre auf und das Hoftor. Beim Tor musst du besonders vorsichtig sein. Es knirscht immer so im Schloss, keiner findet die Zeit, es endlich mal zu ölen.«

Bis Martin alles Befohlene erledigt hatte und zurück in der Kammer war, hatte sich Berblin ihr großes Umschlagtuch geholt und sich sorgfältig darin eingewickelt. Dann hangelte sie ihre Arzneitasche von einem Nagel herunter, steckte einen Tiegel Salbe und ein paar Streifen dünnes Leinen hinein.

»Halt, die Kerze!«, flüsterte sie beim Blick durchs Zimmer und löschte den Docht mit nassen Fingerspitzen aus.

Der Sommerabend war noch hell, der trockene Boden der Gasse schimmerte weiß wie Kreide. Wortlos liefen sie den bald immer schmaler werdenden Weg entlang. Durch den Wald kamen sie nicht so rasch vorwärts, da sie auf Baumwurzeln und Totholz achten mussten. Schließlich gelangten sie an den Weiher, an dem Martin vor Stunden auf seine Freunde gewartet hatte. Er kannte sich erstaunlich gut aus in dem Dämmer. Sicher und rasch führte er Berblin zum Eingang des Stollens.

Vorsichtig sah sie sich um, und Martin schaute ebenfalls hinter jeden Busch. Innerlich schlotterte er vor Angst, aber Berblin, die konzentriert ihre Kerze anzündete, gab ihm Sicherheit, und ihre bedingungslose Unterstützung minderte das Grauen ein wenig.

Die ersten Meter konnte Berblin noch aufrecht gehen, Martin blieb dicht hinter ihr. Die Wände des Stollens zeigten im flackernden Kerzenlicht dämonische Fratzen. Haut bloß ab, befahl er ihnen lautlos, ihr seid ja bloß Geister, ihr habt hier nichts zu suchen.

»Ist er das?« Sie drehte sich zu ihm um. Doch Martin spürte nur sein Herz klopfen. Bis in die Ohren hämmerte es, und er traute sich nicht, zu dem Wesen hinzuschauen, das offenbar doch völlig tot war, denn nichts an ihm bewegte sich.

Berblin schüttelte den Kopf fast unmerklich, aber Martin hatte es gesehen, und er trat an ihre Seite, ja, er bückte sich im Schein der Kerze und konnte einen Kopf erkennen. Den Kopf eines Mannes, der leise stöhnte.

»Der lebt«, stellte sie sachlich fest und schüttelte den Mann vorsichtig an der Schulter. »Habt Ihr Schmerzen?«, fragte sie flüsternd, doch er gab nicht zu erkennen, dass er sie gehört hatte.

Berblin holte aus ihrer Tasche einen kleinen Becher, füllte etwas Rotwein hinein und hielt ihn dem Mann vorsichtig an die Lippen. Als er sich nicht wehrte, drehte sie geschickt seinen Kopf zu sich herum und flößte ihm vorsichtig den Wein ein. Er schluckte, er trank, er öffnete die Augen.

»Wer seid Ihr?«, fragte er schließlich fast unhörbar, aber Martin antwortete ihm, dass sie beide aus Mansfeld kämen, um ihm zu helfen. Berblin hielt dem Mann ein Stück weißes, weiches Brot ohne Rinde hin, und der Mann nahm es, schnupperte daran und schob es in den Mund. Er kaute mit geschlossenen Augen.

»Könnt Ihr laufen?«, fragte Berblin. »Wir bringen Euch in eine Herberge.«

Jetzt wurde der Mann unruhig. Er schüttelte den Kopf, drehte sich zur Wand, und Berblin sah Martin ratlos an.

»Der will nicht mitkommen«, sagte Martin nüchtern, »wir lassen ihm den Rest Brot da und den Wein. Der Schlauch ist sowieso kaputt, den wird der Vater nicht vermissen.

»Der Junge kommt morgen wieder und bringt Euch zu essen«, sagte sie zu dem Mann, der reglos zur Wand schaute und nicht mehr antwortete.

»Komm, Martin, lass uns gehen«, sagte Berblin, und sie machten sich auf den Heimweg, denn es war schon spät und der Mond stand jetzt als feine Sichel am Himmel.

Als sie sich den ersten Häusern näherten, sprachen sie darüber, dass besonders am Sonntag oder an Feiertagen viele Bettler, vor allem Frauen und kleine Kinder, an der Kirchentüre standen.

»Mir wäre es zuwider«, sagte Martin. »Lieber hacke ich den ganzen Tag Holz, als eine Stunde zu betteln. Das Kurrende-Singen reicht mir schon.«

Berblin stimmte dem zu, wandte aber ein, es müsse die Bettler geben. Schon Jesus Christus habe gesagt: »Was ihr den Geringsten meiner Brüder getan, das habt ihr mir getan.«

Das machte Martin nachdenklich. »Warum hat dann dem Bettler niemand geholfen? Warum hat er sich in die Höhle verkrochen?«

Berblin schwieg für einen Moment. »Vielleicht war er zu stolz oder die anderen Bettler haben ihn ausgestoßen aus der Gilde. Viele betteln aus Not, das weißt du. Womöglich hat er sein Hab und Gut und seine Familie verloren. Aber seinen Stolz nicht. Davor muss man Respekt haben.«

 

Als Martin am nächsten Morgen zur Höhle lief, hatte er Brot und etwas Speck dabei. Es war frisch im Wald, der moosige Boden feucht. Seine Füße, nicht sonderlich empfindlich, waren bald nass vom Tau.

Seit er wusste, dass die grausige Gestalt in der Höhle wahrscheinlich ein kranker Bettler war, der sich dorthin verkrochen hatte, war ihm nicht mehr bange. Er wollte lediglich Berblins Auftrag erledigen. Berblin. Er bewunderte sie. Auch in den Ärmsten sah sie Wertvolles, Schönes.

Martin mochte die Bettler nicht, aber er behielt dieses Unbehagen für sich. Berblin hatte ihm gestern Abend wieder erklärt, dass Leute, die genug zum Leben hatten, Bettlern etwas abgeben mussten. Das wurde einem beim Jüngsten Gericht gutgeschrieben. Die Bettler hätten ihrerseits die Pflicht, für die Wohltäter zu beten.

Das, die Fürbitten der Bettler, schien Martin nicht erstrebenswert. Zumindest würde er sich darauf nicht verlassen. Er betete lieber selbst für das Heil seiner Seele. Weil er im Bett dabei immer so rasch abgelenkt wurde, vor allem durch unkeusche Gedanken, hatte er sich angewöhnt, auf dem harten Boden vor seinem Bett zu knien, wenn er betete. Meist bedankte er sich bei Jesus Christus für alles, was der für ihn getan hatte. Er war für ihn gestorben, für Martinus Luther persönlich. Natürlich auch für alle anderen, aber die bedankten sich vielleicht nicht bei ihm, oder jedenfalls nicht immer, und Jesus Christus hatte ihre Undankbarkeit satt. Martin wusste, dass er vor Jesus Christus nur Staub war, einer, der jeden Tag fürchtend und zitternd dafür betete, dass er in Jesus Christus selig werde.

Furcht und Zittern schienen ihm angebracht. Jesus Christus würde es nicht ertragen, dass er die Bettler für schlechter hielt als sich selbst. Und Martin versuchte zu bereuen.

Er wusste, dass jeder Mensch in Not geraten und zum Bettler werden konnte. Als der Nachbar beim Hausbau verunglückte, waren seine Witwe und die kleinen Kinder nach wenigen Tagen verarmt und mussten betteln gehen. Auch wenn ein Mann die Arbeit verlor, aber viele Kinder ernähren musste, blieb ihnen nur das Betteln. Oder wenn ein Haus abbrannte. Martin sah die Bettler in den Gassen der Stadt oder auf dem Markt. Auch bei der Kirche standen Frauen mit Kindern und hielten die Hände auf.

Kamen sie ans Luthersche Haus, beobachtete er, wie Berblin mit ihnen umging. Kannte sie die Bettler nicht, ließ sie sich die Bettlerzeichen zeigen. Das waren seltsame Münzen, die von den Bettlern an ihre Lumpen gesteckt wurden.

Berblin war barmherzig. Sie gab immer. Aber nicht immer Geld. Meist Brot und warme Suppe dazu. Martin behielt alles im Blick, er würde Berblin sofort beschützen, wenn Bettler sie angreifen sollten. Außer großherzig war Berblin auch klug. Denn Bettler konnten ein Haus verfluchen. Manche hatten sogar Waffen bei sich, auch der Alte in der Höhle hatte eine Art krummes Schwert oder Haumesser bei sich liegen gehabt. Martin war gestern fast darüber gestolpert.

Er hatte schon Bettler erlebt, die selbstbewusst waren wie ein Ritter, die es für selbstverständlich hielten, dass andere für sie sorgten. Einer hatte sogar einmal gerufen, er sei in Wahrheit ein Gott, und wer ihm nichts gebe, der versündige sich schwer und müsse nach seinem Tod in der Hölle braten.

Mit diesen Gedanken kam Martin bei der Höhle an. Als er zögernd hineinging, rief er halblaut »Gnade und Friede«, um den womöglich Schlafenden nicht zu erschrecken. Aber er bekam keine Antwort. Vorsichtig trat er näher, doch die Stelle, wo der Bettler gestern geschlafen hatte, war leer.

Martin spürte sein Herz klopfen. Wo war der unheimliche Mann? Lauerte er ihm auf? Er rannte aus der Höhle, stolperte, achtete nicht auf den Weg, und als der Wald dichter wurde, die Wurzeln der Bäume stärker, ihm Blätter und Moose fremd erschienen, da blieb er endlich stehen und sah sich suchend um. Wo war der Teich? Er hätte längst durch die Bäume blinken müssen. Wo war die kleine Lichtung, an der sein Baum stand, dessen Blätter sich gen Himmel reckten und der vielleicht auf ihn wartete?

Beklommen ging er jetzt langsam zwischen den Bäumen und dem kniehohen Farn. Zwischen den Baumwipfeln sah er hin und wieder den tiefblauen Himmel hervorblitzen, denselben Himmel wie gestern. Er bekam Sehnsucht nach Nicolaus und Hans. Wären sie doch bei ihm, dann hätte er keine Not. Gemeinsam war alles leichter.

Verdammt. Schon wieder rutschte er an einer dicken Baumwurzel ab und fiel hin. Wie musste er aussehen. Die Hose war verdreckt, voll mit grünem Moos und brauner Rinde. Er besah sie sich genauer und hoffte, dass Berblin sie in Sicherheit bringen würde, bevor seine Mutter sie fand.

Plötzlich hörte er aus einiger Entfernung die Stimmen zweier Männer. Es würde ihn doch niemand suchen? Unsinn. Berblin wusste ja, wo er war. Es waren sicher Holzfäller oder andere Waldarbeiter. Die Stimmen kamen näher, Martin kannte sie nicht. Dann sah er in einiger Entfernung zwei Männer. Einer stürmte vorneweg, der andere setzte ihm nach.

»Warte, du Sauhund, du Lump, dich krieg ich schon!«, fluchte er.

Der andere rannte jetzt schweigend, Martin konnte ihn keuchen hören, er kam in die Richtung, wo Martin sich in den dichten Farn neben einem Baum geduckt hatte. Doch bevor der Mann sein Versteck erreichte, brach er zusammen, vielleicht war er auch gestolpert, und schon war der andere über ihm. Martin sah entsetzt, dass er ein Messer in der Hand hielt.

»Gib es zu, dass du meiner Tochter nachstellst, gib es zu, oder ich steche dich ab!«

»Die Johanna ist von allein zu mir gekommen, ich hab ihr nicht nachgestellt, frag sie doch!«, schrie der Erste verzweifelt.

Doch der mit dem Messer brüllte, dass der andere ein erbärmlicher Lügner sei, ein Weiberschänder, das wisse doch jeder, er werde seine Tochter rächen. »Du wirst sie nie wieder berühren.«

Martin wollte nicht hinsehen, er presste die Augen zusammen. In seiner Angst rief er Gott und Jesus Christus an, sie sollten den mit dem Messer auf der Stelle tot umfallen oder zu Stein erstarren lassen. Er käme um vor Angst. Heilige Anna, hilf Du, wenn sonst wieder keiner Zeit hat!

Die heilige Anna half. Martin hörte unendlich erleichtert, wie der mit dem Messer davonlief, und er schlich langsam und vorsichtig in dieselbe Richtung, da er annahm, dass der Mann aus Mansfeld kam. Er glaubte sogar, ihn zu kennen. Martin hielt die Luft an und betete innerlich, dass der vermutlich Erstochene nicht wieder aufwachte und hinter ihm herkäme, aber es rührte sich nichts, und langsam wich die Starre von ihm, und er atmete wieder normal.

Als er aus dem Wald herauskam, sah er den mit dem Messer schon am Ortsrand von Mansfeld. Der Mann ging jetzt langsam, sehr langsam.

Erst jetzt überkam Martin wirklich das Grauen. Wer war er, wo war er? Hatte er wieder einen seiner schweren Träume? Seine Knie gaben nach, und das Hinfallen fühlte sich sehr echt an. Kein Traum. Martin sah über sich einen blauen Himmel, verhangen von weißen Schleiern, die ins Graue übergingen.

 

In Mansfeld war es Tagesgespräch, und Martin wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er womöglich melden, was er gesehen hatte? Musste er mit dem Vater darüber reden? Oder mit Berblin? Gnade und Friede. Heilige Anna, sag mir, was ich tun soll. Oder Du, Jesus Christus, Du bist allmächtig und bei einem Mord eher zuständig. Hilf mir bitte. Ich habe einen Mord gesehen, heiliger Jesus Christus. Vielleicht hast Du ihn ja auch gesehen. Du siehst doch alles. Und Du weißt vielleicht längst, was ich erst seit heute weiß.

Hat der Junge Dich um Hilfe angefleht, heiliger Herr Jesus? Hast Du es nicht gehört? Dann erkläre ich es Dir:

Ich weiß jetzt, dass es ein junger Apothekergehilfe war, der sich in Johanna, die Tochter des wohlhabenden Tuchmachers Rettich verliebt hatte. In aller Heimlichkeit, musst Du wissen. Der Tuchmacher hütete seine einzige Tochter wie ein Kleinod. Er hatte noch zwei kleine Söhne, Zwillinge, bei deren Geburt die Frau gestorben war.

Die Tochter ist in der obersten Klasse der Lateinschule, in der ich auch lerne. Ich kenne das Mädchen. Und dann ist einem nicht gleichgültig, wenn ihr Geliebter umgebracht wird. Sie ist ein hübsches Mädchen, kreischt nicht herum, sondern ist ruhig und hilft allen, die beim Latein nicht mitkommen. Stell Dir vor, sogar die Lehrer sagen, dass sie sehr gut lerne. Und das heißt schon was an unserer Schule. Der Tuchmacher hat seine Tochter meist selbst von der Schule abgeholt, oder er hat einen seiner Söhne oder den Lehrling aus dem Geschäft geschickt. Was sagst Du dazu?, Herr Jesus. Immer hat er seine Tochter wie ein kleines Kind behandelt, und das war der Tochter peinlich. Wie gut ich das verstehen kann. Gnade und Friede in Christo.