Vera und Ansgar Nünning

Grundkurs anglistisch-
amerikanistische
Literaturwissenschaft

Impressum:

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E-ISBN 978-3-12-939113-6

Inhalt

Kapitel 1

Gegenstandsbereich, Fragestellungen und Arbeitsfelder der Literaturwissenschaft

1 Zur Konzeption und zum Aufbau des Bandes

2 Der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft

3 Kriterien zur Bestimmung des Literaturbegriffs

4 Interpretation und Kriterien literaturwissenschaftlicher Arbeit

5 Typen der Textinterpretation

6 Teilbereiche und Arbeitsfelder der Literaturwissenschaft

7 Literaturwissenschaftliche Ordnungsbegriffe: Gattungen und Epochen

Kapitel 2

Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden

1 Notwendigkeit und Nützlichkeit von Theorien

2 Theorien, Modelle und Methoden: Begriffsklärungen

3 Typologie literaturwissenschaftlicher Ansätze und Methoden

4 Funktionen von Theorien, Modellen und Methoden

Kapitel 3

Einführung in die Lyrikanalyse

1 Das Gedicht als überstrukturierter Text: Grundzüge lyrischer Textkonstitution

2 Kommunikationsmodell lyrischer Texte: Sprechsituation, Perspektive und lyrisches Ich

3 Aufbau und Struktur lyrischer Texte: Metrum und Rhythmus, Versfüße, Strophenformen

4 Phonologische Überstrukturierung: Reime und andere Klangbeziehungen

5 Morphologische und syntaktische Überstrukturierung: Wortwiederholungen und poetische Syntax

6 Semantische Überstrukturierung: Bildlichkeit

Kapitel 4

Einführung in die Dramenanalyse

1 Das Drama als für die Aufführung geschriebener Text: Grundzüge dramatischer Textkonstitution

2 Kommunikationsmodell dramatischer Texte: Besonderheiten der Theaterkommunikation

3 Theatersemiotik und außersprachliche Theatercodes

4 Informationsvergabe und sprachliche Kommunikation

5 Figur und Handlung

6 Raumdarstellung und Zeitstruktur

Kapitel 5

Einführung in die Erzähltextanalyse

1 Der Roman als narrativ vermittelter Text: Grundzüge narrativer Textkonstitution

2 Kommunikationsmodell narrativer Texte: story- vs. discourse-orientierte Narratologie

3 Figur, Handlung und erzählte Welt: Kategorien der story-orientierten Narratologie

4 Merkmale der drei ‚typischen Erzählsituationen‘: Kategorien der discourse-orientierten Narratologie (1)

5 Struktur der erzählerischen Vermittlung: Kategorien der discourse-orientierten Narratologie (2)

6 Formen narrativer Bewusstseinsdarstellung

7 Kategorien der Zeit- und Raumdarstellung

Kapitel 6

Einführung in die Analyse von Mediengattungen

1 Von der Literaturwissenschaft zur Medien- und Medienkulturwissenschaft

2 Literaturwissenschaft und Mediengeschichte

3 Literatur intermedial: Literatur und andere Kunstformen

4 Neue Medien – neue Mediengattungen

5 Aspekte der Hörspielanalyse

6 Aspekte der Film- und Fernsehanalyse

Kapitel 7

Grundbegriffe und Epochen der englischen und amerikanischen Literaturgeschichte

1 Begriff und Nutzen der Literaturgeschichte

2 Probleme der Literaturgeschichtsschreibung I: Selektion, Wertung, Kanonbildung und Kanondebatte

3 Probleme der Literaturgeschichtsschreibung II: Periodisierung, Epocheneinteilung und Kontextualisierung

4 Ansätze und Formen der Literaturgeschichtsschreibung

5 Epochen der englischen und amerikanischen Literaturgeschichte

6 Von der anglistisch-amerikanistischen Literaturwissenschaft zur Kulturwissenschaft der englischsprachigen Literaturen

Anhang

Literatur

1 Einführungen und Nachschlagewerke

2 Einführungen in literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden

3 Einführungen in die Lyrikanalyse

4 Einführungen in die Dramenanalyse

5 Einführungen in die Erzähltextanalyse

6 Einführungen in Intermedialität, Medienwissenschaft und die Analyse von Mediengattungen

7 Literaturgeschichtsschreibung und Geschichten englischsprachiger Literaturen

8 Anthologien

9 Bibliographien

10 Anglistische literaturwissenschaftliche Zeitschriften

11 Zu Arbeitstechniken und zur Anfertigung literaturwissenschaftlicher Arbeiten

12 Nützliche Internetadressen

Glossar

Vorwort

Hauptziel dieses Bandes ist es, insbesondere, aber nicht nur Studierenden der Anglistik und Amerikanistik eine kompakte Einführung in zentrale Gegenstände, Fragestellungen und Arbeitsfelder der anglistisch-amerikanistischen Literaturwissenschaft zu geben und ihnen die wichtigsten Grundlagen, Methoden und Modelle der Analyse und Interpretation literarischer Texte nahe zu bringen. Da in den Anfangssemestern v.a. eine Kenntnis der Kategorien und Verfahren der literaturwissenschaftlichen Analyse narrativer, dramatischer und lyrischer Texte von grundlegender Bedeutung ist, wird der Erarbeitung einer klaren literaturwissenschaftlichen Begriffssprache besondere Bedeutung beigemessen. Dementsprechend haben wir den Akzent auf die Vermittlung von Grundlagen und Überblickswissen (wie zentrale literaturwissenschaftliche Fachbegriffe, gattungstypische Kategorien und transferierbare Methoden der Analyse von Texten aus unterschiedlichen Gattungen und Medien) gelegt, weil dies jene Aspekte sind, die eine Einordnung des Gelernten in größere Zusammenhänge ermöglichen und die daher die Orientierung im Fach erleichtern. Da es sowohl in der Allgemeinen und Vergleichenden als auch in der anglistischamerikanistischen Literaturwissenschaft eine Vielzahl unterschiedlicher Gegenstände, Fragestellungen und Methoden gibt, die in einem Grundkurs nicht umfassend ausgebreitet werden können, prägt eine Mischung aus Pluralismus und Pragmatik den Aufbau und die Art des Bandes: Wir haben bewusst ein exemplarisches Vorgehen gewählt, das die fachliche, sachliche und methodische Vielfalt zwar in groben Zügen nachzeichnet, dabei aber zugleich die Praxis und „Lage des real existierenden Anglistikstudiums“ (SCHWANITZ 1985: 9) und v.a. die Orientierungsbedürfnisse von Anfangssemestern im Blick behält.

Im Rahmen einer kurzen Einführung kann es nicht darum gehen, einen umfassenden Überblick über die Geschichte der englischsprachigen Literaturen zu geben oder sie in einem gedrängten Abriss darzustellen. Um die Vielfalt der Lehrangebote in der anglistisch-amerikanistischen Literaturwissenschaft sinnvoll nutzen zu können, braucht man vielmehr zunächst einmal eine allgemeine Vorstellung von den Grundlagen literaturwissenschaftlicher Arbeit und vom Zusammenhang der literaturgeschichtlichen Themen. Dieses Bändchen will eine solche erste Übersicht und das begriffliche Grund- und Überblickswissen vermitteln, das für eine Orientierung in der anglistisch-amerikanistischen Literaturwissenschaft erforderlich ist. Anstatt ‚fertige‘ Interpretationen zu liefern, möchten wir Leserinnen und Lesern jene begrifflichen und methodischen Hilfsmittel an die Hand geben, die es ihnen ermöglichen, unbekannte Texte selbständig zu erschließen.

Der Band ist nicht nur für Studienanfänger/innen gedacht, die die Fähigkeit erwerben möchten, literarische Texte systematisch, methodisch bewusst und mittels einer klaren Begriffssprache zu analysieren, sondern auch als Repetitorium für Studierende höherer Semester, die sich bei der Vorbereitung für Hauptseminare oder für ihr Examen nochmals schnell einen Überblick über Grundbegriffe und Methoden literaturwissenschaftlicher Arbeit verschaffen und sich gezielt über Kategorien und Modelle der Lyrik-, Dramen- und Erzähltextanalyse informieren möchten.

Dieses Studienbuch ist nicht nur für Studentinnen und Studenten geschrieben, sondern es ist auch aus der langjährigen Arbeit mit Studierenden hervorgegangen. Daher ist ein Dankeswort an einen Teil des Zielpublikums angebracht. Dieser Dank gebührt zum einen zahllosen unserer Braunschweiger, Gießener und Kölner Studentinnen und Studenten, die mit ihrer engagierten und konstruktiven Mitarbeit in literaturwissenschaftlichen Grundkursen und anderen Lehrveranstaltungen mehr zu diesem Buch beigetragen haben, als ihnen bewusst sein dürfte und als sich in wenigen Worten ausdrücken lässt. Herzlich danken möchten wir zum anderen einigen Kolleginnen und Kollegen, die uns in den letzten Jahren bei verschiedenen Anlässen wertvolle Hinweise gegeben haben: namentlich Raimund Borgmeier (Gießen), Lothar Bredella (Gießen), Monika Fludernik (Freiburg), Herbert Grabes (Gießen), Gerd Haefner (Köln), Andreas Höfele (München), Manfred Jahn (Köln), Eberhard Kreutzer (Bonn), Gottfried Krieger (Köln), Viktor Link (Braunschweig), Christine Lubkoll (Gießen), Wolfgang G. Müller (Jena), Günter Oesterle (Gießen), Christoph Reinfandt (Kiel), Ina Schabert (München), Hans Ulrich Seeber (Stuttgart) und Werner Wolf (Graz).

Ganz besonderer Dank gebührt einmal mehr unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bei der Vorbereitung dieses Bandes in vielfältiger Weise behilflich waren. Wibke Bindemann, Nora Redhardt und Katja Zinn haben das Manuskript mit Akribie durchgesehen und die Zitate, Daten und bibliographischen Angaben sorgfältig überprüft. Gaby Allrath, Martin Schüwer, Klaudia Seibel, Annegret Stegmann, Carola Surkamp und Dorothee Birke haben nicht nur die Formatierung perfekt gestaltet, sondern auch frühere Fassungen einzelner Kapitel konstruktiv kommentiert, uns viele wertvolle Anregungen gegeben und bei der Erstellung der Modelle und des Glossars ausgezeichnete Arbeit geleistet. Wenn dieses Bändchen Leserinnen und Leser zu selbständigem Arbeiten und einem erfolgreichen literaturwissenschaftlichen Studium befähigt, so ist dies nicht zuletzt deren Verdienst. Und Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, wären wir schließlich sehr dankbar, wenn Sie uns Ihre Kommentare, Kritik und Anregungen senden würden an ansgar.nuenning@anglistik.uni-giessen.de oder vera.nuenning@urz.uni-heidelberg.de.

Vera und Ansgar Nünning
im September 2001

1 KAPITEL

Gegenstandsbereich, Fragestellungen und Arbeitsfelder der Literaturwissenschaft

Die zwei größten Fehler einer literaturwissenschaftlichen Ausbildung (komplementär, aber leider durchaus kompatibel) wären es deshalb: einerseits den Beteiligten die spontane Freude am Umgang mit Literatur zu nehmen – und sie andererseits vor dieser Literatur begriffslos mit offenem Munde stehen zu lassen.

HARALD FRICKE/RÜDIGER ZYMNER

1 Zur Konzeption und zum Aufbau des Bandes

Grundkurs Literaturwissenschaft

Für die Studierenden der Anglistik/Amerikanistik beginnt das Studium an den meisten Universitäten mit einem Grundkurs in der Literaturwissenschaft und der Sprachwissenschaft. Der Titel des vorliegenden Einführungsbandes orientiert sich aber nicht nur an dieser Praxis, sondern er soll auch verdeutlichen, worum es im Folgenden v. a. geht: Der Band bietet nicht einen Überblick über die Geschichte der englischsprachigen Literatur(en), sondern eine Einführung in die Literaturwissenschaft, d. h. in die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur.

Fragen nach dem Gegenstand

Zunächst stellt sich die Frage, womit sich die anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft eigentlich beschäftigt. Die Antwort liegt auf den ersten Blick auf der Hand: mit literarischen Texten, die in englischer Sprache geschrieben sind. Das klingt zwar unmittelbar einleuchtend, doch bei genauerem Hinsehen stellen sich mehrere Fragen: Was sind literarische Texte? Welche Werke werden zur ‚englischen‘ Literatur gezählt? Was versteht man unter ‚literaturwissenschaftlicher Textanalyse‘? Mit welchen Gegenständen beschäftigt sich die Literaturwissenschaft noch außer mit literarischen Texten?

Ziele des Kapitels

Die Hauptziele dieses Einleitungskapitels bestehen darin, Antworten auf diese Fragen zu geben und Studierenden eine Einführung in den Gegenstandsbereich, die wichtigsten Fragestellungen und die Arbeitsfelder der anglistisch-amerikanistischen Literaturwissenschaft zu geben. Ebenso wie dem Fach Anglistik/Amerikanistik als Ganzem liegt auch den Sachgebieten und Fragestellungen der anglistisch-amerikanistischen Literaturwissenschaft eine Logik zugrunde, die man sich möglichst früh klarmachen sollte, wenn man nicht gleich die Orientierung und den Spaß am Studium verlieren möchte.

Praxisorientierter Mittelweg

Um die „zwei größten Fehler einer literaturwissenschaftlichen Ausbildung“ zu vermeiden, die in dem vorangestellten Zitat erwähnt werden, werden wir versuchen, einen an der Praxis des Studiums orientierten Mittelweg zu gehen und einen ersten Einblick in literaturwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden zu vermitteln. Der Band möchte v. a. Anfangssemestern einige theoretische, begriffliche und literaturgeschichtliche Kategorien an die Hand geben, um sie vor der unüberschaubaren Vielfalt der englischsprachigen Literaturen nicht „begriffslos mit offenem Munde stehen zu lassen“, ohne ihnen dadurch jedoch sogleich „die spontane Freude am Umgang mit Literatur zu nehmen“ (FRICKE/ZYMNER 1991: 17).

Zwei Voraussetzungen für ein erfolgreiches Studium

Der Versuch, einen solchen Mittelweg zu gehen, ist ein gewagter, aber nötiger Spagat: Ohne Spaß am Lesen und ein ausgeprägtes Interesse an englischsprachiger Literatur kann niemand das übliche Lektürepensum bewältigen; ohne begriffliche Grundlagen bleibt die Freude an literarischen Werken sprachlos und lässt sich nicht mitteilen. Wer mit anderen literaturwissenschaftlich kompetent über die im Studium gelesenen literarischen Texte kommunizieren möchte, kann gar nicht umhin, sich einige Grundlagen und Grundbegriffe der Literaturtheorie, Textanalyse und Literaturgeschichte anzueignen. Und wer dabei die ersten Hürden gemeistert hat, wird schnell merken, dass nicht nur das Lesen von literarischen Werken, sondern auch die Kommunikation über Literatur und die Beherrschung literaturwissenschaftlicher Begriffe und Methoden sehr faszinierend sein können.

Fokus: transferierbare Kenntnisse und Fähigkeiten

Im Bereich der Analyse und Interpretation literarischer Texte ist es zunächst einmal von entscheidender Bedeutung, grundlegende terminologische Kenntnisse und methodische Fähigkeiten zu erwerben. Dazu gehört auch, sich Klarheit darüber zu verschaffen, dass die erlernten Analysekategorien nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern in Sachfeldern (z. B. Bereiche wie Metrik, Figurendarstellung oder Erzählsituationen) und theoretischen Zusammenhängen (z. B. Strukturalismus) vernetzt sind. Fundierte theoretische Grundlagen sind auch deshalb so wichtig, weil es sich dabei um transferierbare Kenntnisse und Fähigkeiten handelt. Überspitzt formuliert: Wer ein Proseminar zu einem bestimmten Romancier, Dramatiker oder Lyriker besucht, weiß am Ende zwar eventuell recht viel über die Werke eines bestimmten Autors, steht aber vor denen anderer Schriftsteller wie der Ochs vorm Berge. Wer hingegen an einem dominant methodisch ausgerichteten Interpretationskurs zur Analyse lyrischer, dramatischer oder narrativer Texte teilgenommen hat, verfügt über Kenntnisse und Fähigkeiten, die es ihr oder ihm ermöglichen, diese selbständig auf neue Themen, Texte und Fragestellungen anzuwenden. Im ersten Fall handelt es sich um einen bloßen Wissenszuwachs, im zweiten dagegen um den Erwerb transferierbarer Kompetenzen, mithin zugleich um einen Gewinn an Eigenständigkeit.

Grundbegriffe und Verfahren der Textanalyse

Aus diesem Grunde sind die nachfolgenden Kapitel so konzipiert, dass sie Einblick in die typischen Merkmale der jeweiligen Gattung, in Verfahren der Textanalyse und in unterschiedliche interpretatorische Zugangsweisen gewähren. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Erscheinungsformen lyrischer, dramatischer und narrativer Texte sowie mit Mediengattungen dient zum einen dem Ziel, ein möglichst differenziertes Repertoire an Grundbegriffen und Techniken der Textanalyse vorzustellen. Zum anderen zielt dieses exemplarische Vorgehen darauf ab, Studierende zu befähigen, sich ein breites Spektrum von Texten aus verschiedenen Kulturen und Epochen der englischsprachigen Literaturen selbständig erschließen zu können. Das Glossar am Ende des Bandes soll nicht nur zur möglichst präzisen Begrifflichkeit beitragen, sondern es auch ermöglichen, die wichtigsten Grundbegriffe nochmals schnell nachzuschlagen.

2 Der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft

Bestimmungsversuche

Ebenso wie jede andere Wissenschaft steht auch die Literaturwissenschaft vor der Aufgabe, zunächst einmal ihren Gegenstandsbereich zu definieren, also möglichst präzise anzugeben, welche Phänomene sie eigentlich erforscht. Dies ist sehr viel schwieriger, als man zunächst meinen könnte, denn es gibt ganz unterschiedliche Versuche, den Gegenstand, die Ziele und die Aufgaben der Literaturwissenschaft zu bestimmen. Als Wissenschaft von der Literatur beschäftigt sie sich hauptsächlich mit Texten, die als ‚literarisch‘ gelten. Damit verlagert sich das Problem aber lediglich auf die Bestimmung des Literaturbegriffs; warum es so kompliziert ist, diesen Begriff zu definieren, erläutert das anschließende Teilkapitel.

Literatur als Kommunikation

Ausgehend von dem Grundsatz, dass Schreiben eine Form von Kommunikation ist, gilt es zunächst, sich eine erste Vorstellung von einigen grundlegenden Faktoren und Zusammenhängen literarischer Kommunikation zu erarbeiten. Die wichtigsten Faktoren, die schriftliche Kommunikation konstituieren, sind der Verfasser eines Werkes, der von ihm geschriebene Text sowie der Adressat bzw. Leser, an den der Text gerichtet ist.

Kommunikationsmodell

Das Verständnis von Literatur als Kommunikation lässt sich mit Hilfe eines Modells veranschaulichen, das die Kommunikationstheorie entwickelt hat: das informationstheoretische Schema der Nachrichtenübermittlung. Gemäß derjenigen Auffassung, die wohl am weitesten verbreitet ist, gilt Kommunikation als ein Phänomen, das von einem Sender ausgeht, der eine Nachricht oder Mitteilung an andere richtet. Diese Botschaft, die sich auf irgendeinen Kontext (z. B. bestimmte Aspekte der nicht-sprachlichen Wirklichkeit) bezieht, gelangt durch einen Kanal bzw. ein materielles Medium zu einem Empfänger. Eine Voraussetzung für gelingende Kommunikation besteht darin, dass Sender und Empfänger zumindest teilweise über einen gemeinsamen Code (ein System von Regeln, das die Deutung sprachlicher Zeichen erlaubt) verfügen. Die Beziehungen zwischen diesen Faktoren des Kommunikationsprozesses lassen sich schematisch darstellen (vgl. Modell 1.1.).

Sprachfunktionen

Die von ROMAN JAKOBSON postulierten sechs Funktionen der Sprache, die für viele Fragen der Literaturwissenschaft nützlich sind und auch für die Unterscheidung von literarischen und nicht-literarischen Texten eine Rolle spielen, ergeben sich aus den Relationen einer sprachlichen Mitteilung zu den verschiedenen Faktoren des Kommunikationsprozesses: Dem Sender ist die emotive bzw. expressive Funktion der Selbstdarstellung seiner Haltung gegenüber dem Gegenstand zugeordnet. Hingegen zielt die appellative Funktion, die sich auf den Empfänger richtet, auf die Beeinflussung der Einstellungen und des Verhaltens des Hörers bzw. Rezipienten ab. Die referentielle Funktion bezeichnet die Ausrichtung einer Äußerung auf Sachverhalte, Gegenstände oder Wirklichkeitsmodelle, die durch die Nachricht dargestellt werden. Hingegen bezieht sich die phatische Funktion auf den Kommunikationskanal, d. h. auf die Herstellung und Aufrechterhaltung des kommunikativen Kontakts zwischen Sender und Empfänger. Die metasprachliche Funktion besteht in der Thematisierung und Bewusstmachung des sprachlichen Codes. Die poetische Funktion gründet schließlich im reflexiven Rückbezug einer Äußerung auf die Form bzw. Strukturiertheit der Nachricht selbst.

Modell 1.1.: Kommunikationsmodell und Sprachfunktionen

Besonderheiten schriftlicher Kommunikation

Literarisches Schreiben bzw. Textkommunikation generell stellt somit einen Sonderfall allgemeiner sprachlicher Kommunikation dar. Worin liegen nun die Besonderheiten von schriftlicher und von literarischer Kommunikation? Im Gegensatz zu mündlicher Kommunikation in einer face-to-face-Situation stellt die Ungleichzeitigkeit von Produktion und Rezeption für schriftliche Kommunikation den Regelfall dar. Der Text bildet dabei das Medium, durch das die Nachricht vom Sender zum Empfänger gelangt. Damit entfällt für den Adressaten die Möglichkeit, direkt (etwa durch Gestik und Mimik) auf den Sender einzuwirken oder dessen Absichten zu erfragen. Das einzige Verbindungsglied zwischen Sender und Empfänger ist der Text. Alle inhaltlichen Präzisierungen und weiteren Differenzierungen dieses allgemeinen Kommunikationsmodells hängen davon ab, auf welchen Medien die Kommunikation jeweils beruht. Außerdem zeichnen sich sowohl literarische Kommunikation als auch unterschiedliche Gattungen durch eine Reihe von Besonderheiten aus, die in den folgenden Kapiteln herausgearbeitet werden.

Literatursystem

Vor dem Hintergrund des Kommunikationsmodells ist es leicht einsichtig, dass nicht nur literarische Texte Gegenstand literaturwissenschaftlicher Arbeit sind; das gilt im Übrigen nicht nur für die Anglistik/Amerikanistik, sondern auch für andere Philologien. Vielmehr gehört der gesamte gesellschaftliche Handlungsbereich dazu, in dem literarische Texte geschrieben, verlegt, gelesen und von der Literaturkritik besprochen werden. Dieser Handlungsbereich wird auch als ‚Literaturbetrieb‘ bzw. als ‚Literatursystem‘ bezeichnet. Schematisch vereinfacht lässt sich das Literatursystem als ein Beziehungsgefüge darstellen, in dem es nicht bloß literarische Texte gibt, sondern auch Menschen, die diese produzieren, vermitteln, rezipieren und weiterverarbeiten.

Handlungsrollen im Literatursystem

Der als Literatursystem bezeichnete gesellschaftliche Handlungsbereich stellt ein besonderes Kommunikationssystem dar, das durch vier Handlungsrollen – Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung von literarischen Texten – bestimmt ist. Bei der Definition des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft sind daher neben den Werken selbst auch Autoren/-innen (als Literaturproduzenten/-innen) und Leser/-innen (als Literaturrezipienten/-innen) zu berücksichtigen. Außerdem sind das Verlagswesen, der Buchhandel, die Medien und andere Instanzen der Literaturvermittlung sowie der Bereich der Literaturkritik nicht zu vergessen. Wie ein Blick in jede Buchhandlung, in der die Bücher (mindestens) in die Rubriken ‚Belletristik‘ und ‚Sachbuch‘ unterteilt sind, und in jedes ähnlich untergliederte Feuilleton lehrt, entscheiden alle diese Instanzen mit darüber, welche Texte in einer Gesellschaft als literarisch gelten und welche nicht.

Modell literarischer Kommunikation

Das folgende Modell literarischer Kommunikation ist hilfreich, um sich Klarheit über den Gegenstand der Literaturwissenschaft zu verschaffen. Unter Rückgriff auf das von JAKOBSON entwickelte Kommunikationsmodell lässt sich der Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft modellhaft so veranschaulichen:

Modell 1.2.: Modell literarischer Kommunikation (NÜNNING/JUCKER 1999: 49)

Konstituenten des Kommunikationsmodells

Dieses Modell literarischer Kommunikation stellt in stark vereinfachter Form die wichtigsten Elemente und Instanzen dar, die am literarischen Kommunikationsprozess beteiligt sind. Ein Autor (Sender) produziert einen literarischen Text (Nachricht), der zugleich die materiale Grundlage bzw. das Medium (Kanal) bildet, durch das die Nachricht zum Rezipienten bzw. Leser (Empfänger) gelangt. Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass dieser den Text verstehen kann, besteht darin, dass Sender und Empfänger eine gemeinsame Sprache beherrschen und von ähnlichen Gattungskonventionen ausgehen (Code). Literarische Texte weisen in der Regel zwar einen Bezug zur historischen oder gegenwärtigen Wirklichkeit (Kontext) auf, allerdings ist dieser ästhetisch vermittelt.

Literatur als Symbolsystem und als Sozialsystem

Ein solches Modell literarischer Kommunikation erleichtert es, den Unterschied zwischen Literatur als Text- bzw. Symbolsystem und Literatur als Sozialsystem zu verdeutlichen. Literatur kann man als ein Ensemble von Texten betrachten, die nach bestimmten, unten erläuterten Kriterien als ‚literarisch‘ gelten. Gemäß einer solchen textwissenschaftlichen Betrachtungsweise wird Literatur als ein Symbolsystem aufgefasst, das sich durch bestimmte ästhetische Merkmale auszeichnet und sich von Texten in anderen gesellschaftlichen Systemen (z. B. in der Wirtschaft, in der Rechtsprechung, in der Wissenschaft etc.) unterscheidet. Die in den folgenden Kapiteln vorgestellten Ansätze und Methoden der Textanalyse zielen darauf ab, Literatur als Symbolsystem zu untersuchen. Andererseits kann man aber auch den gesellschaftlichen Handlungsbereich des Literaturbetriebs als ein Handlungs- bzw. Sozialsystem betrachten. Dabei geht es nicht um literarische Texte, sondern um die Menschen, Handlungsrollen und Institutionen, die dieses Sozialsystem konstituieren.

Gegenstandsbereich

Das Feld, das die anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft bestellt, ist also außerordentlich weit: Sie beschäftigt sich nicht bloß mit der Interpretation literarischer Texte, sondern auch mit allen anderen Aspekten von Literatur als Symbolsystem und als gesellschaftlichem Sozialsystem. Zum einen entwickelt sie Theorien, Modelle und Methoden der Textanalyse und untersucht die Geschichte der britischen, irischen, amerikanischen und kanadischen Literatur sowie weiterer englischsprachiger Literaturen. Zum anderen beschäftigt sie sich aber auch mit Biographien von Autoren/-innen, mit der Entwicklung des Buchmarkts und der Medien, mit der Rezeption von Literatur sowie mit der Literaturkritik. Im Studium steht zunächst die Beschäftigung mit literarischen Texten, die in englischer Sprache geschrieben sind, insbesondere mit den Verfahren der literaturwissenschaftlichen Textanalyse und Interpretation, im Vordergrund. Um die Frage zu beantworten, was zum Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft gehört, muss geklärt werden, welche Texte als ‚literarisch‘ gelten. Daher bedarf es einer Eingrenzung des Literaturbegriffs.

3 Kriterien zur Bestimmung des Literaturbegriffs

Was ist Literatur?

Generationen von Literaturwissenschaftlern haben versucht, die von JEAN-PAUL SARTRE und vielen anderen gestellte Frage „Was ist Literatur?“ zu beantworten, doch bis heute ist diese Frage offen und umstritten. Das ist auf den ersten Blick sicher erstaunlich, denn das Wort ‚Literatur‘ ist jedem vertraut, begegnet es einem doch in der Schule und im Alltag überall. So ist von ‚Fachliteratur‘ die Rede, man liest z. B. Jugendliteratur und manche rümpfen die Nase über ‚Trivialliteratur‘. Obgleich somit wohl jede(r) eine intuitive Vorstellung davon hat, was man unter ‚Literatur‘ versteht, reichen solche subjektiven Anschauungen allein nicht aus, um den Gegenstand eines Faches – der Literaturwissenschaft – zu bestimmen. Vielmehr bedarf es dazu Kriterien, um die Unterschiede zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten benennen zu können. Dabei geht es weder darum, was das ‚Wesen‘ der Literatur ausmacht, noch darum, ein für alle Mal festzuschreiben, was Literatur ‚ist‘.

Weiter vs. enger Literaturbegriff

Überblickt man die Definitionen in Lexika und die Praxis der Literaturgeschichten, so kann man grundsätzlich zwischen einem weiten und einem engen Literaturbegriff unterscheiden (vgl. GRABES 1981b). Im weitesten Sinne umfasst der Literaturbegriff die Gesamtheit aller schriftlich niedergelegten Äußerungen, also das gesamte Schrifttum bzw. Geschriebene und/oder Gedruckte. Selbst dieser denkbar weite Literaturbegriff, der in der englischen Literaturgeschichtsschreibung vielfach zugrunde gelegt wird, der aber für eine Eingrenzung des Gegenstandsbereichs der Literaturwissenschaft aus nahe liegenden Gründen ungeeignet ist, kann aufgrund der Bindung an die Schriftlichkeit nicht allen Kulturen gerecht werden. Neben diesem weiten Literaturbegriff gibt es eine Vielzahl von engeren Literaturbegriffen. Allerdings besteht keine Einigkeit darüber, was unter ‚Literatur‘ in einem engeren Sinne genau zu verstehen ist. Oft werden nur dichterische und erfundene Texte, also nur die ‚schöne Literatur‘ bzw. Belletristik, zur ‚Literatur im engeren Sinne‘ gezählt.

Literarizität

So einleuchtend dies zunächst klingen mag, das definitorische Problem ist damit nicht gelöst, sondern nur verlagert: Um die Gretchenfrage zu klären, wodurch sich ‚literarische‘ Texte von anderen genau unterscheiden, muss man konkrete Unterscheidungsmerkmale bzw. Abgrenzungskriterien angeben, denen zufolge bestimmte Texte als literarisch gelten und andere nicht. Zwar hat sich die Literaturwissenschaft eingehend mit dem Versuch beschäftigt, die spezifische Literarizität bzw. ‚Literaturhaftigkeit‘ (literariness) literarischer Texte zu bestimmen, doch bis heute herrscht weder Klarheit noch Einigkeit darüber, worin diese besteht.

Historizität des Literaturbegriffs

Die Antwort auf die Frage, was die ‚Literarizität‘ literarischer Werke ausmacht, ist schon deshalb schwierig, weil der Literaturbegriff selbst geschichtlichem Wandel unterliegt und je nach kulturellem Kontext erheblich variiert. Daher gibt es keine überzeitlich gültige Antwort darauf, was Literatur ‚ihrem Wesen nach ist‘. Besonders deutlich wird die historische und kulturelle Variabilität des Literaturbegriffs, wenn man an den Übergang von mündlich überlieferter Literatur, wie es sie noch heute in einigen Gebieten des ehemaligen britischen Empire gibt, zur schriftlichen und medial vermittelten Literatur (z. B. Romanverfilmungen) denkt. Aufgrund der Veränderungen der Medien kommen außerdem ständig neue ‚Texte‘ wie Hörspiele oder Drehbücher hinzu, wodurch sich der Literaturbegriff wiederum wandelt. Natürlich ist es im Rahmen einer kurzen Einführung unmöglich, die Vielzahl der historischen Literaturbegriffe ohne erhebliche Verzerrungen zu referieren. Dennoch ist es nützlich, zumindest die wichtigsten Kriterien zu kennen, anhand derer bisherige Bestimmungsversuche von ‚Literatur‘ literarische Texte von anderen abzugrenzen versucht haben.

Normative vs. deskriptive Literaturbegriffe

Weitgehender Konsens besteht in der Literaturwissenschaft darüber, dass eine Abgrenzung nach normativen oder qualitativen (d. h. vorschreibenden und wertenden) Gesichtspunkten (z. B. ‚Hochliteratur‘ vs. ‚Trivialliteratur‘) allein schon deshalb problematisch ist, weil solche Wertungen nicht objektivierbar sind. Daher wird inzwischen zumeist auf eine ästhetisch wertende Auswahl bzw. wertbestimmte Eingrenzung des Literaturbegriffs verzichtet. Einigkeit besteht zudem darüber, dass statt dessen ein deskriptiver (d. h. beschreibender) Literaturbegriff vorzuziehen ist, der auf bestimmten textuellen und/oder kontextuellen Faktoren beruht, durch die sich literarische Texte von nicht-literarischen abgrenzen lassen.

Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsanspruch

Zwei zentrale Kriterien zur Unterscheidung von literarischen Texten (im engeren Sinne) und Sachtexten sind seit jeher der spezifische Wirklichkeitsbezug von Literatur und ihr Verzicht auf einen Wahrheitsanspruch. Demzufolge geben literarische Texte im Gegensatz zu ‚referentiellen‘ Texten nicht vor, sich direkt und eindeutig auf die Realität zu beziehen und ‚wahre‘ Aussagen über sie zu treffen. Von einem Reiseführer erwartet man zu Recht, dass er zuverlässige Informationen über ein Land oder eine Stadt bietet, von einem Drama oder einem Roman hingegen nicht. Obgleich auch literarische Texte vielfach allgemeine oder spezifische Realitätsreferenzen (d. h. Bezüge zum Weltwissen generell und zu bestimmten existierenden Orten, Personen und Ereignissen) aufweisen, sind sie insgesamt doch durch eine Lockerung des Tatsachenbezugs gekennzeichnet.

Mimesis vs. Poiesis

Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der erfundenen Welt, die in einem literarischen Text evoziert wird, und der Wirklichkeit bildet seit langem ein zentrales Problem der Literaturtheorie. Der Begriff ‚Mimesis‘ (griech.: ‚Nachahmung‘), der seit der Antike ein zentrales Konzept der Ästhetik ist, definiert den Realitätsbezug von Literatur als Nachahmung der realen Welt. Im Gegensatz dazu hat sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass literarische Texte außerliterarische Kontexte nicht bloß abbilden, sondern dass von einer dynamischen Wechselwirkung zwischen Wirklichkeit und literarischen Texten auszugehen ist. Der Begriff ‚Poiesis‘ (griech.: ‚herstellendes Tun‘) betont, dass Literatur mit spezifisch literarischen Gestaltungsmitteln eigenständige Modelle von Wirklichkeit erzeugt. Der Aspekt der Wirklichkeitsentsprechung tritt dadurch hinter die Frage zurück, wie literarische Texte das Wissen, die Erfahrungen sowie die Werte und Normen ihrer Entstehungszeit jeweils gestalten.

Fiktionalität

Aus dem unterschiedlichen Wirklichkeitsbezug und Wahrheitsanspruch von Literatur und Sachtexten leitet sich ein wichtiges Abgrenzungskriterium ab, die ‚Fiktionalität‘ (fictionality) literarischer Texte. Dieser aus dem Lateinischen stammende Begriff (von fingere: bilden, erdichten, vortäuschen) verweist auf den erfundenen bzw. imaginären Charakter der Welten, die in literarischen Texten dargestellt werden. Die darin vorkommenden Orte und Figuren bezeichnet man daher als ‚fiktiv‘.

Ästhetik-Konvention

Inzwischen geht man aber davon aus, dass Fiktionalität nicht ein Merkmal der Texte selbst darstellt, sondern eine Konvention, also eine gesellschaftlich anerkannte Regel bzw. Übereinkunft, wie man mit bestimmten Texten umzugehen hat. Akteure im Literatursystem handeln demzufolge gemäß der sog. ‚Ästhetik-Konvention‘; diese besagt, dass literarische Texte nicht nach den Kriterien wahr vs. falsch und nützlich vs. nutzlos zu beurteilen sind, sondern nach ästhetischen Maßstäben. Wenn Menschen gemäß dieser Ästhetik-Konvention handeln, sind sie bereit, die für nicht-literarische Kommunikation übliche Tatsachenkonvention für eine bestimmte Zeit zu vernachlässigen bzw. zu ‚suspendieren‘. Schon der englische Romantiker SAMUEL TAYLOR COLERIDGE sprach in diesem Sinne von einer „willing suspension of disbelief“, durch die sich Leser/-innen in eine erfundene Welt hineinversetzen lassen, wohl wissend, einem literarischen Text keine ‚wahren‘ Informationen über die Realität entnehmen zu können.

Fiktionssignale

Ob Texte von Lesern als fiktional oder nicht-fiktional eingestuft werden, hängt maßgeblich von Fiktionssignalen ab. Literarische Texte sind also nicht an sich fiktional, sondern geben sich durch bestimmte Signale als fiktionale Texte zu erkennen. Mit dem Begriff ‚Fiktionalitätssignale‘ bzw. ‚Fiktionalitätsindikatoren‘ sind sämtliche Zeichen gemeint, die Menschen signalisieren, dass die in einem Text dargestellte Welt erfunden ist und der Text gemäß der Ästhetik-Konvention aufzufassen ist. Dem entspricht auf der Seite nicht-fiktionaler Texte der Gebrauch entgegengesetzter Hinweise, die als ‚Wirklichkeitssignale‘ bezeichnet werden. Der Gebrauch von Fiktionssignalen, die in unterschiedlicher Häufigkeit und Dichte auftreten können und keineswegs eindeutig interpretierbar sein müssen, unterliegt historischem Wandel und ist durch Konventionen bedingt.

Textuelle Fiktionssignale

Bei der Signalisierung von Fiktionalität und der Konstitution des unterschiedlichen Wirklichkeitsbezugs in fiktionalen im Gegensatz zu nicht-fiktionalen Texten spielen bestimmte textuelle Merkmale eine zentrale Rolle. Zu den textuellen Fiktionssignalen gehören z. B. bestimmte Eingangs- und Schlussformeln: „Es war einmal…“ bzw. „Once upon a time…“ signalisieren, dass ein Märchen erzählt wird. Auch der Gebrauch deiktischer Elemente, insbesondere nicht referentialisierbarer (d. h. nicht eindeutig auf reale Gegebenheiten beziehbarer) Angaben über Ort, Zeit und Figuren, ein hohes Maß an Mehrdeutigkeit und Anspielungen auf andere literarische Texte dienen als Fiktionssignale. Außerdem trägt die Gesamtheit jener Darstellungsverfahren, die als spezifisch ‚literarisch‘ gelten (z. B. Bewusstseinsdarstellung, Monologe und andere Phänomene, für die es in nicht-literarischen Texten kein Pendant gibt), dazu bei, die Fiktionalität eines Werkes zu signalisieren.

Kontextuelle und paratextuelle Fiktionssignale

Davon zu unterscheiden sind kontextuelle bzw. pragmatische und paratextuelle Fiktionssignale. Zu den kontextuellen Fiktionssignalen zählen die Kommunikationssituation (z. B. Theaterbesuch, Dichterlesung), der Verlag und die äußere Aufmachung eines Buches. Zu den paratextuellen Fiktionssignalen gehören hingegen Titel und Untertitel, Formen der Untergliederung eines Textes, Gattungsbezeichnungen wie ‚Roman‘ oder ‚Komödie‘ und juristische Absicherungsformeln (‚Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufälliger Natur‘).

Mehrdeutigkeit und Polyvalenz-Konvention

Als weiteres Kennzeichen von Literatur gilt die für sie charakteristische Mehrdeutigkeit bzw. Ambiguität (ambiguity), die auch als ‚Polyvalenz‘ bezeichnet wird. Im Gegensatz zu dem für Sachtexte als Norm geltenden Ideal der größtmöglichen Eindeutigkeit und Klarheit ist es typisch für Literatur, dass dieselben Texte und oft sogar dieselben Textstellen aufgrund von Ambiguitäten verschiedene Deutungen zulassen. Mehrdeutigkeit gilt im Falle von literarischen Texten nicht als Manko, sondern als Gütesiegel. Anders als etwa Leser von Fahrplänen, juristischen Texten oder Zeitungen, die eindeutige Informationen erwarten, behandeln Akteure im Literatursystem literarische Texte gemäß der sog. ‚Polyvalenz-Konvention‘: Anstatt sich über Mehrdeutigkeit zu mokieren, erwarten Leser von literarischen Texten, dass diese auf unterschiedliche Weise verstanden werden können. Die Wirksamkeit der Ästhetik- und Polyvalenz-Konventionen bedingt, dass literarische Texte dem Rezipienten einen Freiraum der Sinnkonstitution eröffnen, also nicht eine bestimmte Bedeutung haben, sondern ein mehr oder weniger großes Bedeutungs- und Wirkungspotential. Die Formulierung von interpretatorischen Aussagen zum Wirkungspotential eines Textes bleibt immer bezogen auf die verwendeten Analysekategorien und die zugrunde liegenden theoretischen Konzepte.

Weitere Bestimmungsversuche und Abgrenzungskriterien

Darüber hinaus gibt es noch eine Vielzahl weiterer Versuche, literarische Texte von nicht-literarischen abzugrenzen (vgl. EAGLETON 1983: Kap. 1). Grundsätzlich kann man dabei unterscheiden zwischen text-immanenten bzw. werkästhetischen Definitionen, die Literarizität anhand bestimmter sprachlicher oder formaler Kennzeichen literarischer Texte festzumachen versuchen, und kontextuell orientierten Literaturbegriffen, die textexterne Faktoren heranziehen. Zur zweiten Gruppe zählen produktions- und rezeptions- bzw. wirkungsästhetisch fundierte Literaturbegriffe, die sich an der Entstehung von Literatur bzw. an deren spezifischer Wirkung auf Leser orientieren. Einige der wichtigsten Differenzierungskriterien sowie die entsprechenden Ansätze seien zumindest genannt und kurz erläutert.

Literatur als besondere Art der Sprachverwendung

Gemäß der Auffassung werkästhetischer Ansätze, die insbesondere stilkritischen und formalistischen Literaturbegriffen zugrunde liegt, zeichnen sich literarische Texte durch besondere sprachliche und stilistische Merkmale aus. Demzufolge ist literarische Sprachverwendung durch eine Abweichung von der Alltagssprache bzw. eine Verfremdung oder Entautomatisierung (defamiliarisation) gekennzeichnet. Für die Literaturwissenschaft ergibt sich daraus die Aufgabe, die typischen literarischen Verfahrensweisen zu bestimmen, in denen sich diese Verfremdung konkret niederschlägt und die in den nachfolgenden Kapiteln detailliert vorgestellt werden.

Poetische Funktion der Sprache

Einer weit verbreiteten Auffassung gemäß, die auf das oben erläuterte Kommunikationsmodell von ROMAN JAKOBSON zurückgeht, ergibt sich die Literarizität einer sprachlichen Äußerung aus dem Vorherrschen einer bestimmten Sprachfunktion, der bereits erwähnten poetischen Funktion. Demzufolge dominiert in literarischen Texten die Ausrichtung der Sprache auf sich selbst, d. h. auf formale Eigenschaften des sprachlichen Materials. Besonders deutlich ist diese Dominanz der poetischen Funktion meist in Gedichten (vgl. Kap. 3), aber ein eindeutiges Abgrenzungskriterium ist sie schon deshalb nicht, weil sich ähnliche Verfahren z. B. auch in der Werbung finden.

Literatur als nicht-pragmatischer Diskurs

Im Gegensatz zu solchen am Stil und an der Sprache orientierten Literaturbegriffen gehen andere Ansätze von den Besonderheiten der literarischen Kommunikation aus. So wird Literatur oft als nicht-pragmatischer Diskurs definiert, weil ein Gedicht oder eine Tragödie im Gegensatz etwa zu einer Bedienungsanleitung nicht unmittelbar auf einen bestimmten Zweck ausgerichtet sind und weil sie keine direkten Handlungsanweisungen geben. Dies trifft zwar für den größten Teil der Literatur zu, nicht aber für politisch engagierte Werke, die keineswegs zweckfrei sind.

Literarizität als abhängig von der Einstellung gegenüber Texten

Im Gegensatz zu Ansätzen, die Literarizität an bestimmten Textmerkmalen festzumachen versuchen, gehen andere Bestimmungsversuche davon aus, dass Literarizität primär von der jeweiligen Einstellung eines Individuums gegenüber einem Text abhängt. Wie bei den Erläuterungen zur Ästhetik- und Polyvalenz-Konvention bereits deutlich geworden ist, gibt es gesellschaftlich anerkannte Regeln dafür, wie man mit literarischen Texten üblicherweise umgeht. Natürlich steht es jedem frei, auch einen Roman oder ein Drama wie ein Sachbuch zu lesen und ihm eindeutige Informationen zu entnehmen, nur befolgt er dann gerade nicht die Ästhetik- und Polyvalenz-Konvention, die in unserer Gesellschaft die Kommunikation über Literatur regelt.

Produktions- und rezeptionsästhetische Literaturbegriffe

Während werkästhetische Ansätze davon ausgehen, dass literarische Texte bestimmte ästhetische Qualitäten ‚objektiv‘ besitzen, orientieren sich produktionsästhetische Literaturbegriffe am Schaffens- bzw. Entstehungsprozess. Sie beruhen auf der Annahme, dass ein Werk deshalb zur ‚Literatur‘ zählt, weil es ein Produkt einer besonderen dichterischen Einbildungskraft (imagination) oder Inspiration ist. Rezeptions- bzw. wirkungsästhetisch definierte Literaturbegriffe unterstellen hingegen, dass sich literarische Texte dadurch von anderen unterscheiden, dass von ihnen eine spezifisch ‚ästhetische‘ Wirkung ausgeht.

Allgemeine vs. anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft

Alles, was bisher über Kriterien zur Bestimmung des Literaturbegriffs gesagt wurde, und vieles, was in den nachfolgenden Kapiteln steht, gilt nicht allein für die Anglistik. Vielmehr beschäftigen sich auch die anderen Philologien sowie die Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (die ‚Komparatistik‘) mit Grundfragen der Literaturwissenschaft. Obgleich somit viele der Fragestellungen und Methoden der anglistisch-amerikanistischen Literaturwissenschaft mit denen der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft übereinstimmen, unterscheidet sie sich von letzterer dadurch, dass sie sich primär mit jenen Literaturen beschäftigt, die in englischer Sprache verfasst und in bestimmten Regionen veröffentlicht werden.

Englische Literatur vs. englischsprachige Literaturen

Was aber nun versteht man unter ‚englischer‘ Literatur? Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, dass es sich dabei um eine bestimmte ‚Nationalliteratur‘ (im Singular), also um die Literatur Englands, Großbritanniens oder der Britischen Inseln, handelt, sollte man sich den Unterschied zwischen der einen ‚englischen‘ Literatur und der Vielzahl der englischsprachigen Literaturen, also den unterschiedlichen Literaturen in englischer Sprache, klarmachen. Die anglistisch-amerikanistische Literaturwissenschaft beschäftigt sich nicht allein mit der englischen und amerikanischen Literatur, sondern auch mit allen anderen englischsprachigen Literaturen, z. B. mit der kanadischen, südafrikanischen und australischen Literatur.

4 Interpretation und Kriterien literaturwissenschaftlicher Arbeit

Fragen nach der Interpretation

Ebenso wichtig wie die Eingrenzung des Gegenstands der Literaturwissenschaft ist eine Erläuterung ihrer Arbeitsweisen und der Kriterien literaturwissenschaftlicher Arbeit. Gerade weil ‚Interpretation‘ oft wie etwas reichlich Nebulöses und Schwammiges klingt, das viele durch den schulischen Deutsch- und Englischunterricht in nicht sonderlich guter Erinnerung haben, sollte man sich Klarheit darüber verschaffen, welche begrifflichen und methodischen Voraussetzungen jede literaturwissenschaftliche Textanalyse erfüllen sollte. Dabei stellen sich verschiedene Fragen: Was versteht man überhaupt unter einer literaturwissenschaftlichen Textanalyse bzw. Interpretation? Worin sind die Ziele (und Grenzen) einer Interpretation zu sehen? Welche Kriterien sollten literaturwissenschaftliche Interpretationen mindestens erfüllen, wenn sie Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben?

Objektebene vs. wissenschaftliche Beschreibungsebene