Sandra Brown ist heute eine der erfolgreichsten Autorinnen der Welt. Jeder ihrer Romane erreichte Spitzenplätze in den englischen und amerikanischen Bestsellerlisten. Sandra Brown wurde mehrfach mit dem New York Times Award ausgezeichnet, und ihre Bücher werden weltweit in neunundzwanzig Sprachen übersetzt. In Deutschland ist gerade ihr neuer Psychothriller »Weißglut« erschienen. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie in Arlington, Texas.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.sandra-brown.de
Der Reverend Jackson Wilde war in den Kopf, ins Herz und in die Hoden getroffen worden. Cassidy hielt das vom ersten Augenblick an für einen wichtigen Hinweis.
»Was für eine Sauerei.«
Die Leichenbeschauerin untertrieb, fand Cassidy. Er vermutete, daß der Mord mit einem aus nächster Nähe abgefeuerten kurzläufigen .38er Revolver begangen worden war. Hohlmantelgeschosse. Der Täter hatte es zweifellos darauf abgesehen, das Opfer zu zerfetzen. Gewebe war auf das Kopfbrett und die Laken gespritzt. Die Matratze hatte sich mit Blut vollgesogen, das sich unter dem Körper angesammelt hatte. Abgesehen von dem verheerenden Schaden, den die Kugeln angerichtet hatten, war das Opfer nicht mißhandelt oder verstümmelt worden. So grausig es auch aussah, Cassidy hatte schon Schlimmeres gesehen.
Das Unangenehmste an diesem Mord war die Identität des Opfers. Cassidy hatte die Sondermeldung in seinem Autoradio gehört, während er sich durch den morgendlichen Stoßverkehr gekämpft hatte. Er hatte augenblicklich und ohne Rücksicht auf die Verkehrsregeln gewendet, obwohl er kein Recht hatte, ohne offizielle Aufforderung am Tatort zu erscheinen. Die Polizisten, die das Fairmont-Hotel abgeriegelt hatten, hatten ihn erkannt und automatisch angenommen, daß er als offizieller Vertreter des Orleans Parish District Attorneys da war. Niemand hatte ihn davon abgehalten, die San-Louis-Suite im siebten Stock zu betreten, wo sich die Detektive gegenseitig auf die Füße traten und wahrscheinlich mehr Beweismaterial unbrauchbar machten, als sie fanden.
Cassidy wandte sich an die Leichenbeschauerin. »Was halten Sie davon, Elvie?«
Dr. Elvira Dupuis war ein stämmiges, grauhaariges Mannweib. Ihr Liebesleben gab ständig Anlaß zu neuen Gerüchten, allerdings besaß keiner der Zuträger Erfahrungen aus erster Hand. Sie wurde von wenigen gemocht, aber niemand zweifelte an ihrer Kompetenz.
Die Pathologin rückte die Brille zurecht und antwortete: »Ich vermute, daß ihn der Kopfschuß drangekriegt hat. Die Kugel hat das meiste von seiner grauen Hirnmasse zerstört. Die Brustwunde erscheint mir ein bißchen zu weit rechts, um durchs Herz zu gehen, aber ich kann sie erst als Todesursache ausschließen, wenn ich ihm die Brust aufgeknackt habe. Der Schuß in die Eier hätte ihn wahrscheinlich nicht umgebracht, jedenfalls nicht gleich.« Sie sah zu dem stellvertretenden Staatsanwalt auf und grinste schadenfroh. »Obwohl er ihm bestimmt ganz schön die Tour vermasselt hätte.«
Cassidy verzog einfühlsam das Gesicht. »Ich frage mich, welcher Schuß zuerst abgefeuert wurde.«
»Keine Ahnung.«
»Ich tippe auf den Kopf.«
»Warum?«
»Der Schuß in die Brust hätte ihn vielleicht nicht umgebracht, aber bestimmt gelähmt.«
»Seine Lungen wären vollgelaufen. Und?«
»Und wenn mir jemand in die Hoden schießen würde, dann würde ich automatisch versuchen, sie zu schützen.«
»Also sich im Todeskampf die Eier halten?«
»So in etwa.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wildes Arme lagen neben dem Körper. Keine Anzeichen für einen Kampf oder irgendwelche Gegenwehr. Er kannte vermutlich seinen Mörder. Vielleicht hat er sogar geschlafen. Er hat es nicht kommen sehen.«
»Das tun die Opfer selten«, murmelte Cassidy. »Wann, meinen Sie, ist es passiert?«
Sie nahm die rechte Hand des Leichnams und drehte sie im Handgelenk, um die Starre zu überprüfen. »Mitternacht. Vielleicht früher.« Sie ließ die Hand wieder auf das Laken fallen und fragte: »Kann ich ihn jetzt haben?«
Cassidy musterte die entstellte Leiche ein letztes Mal. »Bedienen Sie sich.«
»Ich werde zusehen, daß Sie eine Kopie des Autopsieberichts bekommen, sobald ich fertig bin. Rufen Sie bloß nicht an und hetzen mich, bevor ich durch bin, sonst dauert’s nur noch länger.«
Dr. Dupuis ging davon aus, daß er den Fall verfolgen würde. Er widersprach ihr nicht. Es war nur eine Frage der Zeit. Er würde diesen Fall übernehmen.
Cassidy trat beiseite, um der Spurensicherung Platz zu machen, und führte eine kurze Bestandsaufnahme des Hotelschlafzimmers durch. Die Gegenstände auf dem Nachttisch waren bereits auf Fingerabdrücke hin untersucht worden. Ein paar Dinge waren sorgfältig in Plastiktüten verpackt und beschriftet worden. Raub konnte man als Motiv ausschließen. Unter den Sachen auf dem Nachttisch war eine Rolex.
Ein Polizeifotograf machte Aufnahmen. Ein weiterer Polizist krabbelte auf den Knien herum und suchte mit Arzthandschuhen den Teppich nach Stoffasern ab.
»War die Presse schon da?«
»Nee«, antwortete der kniende Beamte.
»Halten Sie sie so lange wie möglich von hier fern, und rücken Sie keine wichtigen Informationen raus. Unser Büro wird heute noch eine Erklärung abgeben, sobald wir alle Fakten haben.«
Der Beamte bestätigte die Anweisungen mit einem Nicken.
Cassidy überließ die Polizisten ihrer Arbeit und ging in den Salon der Suite. Schwere Vorhänge waren vor die zwei Panoramafenster gezogen worden, so daß der Raum trotz der pastellfarbenen und weißen Einrichtung dämmrig und unheimlich wirkte. In der Ecke eines pfirsichfarbenen Samtsofas kauerte mit gesenktem Kopf eine junge Frau. Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben und schluchzte erbärmlich. Ein junger Mann saß neben ihr. Er sah nervös, fast verängstigt aus und versuchte vergebens, sie zu trösten.
Sie wurden von einem Kriminalbeamten aus dem Morddezernat des New Orleans Police Department verhört. Howard Glenn war seit mehr als zwanzig Jahren in der Abteilung, aber er war ein Einzelgänger und bei den Kollegen nicht besonders beliebt. Seine äußere Erscheinung war nicht gerade anziehend oder dazu geeignet, neue Freunde zu finden. Er wirkte schmuddlig und unordentlich, rauchte kettenweise filterlose Camels und sah insgesamt so aus, als gehörte er in einen film noire aus den vierziger Jahren. Aber man respektierte ihn bei der Polizei wie bei der Staatsanwaltschaft wegen seiner verbissenen Untersuchungsmethoden.
Als Cassidy näher kam, schaute Glenn auf und sagte: »Hallo, Cassidy. Sie sind schnell gekommen. Hat Crowder Sie geschickt?«
Anthony Crowder war der District Attorney des Bezirks Orleans und Cassidys Boß. Cassidy überging die Frage und machte eine Kopfbewegung zu dem Paar auf dem Sofa. »Wer ist das ?«
»Sehen Sie nicht fern?«
»Keine religiösen Sendungen. Hab’ seine Show nie gesehen.«
Glenn drehte den Kopf zur Seite und sagte aus dem Mundwinkel, so daß nur Cassidy ihn hören konnte: »Pech für Sie. Jetzt haben sie ihn abgesetzt.« Dann klärte er ihn auf: »Das ist die Frau des Evangelisten, Ariel Wilde, und sein Sohn Joshua.«
Der junge gutaussehende Mann sah zu Cassidy auf. Cassidy streckte die rechte Hand aus. »Cassidy, stellvertretender Bezirksbevollmächtigter.«
Joshua Wilde reichte ihm die Hand. Sein Griff war fest, aber seine Hände waren weich, glatt und gepflegt, die Hände eines Müßiggängers. Er hatte ausdrucksvolle braune Augen und langes, oben gewelltes, mausbraunes Haar.
Er sprach mit Südstaatenakzent. Seine Stimme klang so kultiviert wie ein Faß Jack Daniels. »Finden Sie das Monster, das meinem Vater das angetan hat, Mr. Cassidy.«
»Das habe ich vor.«
»Und bringen Sie ihn schleunigst vor den Richter.«
»Ihn? Sind Sie sicher, daß ein Mann Ihren Vater umgebracht hat, Mr. Wilde?«
Das verwirrte Joshua Wilde. »Keineswegs. Ich meinte nur . . . ich verwende das männliche Pronomen im übertragenen Sinn.«
»Dann hätte es also auch eine Frau sein können.«
Bis jetzt hatte die Frau ihn ignoriert und in ein Kleenex geweint. Plötzlich warf sich Ariel Wilde das hellblonde, glatte Haar über die Schulter und fixierte Cassidy mit wildem, fanatischem Blick. Ihr Teint hatte nicht mehr Farbe als die weiße Gipslampe auf dem Tisch neben dem Sofa, aber sie hatte wunderschöne blaue Augen, die durch außergewöhnlich lange Wimpern und den Glanz frischer Tränen noch hervorgehoben wurden.
»Lösen Sie so Ihre Mordfälle, Mr.... wie war noch Ihr Name?«
»Cassidy.«
»Lösen Sie Ihre Fälle, indem Sie Wortspiele treiben?«
»Manchmal ja.«
»Sie sind keinen Deut besser als dieser Detective.« Verächtlich bleckte sie die Zähne in Howard Glenns Richtung. »Statt den Mörder zu jagen, belästigt er Josh und mich.«
Cassidy tauschte einen vielsagenden Blick mit Glenn. Der Detective zuckte mit den Achseln und überließ Cassidy kommentarlos das Feld. »Bevor wir ›den Mörder jagen‹ können, Mrs. Wilde«, erklärte Cassidy, »müssen wir genau herausfinden, was Ihrem Mann zugestoßen ist.«
Sie zeigte auf das blutdurchtränkte Bett nebenan und kreischte: »Es ist doch klar, was passiert ist.«
»Nicht immer.«
»Glauben Sie, wir hätten Jackson gestern nacht allein in die Suite gelassen, wenn wir gewußt hätten, daß jemand ihn umbringen will?«
»Sie beide haben Reverend Wilde gestern nacht allein gelassen? Wo waren Sie?« Cassidy ließ sich auf dem Rand des kleinen Zweisitzersofas neben ihrem nieder. Er sah sich die Frau und ihren Stiefsohn genau an. Beide schienen etwa Ende Zwanzig zu sein.
»Wir waren in meiner Suite und haben geübt«, antwortete Josh.
»Was geübt?«
»Mrs. Wilde singt in allen Kreuzzugsgottesdiensten und in den Fernsehsendungen«, erläuterte Glenn. »Mr. Wilde spielt das Klavier.«
Wie geschickt von Jackson Wilde, sein Missionsunternehmen als Familienbetrieb zu führen, dachte Cassidy. Er mochte Fernsehprediger nicht und hatte bislang nichts gesehen, was seine Vorurteile widerlegt hätte. »Wo ist Ihre Suite, Mr. Wilde?« fragte er.
»Am Ende des Gangs. Daddy hat alle Zimmer auf diesem Stockwerk reservieren lassen.«
»Warum?«
»Das machte er immer. Um unsere Privatsphäre zu wahren. Daddys Jünger nehmen fast alles auf sich, um in seiner Nähe zu sein. Er liebte die Menschen, aber zwischen den Gottesdiensten brauchte er Ruhe und Abgeschiedenheit. Er und Ariel wohnten in dieser Suite. Ich nahm die nächstgrößere, damit ein Klavier zum Üben aufgestellt werden konnte.«
Cassidy wandte sich an die frischgebackene Witwe.
»Diese Suite hat zwei Schlafzimmer. Warum haben Sie nicht bei Ihrem Mann geschlafen?«
Mrs. Wilde antwortete mit einem verächtlichen Schniefen. »Das hat er mich schon gefragt«, sagte sie und blickte wieder vernichtend zu Detective Glenn. »Ich bin gestern erst spätnachts ins Bett gegangen und wollte Jackson nicht stören. Er war erschöpft, deshalb habe ich im anderen Schlafzimmer geschlafen.«
»Wann war das?«
»Ich habe nicht auf die Uhr geschaut.«
Cassidy sah Josh fragend an. »Wissen Sie noch, wann sie ihr Zimmer verlassen hat?«
»Leider nicht. Spät.«
»Nach Mitternacht?«
»Viel später.«
Fürs erste beließ Cassidy es dabei. »Haben Sie mit Ihrem Gatten gesprochen, als Sie in die Suite kamen, Mrs. Wilde?«
»Nein.«
»Sind Sie zu ihm gegangen und haben ihm einen Kuß gegeben?«
»Nein. Ich ging durch die Tür, die direkt vom Korridor in mein Zimmer führt. Ich hätte nach ihm sehen sollen«, schluchzte sie. »Aber ich dachte doch, er schläft friedlich.«
Cassidy warnte Glenn mit einem scharfen Blick vor dem naheliegenden Bonmot. Statt dessen sagte der Detective: »Leider hat Mrs. Wilde den Leichnam ihres Gatten erst heute morgen entdeckt.«
»Als er nicht auf seinen Weckruf reagierte«, bestätigte sie mit gebrochener Stimme. Sie nahm das durchnäßte Kleenex und drückte es sich unter die Nase. »Wenn ich mir vorstelle, daß er da drin war . . . tot . . . während ich nebenan geschlafen habe.«
Sie schloß die Augen und sank gegen ihren Stiefsohn. Er legte einen Arm um ihre Schultern und flüsterte leise in ihr Haar.
»Nun, das wäre vorerst alles.« Cassidy stand auf.
Glenn folgte ihm zur Tür. »Die Sache stinkt doch wie Fisch von letzter Woche.«
»Ach, ich weiß nicht», antwortete Cassidy. »Die Geschichte ist fast zu plump für eine Lüge.«
»Für mich ist die Sache klar. Sie sind heiß aufeinander und haben den Prediger abserviert, um freie Bahn zu haben.«
»Vielleicht«, meinte Cassidy unverbindlich. »Vielleicht auch nicht.«
Glenn musterte ihn kritisch und zündete sich eine Camel an. »Ein schlaues Kerlchen wie Sie fällt doch nicht auf so hübsche blaue Augen rein, oder, Cassidy? Und auf all das Geheule? Mann, bevor Sie aufgetaucht sind, haben sie laut gebetet.« Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Sie glauben doch nicht etwa, daß sie die Wahrheit sagen?«
»Aber natürlich glaube ich ihnen.« Als Cassidy aus der Tür trat, warf er einen Blick über die Schulter zurück und ergänzte: »Genausoweit, wie ich durch einen Hurrikan pissen kann.«
Er fuhr allein im Fahrstuhl nach unten und landete in einem Inferno. Die Lobby des Fairmont-Hotels erstreckte sich über einen ganzen Block. Normalerweise war sie mit ihren samtschwarzen Wänden, den roten Samtmöbeln und den Blattgoldakzenten ein Hort vornehmer Erhabenheit und des Luxus – das Fairmont war die große alte Dame unter den Hotels. Aber an diesem Morgen wimmelte es hier von verärgerten Menschen. Die Polizisten versuchten, die aggressiven Reporter zu ignorieren, die sich wie besessen auf alles stürzten, was irgendwie mit dem spektakulären Mord an Jackson Wilde zu tun hatte. Die Hotelgäste, die von der Polizei zusammengetrieben und im Ballsaal verhört worden waren, wurden nun nacheinander entlassen; sie schienen aber nicht gehen zu wollen, ohne ihrer Entrüstung Luft gemacht zu haben. Hotelbedienstete wurden befragt, während sie zugleich versuchten, die aufgebrachte Kundschaft zu beschwichtigen.
Gefolgsleute des Reverend Jackson Wilde, die vom Ableben ihres Führers erfahren hatten, trugen zu dem Chaos bei, indem sie sich in der Lobby versammelten und sie kurzfristig in eine Wallfahrtsstätte verwandelten. Sie weinten lautstark, stimmten spontan Gebete an, sangen Hymnen und riefen den Zorn des Allmächtigen auf denjenigen herab, der den Fernsehprediger ermordet hatte.
Cassidy drängte sich durch die lärmende Menge und versuchte, unbemerkt von den Medien zum Ausgang an der University Street zu gelangen, aber vergebens. Die Reporter umzingelten ihn.
»Mr. Cassidy, was haben Sie gesehen –«
»Nichts.«
»Mr. Cassidy, war er –«
»Kein Kommentar.«
»Mr. Cassidy –«
»Später.«
Er zwängte sich zwischen ihnen hindurch, duckte sich unter Kameras hinweg, schob hingehaltene Mikrofone beiseite und weigerte sich wohlweislich, irgend etwas zu sagen, ehe sein Vorgesetzter Crowder ihm den Auftrag gegeben hatte, den Mordfall Wilde zu verfolgen.
Vorausgesetzt, Crowder tat das.
Nein, daran durfte es keinen Zweifel geben. Er mußte es tun.
Cassidy war so scharf auf diesen Fall, daß ihm fast das Wasser im Mund zusammenlief. Mehr noch, er brauchte ihn.
Yasmine schritt mit hoch erhobenem Kopf durch die automatischen Türen des Internationalen Flughafens von New Orleans. Ein Träger folgte ihr mit zwei Koffern auf seinem Karren.
Auf ein Hupen hin entdeckte Yasmine Claires LeBaron, der wie vereinbart am Straßenrand wartete. Ihre Koffer wurden im Kofferraum verstaut, den Claire vom Armaturenbrett aus öffnete, der Träger erhielt sein Geld, und Yasmine glitt mit einem Aufblitzen der braunen Schenkel und gefolgt von einer Duftwolke Gardenienparfüm auf den Beifahrersitz.
»Guten Morgen«, sagte Claire. »Wie war dein Flug?«
»Hast du schon das von Jackson Wilde gehört?«
Claire Laurent schaute über die linke Schulter und tauchte dann wagemutig in den fließenden Verkehr. »Was hat er jetzt schon wieder angestellt?«
»Du hast es nicht gehört?« stieß Yasmine hervor. »Jesus, Claire, was hast du heute morgen gemacht?«
»Rechnungen kontrolliert und . . . Warum?«
»Hast du keine Nachrichten gesehen? Kein Radio gehört?«
Erst jetzt fiel Yasmine auf, daß im Wagen eine Kassette spielte.
»Ich habe diese Woche absichtlich auf alle Nachrichtensendungen verzichtet. Mama braucht nicht mitzubekommen, wie Jackson Wilde uns ins Visier nimmt, solange er in der Stadt ist. Übrigens haben wir schon wieder eine Einladung zu einer Fernsehdiskussion mit ihm erhalten. Ich habe abgesagt.«
Yasmine sah ihre beste Freundin und Geschäftspartnerin mit riesigen Augen an. »Du weißt es also wirklich nicht.«
»Was?« fragte Claire lachend. »Steht French Silk wieder unter Beschuß? Was hat er denn diesmal gesagt – daß wir ewig in der Hölle schmoren werden? Daß ich meine Kollektion umstellen soll, sonst passiert noch was? Daß ich mit meinen pornografischen Fotografien des menschlichen Körpers die Moral aller Amerikaner untergrabe?«
Yasmine setzte die große, dunkle Sonnenbrille ab, die sie trug, wenn sie nicht erkannt werden wollte, und blickte Claire mit ihren Tigeraugen an, die ein Jahrzehnt lang die Cover zahlloser Modemagazine geziert hatten. »Reverend Jackson wird überhaupt nichts mehr über dich sagen, Claire. Er wird weder über French Silk noch über deinen Katalog herziehen. Er wurde für immer zum Schweigen gebracht. Der Mann ist tot.«
»Tot?« Claire bremste so plötzlich, daß sie nach vorne geschleudert wurden.
»Toter als ’n Türnagel, wie meine Mama immer gesagt hat.«
Kalkweiß und fassungslos starrte Claire sie an und wiederholte: »Tot?«
»Anscheinend hat er einmal zu oft gebetet. Er hat jemanden so wütend gemacht, daß der ihn umgelegt hat.«
Claire fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Du meinst, er wurde ermordet?«
Ein Autofahrer hupte entrüstet. Ein anderer machte eine obszöne Geste, bevor er um sie herum lenkte und Gas gab. Claire hob mühsam den Fuß vom Bremspedal und setzte ihn wieder aufs Gas. Der Wagen machte einen Satz nach vorne.
»Was ist denn los mit dir? Ich dachte, du würdest jubilieren. Soll ich fahren?«
»Nein. Nein, mir geht’s gut.«
»Du siehst aber nicht so aus.«
»Ich habe nicht gut geschlafen.«
»Mary Catherine?«
Claire schüttelte den Kopf. »Ich hatte Alpträume.«
»Was für Alpträume denn?«
»Vergiß es. Yasmine, stimmt das wirklich mit Jackson Wilde?«
»Ich hab’s im Flughafen gehört, während ich auf mein Gepäck wartete. Im Schalter von AVIS war ein Fernseher an. Die Leute drängelten sich davor. Also habe ich einen Mann gefragt, was denn los ist. Ich habe irgendwas wie die Challenger-Explosion erwartet. Der Mann sagte: ›Dieser Fernsehprediger hat sich gestern nacht abknallen lassen.‹ Und da ich eine Wodu-Puppe in seiner Gestalt besitze, war mein Interesse natürlich geweckt. Ich habe mich vor das Gerät geschoben und die Nachricht mit eigenen Ohren gehört.«
»Wurde er im Fairmont umgebracht?«
Yasmine schaute sie argwöhnisch an. »Woher weißt du das?«
»Ich habe gehört, daß er dort wohnt. Von Andre.«
»Andre. Den habe ich ganz vergessen. Ich wette, er hat heute morgen einen Lachkrampf gekriegt.« Bevor Yasmine sich weiter über ihren gemeinsamen Freund auslassen konnte, fragte Claire:
»Wer hat die Leiche entdeckt?«
»Seine Frau. Sie hat ihn heute morgen mit drei Einschüssen im Bett gefunden.«
»Mein Gott. Um welche Uhrzeit denn?«
»Uhrzeit? Keine Ahnung. Das haben sie nicht gesagt. Was macht das schon für einen Unterschied?«
»Haben Sie schon jemanden verhaftet?«
»Nein.«
»Hat der Täter irgendwelche Hinweise hinterlassen? Hat man die Mordwaffe gefunden?«
Ungeduldig antwortete Yasmine: »Es war eine Kurzmeldung, verstehst du? Sie gaben keine Einzelheiten bekannt. Die Reporter haben einen Typen aus dem Büro des D. A. bedrängt, einen Kommentar abzugeben, aber der hat nicht mal Piep gesagt. Veranstalten wir hier ein Quiz?«
»Ich kann nicht glauben, daß er... tot ist.« Claire zögerte vor den beiden letzten Worten, als kämen sie ihr nur widerwillig über die Lippen. »Gestern abend hat er noch im Superdome gepredigt.«
»Sie haben einen Ausschnitt davon im Fernsehen gezeigt. Da stand er mit rotem Gesicht und wehendem weißem Haar und hat von Feuer und Schwefel gezetert. Dann hat er alle Amerikaner aufgefordert, mit ihm auf die Knie zu fallen und um Vergebung zu beten.« Yasmines dünne Brauen zogen sich zusammen. »Wie soll der Herr irgend jemanden beten hören, solange Wilde so rumbrüllt?« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich bin froh, daß er in Zukunft die Klappe hält. Jetzt sind wir ihn endlich los.«
Claire warf Yasmine einen scharfen Blick zu. »Du solltest so etwas nicht sagen.«
»Warum nicht? Ich meine das ganz im Ernst. Ich werde ganz bestimmt nicht in Tränen ausbrechen und so tun, als würde ich seinen Tod betrauern.« Sie lachte kurz und spöttisch. »Wer ihn umgenietet hat, hat einen Orden dafür verdient, daß er das Land von einer Pest befreit hat.«
Der Reverend Jackson Wilde hatte seine Fernsehsendung als Forum für seinen Kreuzzug gegen die Pornografie benutzt. Er hatte dieses Thema zu seinem Auftrag gemacht und gelobt, Amerika von allem Unmoralischen zu befreien. Seine feurigen Predigten hatten Tausende von Gefolgsleuten bis zur Raserei aufgepeitscht. Künstler, Schriftsteller und andere kreative Menschen waren gewaltsam und persönlich angegriffen worden, man hatte ihre Werke verboten und teilweise zerstört.
Viele waren der Auffassung, daß der Kreuzzug des Fernsehpriesters wesentlich mehr bedrohte als nur den Handel mit Pornos. Sie sahen in ihm eine Gefahr für die Rechte, die im Ersten Verfassungszusatz gewährt wurden. Es war nicht eindeutig festgelegt, was obszön war und was nicht, nicht einmal der Oberste Gerichtshof gelangte zu einer klaren Richtlinie. Wildes Gegner protestierten natürlich dagegen, daß er seine Engstirnigkeit zum Maßstab erhob, an dem sich alle Kunst messen lassen sollte.
Der Krieg war erklärt worden. In Städten und Dörfern, in Kinosälen, Buchhandlungen, Büchereien und Museen wurden Schlachten geschlagen. Reverend Wildes Gegner wurden pauschal als »ungläubige Heiden« abgestempelt. Man beschimpfte sie als neuzeitliche Häretiker, Hexen und Heiden, als Widersacher jedes wahren Gläubigen.
Da der Katalog der Dessouskollektion French Silk ebenfalls Jackson Wildes Zensur unterlag, war auch Claire als seine Schöpferin ins Rampenlicht gerückt worden. Seit Monaten hatte Jackson Wilde den Katalog kritisiert und ihn mit harter Pornografie gleichgesetzt. Yasmine hatte Claires Ansicht geteilt, daß es besser war, Wilde und seine lächerlichen Beschuldigungen zu ignorieren, als sich für etwas zu rechtfertigen, was ihrer Meinung nach keiner Rechtfertigung bedurfte.
Aber Wilde ließ sich nicht so leicht ignorieren. Als seine Predigten nicht die gewünschte Reaktion hervorriefen – eine Fernsehdebatte –, hatte er von der Kanzel aus Yasmine und Claire persönlich attackiert. Seine Predigten waren noch feuriger geworden, seit ihn sein Kreuzzug vor einer Woche nach New Orleans, die Heimatstadt von French Silk, geführt hatte. Yasmine hatte sich in New York um andere Geschäftsbelange gekümmert, darum hatte Claire das meiste von Wildes wüsten Beleidigungen abbekommen.
Deshalb wunderte sich Yasmine über Claires Reaktion auf die Nachricht von seinem Tod. French Silk war Claires Kind. Es beruhte auf ihrem Konzept. Ihr Geschäftssinn, ihr Einfallsreichtum und ihr Instinkt für das, was Amerikas Frauen wollten, hatten das Versandhaus so erstaunlich erfolgreich gemacht. Was Yasmine betraf, so hatte es ihrer langsam zu Ende gehenden Karriere zu neuem Aufschwung verholfen. French Silk war für sie die Rettung gewesen, obwohl nicht einmal Claire wußte, in welchem Ausmaß.
Jetzt war der Dreckskerl tot, der all das in Gefahr gebracht hatte. Yasmine fand, das war ein Grund zum Feiern.
Claire sah das allerdings anders: »Wilde hat uns zu Feinden erklärt, und er wurde ermordet. Deshalb sollten wir uns nicht dabei erwischen lassen, wie wir über seinen Tod frohlocken.«
»Man hat mir schon eine Menge vorgeworfen, Claire, aber nie Doppelzüngigkeit. Ich nehme kein Blatt vor den Mund. Ich sage, was ich denke. Du bist in einem Treibhaus für Adelspflänzchen aufgewachsen. Ich hab’ mich in Harlem durchgeschlagen. Ich trete auf wie ein Rollkommando, du löst nicht mal einen Hauch aus, wenn du dich bewegst. Ich hab’ eine Klappe wie der Lincoln-Tunnel. Mit deiner Stimme könntest du Butter zum Schmelzen bringen. Aber selbst deine Geduld kennt Grenzen, Claire Louise Laurent. Du hast diesen Priester fast ein Jahr lang am Arsch gehabt, seit er damals den Katalog von French Silk von seiner goldenen Kanzel geschleudert hat. Du mußt dich gefühlt haben, als würde man in aller Öffentlichkeit dein Kind versohlen. Du hast seine engstirnigen Vorwürfe wie eine echte Südstaatendame mit Haltung und Würde ertragen, aber mal ganz ehrlich, bist du tief drinnen nicht froh, daß dieser frömmelnde Hurensohn tot ist?«
Claire starrte über das Wappen auf der Motorhaube hinweg ins Leere. »Ja«, sagte sie ruhig, langsam. »Tief drinnen bin ich froh, daß dieser Hurensohn tot ist.«
»Hmm. Na ja, vielleicht solltest du dir lieber deinen Rat zu Herzen nehmen und dir was ausdenken, was du ihnen erzählen kannst.«
»Ihnen?« Claire fuhr aus ihrer Trance hoch, und Yasmine deutete auf das Geschehen am nächsten Straßenblock. Mehrere Übertragungswagen mit Satellitenschüsseln auf dem Dach parkten auf der Peters Street vor dem Gebäude von French Silk. Reporter und Kameramänner liefen herum.
»Verdammt!« murmelte Claire. »Ich will mit dieser Sache nichts zu tun haben.«
»Reiß dich zusammen, Baby«, mahnte Yasmine. »Du warst eines von Jackson Wildes Lieblingszielen. Ob du willst oder nicht, du steckst bis über beide Ohren drin.«