Über das Buch:
In seinem autobiografischen Bericht Lügen über meinen Vater erzählt der schottische Lyriker und Romancier John Burnside schonungslos von seiner schwierigen Kindheit, Jugend und Adoleszenz. Das Buch wurde zum Bestseller. Wie alle anderen ist die Fortsetzung. Zu Beginn des Buches ist Burnside drogenabhängig und offiziell als schizophren diagnostiziert. Nach Jahren des Vorsatzes, nur nicht zu werden wie sein Vater, muss er sich eingestehen, dass er genau den gleichen Weg zur Hölle eingeschlagen hat wie der Mann, den er zutiefst verachtet: Drogen, Alkohol, Lügen und die systematische Weigerung, für sich und sein Handeln Verantwortung zu übernehmen. Ganz unten angekommen, beschließt Burnside, ein »bürgerliches« Leben zu führen, zu sein wie alle anderen. Radikal ehrlich erzählt der Autor von seinem langen gewundenen Weg in die Normalität. Es ist die Literatur, die ihn schließlich rettet.
Über den Autor:
John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Im Knaus Verlag sind bisher von ihm sein autobiografischer Bericht Lügen über meinen Vater und die Romane Die Spur des Teufels, Glister, In hellen Sommernächten sowie Haus der Stummen erschienen.
John Burnside
Wie alle anderen
Aus dem Englischen von
Bernhard Robben
Knaus
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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
»Waking up in Toytown«
bei Jonathan Cape, London
Die Zitate stammen aus:
Augustinus, Bekenntnisse, 7. Buch, 1. Kapitel, Leipzig 1888,
Übersetzung von Otto F. Lachmann;
Robert Louis Stevenson, Memoirs of Himself, London 1912, S. 25;
Muriel Rukeyser, Theory of Flight, New Haven, 1935.
Die Kapitelüberschrift »I Dreamed I Saw St. Augustine«
ist der Titel eines Songs von Bob Dylan.
Copyright © der Originalausgabe John Burnside 2010
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
beim Albrecht Knaus Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung und -illustration: Sabine Kwauka
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-17981-6
V002
www.knaus-verlag.de
Dieses Buch ist in faktischer Hinsicht so akkurat, wie es die Erinnerung zulässt. Die Darstellung mancher Personen, vor allem jener mit einem Hang zum Mord, wurde zu ihrem Schutz abgewandelt.
Mein Herz schrie heftig gegen all die Truggebilde, und mit einem Schlag versuchte ich, den mich umwirbelnden Schwarm von Unlauterkeit aus dem Blick meines Geistes zu vertreiben.
Augustinus von Hippo
Zur schlimmsten Folge aber zählt jene zweifelhaftem Tun angedichtete Romantik, die das heranwachsende Kind glauben lässt, nichts sei so glorreich, wie im Ausüben einer verblüffend verruchten Tat vom Tod dahingerafft zu werden. Wohl nie wieder werde ich mich für etwas so begeistern wie damals, als ich in meiner Kindheit um seiner selbst willen tat, was ich für sündhaft hielt.
Robert Louis Stevenson
Fliegen ist unerträglicher Widerspruch.
Muriel Rukeyser
Schlusswort (I)
Vor Kurzem, als ich noch verrückt war, fand ich mich in der seltsamsten Irrenanstalt wieder, die ich je gesehen hatte. Natürlich sind alle Irrenanstalten ein wenig seltsam, doch der Saal, in dem ich mich in besagtem Moment aufhielt, erinnerte mich an einen gewissen Typ Kirche, an einen jener Orte, an denen man meint, jeden Augenblick erscheine Gott oder einer seiner Lakaien mit der Frohen Botschaft, einem Vorgeschmack auf den Weltuntergang oder beidem. Die Patienten waren vorwiegend Männer mittleren Alters, nur am Gartenfenster saß in einem Rollstuhl ein Tattergreis, das Gesicht eingefallen, die Haut am Kopf überstraff gespannt, der zauselige graue Bart mit Eigelb betupft. Frauen sah ich keine, also war ich wohl auf einer Art Krankenstation, nur lag ich nicht im Bett, war nicht mal in der Nähe eines Bettes, und mir schien es früher Nachmittag zu sein, wenn die Patienten doch eigentlich irgendwo in einem Aufenthaltsraum Bibelverse aus Seifenopern heraushören, sich Invasionen von Aliens ansehen oder über die Flure schlurfen und den Feuerlöschern und Acrylbildern an der Wand die Siebenerreihe vorlesen sollten.
Irgendwas stimmte nicht. Ich habe sicher drei, vier Stunden in dem Saal gesessen, mich gefragt, wie ich dort hingekommen war, und darauf gewartet, dass hoffentlich bald jemand begriff, welcher Fehler ihnen unterlaufen sein musste. Niemand kam, nichts wurde korrigiert. Man gab mir nicht mal Medikamente. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht. Diese Patienten gehörten beschäftigt; sie hätten etwas mit den Händen machen, womöglich irgendwo in einem Kunstraum therapeutisch werkeln sollen, doch hielten sie sich hier in diesem merkwürdigen Vestibül auf, hockten auf stapelbaren Stühlen und brabbelten in ihre Morgenmäntel. Und ich war bei ihnen und redete mit den Toten – was ich, wie mir nun klar wurde, bis zu ebendem Moment getan hatte, als ich aufsah und begriff, wo ich war –, hatte mit einem Geist geredet, der mir gegenüber saß, eben noch, direkt hier, dem Geist einer Frau, die den Kopf leicht abwandte, deren Blicke mich mieden. Wer war sie? Erst vor einer Minute hatte ich mit ihr geredet, und sie hatte zugehört, selbst aber nichts gesagt und mich nicht angesehen, hatte nur mit abgewandtem Kopf hin und wieder leicht genickt. Wir waren eine ganze Weile so zusammen gewesen, doch nun war sie plötzlich fort, und ich saß in diesem Saal mit all den Männern, und irgendwas stimmte ganz und gar nicht.
Ich richtete mich auf meinem Stuhl auf und sah mich um, die anderen regten sich kurz, passten ihre Positionen an, was typisch für einen Ort wie diesen ist: Einer bewegt sich, und alle anderen bewegen sich entsprechend, wahren die Balance im Saal. Ich wartete, bis wieder Ruhe eingekehrt war, dann wandte ich den Kopf und entdeckte an der Tür einen Pfleger auf einem Stuhl, keine zwei, drei Meter entfernt. Er war ein noch junger Mann in dunkelblauem Pullover und schwarzen Jeans, und er sah aus, als wäre er gerade von draußen hereingekommen; er hatte etwas Grünliches, eine leichte Kühle an sich. Vielleicht war er ja tatsächlich gerade von draußen hereingekommen, weshalb ich ihn zuvor nicht bemerkt hatte; jetzt saß er jedenfalls auf seinem Plastikstuhl, den Hals ein wenig gereckt, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Er las ein Buch, eine alte Klassikerausgabe von Penguin, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch.
»Hallo?«, sagte ich.
Er musterte mich mit einem Blick, der gutmütiges Wiedererkennen auszudrücken schien, gab aber keine Antwort.
Ich ruckelte mich auf meinem Stuhl zurecht, woraufhin der Saal ebenfalls ruckelte, was der Pfleger aber offenbar nicht bemerkte. »Ich glaube, ich bin bei der Medikamentenausgabe vergessen worden«, sagte ich.
Mit einem schiefen Lächeln schüttelte er den Kopf. »Ich weiß«, erwiderte er. »Sie haben es mir schon gesagt.«
»Was?«
»Dass Sie bei der Medikamentenausgabe vergessen wurden«, antwortete er. »Das haben Sie mir schon gesagt.« Er lächelte nicht mehr, wirkte aber entspannt, als er auf seine Armbanduhr schaute. »Das war vor gut zehn Minuten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Doch.«
»Das war ich nicht«, sagte ich, »das muss jemand …«
»Na ja, egal«, sagte er. »Ist nicht so wichtig. Jedenfalls wurden Sie nicht übergangen, okay?«
Ich nickte. Er hatte natürlich recht. Mir waren meine Medikamente verabreicht worden. Nur fühlte es sich an, als hätte ich keine genommen. Was wiederum bedeutete – und der Gedanke kam mir so plötzlich wie eine Erleuchtung, wodurch der Saal stärker denn je an eine Kirche erinnerte –, dass es für mich keinen Grund gab, hier zu sein. Denn warum sollte ich hier sein, wenn die Medikamente nicht wirkten? Warum sollte ich mit all diesen Männern mittleren Alters, diesem sarkastischen jungen Kerl mit seinem Penguin-Taschenbuch und dem schrecklich alten Mann mit Dotter im Bart in diesem Saal sein, wenn ich auch woanders sein könnte? Mir war zwar nicht klar, wo dieses Woanders sein könnte, doch wusste ich, dass es ein Woanders gab. Warum sollte ich also nicht dahin gehen? Jetzt?
Ich schaute an mir herab. Ich trug Kleider, die ich kannte, und war nicht voll mit Dreck, Kotze oder Blut. Ich trug ein Hemd, eine Jeans und ein Paar Wanderstiefel. Ich sah aus, als wäre ich den Tag über unterwegs gewesen und wartete nun an einem Provinzbahnhof auf den Zug. Normal war ich nicht, doch war auch nichts offensichtlich Unnormales an mir. Säße ich im Warteraum irgendeiner Regionalbahn und jemand käme herein, um auf denselben Zug zu warten, hätte der mir dann angesehen, dass ich ein Irrer war? Sicher nicht.
Ich stand auf.
Der Pfleger hob den Kopf, behielt sein Buch aber in der Hand. Ich warf ihm einen raschen Kein-Problem-muss-nur-aufs-Klo-Blick zu, und er las weiter in seinem Dostojewski. Mein Kopf war jetzt völlig klar: Ich befand mich in keiner Geschlossenen, also konnte ich tun, was ich wollte, und um jede Aufregung zu vermeiden, würde ich einfach gehen, denn wenn ich erwähnte, dass ich gehen wollte, würden sie mich warten lassen, bis mich ein Arzt untersucht hatte, ehe ich auf eigene Verantwortung entlassen wurde, und dann würden sie mir zureden, würden sich genötigt fühlen, mir zu sagen, dass ich gerade erst aufgenommen worden war – ich war mir ziemlich sicher, dass ich gerade erst aufgenommen worden war –, dass ich folglich gegen ihren medizinischen Rat handelte und so weiter und so fort, und all das wollte ich nicht über mich ergehen lassen. Außerdem bestand kein Grund zu der Annahme, dass diese Irrenanstalt anders als die anderen war, in denen ich gewesen bin, was hieß, dass ich nach draußen gehen und mich auf dem Gelände frei bewegen konnte. Das wiederum bedeutete, niemand würde sich viel dabei denken, wenn ich zur Außentür ging – falls ich allerdings tatsächlich erst kürzlich aufgenommen worden war, würde man mich im Auge behalten, schließlich war ich ein neuer Patient, und die standen unter Beobachtung, sofern man sie nicht gleich völlig ausknockte, damit sie den ersten therapeutischen Schlaf schliefen, der so wichtig dafür war, dass gewöhnliche Nullachtfünfzehn-Irre wie ich den Pfad der allmählichen, doch vollständigen Erholung einschlugen. Und so weiter.
Inzwischen ging ich über den Flur. Es war ein langer Flur, die Wand auf der einen Seite mit Holz verkleidet, auf der anderen bodentiefe Fenster, durch die ich das Gebüsch in dem für diese Art Anstalt so typischen, viktorianischen Park sehen konnte, finster, feucht und mit wässrigem Sonnenlicht betüpfelt. Wie aus dem Nichts ertönte plötzlich eine Stimme.
»Alles in Ordnung, John?«
Es war die Stimme einer Frau, und sie klang freundlich. Nicht einmal beunruhigt, nur als wollte sie sich vergewissern, dass ich nicht durcheinander war oder mich verirrt hatte. Lächelnd drehte ich mich um. Die Frau stand in einer Tür, an der ich gerade vorbeigegangen war: klein, mittleres Alter, dicksohlige Tennisschuhe, graue Hose und weiße Bluse. Irgendwas an ihr schien mir vertraut, doch kam ich nicht darauf, was es war.
»Ich dachte, ich mache einen Spaziergang«, sagte ich, »solange die Sonne noch scheint.«
Sie nickte. »Ja gut«, sagte sie, »aber gehen Sie nicht zu weit.«
Meine Hand zuckte unwillkürlich hoch, als wollte sie sich ein irres Winken gestatten, doch es gelang mir, sie wieder unter Kontrolle zu bringen. »Mach ich nicht«, sagte ich, drehte mich immer noch lächelnd wieder um und ging ohne Eile weiter, nur ein Mann, der an einem warmen Sommernachmittag aus keinem besonderen Anlass einen Spaziergang macht.
* * *
Wo ich heute wohne, führt eine Straße am Haus vorbei über die Hügelkuppe zum Dorf und dem dahinterliegenden Meer. Es ist eine schmale Straße mit Bäumen an einer Seite, Feldern auf der anderen, und da ich nicht über den Hügel schauen kann, gleicht sie der Straße in dem Traum, den ich seit Kindertagen habe, der Straße, die ins Jenseits führt – manchmal aber, in einem gewissen Licht, erinnert sie mich auch an jene Straße, über die ich an dem Tag damals ging, an dem ich meine letzte Irrenanstalt in der festen Gewissheit verließ, dass mir jemand nachkommen und mich zurückholen würde. Ich bin lange gelaufen, und ich muss sagen, es hat mir gutgetan. Das tut es meistens.
Als ich noch richtig verrückt war, litt ich an sogenannter Apophänie, ein Zustand, ein Unbehagen, näher beschrieben von Klaus Conrad, dem Spezialisten für Schizophrenie, der den Begriff prägte und darunter das grundlose Sehen von Verbindungen verstand, begleitet von der besonderen Empfindung abnormer Bedeutsamkeit. Mit anderen Worten: Man sieht Muster, wo keine sind, hört Stimmen im allgemeinen Grundrauschen, sieht Gott oder den Teufel im letzten Rest Fertignudeln. Normalen Menschen erlaubt diese Fähigkeit, die Welt zu verstehen und eine bescheidene, begrenzte sowie hoffentlich von anderen geteilte Ordnung zu finden, nach der sich leben lässt. Für den Apophäniker dagegen bedeutet sie eine wilde, gnadenlose Suche nach der einen allumfassenden Ordnung, nach einer Hypernarrative, einem Jenseits, doch findet er letztlich meist nur eine Flutwelle unverständlicher, überwältigender Details: die ganze Welt auf einmal, deren Geschnatter pausenlos in einem Geiste widerhallt, der Ruhe nur im Vergessen finden kann. Ich leide noch heute darunter, kann jetzt aber nicht mehr sagen, ich gehörte zu jenen, die eine Windbö irrtümlich für den Heiligen Geist halten. Ich leide zudem an gelegentlichen Anfällen von Schlaflosigkeit, und wenn es so weit ist, besteht meine bevorzugte Heilmethode darin, ins Dunkel und auf die Straße zu gehen, als ob ich irgendwohin wandern wollte. Im Großen und Ganzen schlafe ich heute besser als früher, aber es gibt immer wieder Zeiten, in denen ich den alten Rhythmen der Schlaflosigkeit verfalle, und dann bleibt die Straße meine beste Kur. Nachts herrscht dort kaum Verkehr; ich kann draußen im Mondlicht stehen und der Stille lauschen – und wenn es denn tatsächlich so etwas wie eine jenseitige Ordnung gäbe, wenn das Jenseits wirklich existierte, dann sähe der Weg dorthin ganz ähnlich aus: eine Straße, eine Weide, ein Streifen Dämmerlicht am Zaun und vielleicht noch ein Fuchs auf seiner ersten Morgenrunde durchs weiß bestäubte Gras.
Übrigens glaube ich tatsächlich immer noch, dass es ein Jenseits gibt. Heute Morgen, bei erstem Sonnenlicht, erhaschte ich erneut einen Blick darauf, als ich durch den überfrorenen Wald nach Hause ging, die Hagebutten weich vom unverhofften Tauwetter, und um mich herum eine Stille, die ich zu fühlen meinte, plötzlich und so bedacht wie der angehaltene Atem eines Chors, ehe das Kyrie angestimmt wird. Ich war im Dunkeln aufgestanden und meiner Paradiesstraße gefolgt – Frau und Kinder schliefen noch – und war seit Wochen, wie mir schien, zum ersten Mal wieder allein draußen und so glücklich wie schon lange nicht mehr, dachte an die Kohlereviere meiner Kindheit, an die Tage in der Irrenanstalt und sah die Erinnerungen langsam zu einer Vergangenheit schrumpfen, die mir nicht mehr wie die meine vorkam, zu einer Vergangenheit der Geschichtsbücher, der Fernsehdokumentationen. Die Vergangenheit der Memoiren, ordentlich, in sich abgeschlossen, mit Anmerkungen versehen und dem Fluss der Zeit entzogen. Ich erinnerte mich an den Hof, in dem ich als Kind gespielt hatte, an den Wald mit seinen Trümmern und Ziegelsteinen, erinnerte mich daran, als sei es etwas, das ich mir auf einer langen Busfahrt ausgedacht hatte, um die Zeit zu vertreiben. Und ich sah jene, mit denen ich an Sonntagnachmittagen oft zusammengesessen hatte, sah ihre Augen und die Finger, mit denen sie Cornedbeefsandwiches hielten oder sich Tee in Porzellantassen einschenkten, Tassen, die ich als das Kind, das ich damals war, zugleich unvergänglich fand und unfassbar zart. Porzellan. Das Wort haben sie gern wiederholt, die Tanten, erwachsenen Vettern und Nachbarn: Porzellan, etwas selten Schönes und Fragiles in ihrem Leben, die auf den Rand jeder Untertasse gemalten Rosen, das Innere jeder Tasse, unglaublich klar und eigenartig besänftigend, dabei hatten wir alle entsetzliche Angst, solange das Geschirr auf dem Tisch stand, Angst davor, dass etwas passieren könnte, dass ein Stück aus dem Service – ganz sicher ein Hochzeitsgeschenk oder das, was in jener Gegend als Erbstück galt – zerbrechen oder einen Schaden nehmen könnte. Ich kannte diese Menschen, wie ich die Etiketten auf den Cornedbeefdosen kannte oder die rosafarbenen, grünblättrigen Muster auf Tassen und Untertassen; sie waren mir ebenso vertraut und waren ebenso vergänglich. Manchmal, wenn Tante Sall oder meine Cousine Madeleine mir ein Stück Kuchen anbot und ich, nachdem ich mir mit einem Seitenblick die Erlaubnis der Mutter geholt hatte, meinen Teller nahm und ihn hochhielt, um ein dickes Stück Obst- oder Marzipantorte zu empfangen, verziert mit abertausend Tupfern schneeweißem Zuckerguss, überfiel mich der entsetzliche Gedanke, dass sie alle – meine Mutter, meine Tanten, meine Cousinen – bald tot sein würden, und dass ich nicht wusste, wohin der Tod sie bringen würde. Obwohl ich damals noch zutiefst religiös war, ein katholischer Bub, der daran dachte, Priester zu werden, hatte ich die Aussicht auf den Himmel aufgegeben, teils weil mir so offensichtlich schien, dass er nur zu unserem Trost ersonnen war, größtenteils aber, weil ich – wenn ich mir ausmalte, wie er sein mochte – stets an die Wäscherei hinter Tante Margarets Haus denken musste, grauweiß, niedrige Decke und trist, die Luft wabernd vom schweren Geruch nach Waschpulver und Stärke. Ich weiß noch, wie mir einmal auf einem Spaziergang mit meiner Mutter der Gedanke kam, dass die Toten wieder zu Erde werden, nicht nur ihre Körper, auch die Seelen, dieses unbeschreibliche Gewebe aus Erinnerungen und Wissen, das sie, wie ich wusste, alle ausnahmslos besessen haben mussten, und ich meinte auf dem Gesicht meiner Mutter den grünlichen Schatten dessen zu erkennen, was kommen würde, eine alte, dunkle Schwere wie auf dem Regenwasser, das sich in der Steinzisterne draußen bei den Wassersilos sammelte. Und doch war da auch eine gewisse Süße, ein Hauch von Maiglöckchen und frisch gemähtem Rasen. Der Eindruck hielt nur einen Moment vor, aber mir blieb die Erinnerung daran bis heute, ich habe sie nie ganz aufgegeben, denn so lachhaft es auch scheinen mag, über das Jenseits zu reden, gehört es doch auch zu der Geschichte, die ich erzählen muss, wenn ich mich vergewissere, wer ich bin. Es ist kein Jenseits im üblichen Sinn, aber eine Geschichte, mit der ich mich abfinden kann, liegt ihr doch die Erkenntnis zugrunde, dass die Toten nicht bei uns bleiben und nicht über unser Leben als Erwachsene wachen, wie sie während unserer Kindheit über uns gewacht haben; sie dauern nicht einmal in wiedererkennbarer Gestalt fort, auch wenn die Welt fortdauert und mit ihr etwas von dem, was sie waren. Manchmal fragt mich mein Sohn, was ich von alldem halte, und ich denke an den wässrigen grünen Schatten auf dem Gesicht meiner Mutter, erwähne ihn aber nie. Ich rede von Ideen und Vorstellungen, Mythen und Erinnerungen, kann ihm aber nicht sagen, woran ich wirklich glaube, dass nämlich beide, die Toten, die einst zu uns gehörten, und der Irre, der ich einst war, hinter einer Darstellung verschwinden, die Jahr um Jahr immer mehr einer Geschichte gleicht. Ich kann keine Worte finden, das andere zu erzählen, was ich in dieser Angelegenheit weiß, dass nämlich die Toten, die wir einst kannten, die aber nie die unseren waren, Tote, die nie irgendwem gehörten, nicht einmal sich selbst, auf immer weiterexistieren, zumindest ein Teil von ihnen, dass sie endlos im Regen aufgehen, in den Blättern und jungen Tieren, die im ersten Morgengrauen jagen. Ich will das nicht Himmel nennen oder Jenseits, da es nicht richtig wäre, es zu benennen, so wie es für mich nicht richtig wäre, meinem Sohn zu sagen, dass ich ihn nie verlasse, und doch gehört es zu dem, was ich weiß, an einem Morgen wie diesem, da die Toten zu Nichts vergehen und die Erinnerungen ans Verrücktsein, die ich für die meinen hielt, in einem anonymen Ereignisgewebe aufgehen. Es gibt eine fachspezifische Bezeichnung dafür, für jenen Zustand, in dem alle Erinnerungen – meine eigenen, die geliehenen, die erfundenen wie auch jene, die mir eingepflanzt wurden, ob mit oder ohne meine Zustimmung – gleichwertig sind, gleich real oder irreal. Manche nennen es post-memory, ein Phänomen, das wir uns leicht erklären können, indem wir über den uns umgebenden Ozean an Informationen reden, über all die Bilderfluten und Erzählungen, doch glaube ich nicht, dass dies genügt. Die bekannten Toten ziehen sich in Geschichten zurück und gesellen sich zu jenen, die wir niemals kannten, damit die Welt fortbestehen und sie selbst weiterziehen können in die Welt, die da kommt – und als ich an diesem Morgen den Hügel hinaufging, konnte ich sie um mich herum spüren, wie sie beiseiterückten, um der Zukunft Platz zu machen, so wie ich schließlich auch spürte, dass mein altes Ich aus den Tagen der Irrenanstalt, das wie ein fahler Schatten bei mir geblieben war, zerbröselte und sich in Luft auflöste.
* * *
In der Anfangszeit des Fernsehens gab es eine spätabendliche Sendung namens Das Schlusswort. Ich meine mich an einen Mann zu erinnern, womöglich ein Priester, der unmittelbar zum Zuschauer redete und Worte des Trostes und der Inspiration spendete, Worte, die andeuteten, dass der Welt eine zutiefst verlässliche Ordnung innewohnte. Das Schlusswort war eine heimelige, leicht rührselige Werbung für eben diese Ordnung, die besagte, wenn man sich in die Hände von jemandem – oder etwas – begab, das klüger und etablierter war als man selbst, dann käme Ordnung ins Leben, so wie es Weihnachten wurde und die Feiertage kamen, was von uns, den Kunden, nichts weiter als stille Akzeptanz verlangte. Es war eine Sendung, die meine Mutter gern sah, weniger wegen der darin zum Ausdruck gebrachten religiösen Ansichten als vielmehr wegen jener sanften Überzeugung, die der Sprecher ausstrahlte, ein Glaube, nicht streitsüchtig oder selbstzufrieden, weder presbyterianisch noch katholisch, eher etwas, das mehr mit Ingwerkeksen und Ceylon-Tee als mit Theologie an sich zu tun hatte. Ich bezweifle keineswegs, dass es mit Ingwerkeksen und Tee mehr auf sich hat als mit der Theologie, vor allem dann, wenn Porzellantassen dabei im Spiel sind, doch als ich an diesem Morgen durch den Wald ging, um mich herum alles still und weiß, erfasste mich ein seltsam nostalgisches Verlangen nach dem Gott meiner Kindheit – und wenn nicht nach dem Gott, dann nach dem Heiligen Geist, jenem, der wie ein Vogel aussah, wenn er sich denn überhaupt die Mühe machte, eine Gestalt anzunehmen. Der spätabendliche Priester hat ihn nur selten erwähnt, ein Glücksfall, wenn man es recht bedenkt. Stattdessen drehten sich seine Sendungen um die alltäglichen Herausforderungen des Lebens in dieser Welt, um Probleme im Umgang mit anderen Menschen, in der Ehe und so weiter, was bedeutete, dass ich den Heiligen Geist ganz für mich allein hatte, mein ureigenes Mysterium, das ich mit hinaus auf die Felder und in den Wald nehmen konnte, eine Subtilität im Schatten der Wassersilos oder der dachlosen Scheune am Ende der Old Perth Road – und während ich am besagten Morgen auf den Hügel stieg, nahm ich an, dass Er oder Es mich immer noch begleiteten und mit mir durch die frostige Welt streiften, eine animalische Präsenz trotz katechistisch versicherter Unsichtbarkeit, mein beharrlicher Begleiter auf dem Weg zum Jenseits des Hier und Jetzt.