Inhaltsverzeichnis
Karl Marx
Das Kapital
Kritik der politischen Ökonomie
Covergestaltung: Johannes Krüger
Digitalisierung: Gunter Pirntke
ISBN: 9783955013073
2014 andersseitig.de
andersseitig Verlag
Helgolandstraße 2
01097 Dresden
info@new-ebooks.de
Inhalt
Impressum
Erster Band: Der Produktionsprozeß des Kapitals
Vor- und Nachworte
I. Ware und Geld
II. Die Verwandlung von Geld in Kapital
III. Die Produktion des absoluten Mehrwerts
IV. Die Produktion des relativen Mehrwerts
V. Die Produktion des absoluten und relativen Mehrwerts
VI. Der Arbeitslohn
VII. Der Akkumulationsprozeß des Kapitals
Fußnoten
Lesarten
Zweiter Band: Der Zirkulationsprozeß des Kapitals
Vorworte
I. Die Metamorphosen des Kapitals und ihr Kreislauf
II. Der Umschlag des Kapitals
III. Die Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals
Fußnoten
Lesarten
Dritter Band: Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion
Vorwort
I. Die Verwandlung des Mehrwerts in Profit und der Rate des Mehrwerts in Profitrate
II. Die Verwandlung des Profits in Durchschnittsprofit
III. Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate
IV. Verwandlung von Warenkapital und Geldkapital in Warenhandlungskapital und Geldhandlungskapital (kaufmännisches Kapital)
V. Spaltung des Profits in Zins und Unternehmergewinn. Das zinstragende Kapital.
VI. Verwandlung von Surplusprofit in Grundrente
VII. Die Revenuen und ihre Quellen
Ergänzung und Nachtrag zum III. Buche des »Kapital«
Fußnoten
Lesarten
Gewidmet
meinem unvergeßlichen Freunde,
dem kühnen, treuen, edlen Vorkämpfer
des Proletariats
WILHELM WOLFF
Geb. zu Tarnau, 21. Juni 1809.
Gest. im Exil zu Manchester 9. Mai 1864.
Vorwort zur ersten Auflage
Das Werk, dessen ersten Band ich dem Publikum übergebe, bildet die Fortsetzung meiner 1859 veröffentlichten Schrift: »Zur Kritik der Politischen Oekonomie«. Die lange Pause zwischen Anfang und Fortsetzung ist einer langjährigen Krankheit geschuldet, die meine Arbeit wieder und wieder unterbrach.
Der Inhalt jener früheren Schrift ist resümiert im ersten Kapitel dieses Bandes. Es geschah dies nicht nur des Zusammenhangs und der Vollständigkeit wegen. Die Darstellung ist verbessert. Soweit es der Sachverhalt irgendwie erlaubte, sind viele früher nur angedeuteten Punkte hier weiter entwickelt, während umgekehrt dort ausführlich Entwickeltes hier nur angedeutet wird. Die Abschnitte über die Geschichte der Wert- und Geldtheorie fallen jetzt natürlich ganz weg. Jedoch findet der Leser der früheren Schritt in den Noten zum ersten Kapitel neue Quellen zur Geschichte jener Theorie eröffnet.
Aller Anfang ist schwer, gilt in jeder Wissenschaft. Das Verständnis des ersten Kapitels, namentlich des Abschnitts, der die Analyse der Ware enthält, wird daher die meiste Schwierigkeit machen. Was nun näher die Analyse der Wertsubstanz und der Wertgröße betrifft, so habe ich sie möglichst popularisiert.1 Die Wertform, deren fertige Gestalt die Geldform, ist sehr inhaltslos und einfach. Dennoch hat der Menschengeist sie seit mehr als 2000 Jahren vergeblich zu ergründen gesucht, während andrerseits die Analyse viel inhaltsvollerer und komplizierterer Formen wenigstens annähernd gelang. Warum? Weil der ausgebildete Körper leichter zu studieren ist als die Körperzelle. Bei der Analyse der ökonomischen Formen kann außerdem weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen. Für die bürgerliche Gesellschaft ist aber die Warenform des Arbeitsprodukts oder die Wertform der Ware die ökonomische Zellenform. Dem Ungebildeten scheint sich ihre Analyse in bloßen Spitzfindigkeiten herumzutreiben. Es handelt sich dabei in der Tat um Spitzfindigkeiten, aber nur so, wie es sich in der mikrologischen Anatomie darum handelt.
Mit Ausnahme des Abschnitts über die Wertform wird man daher dies Buch nicht wegen Schwerverständlichkeit anklagen können. Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen.
Der Physiker beobachtet Naturprozesse entweder dort, wo sie in der prägnantesten Form und von störenden Einflüssen mindest getrübt erscheinen, oder, wo möglich, macht er Experimente unter Bedingungen, welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern. Was ich in diesem Werk zu erforschen habe, ist die kapitalistische Produktionsweise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Ihre klassische Stätte ist bis jetzt England. Dies der Grund, warum es zur Hauptillustration meiner theoretischen Entwicklung dient. Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch die Achseln zucken über die Zustände der englischen Industrie- und Ackerbauarbeiter oder sich optimistisch dabei beruhigen, daß in Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehn, so muß ich ihm zurufen: De te fabula narratur!
An und für sich handelt es sich nicht um den höheren oder niedrigeren Entwicklungsgrad der gesellschaftlichen Antagonismen, welche aus den Naturgesetzen der kapitalistischen Produktion entspringen. Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft.
Aber abgesehn hiervon. Wo die kapitalistische Produktion völlig bei uns eingebürgert ist, z.B. in den eigentlichen Fabriken, sind die Zustände viel schlechter als in England, weil das Gegengewicht der Fabrikgesetze fehlt. In allen andren Sphären quält uns, gleich dem ganzen übrigen kontinentalen Westeuropa, nicht nur die Entwicklung der kapitalistischen Produktion, sondern auch der Mangel ihrer Entwicklung. Neben den modernen Notständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter Notstände, entspringend aus der Fortvegetation altertümlicher, überlebter Produktionsweisen, mit ihrem Gefolg von zeitwidrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Wir leiden nicht nur von den Lebenden, sondern auch von den Toten. Le mort saisit le vif!
Im Vergleich zur englischen ist die soziale Statistik Deutschlands und des übrigen kontinentalen Westeuropas elend. Dennoch lüftet sie den Schleier grade genug, um hinter demselben ein Medusenhaupt ahnen zu lassen. Wir würden vor unsren eignen Zustanden erschrecken, wenn unsre Regierungen und Parlamente, wie in England, periodische Untersuchungskommissionen über die ökonomischen Verhältnisse bestallten, wenn diese Kommissionen mit derselben Machtvollkommenheit, wie in England, zur Erforschung der Wahrheit ausgerüstet würden, wenn es gelänge, zu diesem Behuf ebenso sachverständige, unparteiische und rücksichtslose Männer zu finden, wie die Fabrikinspektoren Englands sind, seine ärztlichen Berichterstatter über »Public Health« (Öffentliche Gesundheit), seine Untersuchungskommissäre über die Exploitation der Weiber und Kinder, über Wohnungs- und Nahrungszustände usw. Perseus brauchte eine Nebelkappe zur Verfolgung von Ungeheuern. Wir ziehen die Nebelkappe tief über Aug' und Ohr, um die Existenz der Ungeheuer wegleugnen zu können.
Man muß sich nicht darüber täuschen. Wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg des 18. Jahrhunderts die Sturmglocke für die europäische Mittelklasse läutete, so der amerikanische Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts für die europäische Arbeiterklasse. In England ist der Umwälzungsprozeß mit Händen greifbar. Auf einem gewissen Höhepunkt muß er auf den Kontinent rückschlagen. Dort wird er sich in brutaleren oder humaneren Formen bewegen, je nach dem Entwicklungsgrad der Arbeiterklasse selbst. Von höheren Motiven abgesehn, gebietet also den jetzt herrschenden Klassen ihr eigenstes Interesse die Wegräumung aller gesetzlich kontrollierbaren Hindernisse, welche die Entwicklung der Arbeiterklasse hemmen. Ich habe deswegen u.a. der Geschichte, dem Inhalt und den Resultaten der englischen Fabrikgesetzgebung einen so ausführlichen Platz in diesem Bande eingeräumt. Eine Nation soll und kann von der andern lernen. Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist - und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen -, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.
Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse ein Wort. Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.
Auf dem Gebiete der politischen Ökonomie begegnet die freie wissenschaftliche Forschung nicht nur demselben Feinde wie auf allen anderen Gebieten. Die eigentümliche Natur des Stoffes, den sie behandelt, ruft wider sie die heftigsten, kleinlichsten und gehässigsten Leidenschaften der menschlichen Brust, die Furien des Privatinteresses, auf den Kampfplatz. Die englische Hochkirche z.B. verzeiht eher den Angriff auf 38 von ihren 39 Glaubensartikeln als auf 1/39 ihres Geldeinkommens. Heutzutage ist der Atheismus selbst eine culpa levisi, verglichen mit der Kritik überlieferter Eigentumsverhältnisse. Jedoch ist hier ein Fortschritt unverkennbar. Ich verweise z.B. auf das in den letzten Wochen veröffentlichte Blaubuch: »Correspondence with Her Majesty's Missions Abroad, regarding industrial Questions and Trades Unions«. Die auswärtigen Vertreter der englischen Krone sprechen es hier mit dürren Worten aus, daß in Deutschland, Frankreich, kurz allen Kulturstaaten des europäischen Kontinents, eine Umwandlung der bestehenden Verhältnisse von Kapital und Arbeit ebenso fühlbar und ebenso unvermeidlich ist als in England. Gleichzeitig erklärte jenseits des Atlantischen Ozeans Herr Wade, Vizepräsident der Vereinigten Staaten von Nordamerika, in öffentlichen Meetings: Nach Beseitigung der Sklaverei trete die Umwandlung der Kapital- und Grundeigentumsverhältnisse auf die Tagesordnung! Es sind dies Zeichen der Zeit, die sich nicht verstecken lassen durch Purpurmäntel oder schwarze Kutten. Sie bedeuten nicht, daß morgen Wunder geschehen werden. Sie zeigen, wie selbst in den herrschenden Klassen die Ahnung aufdämmert, daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist.
Der zweite Band dieser Schrift wird den Zirkulationsprozeß des Kapitals (Buch II) und die Gestaltungen des Gesamtprozesses (Buch III), der abschließende dritte (Buch IV) die Geschichte der Theorie behandeln.
Jedes Urteil wissenschaftlicher Kritik ist mir willkommen. Gegenüber den Vorurteilen der sog. öffentlichen Meinung, der ich nie Konzessionen gemacht habe, gilt mir nach wie vor der Wahlspruch des großen Florentiners:
Segui il tuo corso, e lascia dir le genti!
London, 25. Juli 1867
Karl Marx
Nachwort zur zweiten Auflage
Den Lesern der ersten Ausgabe habe ich zunächst Ausweis zu geben über die in der zweiten Ausgabe gemachten Veränderungen. Die übersichtlichere Einteilung des Buchs springt ins Auge. Zusätzliche Noten sind überall als Noten zur zweiten Ausgabe bezeichnet. Mit Bezug auf den Text selbst ist das Wichtigste:
Kapitel I, 1 ist die Ableitung des Werts durch Analyse der Gleichungen, worin sich jeder Tauschwert ausdrückt, wissenschaftlich strenger durchgeführt, ebenso der in der ersten Ausgabe nur angedeutete Zusammenhang zwischen der Wertsubstanz und der Bestimmung der Wertgröße durch gesellschaftlich-notwendige Arbeitszeit ausdrücklich hervorgehoben. Kapitel I, 3 (Die Wertform) ist gänzlich umgearbeitet, was schon die doppelte Darstellung der ersten Ausgabe gebot. - Im Vorbeigehn bemerke ich, daß jene doppelte Darstellung durch meinen Freund, Dr. L. Kugelmann in Hannover, veranlaßt ward. Ich befand mich bei ihm zum Besuch im Frühling 1867, als die ersten Probebogen von Hamburg ankamen, und er überzeugte mich, daß für die meisten Leser eine nachträgliche, mehr didaktische Auseinandersetzung der Wertform nötig sei. - Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels, »Der Fetischcharakter der Ware etc.«, ist großenteils verändert. Kapitel III, 1 (Maß der Werte) ist sorgfältig revidiert, weil dieser Abschnitt in der ersten Ausgabe, mit Hinweis auf die »Zur Kritik der Polit. Oek.«, Berlin 1859, bereits gegebne Auseinandersetzung, nachlässig behandelt war. Kapitel VII, besonders Teil 2, ist bedeutend umgearbeitet.
Es wäre nutzlos, auf die stellenweisen Textänderungen, oft nur stilistisch, im einzelnen einzugehn. Sie erstrecken sich über das ganze Buch. Dennoch finde ich jetzt bei Revision der zu Paris erscheinenden französischen Übersetzung, daß manche Teile des deutschen Originals hier mehr durchgreifende Umarbeitung, dort größere stilistische Korrektur oder auch sorgfältigere Beseitigung gelegentlicher Versehn erheischt hatten. Es fehlte dazu die Zeit, indem ich erst im Herbst 1871, mitten unter andren dringenden Arbeiten die Nachricht erhielt, daß das Buch vergriffen sei, der Druck der zweiten Ausgabe aber bereits im Januar 1872 beginnen sollte.
Das Verständnis, welches »Das Kapital« rasch in weiten Kreisen der deutschen Arbeiterklasse fand, ist der beste Lohn meiner Arbeit. Ein Mann, ökonomisch auf dem Bourgeoisstandpunkt, Herr Mayer, Wiener Fabrikant, tat in einer während des deutsch-französischen Kriegs veröffentlichten Broschüre treffend dar, daß der große theoretische Sinn, der als deutsches Erbgut galt, den sog. gebildeten Klassen Deutschlands durchaus abhanden gekommen ist, dagegen in seiner Arbeiterklasse neu auflebt.
Die politische Ökonomie blieb in Deutschland bis zu dieser Stunde eine ausländische Wissenschaft. Gustav von Gülich hat in »Geschichtliche Darstellung des Handels, der Gewerbe usw.«, namentlich in den 1830 herausgegebnen zwei ersten Bänden seines Werkes, großenteils schon die historischen Umstände erörtert, welche die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise bei uns hemmten, daher auch den Aufbau der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Es fehlte also der lebendige Boden der politischen Ökonomie. Sie ward als fertige Ware importiert aus England und Frankreich: ihre deutschen Professoren blieben Schüler. Der theoretische Ausdruck einer fremden Wirklichkeit verwandelte sich unter ihrer Hand in eine Dogmensammlung, von ihnen gedeutet im Sinn der sie umgebenden kleinbürgerlichen Welt, also mißdeutet. Das nicht ganz unterdrückbare Gefühl wissenschaftlicher Ohnmacht und das unheimliche Gewissen, auf einem in der Tat fremdartigen Gebiet schulmeistern zu müssen, suchte man zu verstecken unter dem Prunk literarhistorischer Gelehrsamkeit oder durch Beimischung fremden Stoffes, entlehnt den sog. Kameralwissenschaften, einem Mischmasch von Kenntnissen, deren Fegfeuer der hoffnungsvolleA1 Kandidat deutscher Bürokratie zu bestehn hat.
Seit 1848 hat sich die kapitalistische Produktion rasch in Deutschland entwickelt und treibt heutzutage bereits ihre Schwindelblüte. Aber unsren Fachleuten blieb das Geschick gleich abhold. Solange sie politische Ökonomie unbefangen treiben konnten, fehlten die modernen ökonomischen Verhältnisse in der deutschen Wirklichkeit. Sobald diese Verhältnisse ins Leben traten, geschah es unter Umständen, welche ihr unbefangenes Studium innerhalb des bürgerlichen Gesichtskreises nicht länger zulassen. Soweit sie bürgerlich ist, d.h. die kapitalistische Ordnung statt als geschichtlich vorübergehende Entwicklungsstufe, umgekehrt als absolute und letzte Gestalt der gesellschaftlichen Produktion auffaßt, kann die politische Ökonomie nur Wissenschaft bleiben, solange der Klassenkampf latent bleibt oder sich in nur vereinzelten Erscheinungen offenbart.
Nehmen wir England. Seine klassische politische Ökonomie fällt in die Periode des unentwickelten Klassenkampfs. Ihr letzter großer Repräsentant, Ricardo, macht endlich bewußt den Gegensatz der Klasseninteressen, des Arbeitslohns und des Profits, des Profits und der Grundrente, zum Springpunkt seiner Forschungen, indem er diesen Gegensatz naiv als gesellschaftliches Naturgesetz auffaßt. Damit war aber auch die bürgerliche Wissenschaft der Ökonomie bei ihrer unüberschreitbaren Schranke angelangt. Noch bei Lebzeiten Ricardos und im Gegensatz zu ihm trat ihr in der Person Sismondis die Kritik gegenüber.2
Die nachfolgende Zeit von 1820-1830 zeichnet sich in England aus durch wissenschaftliche Lebendigkeit auf dem Gebiet der politischen Ökonomie. Es war die Periode wie der Vulgarisierung und Ausbreitung der Ricardoschen Theorie, so ihres Kampfes mit der alten Schule. Es wurden glänzende Turniere gefeiert. Was damals geleistet worden, ist dem europäischen Kontinent wenig bekannt, da die Polemik großenteils in Revueartikeln, Gelegenheitsschriften und Pamphlets zerstreut ist. Der unbefangne Charakter dieser Polemik - obgleich die Ricardosche Theorie ausnahmsweise auch schon als Angriffswaffe wider die bürgerliche Wirtschaft dient - erklärt sich aus den Zeitumständen. Einerseits trat die große Industrie selbst nur aus ihrem Kindheitsalter heraus, wie schon dadurch bewiesen ist, daß sie erst mit der Krise von 1825 den periodischen Kreislauf ihres modernen Lebens eröffnet. Andrerseits blieb der Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit in den Hintergrund gedrängt, politisch durch den Zwist zwischen den um die Heilige Allianz gescharten Regierungen und Feudalen und der von der Bourgeoisie geführten Volksmasse, ökonomisch durch den Hader des industriellen Kapitals mit dem aristokratischen Grundeigentum, der sich in Frankreich hinter dem Gegensatz von Parzelleneigentum und großem Grundbesitz verbarg, in England seit den Korngesetzen offen ausbrach. Die Literatur der politischen Ökonomie in England erinnert während dieser Periode an die ökonomische Sturm- und Drangperiode in Frankreich nach Dr. Quesnays Tod, aber nur wie ein Altweibersommer an den Frühling erinnert. Mit dem Jahr 1830 trat die ein für allemal entscheidende Krise ein.
Die Bourgeoisie hatte in Frankreich und England politische Macht erobert. Von da an gewann der Klassenkampf, praktisch und theoretisch, mehr und mehr ausgesprochne und drohende Formen. Er läutete die Totenglocke der wissenschaftlichen bürgerlichen Ökonomie. Es handelte sich jetzt nicht mehr darum, ob dies oder jenes Theorem wahr sei, sondern ob es dem Kapital nützlich oder schädlich, bequem oder unbequem, ob polizeiwidrig oder nicht. An die Stelle uneigennütziger Forschung trat bezahlte Klopffechterei, an die Stelle unbefangner wissenschaftlicher Untersuchung das böse Gewissen und die schlechte Absicht der Apologetik. Indes selbst die zudringlichen Traktätchen, welche die Anti-Corn-Law League, mit den Fabrikanten Cobden und Bright an der Spitze, in die Welt schleuderte, boten, wenn kein wissenschaftliches, doch ein historisches Interesse durch ihre Polemik gegen die grundeigentümliche Aristokratie. Auch diesen letzten Stachel zog die Freihandelsgesetzgebung seit Sir Robert Peel der Vulgärökonomie aus.
Die kontinentale Revolution von 1848 schlug auch auf England zurück. Männer, die noch wissenschaftliche Bedeutung beanspruchten und mehr sein wollten als bloße Sophisten und Sykophanten der herrschenden Klassen, suchten die politische Ökonomie des Kapitals in Einklang zu setzen mit den jetzt nicht länger zu ignorierenden Ansprüchen des Proletariats. Daher ein geistloser Synkretismus, wie ihn John Stuart Mill am besten repräsentiert. Es ist eine Bankrotterklärung der »bürgerlichen« Ökonomie, welche der große russische Gelehrte und Kritiker N. Tschernyschewski in seinem Werk »Umrisse der politischen Ökonomie nach Mill« bereits meisterhaft beleuchtet hat.
In Deutschland kam also die kapitalistische Produktionsweise zur Reife, nachdem ihr antagonistischer Charakter sich in Frankreich und England schon durch geschichtliche Kämpfe geräuschvoll offenbart hatte, während das deutsche Proletariat bereits ein viel entschiedneres theoretisches Klassenbewußtsein besaß als die deutsche Bourgeoisie. Sobald eine bürgerliche Wissenschaft der politischen Ökonomie hier möglich zu werden schien, war sie daher wieder unmöglich geworden.
Unter diesen Umständen teilten sich ihre Wortführer in zwei Reihen. Die einen, kluge, erwerbslustige, praktische Leute, scharten sich um die Fahne Bastiats, des flachsten und daher gelungensten Vertreters vulgär-ökonomischer Apologetik; die andren, stolz auf die Professoralwürde ihrer Wissenschaft, folgten J. St. Mill in dem Versuch, Unversöhnbares zu versöhnen. Wie zur klassischen Zeit der bürgerlichen Ökonomie blieben die Deutschen auch zur Zeit ihres Verfalls bloße Schüler, Nachbeter und Nachtreter, Kleinhausierer des ausländischen Großgeschäfts.
Die eigentümliche historische Entwicklung der deutschen Gesellschaft schloß hier also jede originelle Fortbildung der »bürgerlichen« Ökonomie aus, aber nicht deren - Kritik. Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist - das Proletariat.
Die gelehrten und ungelehrten Wortführer der deutschen Bourgeoisie haben »Das Kapital« zunächst totzuschweigen versucht, wie ihnen das mit meinen frühern Schriften gelungen war. Sobald diese Taktik nicht länger den Zeitverhältnissen entsprach, schrieben sie, unter dem Vorwand, mein Buch zu kritisieren, Anweise »Zur Beruhigung des bürgerlichen Bewußtseins«, fanden aber in der Arbeiterpresse - sieh z.B. Joseph Dietzgens Aufsätze im »Volksstaat« -überlegene Kämpen, denen sie die Antwort bis heute schuldig.3
Eine treffliche russische Übersetzung des »Kapitals« erschien im Frühling 1872 zu Petersburg. Die Auflage von 3000 Exemplaren ist jetzt schon beinahe vergriffen. Bereits 1871 hatte Herr N. Sieber (Siber), Professor der politischen Ökonomie an der Universität zu Kiew, in seiner Schrift: »Teoria cennosti i kapitala« (»D. Ricardos Theorie des Werts und des Kapitals etc.«) meine Theorie des Werts, des Geldes und des Kapitals in ihren Grundzügen als notwendige Fortbildung der Smith-Ricardoschen Lehre nachgewiesen. Was den Westeuropäer beim Lesen seines gediegnen Buchs überrascht, ist das konsequente Festhalten des rein theoretischen Standpunkts.
Die im »Kapital« angewandte Methode ist wenig verstanden worden, wie schon die einander widersprechenden Auffassungen derselben beweisen.
So wirft mir die Pariser »Revue Positiviste« vor, einerseits, ich behandle die Ökonomie metaphysisch, andrerseits - man rate! -, ich beschränke mich auf bloß kritische Zergliederung des Gegebnen, statt Rezepte (comtistische?) für die Garküche der Zukunft zu verschreiben. Gegen den Vorwurf der Metaphysik bemerkt Prof. Sieber:
»Soweit es sich um die eigentliche Theorie handelt, ist die Methode von Man die deduktive Methode der ganzen englischen Schule, deren Mangel und Vorzüge den besten theoretischen Ökonomisten gemein sind.«
Herr M. Block - »Les Théoriciens du Socialisme en Allemagne. Extrait du Journal des Économistes, juillet et août 1872« - entdeckt, daß meine Methode analytisch ist, und sagt u.a.:
»Par cet ouvrage M. Marx se classe parmi les esprits analytiques les plus éminents.«
Die deutschen Rezensenten schreien natürlich über Hegelsche Sophistik. Der Petersburger »Westnik« (Europäischer Bote), in einem Artikel, der ausschließlich die Methode des »Kapital« behandelt (Mainummer 1872, p. 427-436), findet meine Forschungsmethode streng realistisch, die Darstellungsmethode aber unglücklicherweise deutsch-dialektisch. Er sagt:
»Auf den ersten Blick, wenn man nach der äußern Form der Darstellung urteilt, ist Marx der größte Idealphilosoph, und zwar im deutschen, d.h. schlechten Sinn des Wortes. In der Tat aber ist er unendlich mehr Realist als alle seine Vorgänger im Geschäft der ökonomischen Kritik... Man kann ihn in keiner Weise einen Idealisten nennen.«
Ich kann dem Herrn Verfasser nicht besser antworten als durch einige Auszüge aus seiner eignen Kritik, die zudem manchen meiner Leser, dem das russische Original unzugänglich ist, interessieren mögen.
Nach einem Zitat aus meiner Vorrede zur »Kritik der Pol. Oek.«, Berlin 1859, p. IV-VII, wo ich die materialistische Grundlage meiner Methode erörtert habe, fährt der Herr Verfasser fort:
»Für Marx ist nur eins wichtig: das Gesetz der Phänomene zu finden, mit deren Untersuchung er sich beschäftigt. Und ihm ist nicht nur das Gesetz wichtig, das sie beherrscht, soweit sie eine fertige Form haben und in einem Zusammenhang stehn, wie er in einer gegebnen Zeitperiode beobachtet wird. Für ihn ist noch vor allem wichtig das Gesetz ihrer Veränderung, ihrer Entwicklung, d.h. der Übergang auf einer Form in die andre, aus einer Ordnung des Zusammenhangs in eine andre. Sobald er einmal dies Gesetz entdeckt hat, untersucht er im Detail die Folgen, worin es sich im gesellschaftlichen Leben kundgibt... Demzufolge bemüht sich Marx nur um eins: durch genaue wissenschaftliche Untersuchung die Notwendigkeit bestimmter Ordnungen der gesellschaftlichen Verhältnisse nachzuweisen und soviel als möglich untadelhaft die Tatlachen zu konstatieren, die ihm zu Ausgangs- und Stützpunkten dienen. Hierzu ist vollständig hinreichend, wenn er mit der Notwendigkeit der gegenwärtigen Ordnung zugleich die Notwendigkeit einer andren Ordnung nachweist, worin die erste unvermeidlich übergehn muß, ganz gleichgültig, ob die Menschen das glauben oder nicht glauben, ob sie sich dessen bewußt oder nicht bewußt sind. Marx betrachtet die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozeß, den Gesetze lenken, die nicht nur von dem Willen, dem Bewußtsein und der Absicht der Menschen unabhängig sind, sondern vielmehr umgekehrt deren Wollen, Bewußtsein und Absichten bestimmen... Wenn das bewußte Element in der Kulturgeschichte eine so untergeordnete Rolle spielt, dann versteht es sich von selbst, daß die Kritik, deren Gegenstand die Kultur selbst ist, weniger als irgend etwas andres, irgendeine Form oder irgendein Resultat des Bewußtseins zur Grundlage haben kann. Das heißt, nicht die Idee, sondern nur die äußere Erscheinung kann ihr als Ausgangspunkt dienen. Die Kritik wird sich beschränken auf die Vergleichung und Konfrontierung einer Tatsache, nicht mit der Idee, sondern mit der andren Tatsache. Für sie ist es nur wichtig, daß beide Tatsachen möglichst genau untersucht werden und wirklich die eine gegenüber der andren verschiedne Entwicklungsmomente bilden, vor allem aber wichtig, daß nicht minder genau die Serie der Ordnungen erforscht wird, die Aufeinanderfolge und Verbindung, worin die Entwicklungsstufen erscheinen. Aber, wird man sagen, die allgemeinen Gesetze des Ökonomischen Lebens sind ein und dieselben; ganz gleichgültig, ob man sie auf Gegenwart oder Vergangenheit anwendet. Grade das leugnet Marx. Nach ihm existieren solche abstrakte Gesetze nicht... Nach seiner Meinung besitzt im Gegenteil jede historische Periode ihre eignen Gesetze... Sobald das Leben eine gegebene Entwicklungsperiode überlebt hat, aus einem gegebnen Stadium in ein andres übertritt, beginnt es auch durch andre Gesetze gelenkt zu werden. Mit einem Wort, das ökonomische Leben bietet uns eine der Entwicklungsgeschichte auf andren Gebieten der Biologie analoge Erscheinung... Die alten Ökonomen verkannten die Natur ökonomischer Gesetze, als sie dieselben mit den Gesetzen der Physik und Chemie verglichen... Eine tiefere Analyse der Erscheinungen bewies, daß soziale Organismen sich voneinander ebenso gründlich unterscheiden als Pflanzen- und Tierorganismen... Ja, eine und dieselbe Erscheinung unterliegt ganz und gar verschiednen Gesetzen infolge des verschiednen Gesamtbaus jener Organismen, der Abweichung ihrer einzelnen Organe, des Unterschieds der Bedingungen, worin sie funktionieren usw. Marx leugnet z.B., daß das Bevölkerungsgesetz dasselbe ist zu allen Zeiten und an allen Orten. Er versichert im Gegenteil, daß jede Entwicklungsstufe ihr eignes Bevölkerungsgesetz hat... Mit der verschiednen Entwicklung der Produktivkraft ändern sich die Verhältnisse und die sie regelnden Gesetze. Indem sich Marx das Ziel stellt, von diesem Gesichtspunkt aus die kapitalistische Wirtschaftsordnung zu erforschen und zu erklären, formuliert er nur streng wissenschaftlich das Ziel, welches jede genaue Untersuchung des ökonomischen Lebens haben muß... Der wissenschaftliche Wert solcher Forschung liegt in der Aufklärung der besondren Gesetze, welche Entstehung, Existenz, Entwicklung, Tod eines gegebenen gesellschaftlichen Organismus und seinen Ersatz durch einen andren, höheren regeln. Und diesen Wert hat in der Tat das Buch von Marx.«
Indem der Herr Verfasser das, was er meine wirkliche Methode nennt, so treffend und, soweit meine persönliche Anwendung derselben in Betracht kommt, so wohlwollend schildert, was andres hat er geschildert als die dialektische Methode?
Allerdings muß sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden. Die Forschung hat den Stoß sich im Detail anzueignen, seine verschiednen Entwicklungsformen zu analysieren und deren innres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden. Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.
Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.
Die mystifizierende Seite der Hegelschen Dialektik habe ich vor beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war. Aber grade als ich den ersten Band des »Kapital« ausarbeitete, gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige Epigonentum, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort führt, darin, Hegel zu behandeln, wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat, nämlich als »toten Hund«. Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers und kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.
In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Greuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.
Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt - die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preußisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken.
London, 24. Januar 1873
Karl Marx
Vor- und Nachwort zur französischen Ausgabe
London, 18. März 1872
An den Bürger Maurice La Châtre
Werter Bürger!
Ich begrüße ihre Idee, die Übersetzung des »Kapitals« in periodischen Lieferungen herauszubringen. In dieser Form wird das Werk der Arbeiterklasse leichter zugänglich sein, und diese Erwägung ist für mich wichtiger als alle anderen.
Das ist die Vorderseite Ihrer Medaille, aber hier ist auch die Kehrseite: Die Untersuchungsmethode, deren ich mich bedient habe und die auf ökonomische Probleme noch nicht angewandt wurde, macht die Lektüre der ersten Kapitel ziemlich schwierig, und es ist zu befürchten, daß das französische Publikum, stets ungeduldig nach dem Ergebnis und begierig, den Zusammenhang zwischen den allgemeinen Grundsätzen und den Fragen zu erkennen, die es unmittelbar bewegen, sich abschrecken läßt, weil es nicht sofort weiter vordringen kann.
Das ist ein Nachteil, gegen den ich nichts weiter unternehmen kann, als die nach Wahrheit strebenden Leser von vornherein darauf hinzuweisen und gefaßt zu machen. Es gibt keine Landstraße für die Wissenschaft, und nur diejenigen haben Aussicht, ihre lichten Höhen zu erreichen, die die Mühe nicht scheuen, ihre steilen Pfade zu erklimmen.
Karl Marx
An den Leser
Herr J. Roy hat es unternommen, eine so genaue und selbst wörtliche Übersetzung wie möglich zu geben; er hat seine Aufgabe peinlich genau erfüllt. Aber gerade seine peinliche Genauigkeit hat mich gezwungen, die Fassung zu ändern, um sie dem Leser zugänglicher zu machen. Diese Änderungen, die von Tag zu Tag gemacht wurden, da das Buch in Lieferungen erschien, sind mit ungleicher Sorgfalt ausgeführt worden und mußten Stilungleichheiten hervorrufen.
Nachdem ich mich dieser Revisionsarbeit einmal unterzogen hatte, bin ich dazu gekommen, sie auch auf den zugrunde gelegten Originaltext anzuwenden (die zweite deutsche Ausgabe), einige Erörterungen zu vereinfachen, andre zu vervollständigen, ergänzendes historisches oder statistisches Material zu geben, kritische Bemerkungen hinzuzufügen etc. Welches auch die literarischen Mängel dieser französischen Ausgabe sein mögen, sie besitzt einen wissenschaftlichen Wert unabhängig vom Original und sollte selbst von Lesern herangezogen werden, die der deutschen Sprache mächtig sind.
Ich gebe weiter unten die Stellen des Nachworts zur zweiten deutschen Ausgabe, die sich mit der Entwicklung der politischen Ökonomie in Deutschland und der in diesem Werk angewandten Methode befassen.
London, 28. April 1875
Karl Marx
Zur dritten Auflage
Es war Marx nicht vergönnt, diese dritte Auflage selbst druckfertig zu machen. Der gewaltige Denker, vor dessen Größe sich jetzt auch die Gegner neigen, starb am 14. März 1883.
Auf mich, der ich in ihm den vierzigjährigen, besten, unverbrüchlichsten Freund verlor, den Freund, dem ich mehr verdanke, als sich mit Worten sagen läßt, auf mich fiel nun die Pflicht, die Herausgabe sowohl dieser dritten Auflage wie des handschriftlich hinterlassenen zweiten Bandes zu besorgen. Wie ich den ersten Teil dieser Pflicht erfüllt, darüber bin ich dem Leser hier Rechenschaft schuldig.
Marx hatte anfangs vor, den Text des ersten Bandes großenteils umzuarbeiten, manche theoretischen Punkte schärfer zu fassen, neue einzufügen, das geschichtliche und statistische Material bis auf die neueste Zeit zu ergänzen. Sein Krankheitszustand und der Drang, zur Schlußredaktion des zweiten Bandes zu kommen, ließen ihn hierauf verzichten. Nur das Nötigste sollte geändert, nur die Zusätze eingefügt werden, die die inzwischen erschienene französische Ausgabe (»Le Capital. Par Karl Marx«, Paris, Lachâtre 1873) schon enthielt.
Im Nachlaß fand sich denn auch ein deutsches Exemplar, das von ihm stellenweise korrigiert und mit Hinweisen auf die französische Ausgabe versehen war; ebenso ein französisches, worin er die zu benutzenden Stellen genau bezeichnet hatte. Diese Änderungen und Zusätze beschränken sich, mit wenigen Ausnahmen, auf den letzten Teil des Buchs, den Abschnitt: Der Akkumulationsprozeß des Kapitals. Hier folgte der bisherige Text mehr als sonst dem ursprünglichen Entwurf, während die früheren Abschnitte gründlicher überarbeitet waren. Der Stil war daher lebendiger, mehr aus einem Guß, aber auch nachlässiger, mit Anglizismen versetzt, stellenweise undeutlich; der Entwicklungsgang bot hier und da Lücken, indem einzelne wichtige Momente nur angedeutet waren.
Was den Stil betrifft, so hatte Marx mehrere Unterabschnitte selbst gründlich revidiert und mir darin, sowie in häufigen mündlichen Andeutungen, das Maß gegeben, wie weit ich gehn durfte in der Entfernung englischer technischer Ausdrücke und sonstiger Anglizismen. Die Zusätze und Ergänzungen hätte Marx jedenfalls noch überarbeitet und das glatte Französisch durch sein eignes gedrungenes Deutsch ersetzt; ich mußte mich begnügen, sie unter möglichstem Anschluß an den ursprünglichen Text zu übertragen.
Es ist also in dieser dritten Auflage kein Wort geändert, von dem ich nicht bestimmt weiß, daß der Verfasser selbst es geändert hätte. Es konnte mir nicht in den Sinn kommen, in das »Kapital« den landläufigen Jargon einzuführen, in welchem deutsche Ökonomen sich auszudrücken pflegen, jenes Kauderwelsch, worin z.B. derjenige, der sich für bare Zahlung von andern ihre Arbeit geben läßt, der Arbeitgeber heißt, und Arbeitnehmer derjenige, dessen Arbeit ihm für Lohn abgenommen wird. Auch im Französischen wird travail im gewöhnlichen Leben im Sinn von »Beschäftigung« gebraucht. Mit Recht aber würden die Franzosen den Ökonomen für verrückt halten, der den Kapitalisten donneur de travail, und den Arbeiter receveur de travail nennen wollte.
Ebensowenig habe ich mir erlaubt, das im Text durchweg gebrauchte englische Geld, Maß und Gewicht auf seine neudeutschen Äquivalente zu reduzieren. Als die erste Auflage erschien, gab es in Deutschland so viel Arten von Maß und Gewicht wie Tage im Jahr, dazu zweierlei Mark (die Reichsmark galt damals nur im Kopf Soetbeers, der sie Ende der dreißiger Jahre erfunden), zweierlei Gulden und mindestens dreierlei Taler, darunter einer, dessen Einheit das »neue Zweidrittel« war. In der Naturwissenschaft herrschte metrisches, auf dem Weltmarkt englisches Maß und Gewicht. Unter solchen Umständen waren englische Maßeinheiten selbstverständlich für ein Buch, das seine tatsächlichen Belege fast ausschließlich aus englischen industriellen Verhältnissen zu nehmen genötigt war. Und dieser letzte Grund bleibt auch noch heute entscheidend, um so mehr, als die bezüglichen Verhältnisse auf dem Weltmarkt sich kaum geändert haben und namentlich für die ausschlaggebenden Industrien - Eisen und Baumwolle - englisches Maß und Gewicht noch heute fast ausschließlich herrscht.
Schließlich noch ein Wort über Marx' wenig verstandne Art zu zitieren. Bei rein tatsächlichen Angaben und Schilderungen dienen die Zitate, z.B. aus den englischen Blaubüchern, selbstredend als einfache Belegstellen. Anders aber da, wo theoretische Ansichten andrer Ökonomen zitiert werden. Hier soll das Zitat nur feststellen, wo, wann und von wem ein im Lauf der Entwicklung sich ergebender ökonomischer Gedanke zuerst klar ausgesprochen ist. Wobei es nur darauf ankommt, daß die fragliche ökonomische Vorstellung für die Geschichte der Wissenschaft Bedeutung hat, daß sie der mehr oder weniger adäquate theoretische Ausdruck der ökonomischen Lage ihrer Zeit ist. Ob aber diese Vorstellung für den Standpunkt des Verfassers noch absolute oder relative Geltung hat, oder ob sie bereits ganz der Geschichte verfallen, darauf kommt es ganz und gar nicht an. Diese Zitate bilden also nur einen der Geschichte der ökonomischen Wissenschaft entlehnten laufenden Kommentar zum Text und stellen die einzelnen wichtigeren Fortschritte der ökonomischen Theorie nach Datum und Urheber fest. Und das war sehr nötig in einer Wissenschaft, deren Geschichtschreiber bisher nur durch tendenziöse, fast streberhafte Unwissenheit sich auszeichnen. - Man wird es nun auch begreiflich finden, weshalb Marx, im Einklang mit dem Nachwort zur zweiten Ausgabe, nur ganz ausnahmsweis deutsche Ökonomen anzuführen in den Fall kommt.
Der zweite Band wird hoffentlich im Laufe des Jahres 1884 erscheinen können.
London, 7. Novbr. 1883
Friedrich Engels
Vorwort zur englischen Ausgabe
Die Veröffentlichung einer englischen Ausgabe des »Kapital« bedarf keiner Rechtfertigung. Im Gegenteil, es kann eine Erklärung darüber erwartet werden, warum diese englische Ausgabe bis jetzt verzögert worden ist, wenn man sieht, daß seit einigen Jahren die in diesem Buch vertretenen Theorien in der periodischen Presse und Tagesliteratur sowohl Englands wie Amerikas ständig erwähnt, angegriffen und verteidigt, erklärt und mißdeutet wurden.
Als es, bald nach dem Tode des Verfassers im Jahre 1883, klar wurde, daß eine englische Ausgabe des Werkes wirklich benötigt wurde, erklärte sich Herr Samuel Moore, ein langjähriger Freund Marx' und des Schreibers dieser Zeilen, und mit dem Buch selbst vertrauter vielleicht als irgend jemand, dazu bereit, die Übersetzung zu übernehmen, die es die literarischen Testamentsvollstrecker von Marx drängte, der Öffentlichkeit vorzulegen. Es wurde vereinbart, daß ich das Manuskript mit dem Original vergleichen und solche Änderungen vorschlagen sollte, die ich für ratsam hielte. Als es sich nach und nach herausstellte, daß seine beruflichen Beschäftigungen Herrn Moore hinderten, die Übersetzung so schnell fertigzustellen, wie wir alle wünschten, nahmen wir freudig das Angebot Dr. Avelings an, einen Teil der Arbeit zu übernehmen; gleichzeitig erbot sich Frau Aveling, Marx' jüngste Tochter, die Zitate zu kontrollieren und den Originaltext der zahlreichen, englischen Autoren und Blaubüchern entnommenen und von Marx ins Deutsche übersetzten Stellen wiederherzustellen. Das ist durchgängig geschehen bis auf einige unvermeidbare Ausnahmen.
Folgende Teile des Buches sind von Dr. Aveling übersetzt worden: 1. Die Kapitel X (Der Arbeitstag) und XI (Rate und Masse des Mehrwerts); 2. der Abschnitt VI (Der Arbeitslohn, umfassend die Kapitel XIX bis XXII): 3. von Kapitel XXIV, Abteilung 4 (Umstände, welche usw.) bis zum Ende des Buches, umfassend den letzten Teil von Kapitel XXIV, Kapitel XXV und den ganzen Abschnitt VIII (die Kapitel XXVI bis XXXIII); 4. die zwei Vorworte des Verfassers. Der übrige Teil des Buches ist von Herrn Moore übersetzt worden. Während so jeder der Übersetzer für seinen Anteil an der Arbeit allein verantwortlich ist, trage ich eine Gesamtverantwortung für das Ganze.
Die dritte deutsche Ausgabe, die durchweg zur Grundlage unserer Arbeit genommen wurde, ist von mir 1883 vorbereitet worden unter Zuhilfenahme der vom Verfasser hinterlassenen Notizen, die jene Stellen der zweiten Ausgabe angeben, welche durch bezeichnete Stellen des 1873 veröffentlichten französischen Textes ersetzt werden sollten.4 Die so im Text der zweiten Ausgabe zustande gekommenen Veränderungen stimmten im allgemeinen mit den Änderungen überein, die Marx in einer Reihe von handschriftlichen Anweisungen für eine englische Übersetzung vorgeschrieben hat, die vor zehn Jahren in Amerika geplant war, aber hauptsächlich aus Mangel an einem tüchtigen und geeigneten Übersetzer aufgegeben wurde. Dies Manuskript wurde uns von unserem alten Freund, Herrn F. A. Sorge in Hoboken, N[ew] J[ersey], zur Verfügung gestellt. Es bezeichnet noch einige weitere Einschaltungen aus der französischen Ausgabe; aber da es so viele Jahre älter ist als die letzten Anweisungen für die dritte Ausgabe, habe ich mich nicht für befugt gehalten, anders davon Gebrauch zu machen als ausnahmsweise und besonders in Fällen, in denen es uns über Schwierigkeiten hinweghalf. Ebenso ist der französische Text bei den meisten schwierigen Stellen herangezogen worden als Anhaltspunkt dafür, was der Verfasser selbst zu opfern bereit war, wo immer etwas von der ganzen Bedeutung des Originals in der Übersetzung geopfert werden mußte.
Eine Schwierigkeit besteht dennoch, die wir dem Leser nicht ersparen konnten: die Benutzung von gewissen Ausdrücken in einem nicht nur vom Sprachgebrauch des täglichen Lebens, sondern auch dem der gewöhnlichen politischen Ökonomie verschiednen Sinne. Doch dies war unvermeidlich. Jede neue Auffassung einer Wissenschaft schließt eine Revolution in den Fachausdrücken dieser Wissenschaft ein. Dies beweist am besten die Chemie, in der die gesamte Terminologie ungefähr alle zwanzig Jahre radikal geändert wird und wo man kaum eine organische Verbindung finden wird, die nicht eine ganze Reihe von verschiednen Namen durchgemacht hat. Die politische Ökonomie hat sich im allgemeinen damit zufriedengegeben, die Ausdrücke des kommerziellen und industriellen Lebens, so wie sie waren, zu nehmen und mit ihnen zu operieren, wobei sie vollkommen übersehen hat, daß sie sich dadurch auf den engen Kreis der durch diese Worte ausgedrückten Ideen beschränkte. So ist selbst die klassische politische Ökonomie, obgleich sie sich vollkommen bewußt war, daß sowohl Profit wie Rente nur Unterabteilungen, Stücke jenes unbezahlten Teils des Produkts sind, das der Arbeiter seinem Unternehmer (dessen erstem Aneigner, obgleich nicht letztem, ausschließlichem Besitzer) liefern muß, doch niemals über die üblichen Begriffe von Profit und Rente hinausgegangen, hat sie niemals diesen unbezahlten Teil des Produkts (von Marx Mehrprodukt genannt) in seiner Gesamtheit als ein Ganzes untersucht und ist deshalb niemals zu einem klaren Verständnis gekommen weder seines Ursprungs und seiner Natur noch auch der Gesetze, die die nachträgliche Verteilung seines Werts regeln. Ähnlich wird alle Industrie, soweit nicht Landwirtschaft oder Handwerk, unterschiedlos in dem Ausdruck Manufaktur zusammengefaßt und dadurch die Unterscheidung zwischen zwei großen und wesentlich verschiednen Perioden der ökonomischen Geschichte ausgelöscht: der Periode der eigentlichen Manufaktur, die auf der Teilung der Handarbeit, und der Periode der modernen Industrie, die auf der Maschinerie beruht. Es ist indessen selbstverständlich, daß eine Theorie, die die moderne kapitalistische Produktion als eine bloße Entwicklungsstufe der ökonomischen Geschichte der Menschheit ansieht, andre Ausdrücke gebrauchen muß als die jenen Schriftstellern gewohnten, welche diese Produktionsweise als unvergänglich und endgültig ansehn.
Ein Wort über die Methode des Verfassers zu zitieren, mag nicht unangebracht sein. In der Mehrzahl der Fälle dienen die Zitate in der üblichen Weise als dokumentarische Belege für im Text aufgestellte Behauptungen. Aber in vielen Fällen werden Stellen aus ökonomischen Schriftstellern angeführt, um aufzuzeigen, wann, wo und von wem eine bestimmte Ansicht zum erstenmal klar ausgesprochen wurde. Das geschieht in solchen Fällen, wo die angeführte Meinung von Wichtigkeit ist als mehr oder weniger adäquater Ausdruck der zu einer gewissen Zeit vorherrschenden Bedingungen der gesellschaftlichen Produktion und des Austauschs, und ganz unabhängig davon, ob sie Marx anerkennt oder ob sie allgemein gültig. Diese Zitate versehen daher den Text mit einem der Geschichte der Wissenschaft entlehnten laufenden Kommentar.