Vorwort

Leonardo da Vinci ist der perfekte Spiegel, die perfekteste multidimensionale Projektionsfläche für all unsere Wünsche. Quer durch Zeit und Raum sehen wir in ihm die Summe der Kultur-epochen vor ihm, die Essenz seiner Gegenwart als Renaissancemensch und das Erleuchtende des Zeitgeistes der Zukunft in seinen Werken.

Es gibt so viele Deutungsmöglichkeiten seiner rätselhaften, dunklen Persönlichkeit, wie es Blickwinkel auf ihn gibt - und vielleicht gibt es so viele Blickwinkel, wie es Augen gibt, ihn zu betrachten, ihn zu filtern...

Trotz der über 10.000 von ihm erhaltenen Tagebuch- und Skizzenblätter, bleibt ihr Urheber uns ein Rätsel - ein dunkles Rätsel, das selbst seine Zeitgenossen und Künstlerkollegen nicht zu lösen vermochten. Während er selbst viel forschte, versuchen wir sein Selbst zu erforschen und finden doch nur einzelne Spiegel-Scherben persönlicher Bemerkungen - denn Leonardos Augenmerk und Aufzeichnungen richteten sich auf seine Außen- nicht auf seine Innenwelt.

Eine solche funkelnde Scherbe kam bei Streifzügen durch Leonardos geistige Landschaft vor unseren Füßen zu liegen.

Und eine Spiegelscherbe - wenn sie auch klein ist - kann eine ganze Welt spiegeln.

Unsere Scherbe spiegelt Fragmente aus Vergangenheit und Zukunft und wirft ihr reflektierendes Licht durch die Zeitalter auf das, was der Geist - der Zeitgeist - uns durch die Erscheinungen zeigen will.

Wir scheuen uns nicht, uns dem freien Weg des Lichtes anzuschließen, das kühn zwischen Spiegeln hin- und herschießt, dabei seinen eigenen Regeln gehorcht und sich nicht darum schert, was üblich ist, und was nicht.

So kommen hier Gedanken rund um Leonardos Welt mit den Erkenntnissen neuester Hirnforschung zusammen, geben sich Spiegelneuronen und Spiegelherstellung ein Stelldichein, kuscheln Zeitgeist und Zeitkritik miteinander und müssen Bildbeschreibungen des Quattrocento die Nachbarschaft von Illustrationen durch Postkarten aus dem frühen 20. Jahrhundert ertragen (die gerade ihre eigene Renaissance erleben).

Alles das wird zusammengehalten durch das große Thema Spiegel - ein Spiegel in dem sich ein Gesicht spiegelt, in dessen Augen sich seine Seele spiegelt, in deren Augenmerk sich ihre Ideen spiegeln, die ein Spiegel sind einer Ursache, die hinter einem Spiegel liegt, den unser menschlicher Blick nicht durchdringt...

Wir hoffen, der Leser genießt das freie Zusammenspiel der zeitentgrenzten und raumübergreifenden Gedankenspiele und fühlt sich nach dem Lesen so bereichert, erheitert und erfrischt, wie es die Autoren beim Schreiben waren.

Eure
Clarissa van Amseln & Merlino Menzel

Ode an die Fußnote

Dieses Buch wimmelt geradezu vor Fußnoten. Fußnoten spalten die Menschheit erwiesenermaßen in Verächter und Verehrer ihrer randständigen Existenz.

Beide Spezies haben hier Gelegenheit ihrer Neigung heftig zu frönen:

Verächter dürfen ihrer Verachtung freien Lauf lassen und ärgerlich brummelnd jede auftauchende Fußnote mit geistigen Füßen treten - sei es indem sie sie stoisch ignorieren, bei emotio-nalem Bedarf auch laut verbal beschimpfen, (berücksichtigen Sie die Nachbarn!) oder mit einem dicken schwarzen Edding durch Übermalung ausmerzen - doch bitte nicht bei Leih-exemplaren oder freilaufenden Exemplaren* dieses Buches

Verehrer von Fußnoten aber werden jubilieren, denn es sind ihrer überreichlich vorhanden und aus Erfahrung weiß ich, dass - sollte die seltene Leidenschaft erst einmal entfacht sein - daraus ein Verlangen erwachsen könnte, das schwer zu bremsen ist und nur eines will: mehr und mehr!

Dabei - das muss um der Mäßigung willen vermerkt sein - stellt eine Fußnote ursprünglich nichts anderes dar als ein Leckerli, ein Bonbon, ein Dessert, das man zur Krönung und zum Genuss reicht - freilich nur dem literarischen Gourmet, der die Trüffel zusätzlicher Information, der Anmerkungen und informativen Ergänzungen um Details und abschweifige Gedankengänge zu schätzen weiß.

Für diesen und nur für diesen seltenen unter den Lesern sind sie gedacht, meine Fußnoten, hier, überall und immerdar. 1


1 * Bei „freilaufenden Exemplaren“ handelt es sich um solche, die im Sinne von „Bookcrossing“ ausgewildert wurden und deshalb gelegentlich in der freien Wildbahn angetroffen werden können.

Bookcrossing ist eine inzwischen weltweite Bewegung, die den kostenlosen Austausch von Büchern befürwortet. Hierfür werden Bücher in offene Bücherschränke gestellt (gibt es bereits in den meisten Städten mehrfach), oder einfach an öffentlichen Plätzen, auf Parkbänken, in Zügen, Cafés oder sonstigen geeigneten Orten abgelegt, wo sie gefunden und bei Interesse mitgenommen und gelesen werden können.

Echte Fans machen sich die Mühe und registrieren ihre Bücher vor dem Aussetzen online bei einer Bookcrossing-Website - der Finder kann dann über die Registriernummer auf der Website Kommentare zum Buch abgeben, selbige von anderen lesen und sich über das Buch austauschen. Manche Bücher scheinen auf diese weise Weltreisen zu unternehmen, wenn sie im Urlaub, im Hotelzimmer oder im Flugzeug immer wieder einen neuen Besitzer finden und so von Hand zu Hand gehen.

Im Spiegel der Erinnerung


„Erinnere dich an die Lötmittel für die Kugel von Santa Maria del Fiore... „ 2

Der rätselhafte Satz hat schon manchem Forscher, der sich mit dem Genie der Renaissance auseinander gesetzt hat, zu denken gegeben.

Was hat Leonardo da Vinci damit gemeint?

Warum spricht er in Rätseln und deutet in seinem Sammelsurium von Notizen und Skizzen diese Angelegenheit nur an, anstatt sie im Sinne einer Belehrung für die Nachwelt nieder zu legen, wie er es sonst oft tut?

Manchmal begegnen uns Fragen, die sich bei dem Versuch sie zu lösen, wie eine lang vergessene Angelschnur verhalten. Man zieht sie aus dem Schlick und eine Menge seltsame und unerwartete Dinge sind darin verheddert. Man nimmt eines nach dem anderen verwundert in die Hand und denkt: „Oh, wie interessant, ich wusste nicht, was hier alles zum Vorschein kommen wird!“

Und schon hat man einen bunten Gemischtwarenladen an Kuriositäten, Besonderheiten und Alltäglichem beisammen, die einfach zu schade sind, sie der Öffentlichkeit vorzuenthalten.

So kommt es, dass Sie jetzt ein Buch in der Hand halten, das ein kunterbuntes Stelldichein von Themen darbietet - und doch einen roten Faden hat, der alles zusammenhält. Der rote Faden heißt „Leonardo Da Vinci, Spiegel, Spiegelungen und das Phänomen Zeitgeist“. Aber der Anfang des Fadens, an dem wir zogen, war Leonardos geheimnisvolle Reminiszenz:

„Erinnere dich an die Lötmittel für die Kugel von Santa Maria del Fiore... „

Niemand möchte von einer weiteren Biografie über Leonardo da Vinci oder einer trockenen wissenschaftlichen Abhandlung gelangweilt werden, wenn er nicht muss. Wir gehen guter Dinge davon aus, dass dieses Buch niemals Schullektüre wird, also müssen Sie nicht, wenn sie nicht wollen. Wie wunderbar!

Sie stellen sich also freiwillig der Aufgabe, mit uns an diesem Faden, den Leonardo da Vinci vor ca. 500 Jahren für uns ausgelegt hat, zu ziehen und sich überraschen zu lassen, welchen Fang wir darin einholen.

Seit die Menschheit über das Betrachten natürlicher Spiegelungen (z.B. im Wasser) hinausgelangt ist und es lernte, Oberflächen effektiv zu polieren und nach Bedarf künstliche Spiegel herzustellen, fasziniert den Menschen das Phänomen der Spiegelung ungebrochen und offenbart immer neue faszinierende Seiten, die direkt oder indirekt auf diesem Prinzip beruhen.

Sicher stand auch bei der Erfindung des Kunstspiegels die Neugier auf das eigene Abbild an erster Stelle, aber zugleich stellten sich Fragen, über das wie, warum und was zu den mannigfaltigen Erscheinungen, die man im Zusammenhang mit Spiegeln beobachten kann.

So bekam der Spiegel weit über die eitle Selbstbetrachtung hinaus drei Bedeutungsebenen:

eine mystische, eine praktische und eine wissenschaftliche Seite.

Auf den mystischen Aspekt des Spiegels gehen wir im nebenstehenden Bildteil in unserer artenreichen Sammlung gesondert ein, doch zuerst verfing sich am Angelhaken unserer Recherche ein Zitat Leonardos, in dem er von einer ganz praktischen Anwendung des Spiegels in der Malerei spricht.

Was zuerst nicht sehr spektakulär aussieht, erweist sich bei genauerem Hinsehen dann doch als ganz, ganz dicker Fisch. Denn unter der Oberfläche der glänzenden Schuppenhaut unseres Fangs liegen sozusagen innere Werte, die uns bis zu den hochaktuellen und erstaunlichen Ergebnisse der Hirnforschung und Neuropsychologie führen. Folgen Sie uns, es lohnt sich.

Leonardo da Vinci, inzwischen weltweite Kultfigur und auch zu seiner Zeit schon ein Star (geboren am 15. April 1452, gestorben am 2. Mai 1519 im Alter von siebenundsechzig Jahren) wusste dem Spiegel, unter einigem anderen, einen für die Malerei sehr praktischen Nutzen abzugewinnen.

In seinem „Traktat über die Malerei“ schreibt er unter dem Kapitel „Wie der Spiegel der Lehrmeister der Maler ist“ folgendes:

„Wenn du sehen willst, ob dein Gemälde mit dem in natürlicher Weise abgebildeten Gegenstand vollkommen übereinstimmt, so nimm einen Spiegel, spiegle darin den wirklichen Gegenstand, vergleiche den gespiegelten Gegenstand mit deinem Gemälde und prüfe genau, ob die beiden Bilder im wesentlichen übereinstimmen.“

Diese einfache und doch sehr effektive Methode ist beinahe in Vergessenheit geraten, obwohl sie einem Schüler und Kunststudenten selbst heute noch sehr nützlich sein könnte. Doch da, bis auf Ausnahmen, in der Kunst das Anfertigen naturgetreuer Abbilder gegenwärtig kaum noch eine Rolle spielt - zumal uns die Fotografie3 diese Aufgabe weitgehend abnimmt - streben Künstler in ihren Werken meist etwas anderes an als eine bloße Kopie dessen, was das Auge sieht.

Freilich galt es auch zu Leonardos Zeiten nur als Vorstufe in der Kunst, naturgetreu, will heissen, nach visuellen Eindrücken malen zu können.

Obwohl man damals gerade erst dabei war, die Perspektive zeichnerisch zu verstehen und zu beherrschen, es unter seinen Zeitgenossen bereits von hohem Kunstverstand zeugte, Verkürzungen überzeugend darstellen zu können und man sich redlich mühte, eine möglichst realistische Darstellung von Schatten und Licht hinzubekommen, gingen Maler selbstverständlich weit über das reine Abmalen dessen hinaus, was das Auge oder der Spiegel darstellt - andernfalls dürften wir nichts als Stilleben in unseren Kunstsammlungen haben.

Leonardos Empfehlung, sich für das Schulen des Auges eines Spiegels zu bedienen und seine grundsätzliche Bevorzugung des übenden Zeichnens und Malens nach der Natur, war zu seiner Zeit jedoch mitnichten selbstverständlich. Viel üblicher, ja geradezu obsolet war es, sich übend und nachzeichnend an den Künstlern und Vorbildern der Antike (die gerade wieder einmal total hipp war) zu orientieren.

So fand sich der Maler gewissermaßen eingekeilt zwischen der mittelalterlichen Tradition, aus der er kam und dem antiken Ideal dem er nachstreben sollte.

Landschaften, so sie in Gemälden überhaupt eine Rolle spielten, waren nach mittelalterlicher Manier z.B. durchweg symbolischer Art, d.h. alles, was in dieser Landschaft4 erschien, hatte eine symbolische Bedeutung in Hinblick auf das zentrale Bildgeschehen, das fast immer religiös bestimmt war.

Deshalb z.B. gilt Leonardos, aus heutiger Sicht eher unspektakuläre Zeichnung des Arnotales (ohne symblische Überfrachtung, also schlicht so, wie es das Auge sieht) als absolutes Novum des Abendlandes und als Durchbruch in eine neue Dimension in der Kunst.

Doch bevor wir Leonardos Techniken, Vorlieben und Spiegelspielchen genauer unter die Lupe nehmen, betrachten wir, wenigstens theoretisch5, zwei seiner einflussreichsten Werke und erfahren Schritt für Schritt inwiefern das Prinzip Spiegelung, neben der realen Verwendung von Spiegeln, für Leonardo von so zentraler Bedeutung war...

Untersuchen wir zuerst das Gemälde „Die Schlacht von Anghiari“ (das Original von da Vinci existiert nicht mehr, jedoch vermittelt eine Zeichnung von Peter Paul Rubens einen lebhaften Eindruck davon - googeln)

Gut, das Bild mag realistisch erscheinen in der Art, wie Figuren, Gesichter, Bewegungen und Proportionen dargestellt sind, also insofern sie uns „richtig“ bzw. anatomisch und perspektivisch korrekt erscheinen - mit Realismus (Realismus ist hier als ‚Lebensechtheit‘ gemeint - nicht im Sinne des betreffenden Kunststils im 19. Jahrhundert) hat das Bild dennoch nichts zu tun, denn das, was uns die Zeichnung zeigt, hat exakt so nie stattgefunden. Was wir sehen ist das, was Leonardo sich erdachte, das was er uns zeigen wollte und von dem er überzeugt war, dass es seine Botschaft am treffendsten transportierten würde.

Dabei - wie praktisch wäre es selbst für einen Leonardo gewesen, hätte er ein solches Gemälde einfach nach dem Rezept des Abmalens und des Spiegelvergleichs oder auch nur nach der Vorlage einer Reportage-Fotografie erstellen können. Wie schnell und simpel wäre der Auftrag erledigt gewesen und unser „Multitasking-Tausendsassa“ wieder frei, sich anderen, spannenden Angelegenheiten zu widmen.

Doch nein, weder war die Aufgabe simpel, noch das Handwerkszeug an Könnerschaft, Wissen und Imaginationskraft leicht zu erringen, das für seine Anfertigung nötig war und leicht hat Leonardo es sich auch nie machen wollen.

Im Falle der Schlacht von Anghiari also sollte der Meister aus Vinci für den Stadtrat von Florenz im dortigen Ratssaal ein Fresko anfertigen, welches die für Florenz siegreiche Schlacht in der Nähe der Stadt Anghiari darstellt.

Leonardo hat den Auftrag gänzlich erfüllt - was für ihn keinesfalls eine Selbstverständlichkeit war. (Seinem gutem Ruf als Künstler stand nämlich der miserable Ruf gegenüber, als unzuverlässig und schrecklich langsam in der Ausführung zu gelten.) Leonardo nutzte die Gelegenheit, zu zeigen was er kann - aber er ging in seiner Darstellung deutlich weiter, als es die Maler vor ihm in solchen Szenarien je gewagt oder nur gedacht haben.

Er verzichtete auf die übliche monumentale Darstellung zweier sich gegenüber stehender Heere, sondern begab sich mit seinem Augenmerk - wie mit einem Zoom - direkt in das Zentrum des Schlachtengetümmels und verstand es, durch die geballte Ausdruckskraft jedes einzelnen der vier Akteure, eine solch lebensnahe Atmosphäre zu erzeugen, dass Betrachter des Bildes sich tatsächlich in das Gemälde hineingezogen fühlen konnten - und - sich die Wucht des Abgebildeten emotional übertrug. Sprich, die Menschen waren überwältigt von diesem Bild und es sollte der nächste Meilenstein auf Leonardos weiterem ruhmhaften Weg sein.

Das also war - neben der turbulenten Komposition - neu an Leonardos Werk.

Es war neu, dass man ein Gemälde betrachten konnte und sich einem dabei der Hals zuschnürte. Es einem die Fußnägel hochbog. Einem vor Grauen das Blut in den Adern gefror. Oder, aus anderem Blickwinkel, einem die Ruhmesbrust schwoll und man den Schaft des siegreichen Speeres glaubte an den eigenen Händen zu spüren. Das war neu. Neu, dass man vor einem Gemälde stand und überhaupt etwas spürte, ja davon ergriffen wurde.

So jedenfalls muss es den Menschen damals ergangen sein - so, (oder so ähnlich) beschreiben es die Biographen.

Wir haben bereits festgestellt, dass die Schlacht von Anghiari kein durchschnittliches Gemälde war. 6

Leonardo begnügte sich nicht damit, eine Schlacht in der gewohnten Weise zu reproduzieren, indem er möglichst viele Kombattanten über seine Malfläche verteilte. Vielmehr hat der Maler das Maximum an Emotion in die schmerzverzerrten Gesichter der Kämpfer, in das Entsetzen der Pferdeaugen, in die bis ins Extreme verdrehten und angespannten Körper gelegt und dabei eine Komposition höchster Ausdruckskraft geschaffen, die symbolhaft verdichtet, was er in Krieg und Schlacht per se - an sich - erfahren hat.

Der dargestellte Augenblick, der genau so nie gewesen sein kann, fängt dennoch die Essenz dessen ein, was geschehen sein könnte und spiegelt den Geist des Krieges als solchen - so jedenfalls, wie ihn Leonardo interpretiert.

Anders als ein zufällig eingefrorener Momenteindruck sind Gemälde peinlich genau durchdachte Kompositionen, die eine umfassende geistige Leistung erfordern. Dabei muss der Künstler neben seinen eigenen Gedanken, seinem subjektiven Standpunkt und seinen Erfahrungen in Bezug auf Darstellungsmöglichkeiten des gegebenen Themas auch den Spagat schaffen zwischen seiner persönlichen Vorstellung und dem Ansinnen des Auftraggebers.

Doch die eigentliche Gretchenfrage, die sich jetzt stellen muss, ist nicht, wie hat Leonardo das fertig gebracht - sondern warum überhaupt ist es möglich, dass sich Gefühle allein durch das Betrachten eines Gegenstandes, (der nichts weiter ist als Farbe auf einem Träger) auf den Betrachter übertragen können? Dass wir verstehen, dass und welche Gefühle abgebildet sind?

Wie kann ein totes Ding beim Menschen lebendige Gefühle hervorrufen?

Wie entstehen womöglich sogar überwältigende und stürmische Gefühle in einer so abstrakten Situation, wie einer Gemäldebetrachtung, wo sich tatsächlich nichts rührt und wir ausser einem visuellen, völlig statischen Eindruck keine weiteren Sinneserfahrungen machen, jedenfalls keine sensationellen?

„Erinnere dich an die Lötmittel für die Kugel von Santa Maria del Fiore... „ war unser Eingangsatz. 7

Ein Lötmittel ist eine Substanz, die zwei Gegenstände miteinander verbinden soll, so dass sie wie eines werden.

Ein Gemälde ist eine Substanz, die einen emotionalen Eindruck visuell mit dem Betrachter in Verbindung bringen kann, so dass beide gefühlsmäßig eins werden...

Wem das zu weit hergeholt erscheint, der ahnt noch nicht, wie wunderlich und wundervoll unser Gehirn arbeitet und zu welch erstaunlichen Ergebnissen, die Hirnforschung in den letzten Jahren gekommen ist.

Die Entdeckungen und Forschungsergebnisse zu emotionaler Übertragung und Spiegelung sind faszinierend - und weil sie nicht nur den Meister aus Vinci betreffen, sondern auch unser eigenes profanes Leben, (ja selbst das jeder x-beliebigen Stubenfliege), ist es ein Muss, sich der Frage eingehend zu widmen...

Stefan Klein stellt in seinem Buch über Da Vinci das Ergebnis von Leonardos malerischen Bemühungen um die Schlacht von Anghiari in eine Reihe mit Picassos Guernica oder Goyas Erschießung der Aufständischen und bezeichnet es als ‚eines der aufwühlendsten Bilder, die je ein Künstler hervorgebracht hat‘. Damit liegt er sicher richtig, denn die genannten Werke sind Schlüsselwerke der Kunstgeschichte und entfalteten ihre beeindruckende Wirkung, indem sie die Betrachter emotional berührten - jedes auf seine Weise.

Aufwühlend muss Leonardos Schlachtengemälde auf seine Zeitgenossen unzweifelhaft gewirkt haben. Leider müssen wir Heutigen uns etwas Mühe geben, uns in einen entsprechend empfänglichen Zustand zu versetzen, der uns erlaubt, solche Emotionen durch das Medium eines Gemäldes überhaupt noch aufzunehmen.

Wir tragen heute andere Bilder in uns, sind geprägt von echten (oder wenigstens echt wirkenden) Live-Übertragungen aus Krisengebieten, von drastisch bebilderten Reportagen, von hochrealistischen, cineastischen Inszenierungen, von extremen Gewaltdarstellungen in Krimis, Horrorfilmen und Science Fiktion.

Ein stummes, unbewegtes Gemälde aus dem 15. Jahrhundert dagegen - so dicht und emotional es auch sein mag - wird mit dem mulitmedialen Sturm der bewegten Bilder, den wir uns heute in der Regel täglich einverleiben, nicht so leicht mithalten können.

Aber unmöglich ist es nicht, sich einen Eindruck von der ursprünglichen Wirkung des Bildes machen zu können - es bedarf einfach eines Quäntchens Aufmerksamkeit und Zeit, bzw. bewusster Verweildauer - am besten eingebettet in eine handvoll Wissen über die geschichtliche Position des Kunstwerkes, über das wir uns Gedanken machen möchten. Nur innerhalb dieser Zusammenhänge lässt es sich angemessen verstehen - so wie im Grund jede Erscheinung in ihrem zeitlichen Kontext gesehen werden muss.

Werfen wir also zuerst einmal einen Blick auf die Begleitumstände zur Entstehung des Bildes. Wie konnte Leonardo zu einer solch überzeugenden Inszenierung und brillanten Darstellung des Kriegsgeschehens kommen?

Einer Darstellung, die in ihrer Kraft, Dichte und emotionalen Wucht alles vergleichbare, Vorangegangene in den Schatten stellt und damit neue Maßstäbe setzte?

Wir wissen, dass Leonardo unter Cesare Borgia, für den er als Architekt und Generalingenieur gearbeitet hat, auch Heereszüge und Schlachten begleitete und es ist anzunehmen, dass er diesen beobachtend beiwohnte. 8

Er hatte also sehr wahrscheinlich aus eigener Anschauung Eindrücke vom Kriegsgeschehen und konnte bei seiner Komposition für das Schlachtengemälde aus diesem Fundus innerer Bilder schöpfen.

Wie geht das vor sich?

Wenn wir die Kette der emotionalen Information zurück verfolgen, gelangen wir als ersten Ausgangspunkt an einen Mensch der eine Emotion empfindet, in unserem Fall, z.B. die Furcht, oder das Entsetzen, das dieser durch existenzielle Bedrohung, durch Schmerz und Ausweglosigkeit im Krieg empfindet. - Was können wir als Außenstehende bei ihm beobachten? Die innere Emotion spiegelt sich unweigerlich auf seinem Gesicht, in seiner Gestik, in seiner Haltung - codiert als ein bestimmter Ausdruck wider.

Was, wenn nun ein direkter Beobachter diesen Ausdruck der Furcht und des Entsetzens auf dem Gesicht des anderen beobachtet? Unwillkürlich wird er selbst einen Widerhall, eine Spiegelung der wahrgenommenen Emotion in seinem eigenen Seelenleben wiederfinden. Eine Emotion könnte auf diese Weise wie durch eine nonverbale Kette über Spiegelungsprozesse weitergegeben werden und in einer extremen Gefahrensituation würde sie ihren Zweck als Warnung unmittelbar und ohne die Umwege einer Erklärung erfüllen und damit zur Arterhaltung beitragen, wie es die Natur bei der Einrichtung dieser Funktionen unter anderem vorgesehen hat.


2 Quelle: Leonardo da Vinci, Eine Biographie, Serge Bramly, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH Hamburg, 1997. Der Satz wurde zusammenhanglos auf einem Blatt des Codex Atlanticus von Leonardo im Alter von 60 Jahren in Rom niedergeschrieben.

3 Dass auch eine Fotografie nie ein wirklich objektives Abbild der Wirklichkeit liefert, ist heute hinreichend erkannt - zu viele subjektive und variable Faktoren spielen hinein. Von gewähltem Ausschnitt, Zeitpunkt, Standort und Perspektive über technische Handhabung und desweiteren die Eigenarten verschiedener Kameratypen, bis zum Einfluss von chemischer oder digitaler Entwicklung, bzw. Ausgabeprogramm, sowie allen erdenklichen inzwischen computergestützten Bearbeitungsmöglichkeiten des Bildes, die korrigierenden oder bereits manipulationen Einfluss haben, sind in einer Fotografie so viele Variablen enthalten, dass jedem so entstandenen Bild bereits ein Bündel getroffener subjektiver Entscheidungen zugrunde liegt. Selbst innerhalb der relativ kurzen Geschichte der Fotografie ist die Entwicklung und Variationsbreite ihrer Ergebnisse durch technische Entwicklung und künstlerisch erweiterte Handhabung extrem breitgefächert. Das Medium der Postkarten, die in diesem Buch als Illustrationen herangezogen werden, stammt aus der frühen Phase der Fotografie. Leider kann die nachgedruckte Version hier nur hinreichend die Motive wiedergeben, nicht aber die erstaunliche Qualität und besondere Ausstrahlung der Originale vermitteln, deren hochfein ausgelöste Bildmotive zusammen mit der besonderen, meist monochromen oder handkolorierten Farbgebung und den ungewöhnlichen Papierqualitäten, die teils matt, teils lackiert sind. Diese Postkarten wirken wie kleine Kunstwerke und haben einen eigenen Erlebnischarakter - vielleicht deshalb erfreuen sie sich eines regen Sammlertums und werden auf Börsen und im Internet zu stetig steigenden Preisen gehandelt.

4 Bevor Landschaften überhaupt dargestellt wurden, war der Goldgrund lange Zeit der übliche Hintergrund im Tafelgemälde. Das metaphysisch durchdrungene Mittelalter sah gerade in der Symbolik den höchsten Wert und gewissermaßen die Funktion des Gemäldes - denn nicht dem Gemälde an sich sollte Aufmerksamkeit geschenkt werden, sondern es war als Fingerzeig zu Höherem zu verstehen, als Hinweis und als Grundlage zur Versenkung des Gläubigen in die Materie des Immateriellen.

5 Wegen der komplizierten Handhabung von Copyright und Bildrechten, dem aufwändigen Erwerb von Lizenzen zur Abbildung - und schlicht um Nerven und Geld zu sparen, verzichten wir auf die Wiedergabe der beschriebenen Gemälde von Leonardo. Man kann sie leicht googeln und online betrachten, oder in einem der vielen Bildbände über Leonardo ausgiebig bewundern. Dafür sparen wir nicht an den weniger bekannten und reizvollen Postkartenmotiven aus der ekstatischen Frühzeit dieses delikaten Mediums und vertrauen darauf, dass der weise Leser zu schätzen weiß, was wir ihm damit seltenes kredenzen...

6 Dass das Gemälde verloren ging, hängt unter anderem damit zusammen, dass Leonardo sich nicht einfach mit den üblichen Maltechniken zufrieden geben wollte, sondern es für nötig hielt, eigene Rezepturen für Farben, Malmittel und Untergrundbehandlung zu entwickeln, die, seinem Genie zum Trotz, leider teils fatale Folgen hatten. Nicht nur die Schlacht von Anghiari ging durch ungeeignete Rezepturen verloren - auch beim berühmten Abendmahl ist nicht mehr viel von der originalen Substanz übrig, weil die ölhaltige Farbe, die Leonardo dafür anmischte, sich nicht wirklich für die feuchten Untergründe eignete. Das Gemälde musste leider einiges über sich ergehen lassen - denn, nachdem man versucht hatte, es durch Übermalung wieder herzustellen, war man später entsetzt über diesen plumpen Versuch, der Leonardos feine Handschrift unter einer groben Farbschicht begrub und mühte sich in einer millionenschweren Restaurierung diesen Fehler wieder rückgängig zu machen.

7 Eine andere Übersetzung lautet: „Erinnere dich des Lötmittels, mit welchem man die Palla von S. Maria del Fiore lötete.“

8 Davon abgesehen verwendete Leonardo einen beträchtlichen Teil seiner Aufmerksamkeit sowohl auf die Erfindung von allerhand Kriegsgerätschaften, als auch auf die Niederschrift einer Sammlung von allen erdenklichen Kriegsstrategien und Aktionsmöglichkeiten, wie ein Feind zu schwächen, zu überlisten und zu überwinden sei, zu Land, zu Wasser oder durch die Luft. Leo zeigt sich hier kein bisschen zimperlich. Der Widerspruch, der sich hieraus zu seinem sonst eher zurückhaltendem und empfindsamen Wesen ergibt, stellt Biografen oft vor gewisse Fragen. Psychologisch, bzw. aus dem Blickwinkel der neueren Hirnforschung und Verhaltensforschung gesehen, werden solche Widersprüche jedoch leicht verständlich. So emphatisch ein Mensch grundlegend auch veranlagt sein mag, in der Regel ist es ihm möglich sein Mitgefühl zu unterdrücken, bzw. zu steuern und zwar zugunsten der eigenen Gruppen- oder Familienangehörigen. Außenstehende oder Feinde vom Mitgefühl auszuschließen rechtfertigt sich zugunsten der verbesserten Überlebenschancen der eigenen Gruppe.

Spiegelneurone und Hirnforschung