Weil du mir gehörst!

Borderline-Partner im Kampf um ihr Kind
Manuela Rösel

eISBN: 978-3-939586-29-6

© 2019 Starks-Sture Verlag

Anna Starks-Sture

Sonnenstraße 12, D-80331 München

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Titelgestaltung: Thomas Mayer Marketing & Verlag

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Weil du mir gehörst!

Borderline-Partner im Kampf um ihr Kind

Manuela Rösel

Ich will dich doch nur beschützen …
Ohne mich bist du verloren,
nur mit mir kannst du überleben.
Gib mir deine Hand,
ich führ dich hier hinaus …

(Rapunzel – Märchen der Gebrüder Grimm)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Wenn Borderline-Familien zerbrechen

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung

Das Erleben des Kindes

Das Kleinstkind im Kontakt mit instabilen Bezugspersonen

Borderline-Mütter, Borderline-Väter

Typische Borderline-Verhaltensweisen und Konsequenzen für die kindliche Entwicklung

Wenn Partner sich getrennt haben

Der Kampf um das Kind

Kindesentfremdung, ein typischer Borderline-Verhaltensmechanismus

Warum?

Weitere borderline-typische Maßnahmen im Kampf um das Kind

Wie gehe ich damit um?

Wo kann ich Unterstützung finden?

2. Im Gespräch mit …

… der Leiterin eines sozialpsychiatrischen Dienstes

… einer Rechtsanwältin für Ehe- und Kindschaftsrecht

… der Geschäftsführerin eines freien Trägers der Jugendhilfe in Berlin

… einer Mitarbeiterin des Jugendamtes München

3. Eine reale Geschichte

4. Mein Kind verstehen – Fragen und Antworten

5. Schluss

Liste resilienter Strategien

Begriffserklärungen

Quellenverweis und empfehlenswerte Literatur

Autorenangaben

Vorwort

In meinem letzten Buch, „Mit zerbrochenen Flügeln“, habe ich mich auf die Problematik der Kinder konzentriert, die mit Borderline-Verhaltensweisen Ihrer Eltern konfrontiert werden. Ihr Erleben, ihre Ängste, die Verlassenheit und Einsamkeit sowie die Konsequenzen ihrer Erfahrungen für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit standen in diesem Buch im Mittelpunkt. Ich erhielt viele bedrückende Resonanzen, sowohl von mittlerweile erwachsenen Kindern betroffener Eltern als auch von Elternteilen, die als Partner in entsprechende Beziehungen eingebunden waren. Letztere haben, neben der Aufarbeitung der schmerzhaften Beziehungserfahrungen und der Auseinandersetzung mit eigenen Anteilen, sich oft auch der Verantwortung für gemeinsame Kinder zu stellen. Was sich bei Trennungen in von Borderline unbelasteten Beziehungen mitunter schon als schwierig erweist, sind Umgangs- und Sorgerechtsregelungen, die ja auch psychisch gesunde Menschen immer wieder mit der gescheiterten Beziehung konfrontieren und so auch schmerzhaft und Angst erfüllend sein können. Was aber bringt die Trennung von einer Borderline-Persönlichkeit mit sich? Wie wirken sich hier Abspaltungsmechanismen und Schwarz-Weiß-Denken aus? Welche spezifischen Konsequenzen ergeben sich aus den typischen Borderline-Verhaltensweisen sowohl für das Kind als auch für den Elternteil, der um sein Kind kämpft.

Die Probleme, mit denen Väter oder Mütter konfrontiert werden, die sich aus einer Borderline-Beziehung gelöst haben, sind ebenso komplex, chaotisch und unkontrollierbar, wie die Störung selbst. Wenn es etwas gibt, was die aus einer derart spezifischen Beziehung entstehende Ohnmacht, Angst, Panik und Verlassenheit noch potenzieren kann, ist es die Erkenntnis, dass die aus der Bindung entstandenen Kinder den gleichen zerstörerischen Mechanismen ausgesetzt sind, denen man als erwachsener Mensch selbst kaum gewachsen war. Dass anscheinend kein Außenstehender in der Lage ist, die Dramatik der Situation zu erkennen, und sich jegliches Bemühen um das Kind als endloser Kampf gegen ein chaotisches Netz aus Manipulationen und Intrigen erweisen kann.

Viele Eltern geben in derartigen Situationen auf und überlassen ihr Kind seinem Schicksal. Dies ist eine Entscheidung, mit der die Betreffenden dann leben müssen und für die sie einst von ihren Kindern wahrscheinlich auch in die Verantwortung genommen werden. Die Frage nach dem dann oft gestellten „Warum?“ lässt sich nur schwer beantworten. Menschliche Schwäche, Angst vor andauernden Konfrontationen, denen sich Väter oder Mütter nach auslaugenden Borderline-Beziehungen einfach nicht mehr stellen können, sind nur einige der Gründe, warum Eltern ihr Kind bei einer Borderline-Persönlichkeit zurücklassen.

Ich begegne in meiner Arbeit aber auch immer wieder engagierten Eltern, die sich sowohl mit der Thematik, als auch mit ihren eigenen Anteilen auseinandersetzen. Die sich ihrer Verantwortung bewusst sind und sich ihr auch stellen. Ganz im Vertrauen darauf, dass sie Ansprechpartner und Unterstützung in öffentlichen Behörden finden werden, da die offensichtlichen Geschehnisse und Probleme doch deutlich zeigen, in welcher Gefahr sich ihr Kind befindet.

Und ich erlebe immer wieder die maßlose Enttäuschung dieses Vertrauens, die beständig anwachsende Verzweiflung angesichts Unverständnis, Kurzsichtigkeit, mangelnder Information und schlichtem Schubladendenken. Die Hoffnung auf Unterstützung geht nur allzu oft in der Konfrontation mit fehlender Kompetenz, mangelndem Verständnis oder schlichtem Desinteresse verloren. Das Empfinden der Aussichtslosigkeit und blanken Ohnmacht, angesichts der anscheinend fruchtbaren intriganten Manipulationen von Gutachtern und Ämtern, lähmt oft selbst den verantwortungsvollsten Elternteil und zwingt ihn aufzugeben, was ihm am wichtigsten ist: sein Kind.

Im vorliegenden Buch setze ich mich mit den typischen Problemen auseinander, die sich aus der Trennung einer Borderline-Elternbeziehung ergeben. An einem besonders prägnanten, authentischen Fall, in dem ich den Vater durch einen Teil des Prozesses im Kampf um sein Kind begleitet habe, zeige ich die äußerst dramatischen Verwicklungen auf, denen der Vater im Kampf um sein Kind ausgesetzt war.

Dieser Fall ist, wie ich hoffe, in seiner Eindringlichkeit nicht als typisch anzusehen. Mit dem Ansprechen der offensichtlichen Defizite amtlicher Helfer möchte ich die Leistung dieser auf keinen Fall verallgemeinern. Es gibt unzählige verständige Jugendamtsmitarbeiter, Verfahrenspfleger, Familienhelfer und Gutachter, die sich oft weit über ihre Kräfte engagieren. Mir ist auch bekannt und bewusst, dass sich viele Borderline-Betroffene kompetente Hilfe im Umgang mit der Situation suchen, um zu lernen, sich der Verantwortung für ihr Kind zu stellen. Auch ich möchte nichts schwarz-weiß darstellen, es existieren sicher viele Grauzonen, in denen von vielen Seiten Lösungen für Betroffene, deren Partner und deren gemeinsame Kinder gefunden werden.

Trotzdem erlebe ich in meinem Alltag immer wieder die typische Ratlosigkeit und Verzweiflung kämpfender Eltern, die sich nicht nur allein fühlen, sondern auch allein gelassen werden. Diese möchte ich mit meinen Möglichkeiten unterstützen.

In Interviews zur Thematik überlasse ich auch involvierten Personen aus helfenden Bereichen das Wort, so dass Sie auch Einblick in die verantwortungsvolle, oft unzureichend gestützte Welt der Helfenden nehmen können.

Schließlich setze ich mich auch mit den immer wieder präsenten Fragen von Eltern auseinander, die aus deren Umgang mit ihren Kindern entstehen. Oft sehen sie sich, mit den anscheinend unverständlichen Verhaltensweisen ihrer Kinder konfrontiert, überfordert. Ihr Bedürfnis, ihr Kind zu verstehen und in seiner schwierigen Situation optimal zu unterstützen, motiviert sie zur Auseinandersetzung mit dem Erleben ihres Kindes. Indem ich Ihnen sowohl in die Fragen als auch in die Antworten Einblick gewähre, ermögliche ich Ihnen vielleicht auch Verständnis für das ein oder andere scheinbar unerklärliche Verhalten Ihres Kindes, sollte sich dieses in einer ähnlichen Lebenssituation befinden.

Wie immer ist es mein Ziel, klärend einzuwirken, aber auch das sichtbar zu machen, was nicht gern gesehen wird. Mag es in der Erkenntnis für Sie als Leser auch schmerzhaft sein oder zum Nachdenken anregen, ich hoffe, dass dieses Buch Sie auf Ihrem ganz persönlichen Weg unterstützen wird.

Manuela Rösel

April 2010

1. Wenn Borderline-Familien zerbrechen

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung

Eine Borderline-Störung liegt mit großer Wahrscheinlichkeit dann vor, wenn ein Mensch unter mindestens fünf der folgenden neun Symptome leidet, (diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen – DSM-IV):

1.Selbstschädigende Verhaltensweisen

(Alkohol, Drogen- und Medikamentenmissbrauch, Kleptomanie, Kaufsucht, Promiskuität, nachlässige gesundheitliche Selbstfürsorge, Nahrungsmittelmissbrauch, riskante Sportarten u. ä.). Derartige Verhaltensweisen resultieren zumeist aus impulsiven Stimmungsschwankungen, Frustrationen, gestörten Beziehungen oder der Kompensation von schmerzhaften Emotionen und der aus der fehlenden oder eingeschränkten Identität resultierenden Leere.

2.Starke Stimmungsschwankungen

Für Außenstehende oft unerklärliche Stimmungswechsel von Euphorie in Depression, Reizbarkeit oder Angst und Aggressivität. Die Betroffenen sind sich der Stimmungswechsel dabei kaum bewusst. Sie reagieren häufig unmittelbar auf plötzliche Impulse (Flashbacks, Interpretationen, Fremd- und Selbstbewertungen, unbewältigte Ängste, Traumata), die oft in keinem Zusammenhang mit der augenblicklichen Realität stehen. Wut kann dabei nur schlecht kontrolliert werden und wird oft unmittelbar ausgelebt.

3.Unbeständige und unangemessen intensive zwischenmenschliche Beziehungen

Beziehungen im Sinne von „sich aufeinander beziehen“ existieren für Borderline-Persönlichkeiten nicht. Betroffene identifizieren sich projektiv mit ihrer Bezugsperson und existieren durch dessen Reflektion. Dabei erfolgt zunächst eine extreme Idealisierung der Bezugsperson, die aber unvorhersehbar in Abwertung und Entwertung umschlagen kann. Borderline-Persönlichkeiten sind nicht in der Lage, ihren Partner als eigenständige Persönlichkeit zu tolerieren. Ihre Neigung, mit ihrem Partner zu verschmelzen, d. h. sich über diesen zu definieren und sich als Einheit mit ihm wahrzunehmen („Ich bin du und du bist ich“), fordert bedingungslose Verfügbarkeit. Fehlende Objektkonstanz verhindert die Fähigkeit, den Partner auch dann als zugewandt zu erleben, wenn dieser als eigenständiges Individuum auftritt und nicht deckungsgleiche Emotionen, Bedürfnisse oder Verhaltensweisen zeigt. Jede Form einer interpretierten Zurückweisung wird als massive Bedrohung registriert, die zu Distanz, Abwertung und zügelloser Wut führen kann. Oft trennen sich die Betroffenen abrupt, um nach kurzer Zeit den Kontakt durch eine neue Idealisierung wieder aufzunehmen.

4.Unangemessene Zornesausbrüche

Borderline-Persönlichkeiten neigen zu heftigen Wutausbrüchen, die sie in ihrer Intensität kaum kontrollieren können. Häufig stehen die Auslöser dieser Ausbrüche in keinem Verhältnis zur Heftigkeit der Reaktion oder sind mitunter gänzlich nicht nachvollziehbar. Ursächlich sind für den Betroffenen bedrohliche innere oder äußere Impulse, die Spannungen und Angst vor dem Verlassenwerden (und somit vor der Vernichtung) erzeugen.

5.Selbstverletzungen, Suizidversuche

Selbstverletzungen werden von Betroffenen oft als Regulationsmöglichkeit innerer Spannungen genutzt. Der ständig präsente innere Druck wird dann z. B. über Schnitt- oder Stichverletzungen oder exzessiven Alkohol- oder Drogenmissbrauch kompensiert. Selbstverletzungen entstehen oft aus selbstschädigendem Bestrafungsverhalten und können in ritualisiertes Verhalten münden. Mitunter schließt sich das suizidale Verhalten (Drohungen und Versuche) nahtlos an, wenn die Entlastung entweder nicht eintritt oder die Aktion als Manipulation von Bezugspersonen keinen Erfolg zeigt. In der Regel ist derartiges Verhalten als Hilferuf zu verstehen.

6.Fehlen eines klaren Ich-Identitätsgefühls

Eines der grundlegenden Symptome ist die andauernde Identitätsstörung (Störung des Selbstbildes) der Betroffenen, die sich in ihrer Rolle und ihrem Wert als Mann oder Frau nutzlos und liebensunwert empfinden. Die Identität eines Menschen enthält ein konstantes Gefüge an Werten, welches den Betroffenen nicht zur Verfügung steht. Orientierungslosigkeit in allen Lebensbereichen und Zielsetzungen, mit der Konsequenz eines verzerrten Selbstbildes und innerlichen Fremdgefühls. Eigenschaften wie Intelligenz und Attraktivität werden nicht als konstantes Gut betrachtet, sondern müssen ständig neu verdient und im Vergleich mit anderen beurteilt werden, was wiederum ursächlich für den andauernden Druck ist. Selbstachtung und Selbstwert basieren aus diesem Grund nicht auf selbst erbrachten Leistungen sondern auf aktuellen (Miss-)Erfolgserlebnissen und Bewertungen Außenstehender. Der ständige Veränderungsdrang im beruflichen und privaten Bereich findet hier seine Ursache.

7.Chronische Langeweile und Leere

Das Empfinden innerer Leere resultiert direkt aus dem fehlenden Bezug zu sich selbst. Die Leere der fehlenden Identität, das empfundene „Ich bin nicht“ erzeugt quälende Sinnlosigkeit und unstillbare Langeweile. Das verzweifelte Bemühen, diesen Empfindungen zu entgehen, endet häufig in selbstschädigendem Verhalten oder enttäuschenden Beziehungen.

8.Verzweifelte Bemühungen, die reale oder eingebildete Angst vor dem Verlassenwerden zu vermeiden

Das fehlende Identitätsempfinden der Borderline-Persönlichkeit treibt sie in Abhängigkeit von Bezugspersonen, mit deren Verlust sie das Gefühl für die Realität der eigenen Existenz verlieren. Im Alleinsein bleiben die Reflektionen aus, welche die Borderline-Persönlichkeit braucht, um sich real zu fühlen. Selbst vorübergehendes Alleinsein wird häufig als endgültig empfunden und stellt daher eine starke Bedrohung dar. Die mit dem Verlassenwerden einhergehenden und als lebensbedrohlich empfundenen Ängste, motivieren die Betroffenen zu verzweifelten Bemühungen, diese Situation abzuwehren. Oft nutzen sie dann drastische Mittel wie die Manipulation nahestehender Personen, Selbstverletzungen oder suizidale Verhaltensweisen. Häufig werden aber auch zerstörerische und unglückliche Beziehungen toleriert, die mitunter bis zur Selbstaufgabe fortgesetzt werden. Werden Borderline-Persönlichkeiten dennoch verlassen, durchleben sie zumeist tief gehende emotionale Krisen mit verstärkter Symptomatik.

9.Stressabhängige paranoide Fantasien oder schwere dissoziative Symptome

In schwierigen und unerträglichen Situationen geraten Borderline-Persönlichkeiten oft in dissoziative Zustände, in denen sie sich dem Erleben der unerträglichen Realität entziehen. Gelegentlich leiden die Betroffenen auch an psychotischen Episoden, Störungen der Wahrnehmung, des Körpers und des Denkens. Zumeist resultieren derartige Symptome aus starker emotionaler Erregung in denen sich die Betroffenen als Ich-fremd erleben. Mit abklingender Erregung verliert sich diese Symptomatik zumeist auch wieder.

Bitte bedenken Sie, dass nicht jede Borderline-Persönlichkeit unter allen Symptomen leidet und diese bei jedem Betroffenen andere Ausprägungen annehmen können!

Wie sich aus den aufgezeigten Symptomen unschwer schlussfolgern lässt, sind Borderline-Persönlichkeiten nicht bzw. nur stark eingeschränkt in der Lage, soziale Bindungen oder zwischenmenschliche Beziehungen aufrecht zu erhalten. Solange eine Borderline-Persönlichkeit, innerhalb einer Bindung in keiner Weise gefordert, frustriert oder in ihren Defiziten (Selbst- und Fremdwahrnehmung, mangelnde Objektkonstanz, Nähe und Distanzproblematik) berührt wird, kann sie durchaus eine Beziehungsfähigkeit vermitteln. Sobald es aber darum geht, eine Balance im sozialen Miteinander zu finden, in der auch der Bezugsperson ein Recht auf ihre Bedürfnisse zugestanden wird, zerstören die typischen, symptomatischen Verhaltensmuster die soziale Bindung. Im Grunde zeigt sich hier ein selbstschädigendes Verhalten, welches sich in seiner Konsequenz am nachhaltigsten und zerstörerischsten für die Borderline-Persönlichkeit selbst auswirkt. Trotz ihrer Abhängigkeit von der zugewandten Reflektion anderer, inszeniert sie immer wieder dramatische Konflikte, die letztendlich zur Zurückweisung durch den Partner führen. Das daraus resultierende Abgetrenntsein, die Einsamkeit, das Chaos und der Schmerz korrigieren das vertraute Selbst- und Weltbild. Letztlich schafft sich die Borderline-Persönlichkeit so, in einer endlosen sich immer wiederholenden Inszenierung, die einzige ihr bekannte Sicherheit. Die Reaktionen ihrer Umwelt ermöglichen ihr nicht nur, sich das bedrohliche, feindliche Weltbild zu erhalten, sondern auch das vertraute Selbstbild der eigenen Wertlosigkeit aufrecht zu erhalten.

Da Bezugspersonen und somit auch Kinder ausschließlich in der Verschmelzung mit der eigenen Person toleriert werden, erleben diese so das chaotische, emotionale Erleben der Borderline-Persönlichkeit in all ihren Facetten mit.

Erwachsene Bezugspersonen haben durchaus die Chance, sich den zerstörerischen Borderline-Verhaltensmustern zu entziehen. Sie sind bzw. sollten in der Lage sein, die Funktionalität ihrer Beziehungsmuster und die Konsequenzen für das eigene Leben zu erkennen und darauf selbstfürsorglich und abgrenzend zu reagieren. Kinder, die sich aber in Abhängigkeit zu ihren Eltern erleben und auf deren Fürsorge noch angewiesen sind, sind dazu nicht in der Lage. Besonders drastisch sind die Konsequenzen für involvierte Kinder dadurch, dass sie bereit sind, die Verantwortung für das Erleben Ihrer defizitären Eltern zu tragen. Um die bedrohliche Erkenntnis abzuwehren, dass Mutter oder Vater nicht in der Lage ist, ihrer elterlichen Versorgung nachzukommen, sind sie eher bereit, sich selbst als mangelhaft und liebensunwert wahrzunehmen. Ihr Überlebensmechanismus, der sich ganz allein auf das Überstehen des jetzigen Momentes konzentriert, akzeptiert die tragische und falsche Erkenntnis des Kindes „schuld“, falsch und verantwortlich zu sein. Dem verantwortungsabweisenden Borderline-Elternteil bietet dies die perfekte Grundlage für die Projektion eigener verhasster oder abgelehnter Eigenschaften auf das Kind. Letztlich das Sprungbrett dafür, dieses als Ventil für ausagierendes Verhalten zu missbrauchen …

Das Erleben des Kindes

Wenn ein Kind geboren wird, ist es noch völlig unfähig, sich in der Welt zu orientieren. Es besitzt außer dem angeborenen Überlebenstrieb noch keinerlei bewusste Fähigkeiten, für sich zu sorgen. Wie ein Schwamm saugt es jede Information darüber, wie die Welt und das Leben funktionieren, in sich auf, um sich so eine Orientierung zu schaffen und für das eigene Überleben zu nutzen. Es ist zwingend darauf angewiesen, dass ihm seine Bezugspersonen vermitteln, dass es in seiner emotionalen Bedürfnisäußerung (die immer und ausschließlich der Lebenserhaltung dient) in Ordnung ist. Es ist abhängig von der Reflektion der Erwachsenen auf seine Möglichkeiten, sich mitzuteilen (Schreien, Weinen, Lachen), weil es nur so erfahren kann, wie es selbst und das zwischenmenschliche Verstehen und Miteinander funktionieren. Ein Kind, dessen Weinen ignoriert wird, kann aus reinem Überlebenstrieb nur das Schreien als Verstärkung seines Bedürfnissignals nutzen. Erfährt es daraufhin Strafe oder weitere Ignoranz, hat es keine andere Chance, als sich selbst und auch die anderen als bedrohlich wahrzunehmen.

Ein Säugling wird im Kontakt mit seinen gesunden, verantwortungsbewussten und reifen Eltern mit gleichbleibenden, stabilen Signalen konfrontiert werden. Er wird sowohl mimisch wie sprachlich liebevoll reflektiert, denn dessen Eltern sind sich darüber bewusst, dass ihr Kind aus eigener Bedürftigkeit weint oder schreit. Sie erleben ihr Kind nicht als bedrohlich und sind ohne jede Frustration in der Lage, dessen aktiven Überlebenstrieb anzuerkennen und wertzuschätzen. Im Nachfolgenden möchte ich Ihnen das Erleben eines solchen Säuglings durch eine rein fiktive Darstellung verdeutlichen. Natürlich sind derartige kognitive und rein gedankliche Abläufe bei einem wenige Wochen alten Kind nicht möglich. Sein emotionales, nicht begriffliches Erleben aber registriert jedes eigene Defizit und die darauf folgenden oder nicht folgenden Reaktionen seiner Bezugspersonen:

Es ist dunkel. Auch wenn ich die Augen aufmache, sehe ich nichts, das macht mir unglaubliche Angst. Ich kann auch nichts hören, wo ist der Herzschlag meiner Mutter, wo ihr Geruch und ihre warme Haut? Wenn sie nicht da ist, werde ich nicht überleben. Ich rudere mit meinen Ärmchen, vielleicht kann ich sie finden, aber da ist nichts. Vielleicht kommt sie, wenn ich wimmere, sie muss kommen, denn ich bekomme immer mehr Angst. Nichts. Es bleibt still und dunkel. Ich werde sterben. Panik, Todesangst, unglaubliche Leere, jetzt schreie ich aus vollem Hals, ich schreie um mein Leben. Da, das Dunkel ist auf einmal weg, ihre Stimme ist da, ihr Gesicht auf einmal ganz nah, ich kann sie riechen, sie sieht mich an, und ich sehe, dass sie mich versteht. Mir wird ganz leicht, alles ist in Ordnung, ich bin in Ordnung und meine Mama auch. Sie ist da, und ich weiß, dass alles gut ist. Ich bin in Sicherheit. Wenn ich schreie, dann kommt sie und das ist gut so. Jetzt weiß ich, was ich tun kann, damit ich leben kann. Es geht mir gut damit, also bin ich gut und meine Mama auch.

Unschwer zu erkennen ist der aktive Mechanismus des Abspaltens, der das Kind noch mit seiner Mutter verbindet. Diese hier noch notwendige symbiotische Verschmelzung, bewahrt das Kind vor einem Dauerzustand des Abgetrenntseins und so auch vor extremen Stresszuständen. Im Hintergrund der o. g. Darstellung erhält das Kind die für unsere Zivilisation typische positive stabile Fürsorge. In seinem jeweiligen Defizit wird ihm vermittelt, dass es sowohl in seinem Anspruch, als auch in seinem Verhalten verstanden und akzeptiert wird. Auch wenn diese beständige und zugewandte Fürsorge in unserer Gesellschaft als Optimum an Versorgung und Zuwendung für das Kind bewertet wird, ist auch diese stark defizitär. Sie mag als „normal“ gelten, natürlich und der Bedürftigkeit des Kindes angepasst ist sie aber nicht! In unserer Zivilisation ist es regulär, dass Kinder nicht beständigen Körperkontakt zur Mutter erfahren und immer wieder separiert werden (Bettchen, Kinderwagen, eigener Raum). Dabei erfährt das Kind auch immer wieder den Zustand des Abgetrenntseins (existenziell bedrohliche Verlassenheit) und die damit verbundene Todesangst im Wechsel mit dem Versorgtwerden und dem Aufheben des lebensbedrohlichen Zustandes. Dieser Wechsel zwischen den beiden Extremen festigt auch die Erfahrung des Kindes, sich und die Welt immer wieder als gut oder schlecht, bzw. als bedrohlich oder sicher, zu erfahren. Jede damit verbundene Information, sowohl aus dem inneren Erleben (Emotionen) als auch aus der Verarbeitung äußerer Informationen („So funktioniert die Welt“) wird unauslöschlich abgespeichert. („Ich bin o.k. - Du bist o.k.“, Thomas A. Harris) und sichert dem Kind schnellen Zugriff auf lebenserhaltende Maßnahmen. Aus diesen Erlebensmustern bildet das Kind bis zum dritten Lebensjahr eine Lebensanschauung aus, die ihm hilft, die eigene Position in der Welt und die Welt an sich zu bestimmen, um in ihr überleben zu können.

Diese Weltanschauung begleitet das Kind in der Regel durch sein ganzes Leben. In der Konsequenz heißt das, dass jeder defizitäre Zustand eines Kleinstkindes und die Reaktion darauf eine lebenslange richtungsweisende Bedeutung haben.

Ein Umstand, der erklärt, warum so viele Menschen aus scheinbar stabilen, fürsorglichen Elternhäusern Defizite im Umgang mit sich und anderen entwickeln. Das, was wir als behütetes, liebevolles und zugewandtes Elternhaus erfahren, ist zumeist bereits in seinem Kern so mangelhaft, dass unsere Kinder, wenn auch nicht bewusst, massiven Misshandlungen ausgesetzt sind. Ihr Urvertrauen verliert an Substanz, bevor es eine Chance hatte, sich zu entfalten („Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“, Jean Liedloff).

Wenn dies also der gesellschaftlich anerkannten, liebevollen Versorgung eines Säuglings entspricht, wie sieht das Erleben dann für ein Kind aus, dessen Bezugsperson von der Borderline-Problematik betroffen ist?

Das Kleinstkind im Kontakt mit instabilen Bezugspersonen

Die Borderline-Persönlichkeit entwickelt aus ihrer Symptomatik heraus typische Verhaltensmuster, die sich auf zwischenmenschliche Kontakte zwar massiv zerstörerisch auswirken, in ihrem Kern aber eine rein selbsterhaltende und selbstschützende Funktion einnehmen. Der Abspaltungsmechanismus, die schwache bis fehlende Identität, die extreme Angst vor dem Verlassenwerden, zeigen deutlich die tief infantile Persönlichkeitsstruktur der Borderline-Persönlichkeit. In ihrem Wesen selbst in kleinstkindlicher Bedürftigkeit verharrend, sucht sie die Verschmelzung mit ihren Bezugspersonen um, ähnlich wie das abhängige Kind, sein Überleben zu sichern. Ebenso infantil fordert sie die bedingungslose Verfügbarkeit und Bedingungslosigkeit ein, in der verinnerlichten Annahme, allein nicht überlebensfähig zu sein.

Das evolutionäre Recht eines Kleinstkindes, die eigenen Bedürfnisse in den absoluten Vordergrund zu stellen, veranlasst die Borderline-Persönlichkeit ihr Kind immer dann, wenn dessen Bedürftigkeit der eigenen widerspricht, als Konkurrenz in einem Überlebenskampf wahrzunehmen. Das involvierte Kind hat nur dann ein Recht auf sein Bedürfnis, wenn dieses der instabilen Bedürftigkeit seines Borderline-Elternteils möglichst entspricht. Steht die berechtigte Forderung des Kindes aber im Widerspruch zur Akzeptanz seines Borderline-Elternteils, wird es mit Zurückweisung, Ignoranz und ausagierenden, bestrafenden Verhaltensweisen konfrontiert. Letztendlich kann es so auch nicht erfahren, dass es ein Recht auf seine Bedürftigkeit hat. Stabile Zuwendung und Spiegelung sind für das Kind gleichbedeutend mit Sicherheit und Überleben. Instabilität aber birgt eine dauerhafte, existenzielle Bedrohung in sich.

Die stabile Spiegelung eines Kleinstkindes ist eine der wichtigsten Orientierungsmöglichkeiten des Kindes in der Welt. Im Prozess des Spiegelns, passt sich die Bezugsperson in ihrer Mimik, Körpersprache oder ihrem verbalen Ausdruck dem Ausdruck des Kindes an. Dadurch erfährt dieses nicht nur, dass es in seinen Ansprüchen richtig ist, sondern gleichzeitig, wie es dem instinktiven Drang gerecht werden kann, selbst für sein Überleben zu sorgen. Schreien, weinen, strampeln, lachen, glucksen, krähen … all dies sind Ausdrucksformen des Kindes, Bezugspersonen zur Fürsorge zu motivieren. Es ist abhängig von den Informationen seiner Außenwelt, wann was hilfreich ist. Ohne die Vermittlung einer klaren und stabilen Orientierung von außen ist es seiner Hilflosigkeit ausgeliefert. Es wird den Eindruck entwickeln, überlebensunfähig zu sein und im Dauerzustand des Abgetrenntseins entweder lethargisch aufzugeben oder einem permanenten Dauerstress ausgesetzt zu sein.

Da wir auf unser Erleben in den ersten Lebenswochen und Monaten keinen bewussten Zugriff (Erinnerungen) haben, schlussfolgern wir oft auch irrtümlich, dass die Erfahrungen dieser Zeit keinen Einfluss auf unsere Verhaltensweisen, Muster und Wahrnehmungen haben. Tatsächlich aber speichern wir in dieser Zeit jedes Erleben (!) unlöschbar in uns ab. Gerade in den ersten Lebensjahren baut das menschliche Gehirn seine Struktur auf. Durch jede Erfahrung (Interaktion zwischen Kind und Umwelt) reagieren Tausende von Gehirnzellen. Es bilden sich neue Zellen und bereits bestehende Verbindungen werden intensiviert. Sich immer wiederholendes Erleben prägt regelrechte neuronale „Bahnen“. Ähnliche Signale folgen dann dem Weg, der eine möglichst schnelle Weiterleitung der Signale zulässt. Ab einer bestimmten Ausbildung dieser Bahnen wird diese dann auf Dauer (bis in das Erwachsenenalter hinein) beibehalten. Dabei werden die Neuronen, die an diesen Bahnen angrenzen, immer größer, sie bilden immer mehr Dendriten (Verbindungen zwischen Zellen) aus, welche zu immer mehr anderen Nervenzellen führen. Diese Prozesse ermöglicht eine immer effizientere Verarbeitung von Informationen und dienen so dem Überleben.

Was aber, wenn dem Kind ständig widersprüchliche Informationen und Signale vermittelt werden? Wenn sein Weinen einmal reflektiert und angenommen und ein anderes Mal ignoriert oder bestraft wird. Wenn es immer stärker Desorientierung erfährt und in der Konsequenz nicht in der Lage ist, zum eigenen Überleben beizutragen? Chaos statt Orientierung sind gleichbedeutend mit Tod statt Überleben!

Der Körper des Kindes wird in einen Zustand der ständigen Alarmbereitschaft, Erregung und Achtsamkeit versetzt. Die Stresshormone Adrenalin und Cortison werden ausgeschüttet, überfluten das sich entwickelnde Gehirn und können es irreparabel schädigen. Seine Herz und Atemfrequenz steigt, seine Muskeln sind massiv gespannt, es wird steif, bäumt sich auf. Letztendlich gelangt es in einen Zustand der Erschöpfung, welcher ernsthafte Organerkrankungen, psychische Störungen und eine Abschwächung der Immunkompetenz zur Folge haben kann.

In der Wahrnehmung seiner selbst und der Welt aber gerät es in einen undurchdringlichen Teufelskreis. Sein Überlebenstrieb entwickelt eine beständige Achtsamkeit gegenüber jedem bedrohlichen Signal, was beständigen Stress zur Folge hat. Die dabei ausgeschütteten Stresshormone lassen das Kind auf äußere Reize stärker reagieren, was aggressives und wütendes Verhalten zur Folge haben kann. Das Kind wird wiederum zum Frustrationsauslöser und erfährt durch seine frustrationsintolerante Borderline-Bezugsperson genau jene Reize, die ihm signalisieren, dass seine Existenz gefährdet ist. Dabei kann es isoliert, ignoriert oder angegriffen werden. Indem es z. B. angeschrien oder körperlich attackiert wird, erfährt es in seinem Schmerz keine Beruhigung, sondern nur eine Verstärkung der Bedrohung, auf die es auch umgehend reagieren wird. Es wird erneut mit seinen Möglichkeiten auf seinen Missstand aufmerksam machen und noch mehr schreien - die wahrscheinlich reale auslösende Situation für die zahlreichen, in den Medien immer wieder präsenten Meldungen „Kind zu Tode geschüttelt, totgeschlagen, achtlos in den Rinnstein geworfen …“

Borderline-Mütter, Borderline-Väter

Auch wenn sowohl betroffene Väter wie Mütter die gleichen symptomatischen Defizite aufweisen und infolge dessen auch im gleichen Rahmen aus einer egozentrischen kleinstkindlichen Anspruchshaltung auf ihr Kind reagieren, existieren Unterschiede im Verhalten der Eltern, die sich schon aus der familiären Konstellation und der regulären Rollenverteilung ergeben. Diese kann ich im Folgenden nur andeuten, da sie in ihrem Umfang zu komplex sind und sich in veränderlichen Mustern, die auch von der jeweiligen Entwicklungsphase des Kindes abhängig sind, zeigen. Insofern gehe ich nachfolgend nur auf einen relativ kurzen Zeitraum vor und nach der Geburt eines Kindes ein.

Borderline-Mütter neigen häufig dazu, die Zeugung eines Kindes zur eigenen Absicherung (Bindung der Bezugsperson) zu nutzen. Oft brauchen sie, aus der eigenen kindlichen Bedürftigkeit heraus, eine Bezugsperson, die von ihnen abhängig und ihnen bedingungslos ergeben ist. Sie erhoffen sich von der Rolle der Mutter eine Neudefinition der eigenen Identität, die endlich dazu führen soll, anerkannt und geschätzt zu werden. Sie träumen, ebenfalls kindlich naiv davon, sich familiäre Sicherheit und Geborgenheit zu schaffen, welche die bisherigen Ängste und Unsicherheiten auslöscht. Ihr Kind wird bereits vor seiner Geburt zum manifestierten Selbsthilfemechanismus. Es hat nicht die geringste Chance, um seiner selbst willen geboren zu werden und wird noch vor seinem ersten Schrei mit einer Verantwortung überladen, der es nicht gerecht werden kann. Häufig sind derartige Frauen regelrecht fixiert auf eine Schwangerschaft und glauben, dass all ihre Probleme ein Ende finden, wenn diese sich endlich einstellt.