Das Buch

Ein Leben ohne Pferde kann sich Elena nicht vorstellen. Wenn sie reitet, vergisst sie alles um sich herum. Eigentlich könnte sie glücklich sein auf dem Pferdehof ihrer Eltern, wäre da nicht die erbitterte Feindschaft zwischen ihrer Familie und der von Tim. Noch immer zwingt ein dunkles Familiengeheimnis die beiden, ihre Beziehung vor den anderen zu verbergen. Und dann werfen schlimme Ereignisse ihre Schatten über die Höfe der Gegend. Als Elenas Pferd Fritzi eines Nachts verschwindet, machen sie und Tim eine gefährliche Entdeckung und es stellt sich die Frage, was stärker ist: ihre Liebe oder der alte Hass?

Die Autorin

© Felix Bruegemann

Nele Neuhaus, geboren in Münster/Westfalen, lebt heute im Taunus. Sie reitet seit ihrer Kindheit und schreibt bereits ebenso lange. Nach ihrem Jurastudium arbeitete sie zunächst in einer Werbeagentur, bevor sie begann, Erwachsenenkrimis zu schreiben. Mit diesen schaffte sie es auf die Bestsellerlisten und verbindet nun ihre zwei größten Leidenschaften: Schreiben und Pferde. Ihre eigenen Pferde Fritzi und Won Da Pie standen dabei Pate für die gleichnamigen vierbeinigen Romanfiguren.

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Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Philipp und Theresa

Prolog

Die alte dunkelbraune Stute hörte auf zu kauen. Sie hob die Nase aus dem Stroh, streckte den Kopf aus dem Stallfenster und spitzte die Ohren. Die Luft war frisch und kalt, doch in ihr lag bereits die Ahnung des kommenden Frühlings. Der Morgen kündigte sich mit einem schmalen hellen Streifen am Horizont im Osten an. Der Himmel war dunkel, aber die Sterne glänzten nur noch blass. Nebel stieg aus den Wiesen auf. In den Bäumen rings um den Stall erwachten die ersten Vögel und stimmten ihr Frühkonzert an.

Die Stute schnaubte und wandte den Kopf. Ihr empfindsames Gehör nahm das sich nähernde Motorengeräusch wahr. Es war keines der Autos, das auf der fernen Bundesstraße fuhr, und auch nicht das vertraute Geräusch des hellen Kombis, mit dem der Bauer jeden Morgen zum Stall gefahren kam, um nach ihr und den anderen Pferden zu schauen.

Die Stute lauschte. In ihrem langen Leben war sie schon oft transportiert worden und dieses Motorengeräusch erinnerte sie an die längst vergangene Zeit, als sie zu Turnieren fahren durfte. Ja, da kam ein Lkw den schmalen Feldweg entlanggekrochen! Das Licht der Scheinwerfer blendete sie einen Moment. Die Stute wieherte laut. Ihr Fohlen, das in einer Ecke der großen Box behaglich im weichen Stroh geschlummert hatte, kam schlaftrunken auf die Beine und schüttelte sich. Auch die anderen Stuten in den benachbarten Boxen horchten auf. Fast alle waren trächtig oder hatten bereits ein Fohlen bei sich.

Das Motorengeräusch erstarb. Zwei Türen klappten und jemand öffnete das Tor, das hinaus zum Feldweg und den Koppeln führte. Die alte Stute spürte die fordernden Lippen des hungrigen Fohlens an ihrem prallen Euter, aber sie stieß es unsanft zur Seite. Sie war plötzlich unruhig. Das waren fremde Männer, die zu dieser ungewöhnlich frühen Stunde in den Stall kamen. Sie machten nicht das Licht an, sondern leuchteten mit Taschenlampen. Ihre Stimmen waren leise und rau, sie rochen fremd.

Die Stute hatte in ihrem langen Leben nur Gutes von Menschen erfahren und blickte den Männern deshalb neugierig entgegen, als sie die Tür ihrer Box öffneten. Der appetitliche Duft von Hafer kitzelte in ihrer Nase. Ihr Fohlen hatte hinter ihrem großen starken Körper Schutz gesucht, und die Stute zögerte einen Moment, hin und her gerissen zwischen dem instinktiven Bedürfnis, ihr Fohlen zu schützen, und ihrer Gier nach dem Hafer. Ihre Ohren spielten. Sie machte einen Schritt auf den Eimer zu, dann noch einen, tauchte ihr Maul tief in den Hafer und kaute genüsslich. Hände streichelten ihr Gesicht, legten ihr ein Halfter an. Die Stute legte warnend die Ohren an, als sich der Mann ihrem Fohlen näherte. Aber sie hatte schon viele Fohlen gehabt und wusste, dass Menschen ihnen nichts Böses antaten. Willig folgte sie dem Mann mit dem Hafer hinaus auf die Stallgasse, brummte beruhigend, als ihr Fohlen aufgeregt wieherte und sich dicht an ihre Flanke drängte.

Die anderen Stuten und Fohlen wieherten nun auch. Sie gehörten zusammen, kannten sich seit Jahren. Wenn die Anführerin ging, folgten die anderen.

Aber an diesem frühen Morgen war es anders. Die alte Stute schritt ruhig neben dem Mann her zu dem Lkw. Sie war Tausende Male verladen worden und kletterte auch diesmal brav die Rampe hinauf. Ihr Fohlen sprang mit einem Satz hinter ihr her. Schon ging die Trennwand hinter ihnen zu. Der Hafer schmeckte köstlich. Das Fohlen knufft e mit seinem Mäulchen gegen ihr Euter, fand die Zitze und begann zu saugen.

Gedämpfter Hufschlag, leise Stimmen. Es polterte auf der Rampe, die dunkelbraune Stute wusste, wer mitfahren würde. Ihre alte Gefährtin aus Jugendzeiten, die erst in der vorletzten Nacht ihr Fohlen bekommen hatte. Minuten später stand sie im Abteil neben ihr, brummte ihr zu und kaute ebenfalls Hafer. Die Rampe ging zu. Der Motor sprang an und der Lkw setzte sich schaukelnd in Bewegung.

Alles war gut, solange ihr Fohlen bei ihr war.

1. Kapitel

»Hoho, Fritzi! Jetzt bleib doch mal eine Sekunde stehen!«

Ich hatte den linken Fuß schon im Steigbügel und hüpfte atemlos auf einem Bein neben meinem Pferd her, das es nicht abwarten konnte, endlich wieder einmal ins Gelände zu kommen, und sich aufgeregt im Kreis drehte. Twix, mein braun-weißer Jack-Russell-Terrier, schoss kläffend um uns herum, denn er war genauso wild auf einen Ausritt wie Fritzi. Nach ein paar vergeblichen Versuchen schaffe ich es endlich aufzusitzen und angelte mit dem rechten Fuß noch nach dem Steigbügel, als Fritzi schon antrabte. Er kannte den Weg Richtung Wald und wusste genau, dass er gleich nach Herzenslust galoppieren durfte.

Seitdem er auf dem Amselhof trainiert wurde, war meistens disziplinierte Arbeit in der Reithalle angesagt und höchstens ein- oder zweimal pro Woche gab es eine kurze Schrittrunde rings um den Hof. Ostern hatte es sogar noch einmal mächtig geschneit, doch nun war der letzte Spätwinterschnee geschmolzen und der Frühling hielt Einzug. Der Himmel war hellblau, die milde Luft voller Düfte und die Sonnenstrahlen wärmten und zauberten das erste blasse Grün auf Wiesen und Felder. Auch in die kahlen Bäume im Wald kehrte das Leben zurück, überall zeigten sich zaghaft winzige grüne Tupfer, die sich bald in dichtes Laub verwandeln würden.

Ich lenkte Fritzi den sandigen Weg Richtung Waldrand entlang und fasste die Zügel kürzer, denn er bog angeberisch seinen Hals, stellte den Schweif auf, tänzelte und wieherte. Fast hätte man denken können, er wollte Frau Griese und ihrer alten Stute, die auf dem Dressurplatz herumtrabten, imponieren. Er tat so, als würde er sich vor Twix erschrecken, bockte ein bisschen, und ich hatte alle Mühe, ihn manierlich im Schritt zu halten.

Fritzi hatte sich in den letzten Wochen völlig verändert. Zwar war er immer noch brav und anständig, doch er hatte jede Menge Kraft bekommen und mit seinen fünf Jahren mittlerweile begriffen, dass er ein Hengst war. Heute hatte ich das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen.

»Ist ja gut«, sagte ich zu meinem Pferd. »Gleich darfst du galoppieren.«

Fritzi klappte ein Ohr nach hinten. Er verstand genau, was ich gesagt hatte.

Wir hatten den Wald erreicht. Ein leichter Wind rauschte in den blattlosen Baumkronen und ich ließ Fritzi direkt hinter der ersten Wegkreuzung antraben, sonst wäre er wahrscheinlich auf der Stelle explodiert. Der Weg, den Melike und ich »die Autobahn« nannten, weil er schnurgerade quer durch den Wald verlief, war ideal für einen ersten stürmischen Galopp, denn er führte über ein paar Kilometer leicht bergauf. Fritzi schoss los wie eine Kanonenkugel, aber da ich darauf gefasst war, brachte es mich nicht in Schwierigkeiten. Ich konnte mein Pferd nur zu gut verstehen, auch ich fand es öde, jeden Tag Dressurlektionen in der Reithalle zu üben.

Nach ein paar Metern ging ich in den leichten Sitz, ließ die Zügel etwas länger und Fritzi streckte sich. Seine Hufe trommelten dumpf auf dem aufgeweichten Boden. Twix bellte irgendwo hinter uns empört, weil er mit seinen kurzen Beinchen nicht mithalten konnte. Papa würde sicher schimpfen, wenn er wüsste, dass ich Fritzi in Endgeschwindigkeit durch den Wald rasen ließ, aber der junge Hengst brauchte das hin und wieder, um zufrieden zu sein.

Noch vor ein paar Wochen hatte es Papa herzlich wenig interessiert, was ich mit Fritzi so anstellte, aber das hatte sich mittlerweile geändert. Seitdem ich ihm gezeigt hatte, wie gut Fritzi springen konnte, setzte Papa wieder große Hoffnungen in meinen jungen Hengst, obwohl er die damals, nach Fritzis schwerem Unfall, aufgegeben hatte. Fritzi hatte nämlich trotz seiner jungen Jahre eine dramatische Lebensgeschichte.

Er war an meinem achten Geburtstag geboren, und Papa hatte ihn mir am selben Tag geschenkt, weil mein Geburtstag durch dieses aufregende Erlebnis viel zu kurz gekommen war. Ungefähr ein Jahr später war Fritzi als Jährling mit seinen gleichaltrigen Pferdekumpel aus der Koppel ausgebrochen und irgendwie auf die Bundesstraße geraten, wo er von einem Auto angefahren worden war. Seine Verletzungen waren so schlimm gewesen, dass man angenommen hatte, er wäre nie mehr als Reitpferd zu gebrauchen. Aber mich hatte seine Lahmheit nicht gestört, ich hatte ihn gepflegt und später, als er alt genug war, auch geritten.

Im vergangenen Sommer war von den Folgen des Unfalls nichts mehr zu sehen gewesen – Fritzi trabte und galoppierte, als wäre er nie verletzt gewesen. Meine beste Freundin Melike und ich waren fast jeden Tag zusammen ausgeritten und hatten dabei festgestellt, dass Fritzi super springen konnte. Wir hatten überlegt, wie wir es anstellen konnten, Fritzi zu trainieren, ohne dass mein Vater das mitbekam, und da war Tim ins Spiel gekommen. Beim Gedanken an ihn musste ich unwillkürlich lächeln. Nicht, dass ich eine Sekunde mal nicht an ihn dachte, aber meistens geschah das eher unbewusst. Tim Jungblut war zweifellos der tollste Junge der ganzen Welt mit der süßen Narbe an seiner Oberlippe und dem Grübchen im Kinn, doch er war leider auch der Sohn von Richard Jungblut, dem Feind meiner Eltern.

Viel zu schnell hatten wir das Ende der Galoppstrecke erreicht und ich musste Fritzi durchparieren. Der junge Hengst gehorchte sofort. Der Galopp hatte ihm gutgetan, er schnaubte ein paarmal und ging danach entspannt im Schritt. Twix holte uns ein, seine Zunge hing fast bis auf den Boden, er war über und über mit Schlamm bedeckt, aber er war glücklich.

Meine Gedanken wanderten zurück zum vergangenen Sommer, und ich schauderte bei der Erinnerung an die Zeit, in der sich mein ganzes Leben mit einem Schlag verändert hatte. Mein älterer Bruder Christian und ich waren auf dem Amselhof, der meinen Großeltern gehörte, in der Nähe des Städtchens Steinau, aufgewachsen; das Leben mit den Pferden war für uns eine Selbstverständlichkeit. Papa war einer der erfolgreichsten Springreiter ganz Deutschlands und beinahe jedes Wochenende auf irgendwelchen Turnieren unterwegs.

Ganz plötzlich hatte meine heile Welt Risse bekommen, denn mein Opa hatte, ohne dass jemand davon wusste, hohe Schulden bei der Bank gemacht, und eines Tages war der Gerichtsvollzieher auf dem Amselhof aufgetaucht und hatte damit gedroht, der Hof müsse zwangsversteigert werden, sollte Opa seine Schulden nicht zurückbezahlen. Nach zähen Verhandlungen mit der Bank und dem Steuerberater hatten Papa und Mama den Amselhof mitsamt Opas Schulden übernehmen müssen, sonst hätten wir den Hof verloren.

Von einem Tag auf den anderen war die Stimmung angespannt gewesen. Meine Eltern hatten große Sorgen und stritten dauernd. Viele Einsteller verließen den Amselhof und Papa hatte nach einem heftigen Streit mit Opa kein Wort mehr mit ihm gewechselt. Ja, es war sogar so schlimm geworden, dass Mama ihren Koffer gepackt hatte und zu ihren Eltern nach Bonn gefahren war.

Fritzi war in dieser düsteren Zeit mein einziger Trost gewesen, aber ich hatte befürchtet, dass Papa ihn verkaufen könnte, wenn er erst erkannte, was für ein gutes Springpferd Fritzi war. Deshalb hatte ich ihn immer nur in der Halle geritten, wenn ich sicher sein konnte, dass Papa nicht auf dem Hof war.

Doch dann war Tim am Nachmittag des Vereinsturniers auf dem Amselhof aufgetaucht, er hatte sogar riskiert, von meinem Bruder, der Tim zutiefst hasste, gesehen zu werden. Ich hatte ihm Fritzi gezeigt, und Tim war auf die großartige Idee gekommen, mich und mein Pferd heimlich zu trainieren. Er hatte auf dem ehemaligen Hundeübungsplatz am Waldrand eine ideale Trainingswiese gefunden, eine Menge alter Hindernisse vom Sonnenhof seines Vaters dorthin transportiert und mit Melikes und meiner Hilfe einen Parcours aufgebaut. Seitdem hatten wir uns mindestens einmal pro Woche dort getroffen und Fritzi hatte dank Tims Unterricht unglaubliche Fortschritte gemacht.

Mein Herz wurde schwer bei dem Gedanken daran, dass es nun vorbei war mit dem gemeinsamen Training. Vor ein paar Wochen hatte Papa auf dem Turnier in Heidelberg Lagunas, sein allerbestes Pferd, für sehr viel Geld verkaufen können. Zwar hatte das die Rettung für den Amselhof bedeutet, aber Papa war trotzdem schrecklich traurig gewesen, denn Lagunas war sein Lieblingspferd.

Noch am gleichen Abend hatte es durch Christians Schuld einen dramatischen Unfall gegeben. Lagunas war in der Waschbox gestürzt und hatte nicht mehr aus eigener Kraft aufstehen können. Nachdem alle verzweifelten Versuche, ihm zu helfen, gescheitert waren, war ich mit Fritzi durch den dunklen Wald zum Forsthaus geritten, um Papas alten Freund Dr. Lajos Kertéczy zu holen, der Lagunas das Leben und damit den Amselhof gerettet hatte.

Nicht zuletzt dadurch hatte ich erfahren, weshalb wir mit den Jungbluts verfeindet waren, aber ich hatte auch begreifen müssen, dass die Kluft zwischen den Familien von Tim und mir nahezu unüberwindlich war. In der Schule passte Christian wie ein Schießhund auf, dass ich nicht mit Tim sprach, und Tim selbst, der bei seinem Vater auf dem Sonnenhof nach der Schule mitarbeiten musste, hatte an den Nachmittagen überhaupt keine Zeit mehr. Nicht einmal in den Osterferien hatte es eine Gelegenheit gegeben, Tim zu sehen.

Ich seufzte tief. Fritzi stellte sofort die Ohren nach hinten und wartete auf mein Signal, anzutraben.

Eine Viertelstunde später hatten wir unsere Trainingswiese erreicht. Die Hindernisse standen noch genauso da, wie Fritzi und ich sie vor ein paar Wochen gesprungen waren, bevor der Schnee unseren Trainingsstunden ein vorläufiges Ende bereitet hatte. Und nun war es ganz vorbei. Am Morgen nach Lagunas’ Unfall und Rettung nämlich hatte ich Papa Fritzi vorgesprungen, und damit war das Kapitel Training mit Tim hinfällig geworden, denn Papa hatte voller Begeisterung beschlossen, mein Pferd nun selbst zu trainieren. Das war auf der einen Seite toll, auf der anderen Seite bedeutete es jedoch, dass es keinen Vorwand mehr gab, mich mit Tim allein zu treffen.

Ich ließ mich aus dem Sattel gleiten, führte Fritzi hinter mir her über die Wiese und setzte mich auf den alten Baumstamm, den Tim, Melike und ich mit vereinten Kräften vom Waldrand aus hierhergeschleift hatten, um ein weiteres Hindernis zu haben.

So viel war geschehen in den letzten Wochen – manchmal kam es mir so vor, als wäre ich in dieser Zeit um ein paar Jahre älter geworden. Ich nestelte die Kette mit dem Anhänger, die Tim mir bei unserem letzten Treffen geschenkt hatte, aus meiner Jackentasche und betrachtete das herzförmige Medaillon. Projekt Fritzi, hatte Tim auf die Rückseite gravieren lassen. Mit dem Daumen streichelte ich die Schrift und dachte an den Nachmittag, an dem ich voller Angst zur Wiese geritten war.

Tim hatte mir eine SMS geschrieben, die ich mal wieder nicht richtig verstanden hatte, denn ich war eine Meisterin im Missverstehen. Auf jeden Fall war ich davon ausgegangen, dass Tim mir sagen würde, er könne mich in Zukunft nicht mehr treffen.

Und dann war es so völlig anders gekommen, als ich befürchtet hatte! Tim hatte mir gestanden, dass er mich liebe, und er hatte mich geküsst! Ich schloss die Augen bei der Erinnerung an diesen unglaublichen, wunderbaren, magischen Moment, in dem die Welt für ein paar Sekunden stillgestanden hatte, und stieß einen tiefen glücklichen Seufzer aus. Nie zuvor hatte mich ein Junge geküsst, und auch heute erschien es mir noch immer wie ein Traum, denn Tim war der Schwarm aller Mädchen in der Schule und ich nicht unbedingt eine Schönheit, wie Ariane, unsere Klassenprinzessin.

Als Beweis dafür, dass ich das alles nicht bloß geträumt hatte, gab es die Kette mit dem Herzanhänger, die ich heimlich in meiner Jackentasche mit mir herumtrug wie einen Talisman. Ich traute mich nicht, die Kette um den Hals zu legen. Christian könnte sie entdecken und dumme Bemerkungen machen und Mama mit ihrem Röntgenblick würde sie auch nicht lange verborgen bleiben. Diese Heimlichkeit war der Wermutstropfen in meinem Glück. Außer Melike und Lajos wusste niemand von Tim und mir und so musste es wohl bleiben.

Ich schauderte bei der Erinnerung an den vergangenen Samstag. Meine ganze Familie war mit auf das kleine Turnier nach Sulzbach gefahren, wo ich Fritzi zum allerersten Mal in einer Springpferdeprüfung Klasse A gemeldet hatte. Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass auch Papa und Christian dabei sein würden, trotzdem war ich bis dahin noch ganz cool gewesen, denn der Parcours war nicht sonderlich schwer und für Fritzi kein Problem. Aber als Melike mir auf dem Abreiteplatz zugezischt hatte, dass Tim auf der Tribüne in der Halle sitze, war mir vor Schreck beinahe das Herz stehen geblieben. Ich hatte am ganzen Körper gezittert und nach Sprung fünf den Parcours vergessen wie eine blutige Anfängerin!

Fritzi hätte das Springen locker gewonnen, aber nachdem ich aus Versehen Sprung sechs von der falschen Seite aus gesprungen war, hatte es geklingelt und ich war ausgeschieden. Papa und Mama hatten »Schade« gesagt und »Das war wohl die Aufregung«. Danach hatten sie kein Wort mehr über meinen peinlichen Auftritt verloren, nur Christian ließ keine Gelegenheit aus, mich damit aufzuziehen. Er hatte nämlich einen tierischen Zorn auf mich, weil er nicht länger im Mittelpunkt stand, sondern ich. Außerdem hatte ich mit Quintano sogar noch ein Berittpferd von Pferdehändler Nötzli bekommen. Das alles hatte meinen großen Bruder tief gekränkt. Sollte er jetzt noch herausfinden, dass Tim mich geküsst und mir eine goldene Kette geschenkt hatte, dann wäre es aus.

»Ach Tim, ich wünschte, du wärst jetzt hier«, flüsterte ich und küsste das Medaillon, bevor ich es wieder sicher in meiner Jackentasche verstaute. Ich kämpfte mit den Tränen. Wenn Tim nicht ausgerechnet »Jungblut« mit Nachnamen hieße und ich nicht die Tochter von Michael Weiland gewesen wäre, dann hätte ich jetzt zu ihm auf den Sonnenhof reiten, ihn sehen und mit ihm lachen können. Warum musste alles nur so schrecklich kompliziert sein? Fritzi blickte mich aus seinen dunklen Augen abwartend an und scharrte ungeduldig mit einem Vorderhuf. Diese Wiese bedeutete für ihn, dass er springen durfte, und das tat er für sein Leben gern.

»Heute leider nicht, mein Süßer«, sagte ich und stand auf. »Ohne Tim springen wir nicht.«

2. Kapitel

Als wir eine halbe Stunde später vom Ausritt zurückkamen, lag der Amselhof wie ausgestorben da. Papa und Mama waren wohl noch beim Steuerberater, und da Opa montags erst ab fünf Uhr Reitstunden gab, fehlten auch die Reitschüler, die an den anderen Nachmittagen durch den Schulstall wuselten. Ich lenkte Fritzi an der kleinen Reithalle vorbei zur hinteren Tür des Turnierstalls, saß ab und führte mein Pferd hinein. Die anderen Pferde streckten ihre Köpfe zur Stallgasse hinaus und wieherten ein Willkommen. Früher hatte Fritzi in der Scheune bei den Rentner- und Jungpferden gestanden, aber an dem Tag, als Lagunas verkauft worden war, hatte er in dessen ehemalige Box im Turnierstall umziehen dürfen. Es war die schönste und größte Box, mit einem Fenster nach draußen und einem auf die breite Stallgasse, und Fritzi genoss es, den lieben langen Tag rausgucken zu können.

Ich nahm ihm Sattel und Trense ab und wartete, bis er sich ausgiebig den Kopf an seinem Vorderbein gerieben hatte, bevor ich ihm das Halfter überstreifte und ihn in die Waschbox führte. Nach Lagunas’ Unfall hatte Papa den Betonboden in der Waschbox durch einen rutschfesten Gummiboden ersetzen lassen. Twix schlabberte gierig Wasser aus einem Napf neben der Sattelkammertür.

Auf einmal hörte ich Robbie, unseren Berner Sennenhund, bellen, und es klang nicht gerade freundlich. Sofort schoss Twix an mir vorbei und Sekunden später bellte auch er. Schnell führte ich Fritzi in seine Box und folgte meinem Hund in den vorderen Teil der Stallungen.

Ich war tatsächlich mutterseelenallein auf dem Hof! Von unserem Bereiter Jens, dem Aknefrosch, keine Spur, obwohl er nach einem freien Wochenende normalerweise spätestens um neun Uhr morgens wieder zurück war. Komisch.

»Robbie! Twix!«, rief ich laut, aber die Hunde hörten nicht auf zu bellen. Ich fand sie auf der Stallgasse im Langen Stall vor einer Box, und Robbie, der sonst eine Seele von einem Hund war, war völlig außer sich und sprang wild bellend an der Boxentür hoch.

»Robbie, Twix«, wiederholte ich scharf, »seid ihr wohl ruhig! Kommt her!«

Robbie verstummte, warf mir einen kurzen Blick zu und gehorchte, wenn auch widerwillig knurrend. Twix hingegen bellte unverdrossen weiter.

Als ich näher kam, sah ich, was die beiden Hunde so aufregte. In der leeren Box standen zwei Männer und machten einen ziemlich unglücklichen Eindruck. Ein wütender, sechzig Kilo schwerer Berner Sennenhund kann zweifellos ziemlich Furcht einflößend sein, auch wenn er so gutmütig ist wie Robbie. Fast hätte ich bei ihrem Anblick laut losgelacht, aber dann kam mir der Gedanke, dass es sich durchaus um neue Kunden handeln könnte, die wir ziemlich dringend brauchten. Ich packte Robbie also am Halsband, schärfte ihm ein, brav zu sein und sich hinzusetzen, dann erwischte ich Twix und befahl ihm dasselbe.

»Entschuldigung«, sagte ich zu den Männern und befreite sie aus ihrem Gefängnis.

Der Ältere der beiden sagte etwas in einer fremden Sprache, das ausgesprochen unfreundlich klang, und warf den knurrenden Hunden einen misstrauischen Blick zu. Er war etwa Mitte fünfzig, nur ein kleines Stück größer als ich selbst, dafür aber so rund wie ein Fass. In seinem dunklen Anzug mit Krawatte und seinen schwarzen Lackschuhen war er hier im Stall völlig fehl am Platz. Der andere war viel jünger, groß und schlank, auch er trug einen schicken Anzug. Er sah nett aus und schien es Robbie nicht übel zu nehmen, dass der ihn in eine Pferdebox gejagt hatte.

»Ein Chofchund ist äben dazu da, um aufzupassen«, meinte er lächelnd. »Wirrr wollten auch nicht einfach so eindringen, aberrr es war niemand da.«

Er sprach einwandfrei Deutsch, aber mit einem deutlichen ausländischen Akzent.

»Ich war nur kurz mit meinem Pferd im Gelände«, erwiderte ich. Er sollte nicht den Eindruck haben, auf dem Amselhof stünden Tag und Nacht alle Türen offen. »Kann ich Ihnen helfen?«

Ich hatte plötzlich ein ungutes Gefühl, denn ich erinnerte mich an den unscheinbaren Mann in Anzug und Krawatte, den ich im vergangenen Sommer nichts ahnend zu Opa geführt hatte. Er hatte sich als der Gerichtsvollzieher entpuppt, der den Amselhof zwangsversteigern lassen wollte.

»Wirrr suchen Cherrn Michael Weiland«, antwortete der Freundliche. »Äs gäht um etwas Geschäftliches, das Cherr Gasparian mit ihm besprechen möchte. Wo können wirrr ihn finden?«

Etwas Geschäftliches? Mein Blick fiel auf den Dicken. Über seinen flinken kleinen Äuglein, mit denen er sich aufmerksam umschaute, wucherten buschige Augenbrauen, und unter der Nase prangte ein dicker Schnauzbart, der ihm ein grimmiges Aussehen verlieh.

»Ich weiß nicht, wann mein Vater zurückkommt«, erwiderte ich zurückhaltend. »Suchen Sie eine Box?«

Ich bekam keine Antwort auf meine Frage. Der Dicke sagte etwas zu dem Freundlichen, wandte sich ab und spazierte die Stallgasse entlang. Da Robbie und Twix von mir zurückgepfiffen worden waren, wurde er mutiger, guckte neugierig in die Sattelkammer des Schulstalls, in die Reithalle und ging quer durch die Putzhalle zum Turnierstall.

Das gefiel mir gar nicht. Verärgert folgte ich ihm, meine Hand noch immer um Robbies Halsband geklammert. Der Hund spürte wohl mein Unbehagen, ein dumpfes Knurren drang aus seiner Kehle. Der Dicke blieb stehen und sagte wieder etwas zu seinem Kumpel.

»Äs stähen viele Boxen lär«, übersetzte der Freundliche. »Warum ist das so?«

»Es sind ein paar Leute ausgezogen in der letzten Zeit«, erwiderte ich, weil mir auf die Schnelle nichts Besseres einfiel. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir Jens her. Oder sogar meinen Bruder. Es war mir ganz und gar nicht geheuer, mit diesen beiden Fremden allein im Stall zu stehen, auch wenn Robbie und Twix nicht von meiner Seite wichen.

Ohne dass ich ihn daran hindern konnte, marschierte der Dicke schnurstracks in den Turnierstall und betrachtete Papas Turnierpferde. Er redete mit seinem Begleiter in einer Sprache, die ich nicht verstand.

»Was sagt er?«, fragte ich deshalb den Freundlichen. Der warf dem Dicken einen kurzen Blick zu, als ob er um Erlaubnis bat, mir zu antworten.

»Cherr Gasparian möchte mit Ihräm Vater sprächen«, erwiderte er dann höflich, und ich musste beinahe grinsen, denn ich war noch nie gesiezt worden. Er reichte mir eine Visitenkarte. »Danke, dass wirrr uns umsähen durften. Ihrrr Vater möchte doch bitte anrufen.«

»Okay.« Ich nickte und steckte die Karte ein. »Ich werde es ihm ausrichten.«

Der Dicke ging einfach an mir vorbei, der andere war so gut erzogen, mir die Hand geben zu wollen. Aber Robbie schien das als Angriff zu werten und stürzte mit einem grollenden Knurren und gefletschten Zähnen auf ihn los. Erst im letzten Moment gelang es mir, ihn zurückzuzerren. Seine Zähne schnappten in die Luft, nur ein paar Millimeter vom Arm des Mannes entfernt. Dem armen Kerl wich vor Schreck alle Farbe aus dem Gesicht und er lief seinem Chef eilig nach. Ich folgte den beiden in einigem Abstand und blickte von der geöffneten Stalltür aus hinter ihnen her. Sie gingen über den Parkplatz zu ihrem Auto. Sekunden später sprang der Motor an und der fette schwarze Mercedes rauschte vom Hof.

»Danke, Robbie«, sagte ich zu dem Berner Sennenhund, der nun wieder ruhig und freundlich mit dem Schwanz wedelte. »Puh! Ohne dich hätte ich jetzt ganz schön Schiss gehabt.«

Twix bellte und sprang an mir hoch.

»Ja, du warst auch toll«, versicherte ich ihm und kraulte ihn hinter den Ohren. »Du hättest den Kerlen sicher ordentlich die Hosen zerfetzt, was?«

»Wau!«, erwiderte Twix und wedelte so heftig mit dem Schwanz, dass sein ganzes Hinterteil wackelte.

Ich lächelte und zog die Visitenkarte aus meiner Jackentasche. Khoren Gasparian, las ich. Sonst stand nur eine Telefonnummer darauf. Eigenartig. Ich drehte mich um und ging zurück in den Stall, um Fritzis Sattelzeug wegzuhängen.

3. Kapitel

Gerade als ich den Parkplatz überquerte, um hinüber ins Haus zu gehen, kam Melike angeradelt. Sie bremste scharf vor der offenen Stalltür, sprang vom Rad und lehnte es an die Mauer.

»Sag bloß, du bist schon geritten?«, rief sie atemlos mit einem Blick auf meine schlammverspritzten Reitstiefel.

»Ich bin nur schnell zur Wiese galoppiert und zurück, damit Fritzi etwas Bewegung hat«, erwiderte ich.

»Menno, ich hab mich so beeilt!«

»Tut mir leid. Aber ich wusste nicht, wann du kommst, und Opa hat mich heute Morgen gebeten, die Fünfuhrstunde mitzureiten.«

Melike verzog enttäuscht das Gesicht und ließ sich auf einen Heuballen fallen, der gegenüber von Fritzis Box lag. Ich wusste, dass sie gern mit mir ausgeritten wäre, um eventuell – rein zufällig – am Forsthaus vorbeizureiten, denn dort wohnte Dr. Lajos Kertéczy, für den sie heimlich schwärmte.

»Wir können auch noch morgen zu Lajos reiten. Er läuft dir schon nicht weg«, sagte ich zu meiner Freundin.

Sie wurde knallrot und zog die Nase kraus.

»Du bist doch echt doof, Elena Weiland«, erwiderte sie, musste aber auch grinsen. Melike konnte nie lange sauer sein.

Ich wollte ihr gerade von den beiden eigenartigen Typen erzählen, die vorhin im Stall herumgeschlichen waren, als mein Großvater mit sorgenvoller Miene hereinmarschiert kam.

»Hallo, Opa«, sagte ich. »Ist etwas passiert?«

»Ja, allerdings«, erwiderte er. »Jens’ Mutter hat eben angerufen. Jens hatte heute Morgen auf der Fahrt hierher mit seinem Auto einen schweren Unfall. Er musste operiert werden und liegt im Krankenhaus.«

»Ach du Scheiße!«, rief ich betroffen. Das war also die Erklärung dafür, weshalb der Aknefrosch heute nicht aufgetaucht war. Alles andere als eine gute Nachricht. Auch wenn Jens und ich nicht gerade dicke Freunde waren, so hatte er sich doch in den letzten Wochen mir gegenüber ziemlich anständig verhalten, besonders dann, wenn Christian mich schikanierte. Außerdem war er für Papa eine unverzichtbare Hilfe. Ohne einen Bereiter konnte Papa die Arbeit mit den vielen Turnier- und Nachwuchspferden kaum allein schaffen, schon gar nicht mitten in der Turniersaison.

»Weiß Papa das schon?«, fragte ich meinen Großvater besorgt.

Der schüttelte nur den Kopf und studierte die Tafel, die gegenüber der Sattelkammer an der Wand hing. Hier standen alle Namen unserer Pferde, und dahinter wurde notiert, was mit ihnen gemacht worden war: R für Reiten, L für Longieren, F für Führmaschine, G für Gelände, K für Koppel oder P für Paddock.

»Er hat leider sein Handy ausgeschaltet«, sagte Opa und kratzte sich ratlos am Kopf. »Am besten, wir bringen die Pferde, die Jens reiten sollte, in die Führmaschine. Helft ihr mir dabei?«

»Klar!«, riefen Melike und ich gleichzeitig. Ich hatte schon oft dabei geholfen, die Pferde in die große, überdachte Freilauf-Führmaschine zu bringen, in der sechs Pferde bequem im Kreis laufen konnten, und ich wusste, wer sich mit wem vertrug und wer nicht. Melike und ich holten aus der Sattelkammer Gamaschen und Sprungglocken und machten ein Pferd nach dem anderen fertig: Cotopaxi, Paradiso, Mister Magic, Intermezzo, Nevertheless und Calvador würden die erste Runde gemeinsam gehen.

»Ich muss jetzt Unterricht geben«, sagte Opa zu Melike. »Kannst du ein Auge auf die Pferde haben?«

Melike nickte. Sie wusste, dass die Pferde nicht gänzlich unbeaufsichtigt in der Maschine laufen sollten. »Ich reite dann später.«

Ich ging in den Stall und sattelte Sirius, mein Schimmelpony, das mittlerweile ein wenig zu klein für mich war. Aber ich mochte mich auch nicht von ihm trennen und versuchte, ihn so oft wie möglich zu reiten. Mit Sirius hatte ich viele Springplatzierungen errungen und auch einige goldene Schleifen und Pokale in E- und A-Springen. Ich fand, es wäre undankbar, das Pony nun einfach abzuschieben, nur weil ich zu groß geworden war.

Zehn Minuten später führte ich ihn in die Reithalle. Auf der Mittellinie standen schon die sieben Reitschüler mit den Schulpferden, verschnallten mit Opas Hilfe Ausbinder und Steigbügel und hatten zum Teil einige Mühe, in den Sattel zu kommen. Es war eine Anfängerreitstunde, und die Reitschüler waren ausschließlich Mädchen, deren Mütter auf der Tribüne saßen und zuschauten. Ich saß schon längst auf Sirius und wartete geduldig, bis es losging. Opa war immer froh, wenn ich diese Stunde mitritt, denn dann konnte er mich an den Anfang der Abteilung setzen.

Ich war in Gedanken wieder einmal bei Tim und hörte nur mit einem Ohr auf Opas Befehle. Antraben, leichttraben, durch die ganze Bahn wechseln. Absatz tief, Bein lang, Zügel kürzer fassen, gerade sitzen, nicht nach unten gucken, falscher Fuß!

Zuerst ging alles noch ganz reibungslos, aber plötzlich meinte Saphir, er könnte etwas Stimmung in die langweilige Reitstunde bringen. Er scherte aus der Abteilung aus und buckelte ein bisschen. Seine Reiterin, die höchstens zehn war, hatte keine Chance. Ihre Beinchen reichten kaum bis unter das Sattelblatt und Saphir war ein großes Pferd. Ich sah, dass Opa am liebsten gebrüllt hätte, aber bei den Kindern hielt er sich zurück, vor allen Dingen dann, wenn ihre besorgten Mütter von der Tribüne aus zuschauten. Saphir spielte Rodeopferd, das Mädchen hatte Angst, und als das Pferd dann einen hinterhältigen Buckler machte, schoss es aus dem Sattel, segelte durch die Luft und plumpste mit einem dumpfen Aufprall in den Sand.

»Hui!«, machte Opa. »Abteilung Sche-ritt!«

Ich parierte durch. Opa hatte Saphir schnell wieder eingefangen, aber das kleine Mädchen lag wie ein Maikäfer auf dem Rücken in der Reitbahn und rührte sich nicht. Ihre Mutter ließ einen Schrei los und versuchte panisch, die Bandentür zu öffnen.

»Es ist nichts passiert!«, rief Opa und half dem Kind auf die Beine. »Aber dieses Monstrum von Weste ist ja die reinste Ritterrüstung!«

»Ohne die Weste darf Lisa nicht reiten! Sie könnte sich die Wirbelsäule verletzen«, erwiderte die Mutter in einem hysterischen Tonfall, und ich konnte meinem Großvater ansehen, dass er mit seiner Geduld am Ende war.

»Sie kann sich die Arme brechen, wenn sie unglücklich mit diesem Kasten stürzt.«

Saphir ließ unterdessen gelangweilt die Ohren hängen und tat unschuldig, aber die Kleine stand zitternd da, heulte Rotz und Wasser und war nicht mehr dazu zu bewegen, zurück in den Sattel zu klettern.

»Na, na, das war doch nicht so schlimm«, sagte Opa. »Jeder Reiter fällt mal runter. Das gehört zum Reiten dazu. Komm, ich werf dich wieder hoch.«

»Nein.« Das Mädchen schüttelte den Kopf und hatte vor lauter Aufregung Schluckauf bekommen. »Ich ha… ha… hab so eine Angst vor Saphir!«

»Also gut.« Opa blickte sich ungeduldig um. »Wer tauscht mit Lisa?«

Keiner. Klar. Saphir war bei den Anfängern wenig beliebt, denn er hatte mehr Temperament als die anderen Schulpferde, die mit halb geschlossenen Augen vor sich hin dösten, bis es weiterging.

»Ich!«, rief ich kurz entschlossen und sprang von meinem Pony. »Du kannst Sirius reiten, wenn du magst. Er ist total lieb.«

»Echt?«, fragte die Kleine unsicher und zog die Nase hoch.

»Sirius ist todbrav«, versicherte Opa. »Und von ihm fällst du nicht so tief.«

»Du fällst überhaupt nicht von Sirius runter«, sagte ich schnell, bevor das Mädchen schnurstracks aus der Halle rannte und wir noch einen zahlenden Reitschüler weniger hatten. Opa hatte einen ziemlich derben Humor, der bei ängstlichen Mädchen und ihren noch ängstlicheren Müttern nicht gut ankam. »Komm, wir schnallen die Ausbinder von Saphir um und dann geht’s weiter.«

Ein paar Minuten später trabte ich auf Saphir am Anfang der Abteilung. Der dunkelbraune Wallach merkte sofort, dass er mit mir keine Mätzchen machen konnte, und benahm sich mustergültig. Lisa saß strahlend auf Sirius, der so brav war, wie ich vorausgesagt hatte.

Der Rest der Reitstunde verlief ohne Probleme und ich ließ meine Gedanken wieder zu Tim schweifen. Was er wohl gerade tat? Ob er mit der arroganten Ariane und den anderen blöden Hühnern im Reiterstübchen auf dem Sonnenhof saß? Von Ariane wusste ich, dass es ein ganz modernes Reiterstübchen auf der Reitanlage von Tims Vater gab, von dem aus man durch große Glasscheiben in die Reithalle schauen konnte. Zwar hatte Tim mir versichert, ich müsse mir keine Gedanken wegen Ariane machen, trotzdem nagte die Eifersucht jeden Tag an meinem Herzen. Ich hätte alles darum gegeben, einmal den Sonnenhof zu sehen, damit ich mir wenigstens vorstellen konnte, wo und wie Tim seine Nachmittage verbrachte, aber ich hatte null Chancen. Wenn mich dort jemand erkannte und meine Eltern oder Christian davon erfuhren, konnte ich Tim gleich vergessen.

Niedergeschlagen tauschte ich mit Lisa nach der Reitstunde die Pferde und führte Sirius zu seiner Box. Ich brachte sein Sattelzeug weg und kam gerade aus der Sattelkammer, als Lisa mit ihrer Mutter den Stall betrat.

»Sirius ist echt das tollste Pony, das ich jemals geritten