Zum Inhalt des Buches: Die historische Spannbreite der hier edierten Vorträge reicht von der Theorie der politischen Revolution bei Aristoteles bis hin zur Frage, unter welcher Perspektive man die G20-Krawalle 2017 in Hamburg als revolutionär betrachten kann. Die Autorinnen gehen keineswegs von einer gemeinsamen theoretischen Linie oder einem gemeinsamen politischen Standpunkt aus. Gemeinsam ist den Vorträgen aber die Neugier danach zu suchen, welche Rolle die Idee der Revolution heute noch spielt, die bis in die 1960er Jahre hinein viele faszinierte und beseelte, sei es bei revolutionär Engagierten oder anderweitig Aktiven. Dabei werden auch unterschiedliche Blickwinkel auf einige historische Ereignisse geworfen, die bis heute das Denken über Revolution prägen. Sowenig dürfen Überlegungen zu den neuesten technologischen Entwicklungen fehlen, die z.B. die Arabellion beflügelten. Und natürlich stellt sich immer wieder die Frage, wohin die revolutionäre Reise geht oder ob die Epoche der Revolution beendet ist.

Zur Entstehung des Buches: Die Texte sind die ausgearbeiteten Vorträge, die auf dem ersten wissenschaftlichen Symposion gehalten wurden, das im Anschluss an den Philosophischen Rau(s)chsalon (dazu siehe http://schönherr-mann.de/) unter derselben Themenstellung wie der vorliegende Buchtitel am 4. und 5. November 2017 im Geschwister-Scholl-Institut stattfand. Der Salon beschäftigte sich bereits in den Jahren 2013–2015 mit dem Thema Vergesst nicht . . . die Revolution! (unter demselben Titel erschienen die Texte hrsg. v. Schönherr-Mann/Jain/Beilhack, Edition fatal, München 2017). Das Symposion fand aus Anlass des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution statt.

Der Herausgeber Hans-Martin Schönherr-Mann ist Professor für Politische Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2018 Hans-Martin Schönherr-Mann

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7460-4585-6

Dem Andenken an

Georges Danton

(in Georg Büchners Drama)

Inhalt

DANTON <vor der Guillotine>. Wenn einmal die Geschichte ihre Grüfte öffnet, kann der Despotismus noch immer an dem Duft unserer Leichen ersticken. HÉRAULT. Wir stanken bei Lebzeiten schon hinlänglich. – Das sind Phrasen für die Nachwelt, nicht wahr, Danton; uns gehen sie eigentlich nichts an.

(Georg Büchner, Dantons Tod)

Vorwort des Herausgebers

Das Symposion war nach gängiger Tagungserfahrung ein Experiment. Für die Referenten gab es keine zeitlichen Vorgaben, sowenig wie einen Zeitplan. Auch für die an jeden Vortrag anschließende Diskussion war kein Zeitraum festgelegt. Natürlich wurde nach jedem Vortrag eine Zigarettenpause eingelegt, die die in der israelischen Armee dafür üblichen sieben Minuten überschreiten durfte. Der Spielraum erstreckte sich zwischen Samstag 14–23h und Sonntag 12–22h. Das wurde am Ende nicht mal ausgeschöpft. Verglichen mit anderen Tagungen, bei denen ein Vortrag den nächsten jagen muss, weil so viele Vorträge untergebracht werden wollen, hatten wir eine großzügigen Zeitrahmen, der nicht nur den üblichen Tagungsstress verhinderte, sondern den Diskussionen genügend Raum bot, um Fragen auszudiskutieren. Jedenfalls in dieser Hinsicht darf man das Symposion als gelungen bezeichnen. Weitere Urteile sollte man als Veranstalter vermeiden.

Diese Form versuchte eine theoretische Einstellung widerzuspiegeln, die vielleicht von einigen der Beteiligten geteilt wird. So schreibt Paul Feyerabend: „Die Wissenschaft ist wesentlich ein anarchistisches Unternehmen: der theoretische Anarchismus ist menschenfreundlicher und eher geeignet, zum Fortschritt anzuregen als ‚Gesetz- und-Ordnungs‘-Konzeptionen.“1 Dann erschöpft sich der Sinn von Wissenschaft nicht darin, eine bestimmte Ausbildung von Studenten durchzuführen und sozialen Institutionen nützliche Dienste zu leisten. Vielmehr werden neue Ideen erfunden, die vor allem den Zeitgenossinnen helfen, über sich selbst unabhängig von Herkunft und Tradition nachzudenken, um ihr eigenes Leben auch davon abweichend gestalten zu können. Gleichzeitig tangiert und scheidet sich hier das Thema Revolution vom Tagungsgeschehen: Soll die Sozialwissenschaft der Menschheit helfen, dann darf sie das Individuum nicht auslassen – jedenfalls wenn die abendländische Menschheit dabei eine Rolle spielt!

So geht es im Rahmen der politischen Philosophie immer um theoretische Blickwinkel und Fragen. Diese dürfen aber den theoretischen Horizont durchaus hintergehen und sich empirisch aufladen. Beim Thema Revolution lässt sich das schon vom Ansatz her schwerlich vermeiden, ist aber gemäß meinem Verständnis immer schon ein Anliegen der politischen Philosophie: Das Politische an der Philosophie stellt den Bezug zwischen Theorie und Erfahrung her, weitet den Blick der Philosophie in den Raum der Erfahrungen hinein und leistet der Empirie Reflexionshilfen, die man gemäß eines berühmten Wortes von Kant im anderen Fall als blind bezeichnen könnte. Doch das wäre nicht mal so sehr das Problem, sondern vielleicht sogar ein Vorteil. Nur gibt es keine reine Empirie. Wer dergleichen versucht, der weiß in vielfältiger Hinsicht nicht, was er tut.


1 Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang – Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie (1975), Frankfurt/M. 1976, 28

GRUNDLAGEN

Anil K. Jain

WIDERSPRUCH, WIDERSTREIT,
WIDERSTAND – FUNDAMENTE
REVOLUTIONÄRER PRAXIS

Die Praktik der Revolution strebt die radikale Umwälzung an. Sie will eine neue »Ordnung der Dinge« etablieren. Nicht jede dieser neuen Ordnungen erweist sich als erstrebenswert. Und viele fürchten (zurecht) die Unordnung, die im Zuge er Revolution (zunächst) »mit aller Gewalt« hereinbricht. Die Revolution ist nämlich der Zeitpunkt, an der dem Konflikt zwischen der alten Ordnung und der neuen Ordnung offen ausbricht. Um die Voraussetzung für das Zustandekommen der revolutionären Dynamik zu klären, ist es hilfreich allgemein nach den »Gründen« des Konflikts zu fragen. Ich möchte dies unternehmen, indem ich im folgenden drei für den Konflikt zentrale Begriffe näher in den Blick nehme: Widerspruch, Widerstreit und Widerstand. Eines haben diese drei Begriffe gemein: das »Wider«. In diesem Präfix kommt eine Gegen-Stellung zum Ausdruck, die auch den Kern des Konflikts ausmacht. Aber das althochdeutsche »wiedar«, von dem es sich ableitet, hatte noch eine andere, durchaus vielsagende Bedeutung: »weit(er) weg«. Und so führt uns die Spur der Sprache direkt zur eigentümlichen Bewegung des Konflikts. Denn der Konflikt meint seiner ursprünglichen Wortbedeutung nach ein (gewaltvolles) »Zusammentreffen« von entgegengesetzten Kräften. Führt man weit auseinander liegende Positionen zusammen, so entsteht daraus ein Konflikt. Oder anders ausgedrückt: wird die Physik der Abstoßung missachtet, wird Differenz eliminiert, so wird eine Dynamik entfaltet, die sowohl das Potential der Zerstörung in sich trägt, wie auch schlummernde positive Energien freisetzen kann.

1. Widersprüche

Am Beginn jedes Konflikts steht der Widerspruch. Der Widerspruch soll hier allerdings – anders als der Begriff es eigentlich nahe legen würde – nicht diskursiv aufgefasst werden. Dies mag einen Widerspruch in sich darstellen. Aber Widersprüchlichkeit ist die »Natur« des Widerspruchs. Es macht keinen Sinn, dieser »Natur« zu widersprechen, den Widerspruch glatt zu bügeln, indem man ihn gemäß der »reinen« Begrifflichkeit auffasst. Im Gegenteil kann es überaus produktiv sein, den Widerspruch »materiell« zu entfalten und von seiner diskursiven »Anmutung« zu befreien.

Als Begriff aus dem Antiquariat der Philosophie ist der Widerspruch beziehungsweise sein Ausschluss eine der zentralen Grundlagen der klassischen Logik. Aristoteles nahm in seiner »Metaphysik« (1005b) wie selbstverständlich an, »es sei unmöglich, dass etwas zugleich sei und nicht sei«, und formulierte daraus ein Grundgesetz der Logik: den Satz vom Widerspruch. Man muss als Logiker an dieses Dogma glauben. Der Widerspruch bringt jedes logische Gebäude zum Einsturz. Er ist der Treibsand des Denkens.

Die großen Dialektiker der Neuzeit – Hegel und Marx – kapitulierten insofern noch bedingungsloser vor der drohenden Gefahr des Widerspruchs als die klassischen Logiker, als sie – dem Widerspruch anders nicht Herr werdend –, danach trachteten, ihn im Fortlauf der Geschichte zu eliminieren: In Hegels (1988 [1807] »synthetischer« Dialektik sollte der Widerspruch im Begriff »aufgehoben« werden. Marx wendet sich zwar vom Idealismus Hegels ab, doch auch im Dialektischen Materialismus heben sich die sozio-ökonomischen Widersprüche im historischen Endzustand des Kommunismus letztlich auf. Entscheidend jedoch ist, dass der Widerspruch im Marxismus eine klare materialistische Umdeutung erfährt. Der Widerspruch wird dem unklaren, dunklen Bereich des spekulativen Denkens entzogen und zur objektiven Tatsache erklärt. Diese Umdeutung hat einen großen heuristischen Vorteil: er kann nicht mehr nicht nur gedacht und demaskiert werden, sondern er wird in der Realität des Kapitalismus und in der Geschichte – als Klassenkampf – konkret erfahrbar und damit bekämpfbar. Wenn Marx (1956ff. [1859]: S. 9) bemerkt: »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt«, so meint er damit, dass die Erfahrung des Widerspruchs keine andere Wahl lässt, als der Realität des Widerspruchs den Kampf anzusagen: Aus der Kontradiktion ist ein Konflikt entstanden.

Wenn ich allerdings (mit Marx) auf die materielle Ebene des Widerspruchs verweise und mich auf sie konzentriere, so will ich damit nicht den Widerspruch auf die sozio-ökonomische Ebene reduzieren. Vielmehr will ich herausstellen, dass der Widerspruch, wenn man das Feld formaler Logik verlässt, am besten als eine erfahrbare Realität verstanden werden kann. Eine Realität, die nicht eindeutig, glatt und ungetrübt ist, sondern geprägt durch Spannungen und Risse. In diese Realität »geworfen« zu sein, bedeutet eine Auslieferung an den Widerspruch. Und es bedeutet die Aufgabe, sich mit dieser Realität auseinanderzusetzen.

Die erfahrbaren Widersprüche dieser Realität betreffen die Ökonomie, die Politik, die Gesellschaft und ihre Diskurse, das Ich – und alle möglichen weiteren Felder des »In-der-Welt-seins«. Und es handelt sich bei den erfahrbaren, »materiellen« Widersprüchen um Gegensätze, die nicht bloße Konstruktion sind (obwohl sie natürlich in ihrer Wahrnehmung immer sozial überformt sind), sondern auf eine »tatsächliche«, im Sein verankerte, Gegenstellung verweisen. Auch die Ambivalenz, d.h. ein Widerspruch, der nicht durch den Ausschluss der Gegensätze, sondern durch ihre Gleichzeitigkeit geprägt ist (und damit die klassische Definition sprengt), zählt zu dieser materiellen Form des Widerspruchs, der im Kontext des Konflikts als »Trigger« fungiert.

2. Die Dynamik des Widerspruch: Die Dialektik von Reflexion und Deflexion

Nicht jeder Widerspruch entfaltet jedoch eine konfliktvolle oder verändernde Dynamik. Fragen wir uns also: Wann wird der Widerspruch entfaltet? Und ist – im Sinne des produktiven Umgangs mit dem Konflikts, der aus dem Widerspruch entsteht – seine Entfaltung das Problem oder vielleicht im Gegenteil seine Überdeckung?

Als materielle Kategorie stellt der Widerspruch einen »gegenständlichen« Zwang dar: Der Widerspruch kann nicht einfach ignoriert werden. Es verhält sich ähnlich wie bei belastenden psychischen Ereignissen: seine Ausblendung und Verdrängung ist eine überaus anstrengende Arbeit und erfordert immense Kraftanstrengungen. Trotzdem ist die Ausblendung des Widerspruch in vielen Fällen eine überaus verführerische Option, denn sie erlaubt es scheinbar, so weiter zu machen, wie man es gewohnt ist. Widersprüche haben allerdings die unangenehme Eigenschaft sich zu steigern, wenn man versucht, sich ihnen zu entziehen, anstatt sich ihnen zu stellen. Und irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem es unmöglich wird, den Widerspruch auszublenden. Ob man es will oder nicht: er ruft sich – verschärft – ins Bewusstsein. Deshalb wäre es klüger, dem Widerspruch von Beginn an seinen Raum zu geben und sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Die »Wahr«-nehmung des Widerspruchs ist eine »reflexive« Haltung. Reflexiv nicht etwa im Sinn einer bloß kognitiven Spiegelung, sondern durchaus praktisch verstanden als eine Anerkennung der Widersprüchlichkeit des Seins, die auf eine Synthese der Widersprüche verzichtet, sich auf diese einlässt und zugleich auf die Entfaltung seiner Potentiale hinwirkend, in das Sein »involviert« ist. Derartige reflexive Impulse lösen allerdings immer – zumindest in einem dialektischen Denkmodell – auch deflexive, d.h. ablenkende und verdrängende Gegenimpulse aus, weshalb wir sowohl theoretisch wie in der Realität zumeist eine Dialektik von Reflexion und Deflexion denken und beobachten können (vgl. Jain 2000a). Die Unsicherheit, die mit der reflexiven »Öffnung« zum Widerspruch entsteht, wirkt bedrohlich und wird abzuwehren versucht. Zudem stehen dem reflexiven Wandel die Interessen der vermeintlichen oder tatsächlichen Nutznießer des status quo gegenüber. Deflexion erfolgt aber zugleich niemals losgelöst von Reflexion, sie setzt vielmehr gerade (dialektisch) auf ihr auf, hat sie zur Voraussetzung. Eine Definition des Begriffs der Deflexion muss deshalb notwendig mit Bezug auf den Reflexionsbegriff erfolgen: Bedeutet Reflexion die gedankliche und praktische Spiegelung von Reflexivität, die Entfaltung und »Stellung« der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des Seins, so meint Deflexion als dialektischer Gegenbegriff hierzu die Verspiegelung des Widersprüchlichen, die Abwehr, Verdrängung und Ablenkung (innerer wie äußerer) reflexiver Impulse und Ambivalenzen.

Dieses dialektische Wechselspiel ist, wie dargelegt, allerdings keineswegs unproblematisch. Insbesondere die (Teil-)Systeme der modernen Gesellschaft besitzen wirksame Deflexionsressourcen zur Abwehr reflexiven Hinterfragungen. Die systemisch bewirkte Überdeckung der Widersprüche steigert diese allerdings untergründig und ruft somit neue reflexive Herausforderungen auf den Plan – etwa in der Form der »Multitude«. Die Effekte sind nicht nur ein gesteigertes Konfliktpotential und hohe Kosten der Deflexion (die ihren Nutzen bei weitem übersteigen können), sondern auch eine Steigerung der Gefahr, im »katastrophalen« Abgrund des Widerspruchs – der Revolution – unterzugehen.

3. Widerstreite

Die Gefahren der Überdeckung des Widerspruchs sind offensichtlich. Aber auch die Lösung des Widerspruchs birgt nicht nur Risiken (des Misslingens), sondern bewirkt zwangsläufig auch eine Eliminierung der Differenz, die den Widerspruch ausmacht. Der Widerspruch bedarf darum der Artikulation, der Repräsentation und er muss – in einem gewissen Sinn – gewahrt werden. Die Artikulation und Repräsentation des Widerspruchs nenne ich Widerstreit. Ich bediene mich dabei also eines Begriffs, der mit der Übersetzung von Lyotards »Le Différend« eine gewisse Prominenz im Diskurs erlangt hat.

Lyotard (1989 [1983]) bemerkt zu seinem Begriff des Widerstreits: »Widerstreit [différend] möchte ich den Fall nennen, in dem der Kläger seiner Beweismittel beraubt ist und dadurch zum Opfer wird […] Zwischen zwei Parteien entspinnt sich ein Widerstreit, wenn sich die ›Beilegung‹ des Konflikts, der sie miteinander konfrontiert, im Idiom der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere Seite erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert.« (S. 27) Die Situation des Widerstreits ist für Lyotard ein moralisches Problem, denn da keine Diskursart (mit ihren Regelsystemen) per se eine übergeordnete Wahrheit oder Richtigkeit für sich beanspruchen kann, bedeutet dies, dass jede Praxis zwangsläufig zu Ungerechtigkeiten führt.

Ich aber möchte den Widerstreit anders als Lyotard verstanden wissen. Der Widerstreit ist ein Streit, ein artikulierter Dissens, in dem der Widerspruch aufscheint und damit repräsentiert wird. Man könnte auch sagen: Der Widerstreit macht das Wider »spruchreif«. Er ist die diskursive Manifestation des Widerspruchs. Der Widerstreit ist aber noch nicht zwangsläufig ein tatsächlicher Konflikt. Er holt den Widerspruch nur aus dem Unbewussten des Objekthaften in die Sphäre des Diskursiven. Dabei kann er in einer Personen oder in Gruppen von Personen repräsentiert sein. Entscheidend ist, dass er eine Stimme gefunden hat. Was geschieht, wenn ein Widerstreit sich entfacht, kann man dabei vielleicht eine Krise nennen (was nichts anders bedeutet als: Scheidepunkt). Was scheinbar eine Einheit bildete, trennt sich in widersprüchliche Positionen auf. Der Widerspruch kann nun nicht mehr im Verborgenen bleiben. Er wird zum Objekt der diskursiven Auseinandersetzung, wobei die unterschiedlichen Positionen, die den Widerspruch darstellen, aufeinander treffen. Insoweit ist der Widerstreit ein Element der (artikulierten) Reflexion. Er manifestiert den Widerspruch. Allerdings ist der Widerspruch auf der Stufe des Widerstreits noch nicht voll entfaltet. Er ist bewusst. Aber er ist noch nicht auf der Ebene des Handels verwirklicht.

4. Die Schlichtung der Widerstreite: (Deflektorische) Übersetzung

Die Reflexion, die der Widerstreits darstellt, ruft nämlich deflexive Gegenbewegungen hervor, um zu verhindern, dass der Widerspruch in der Praxis manifest wird. Dem System stehen zahlreiche Methoden zur Verfügung, den Widerstreit zu »schlichten«, das bedeutet: ihn nicht (in Handlung) ausgreifen zu lasen. Das wichtigste Instrument der Schlichtung ist die »Praxologie« der Übersetzung von (widerstreitenden) Diskurse. Mit dem Mittel der Übersetzung wird auf die (freilich nur in der »Theorie« gegebene) Trennung der Subsysteme zurückgegriffen, um gleichzeitig eine deflektorische Verbindung zwischen den einzelnen Systemen zu schaffen. Tatsächlich handelt es sich, ganz im Sinne Lyotards (1989 [1983]: Nr. 78), nur um eine »Verkettung«. Reflexiv erzeugte »Spannungen«, die in der einen Diskursart – oder um mit Niklas Luhmann zu sprechen: im »binären Code« des einen (Teil-)Systems – nicht befriedigend »gelöst« werden können, werden durch die Übertragung in eine »fremde« Diskursart entschärft. Der reflexive und semantische Übersetzungsverlust, der hierdurch zwangsläufig entsteht, wird ausgeglichen durch deflektorische Gewinne, wie etwa der Absorption von politischem Protest durch Übersetzung etwa einer politischen Streitfrage in den juristischen Diskurs: das Verfassungsgericht hat entschieden, der politische Streit wird für beendet erklärt!

Die systemische Politik, als Steuerungsinstanz, kann jedoch im Zusammenspiel mit anderen Subsystemen noch auf eine Reihe weiterer (jeweils für diese Systeme spezifische) Deflexionsmodi zurückgreifen (siehe Tabelle): Ökonomische Deflexion beruht zum einen auf der integrativen Macht des Konsums in der umverteilenden Gesellschaft des (post-)industriellen Wohlfahrtsstaats. Zum anderen fußt sie auf der liberalistischen Ideologie der freien Marktwirtschaft und der aus ihr abgeleiteten These vom Zwang zur Anpassung an die Marktgesetze der Konkurrenz, welche durch die stattfindenden Globalisierungsprozesse zusätzlichen Auftrieb erhält. Die ideologische »Grundlage« der wissenschaftlichen Deflexion besteht in der Annahme wissenschaftlicher Unabhängigkeit und Objektivität. Sie wird in der Praxologie wissenschaftlicher Expertisen von der Politik deflektorisch genutzt. Im Rahmen der dramaturgischen Deflexion versucht die Politik sich durch expressive Inszenierungen in der Öffentlichkeit darzustellen. Diese politischen »Rituale« (wie z.B. Vereidigungszeremonien) und die Permanenz der politischen Präsenz in den Medien erzeugen Vertrautheit und Vertrauen. Symbolische Deflexion, die eng mit der dramaturgischen Deflexion verknüpft ist, erfolgt primär mit dem Mittel der (historischen) Erzählung und der Herrschaft über die Sprache sowie die kulturellen Symbolwelten. Ihr liegt die Ideologie der nationalen Einheit und der sozial-kulturellen Wertegemeinschaft zugrunde. Alle diese Mechanismen der Deflexion tragen dazu bei, die Widerstreite zu schlichten und (revolutionären) Widerstand zu verhindern.

Das deflektorische System der Politik

zentrale Ideologie(n): zentrale Praxologie(n):
Translatorische Deflexion:
(systemübergreifend)
Autonomie der Subsysteme Übersetzung
Ökonomische Deflexion:
(Politik/Wirtschaftssystem)
Freie Marktwirtschaft,
»invisible hand«
Konsum
Rechtliche Deflexion:
(Politik–Rechtssystem)
Gewaltenteilung,
unabhängige Judikative
Rechtsverfahren
Wissenschaftlich Deflexion:
(Politik–Wissenschaftssystem)
Wissenschaftliche Objektivität Expertise
Dramaturgische Deflexion:
(Politik–Öffentlichkeitssystem)
Neutrale Medienberichterstattung,
»Augenschein«
Medieninszenierung,
politische Rituale
Symbolische Deflexion:
(Politik–Kultursystem)
Nationale Einheit/
Wertegemeinschaft
Geschichtsschreibung,
(National-)Sprache

5. Widerstände

Es steht darum (leider) nicht gut um die Kräfte des Widerstands. Denn der Widerstand ist, was schon der Name sagt, eine Gegenmacht. Und wo die Macht der Anpassung, der Unterdrückung und Unterwerfung sich deflexiv verschleiert und der Wahrnehmung entzieht, bleibt Widerstand folglich aus oder wird abgelenkt und läuft ins Leere. Wir befinden uns aktuell in einer globalen Konstellation, in der die Haltung des Widerstands zu einer belächelten Position verkommen ist – nicht nur weil die Kräfte der Anpassung und Unterdrückung übermächtig wirken, sondern weil sie größtenteils unerkannt bleiben (weil sie unkenntlich gemacht wurden und somit unerkennbar sind).

Aber auch wenn der Widerstand ein immer seltener anzutreffendes Phänomen ist, sollten wir uns fragen: Was ist und was bedeutet der Widerstand? Denn nur in diesem Wissen kann der Widerstand wiederbelebt werden. Und deshalb möchte ich vorschlagen, den Widerstand als die Manifestation des Widerstreits (und damit auch des Widerspruchs) im Handeln zu verstehen. Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Formen des Widerstands unterscheiden. Die eine erscheint »aktiver«. Ihr Widerstand ist stürmisch. Es kommt zum Zusammenprall, zum offenen Konflikt und schließlich (vielleicht: zur Revolution. Die andere Form ist »passiver« und kann mit dem elektrischen Widerstand verglichen werden: Sie bremst nur den Fluss der Ereignisse. Aber auch sie ist gekennzeichnet durch den Willen, nicht das Feld zu räumen, sich vom Fluss des »Mainstream« nicht mitreißen zu lassen. Auch dieser Widerstand führt – durch seine Be-Ständigkeit – zur Konfrontation. Nur: Im »Space of Flows« der Netzwerkgesellschaft ist solche Beständigkeit selten anzutreffen – weil die Kräfte gegen die man sich stellen könnte, immer mehr im verborgenen bleiben. Schon immer versuchte Unterdrückung sich (als Befreiung) zu tarnen: Der repräsentative Parlamentarismus feierte die Entmündigung der politischen Subjekte als endgültigen Sieg der Demokratie, und der Konsumterror der Marktwirtschaft verkleidet sich als »Freiheit der Wahl«. Diese Ideologien waren und sind mächtig. Aber sie sind Ideologien im klassischen Sinn, d.h. sie weisen ungewollt den Weg zu ihrer Enttarnung und Transzendierung, indem sie in einem immerhin prinzipiell erkennbaren Kontrast zur sozialen, politischen und ökonomischen Wirklichkeit stehen. Doch heute sind die Mechanismen der Unterdrückung weitgehend unkenntlich. Die Wirklichkeit selbst zu einem einzigen Verschleierungszusammenhang geworden.

Dieser Einsicht in die verschleiernde und politisch deaktivierende Struktur aktueller Wirklichkeit muss man sich stellen, um sich ihr entgegenstellen zu können, und die alten Muster, etwa des historischen Materialismus, zur Identifizierung der Kräfte der Unterdrückung greifen nicht länger. Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Ideologien. Wir leben im Zeitalter der Praxologie: Die Ideologie ist zur totalitären praktischen Wirklichkeit geworden, hat sich in einem globalen System der Deflexion verselbständigt – die widerständigen Impulse werden abgelenkt und zurechtgebogen und dienen zuletzt noch als Stütze des Systems.

Ganz zu recht haben darum Hardt und Negri (2000: S. XXII) das Herrschaftssystem im globalen Kapitalismus als einen dezentrierten und deterritorialisierten Regelungsapparat beschrieben, »der fortschreitend die ganze Welt seinen offenen, sich ausdehnenden Machtbereichen einverleibt«. Die Macht ist in diesem System nicht mehr lokalisierbar und damit auch kaum mehr angreifbar. Eher hilflos erscheinen die Versuche, die globale Macht nach alten Mustern zu verorten und ihr ein Gesicht zu geben. Weder ist z.B. Donald der reale Repräsentant westlicher Macht, noch ist etwa Kim Jong-un ihr tatsächlicher Herausforderer. Viel eher sind beide medial vermittelte symbolische Erscheinungsformen, Avatare, einer diffusen Macht, die sich gerade in ihren scheinbaren Verkörperungen unkenntlich macht (indem sie mögliche Widerstände in falsche Richtungen ablenkt). In diesem Sinne hat die aktuelle Erscheinung der Macht tatsächlich etwas gespenstisches: sie ist unklar, verschwommen, und vor allem nicht greifbar.

Auch die Klarheit der alten Klassenstrukturen hat sich aufgelöst – und mit ihr der Widerstand generierende Antagonismus der Klassen der Unterdrücker und der Unterdrückten. Zwar gibt es Begünstigte und Benachteiligte des Systems, aber die herrschende Klasse des globalen Zeitalters ist tatsächlich eine wahre »Gespensterklasse«. Sie entzieht sich durch ihre Vielgestaltigkeit und Globalität dem identifizierenden Zugriff und bleibt damit gerade in ihrer Diffusität »übermächtig« (vgl. Jain 2000b). Ihre Grenzen verschwimmen, und allzu oft ist die »Dialektik von Herr und Knecht« sogar in ein und derselben Person verwirklicht – und damit in ihr aufgehoben: d.h. verwahrt und unkenntlich gemacht. Die Unterscheidung von Freud und Feind, die für Carl Schmitt (1927) das Wesen des Politischen ausmachte, lässt sich nicht mehr treffen. Wir sind zugleich unsere eigenen Freunde und Feinde – und kämpfen, so wir kämpfen, darum in erster Linie gegen uns selbst.

6. Ankerpunkte

Gibt es aus diesem globalen System, das alles, selbst noch seine Gegenkräfte, absorbiert, kein Entkommen? Wo wäre der mögliche Ort des Widerstands? Wo liegen seine Ankerpunkte? Ich möchte eine etwas antiquiert klingende Antwort wagen: Der Kern des Widerstands ist die verhärtete Form – der Wille. Unbeugsam. Störrisch. Störend. Irritierend. Unbequem. Das unverbesserliche, obszöne Subjekt, das sein »Nein!« herausschreit.

Doch wie um den Widerstand, so steht es auch um dieses verneinende Subjekt schlecht bestellt. Von allen Seiten her wird es bedrängt, und die kurze Geschichte des (neuzeitlichen) Subjekts scheint beendet, bevor sie noch richtig begonnen hat. Erst in der Renaissance »erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches«, weiß Jacob Burckhardt (1952 [1860]: S. 123). Und wenn Descartes (1870 [1644]: Kap. 1, Nr. 7) schließlich in der Selbsterkenntnis des denkenden Subjekts den einzig sicheren Grund der Philosophie zu finden meint, dann sorgt die »Dialektik der Aufklärung« nach dem beschwerlichen Aufstieg sogleich für den schnellen und bodenlosen Fall des Individuums (vgl. Horkheimer 1947: Kap. 4). Nachdem Nietzsche (1954 [1883]: S. 279) den Tod Gottes verkünden durfte, wird heute das Subjekt für tot erklärt (vgl. z.B. Derrida 1972).

Die so betriebene Entäußerung des Selbst macht nicht im Innenbereich halt. Der (erzwungene) Drang nach permanenter Umformung und Optimierung ergreift auch die Ebene des Köpers. Seine Materialität bedeutet Herausforderung. Der eigene Körper soll dem oktroyierten Selbstbild, das in Lifestyle-Magazinen und Werbebildern kreiert wird, entsprechen. Zudem ist die Oberfläche des Körper gut geeignet, die Defizite der inneren Selbststeigerung zu kaschieren und zu kompensieren. So ist dem (post-)modernen Selbst sein Körper zum Fetisch geworden. Aber auch dieser Körper darf nicht in seiner Form verharren. Er wird neu modelliert mittels Workouts und Fitness-Training. Alles, was störend wirkt, wird umgefärbt und umgeformt oder (operativ) entfernt. Alles, was als mangelhaft erscheint, wird ergänzt oder ausgetauscht. Der eigene Körper gerät zur frei formbaren Masse, und Cyborg-Phantasien beflügeln analog die Vorstellung der intellektuellen Avant-Garde (siehe als Beispiel Haraway 1985).

Wo also wären noch Ankerpunkte des Widerstands vorzufinden, wenn selbst die materielle Widerständigkeit der Körper überwunden scheint? – Aber die Körper wehren sich. Wir müssen ihre Widerstände nur wahrnehmen. Sie reagieren mit Schmerz und Abstoßung. Der Körper ist geduldig, aber er kennt Grenzen. Begrenztheit ist geradezu das Charakteristikum des Körperlichen. Materie ist formbar, aber nicht beliebig verformbar. Und auch das Fühlen, die Sprache und das Denken stellen Grenzen dar. Es gilt auf die Artikulation dieser Grenzen zu hören, um den Widerstand am Leben zu erhalten.

7. Schlusswendung

Der Widerstand bringt die materiellen Gegebenheiten Ausdruck. Er manifestiert die Widersprüche und Widerstreite, gibt ihnen eine reale Form in den sozialen Kämpfen – und ist damit der eigentliche Kern jedes Konflikt. Ohne Widerstand läuft der Konflikt ins Leere.

Und das im wahrsten Sinn des Wortes: wo es keine (starke) Gegenposition gibt, ist der Konflikt »substanzlos« und kann auch keine positive Wendung nehmen. Wir haben es in solchen Fällen mit flachen Scheinkonflikten zu tun, die entweder mit Kapitulation der einen Seite oder im Kompromiss enden. Soll der Konflikt in die Zukunft weisen, soll er den Widerspruch transzendieren, dann muss der Widerspruch im Widerstand entfaltet werden!

Literatur

Burckhardt, Jacob (1952 [1860]): Die Kultur der Renaissance in Italien. Reutlingen: Kröner.

Derrida, Jacques (1972): Marges de la philosophie. Paris: Minuit.

Descarets, René (1870 [1644]): Prinzipien der Philosophie. In: Kirchmann, Julius H. (Hg.): René Descartes’ philosophische Werke. Berlin: L. Heimann Verlag, Abteilung III.

Haraway, Donna J. (1985): A Manifesto for Cyborgs – Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s. In: The Socialist Review. Vol. 80, S. 65–106.

Hardt, Michael/Negri, Antonio (2000): Empire. Cambridge: Harvard University Press.

Hegel, Georg W. F. (1988 [1807]): Phänomenologie des Geistes. Hamburg: Verlag Felix Meiner.

Horkheimer, Max (1947): Eclipse of Reason. New York: Columbia Press.

Jain, Anil K. (2000a): Politik in der (Post-)Moderne – Reflexiv-deflexive Modernisierung und die Diffusion des Politischen. München: edition fatal.

Jain, Anil K. (2000b): Die »Globale Klasse« – Die Verfügungsgewalt über den globalen Raum als neue Dimension der Klassenstrukturierung. In: Angermüller, Johannes/Bunzmann, Katharina/Rauch, Christina (Hg.): Reale Fiktionen, fiktive Realitäten. Hamburg: Lit Verlag, S. 51–68.

Lyotard, Jean-François (1989 [1983]): Der Widerstreit. München: Wilhelm Fink Verlag.

Marx, Karl (1956ff. [1859]): Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (1956ff.) (Hg.): Karl Marx, Friedrich Engels – Werke. Berlin: Dietz Verlag, Band 13.

Nietzsche; Friedrich (1954 [1883]): Also sprach Zarathustra. In: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche – Werke in drei Bänden. München: Hanser, Band 2.

Schmitt, Carl (1927): Der Begriff des Politischen. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Vol. 58, S. 1–33.

Manuel Knoll

ARISTOTELES ALS BEGRÜNDER DER
THEORIE POLITISCHER REVOLUTIONEN

I. Thesen zu Aristoteles’ Politik und zu seiner Theorie politischer Revolutionen

Als politischer Philosoph ist Aristoteles vor allem für sein normatives politisches Denken bekannt, das mit seiner Tugendethik und mit seiner Theorie der Glückseligkeit (eudaimonia) verknüpft ist. Wenig wahrgenommen wurde dagegen, dass er in Buch V seiner Politik eine Theorie politischer Rebellionen und Revolutionen begründet. 2 Zusammen mit den Büchern IV und VI bildet das Buch eine Gruppe von Büchern, die die geschichtliche und zeitgenössische politische Wirklichkeit untersuchen. In Buch V zielt Aristoteles darauf ab zu erkennen, wie Verfassungen bzw. politische Systeme (politeiai) entstehen und untergehen, und durch welche Maßnahmen sie stabil bewahrt werden können. In Buch V analysiert er anhand zahlreicher historischer Einzelfälle, wie es in Demokratien und Oligarchien sowie in anderen Verfassungen zu revolutionären Umwälzungen und zu einem Verfassungswandel kommt und wie dies verhindert werden kann. Aristoteles‘ empirischen Untersuchungen über Wandel und Veränderung (metabole) von politischen Systemen liegt sein normatives Interesse an der Beständigkeit und Stabilität der politischen Wirklichkeit zugrunde. Von besonderem Nutzen für die politische Praxis erachtet Aristoteles dabei die Frage, wie eine existierende Demokratie oder Oligarchie verbessert und zu einer Politie reformiert werden kann. Denn er begreift die Politie als eine Verfassungsform, die aus demokratischen und oligarchischen Verfassungsbestandteilen gemischt ist und durch die Mischung ihren Zweck, politische Stabilität und Dauerhaftigkeit, erreichen kann.

Aristoteles‘ auf Empirie basierende Revolutionstheorie richtet sich gegen Platons konstruierte Darstellung des Verfassungswandels, die dieser in den Büchern VIII und IX der Politeia entwirft.3 In seiner Politeia bezeichnet Platon die Verfassungsform der guten Polis als Königtum oder als Aristokratie im Sinne einer Herrschaft der moralisch und intellektuell Tüchtigsten. 4 In Buch VIII und dem ersten Teil von Buch IX legt er eine Theorie des Verfalls der guten Verfassung dar, der sich über die Timokratie und die Oligarchie hin zur Demokratie und zur Tyrannis vollzieht. Diese Verfassungen verknüpft er mit den ihnen jeweils entsprechenden Seelenverfassungen, die sich von der wohlgeordneten Seele bis hin zur tyrannischen graduell verschlechtern. Platons Verfallstheorie wurde als Verfassungsgeschichte Athens, als Kreislauftheorie der Verfassungen und von Popper als Historismus, d.h. als Geschichtsphilosophie, die das Ziel oder die Gesetzmäßigkeit der Geschichte zu kennen beansprucht, missverstanden.5 Sie kann jedoch keinesfalls als eine auf Empirie basierende Revolutionstheorie aufgefasst werden, die – so die zentrale These dieses Aufsatzes – erstmals von Aristoteles entwickelt wurde.

In der klassischen Philologie haben sich zwei gegensätzliche Interpretationsmuster der Politik herausgebildet. Die genetisch-analytische Betrachtungsweise geht davon aus, dass die Methode und der Inhalt des Werks gravierende Unvereinbarkeiten und Widersprüche aufweisen. Ihr zufolge lassen sich diese durch die Annahme verschiedener chronologischer Entstehungsschichten erklären, wobei insbesondere die Buchgruppe IV–VI später datiert wird als die anderen Bücher. Die unitarische Betrachtungsweise dagegen kann in dem Werk keine schwerwiegenden Unvereinbarkeiten und Widersprüche erkennen und begreift es daher als eine kohärente Einheit.6 Zwar lässt sich die starke unitarische These, nach der Aristoteles‘ Politik ein unvollständiges, aber konsistentes und einheitliches Werk ist, nicht beweisen. Dennoch sprechen viele Argumente für eine schwache unitarische These, der zufolge Aristoteles in den erhaltenen acht Büchern der Politik eine konsistente und einheitliche Verfassungslehre formuliert.7

Zu Beginn von Buch IV der Politik unterscheidet Aristoteles vier Aufgabe der Verfassungslehre. Diese Unterscheidung von vier verschiedenen Perspektiven, unter denen sich politische Systeme wissenschaftlich untersuchen lassen, kann als Klammer der acht Bücher 8 der Politik verstanden werden. In Buch V widmet sich Aristoteles der dritten Aufgabe der Verfassungslehre. Sie sieht die wissenschaftliche Untersuchung existierender politischer Systeme hinsichtlich der Fragen vor, wie eine Verfassung „entstanden sein wird und wie sie, einmal entstanden, am längsten zu dauern vermag“.9 Diese Untersuchungen stützen sich auf die geschichtliche Erfahrung und sind eng an den Problemen der zeitgenössischen Verfassungswirklichkeit orientiert. Um dieser an der Empirie orientierten Aufgabe gerecht werden zu können, ließ Aristoteles 158 Verfassungen sammeln und wertete sie wissenschaftlich aus. Durch die Untersuchung von bestehenden Verfassungen sollen Erkenntnisse gewonnen werden, die für die Bürger dieser oder ähnlicher Verfassungen brauchbar und nützlich sind und zur Politikberatung angewendet werden können.

II. Die allgemeinen Ursachen von politischen Revolutionen und die distributive Gerechtigkeit

Zu Beginn des fünften Buches der Politik erklärt Aristoteles, dass die Demokratie und die Oligarchie die zu seiner Zeit vorherrschenden Verfassungen sind. Beide Verfassungsformen haben sich in den 150 Jahren, die seinem politischen Denken vorangingen, als äußerst instabil erwiesen. In Folge der vielen Bürgerkriege, in denen Athen die demokratischen und Sparta die oligarchischen Kräfte unterstützte, wurden zahlreiche Demokratien und Oligarchien gestürzt und in ihren jeweiligen Gegensatz umgewandelt.10 Im zentralen ersten Kapitel des fünften Buches der Politik untersucht Aristoteles die Entstehung der Demokratie und der Oligarchie und erläutert an ihnen die allgemeinen Ursachen von politischem Aufruhr oder Aufstand (stasis) und die Arten von Veränderung (metabole).11 Bei der ersten Art von Veränderung wird eine bestehende Verfassung in eine andere umgewandelt, etwa eine Demokratie in eine Oligarchie oder umgekehrt. Bei der zweiten Art bleibt die Verfassungsform zwar bestehen, aber ein Bürger oder eine Gruppe von Bürgern versucht, sich in ihr die politische Macht anzueignen oder die Verfassung teilweise zu ändern, etwa in einer Oligarchie den Kreis der Regierenden zu erweitern oder zu verringern.12

Weil wir Aristoteles zufolge etwas wissenschaftlich erklären können, wenn wir dessen Ursprünge (archai) und Ursachen (aitiai) kennen, steht die Frage nach den verschiedenen Ursachen des Verfassungswandels im Zentrum der Untersuchungen von Buch V. Seine grundlegenden Ausführungen über die allgemeinen Ursachen und Motive von Aufruhr und politischen Erhebungen im ersten Kapitel basieren auf seiner Lehre von der distributiven Gerechtigkeit.13 Zu Beginn des Kapitels führt Aristoteles die Entstehung der Demokratie und der Oligarchie auf die gegensätzlichen Gerechtigkeitsauffassungen ihrer Anhänger zurück. Während die Demokraten auf Grund ihrer gleichen Freiheit eine gleiche politische Partizipation und damit eine demokratische Verfassung als gerecht erachten, halten die Reichen wegen ihres ungleichen Vermögens eine ungleiche Beteiligung an der Regierung der Polis und damit eine oligarchische Verfassung für angemessen.14 Auch wenn Aristoteles den beiden gegensätzlichen Gerechtigkeitsauffassungen ein gewisses Recht einräumt, sind sie für ihn letztlich verfehlt. Als Ursprünge und Ursachen der ihnen entsprechenden Verfassungen sind sie vor allem deshalb verfehlt, weil sie der Grund dafür sind, dass die Demokratie und die Oligarchie nicht stabil und dauerhaft erhalten werden können.15 So streben die reichen Bürger in der Demokratie danach, diese zu stürzen, weil sie eine Verteilung der politischen Macht, bei der jeder Bürger prinzipiell einen gleich großen Anspruch hat, für ungerecht halten. In der Oligarchie dagegen kommt es zu Aufruhr, weil die armen Bürger vom politischen Leben ausgeschlossen sind und gemäß ihrer Gerechtigkeitsauffassung gleichberechtigt an der Regierung teilhaben wollen.16 Streben die Reichen nach einer politischen Partizipation, die im proportionalen Sinne gleich zu ihrem Reichtum ist, wollen die Armen im numerischen Sinne gleich am politischen Leben teilhaben. Daher kommt Aristoteles zu dem allgemeinen Schluss, dass politischer Aufruhr oder Aufstand (stasis) immer deshalb entsteht, „weil man nach dem Gleichen strebt“.17 Politische Ungleichheiten motivieren jedoch nur dann Erhebungen und Bürgerkriege, wenn sie nicht im Verhältnis zu den Ungleichheiten der Bürger stehen. Das ist etwa dann der Fall, wenn ein lebenslängliches Königtum „unter Gleichen besteht“, das heißt wenn der König nicht durch außerordentliche moralische und politische Tüchtigkeit unter den Bürgern hervorragt.18

Dem fünften Buch der Politik und dessen Konzeption liegt die zentrale Einsicht zugrunde, dass „wir zu erkennen vermögen, wie die Verfassungen erhalten bleiben, wenn wir erkennen, wie sie untergehen“.19 So folgt der Analyse der allgemeinen Ursachen von Verfassungsänderungen und der speziellen Ursachen in einzelnen Verfassungsformen die Untersuchung der Frage, wie Verfassungen erhalten werden können. Die Stabilität und Dauer der verschiedenen existierenden Verfassungen ist der normative und praktische Zweck, dem die Analyse der allgemeinen und speziellen Ursachen von Verfassungsänderungen dient. Bereits im ersten Kapitel des fünften Buches macht Aristoteles deutlich, dass die Fragen von Entstehung, Verfall und Erhaltung von Verfassungen verknüpft sind.20 So erklärt er nach seinen Darlegungen, wie die Demokratie und die Oligarchie entstanden sind und warum es allgemein zu politischen Erhebungen und Bürgerkriegen kommt, dass die demokratische und die oligarchische Auffassung von Gleichheit und Gerechtigkeit vermischt werden müssen. Denn die dadurch entstehende Verfassungsform der Politie, die auf der Mitte und dem Mittelstand basiert, sei von den angeführten Verfassungen die sicherste, verlässlichste und dauerhafteste.21 Eine zentrale Maßnahme zur Erhaltung der Verfassungen ist der Versuch, „die Gruppe der Armen mit derjenigen der Reichen zu vermischen oder die Mitte zu stärken; denn dies verhindert die aus der Ungleichheit entstehenden Revolutionen“.22

Aristoteles zufolge ist die allgemeine Ursache beziehungsweise das allgemeine Motiv für Aufruhr und Verfassungswandel, dass sich die Bürger über politische Herrschaftsverhältnisse, die sie als ungerecht ansehen, empören und sie daher verändern wollen.23 Diese Ursache betrifft die seelische oder innere Verfassung der Umstürzler und erklärt ihre Motive durch ihren Gerechtigkeitssinn, in dem die unterschiedlichen Gerechtigkeitsauffassungen ihr anthropologisches Fundament haben. Im Zusammenhang mit seiner berühmten Definition des Menschen als Lebewesen, das Sprache und Vernunft (logos) hat, erklärt Aristoteles, dass der Mensch als einziges Lebewesen „die Wahrnehmung des Guten und Schlechten, des Gerechten und Ungerechten und so weiter besitzt“.24

Aristoteles unterscheidet von der angeführten Ursache noch zwei weitere Arten von Ursachen für Aufstände. Die zweite Art ist deren Zweck- oder Finalursache. Kennen wir die Ziele des Aufruhrs, können wir erklären, weswegen es zu ihm kommt.25 Die beiden allgemeinen Ziele von politischen Erhebungen sind nach Aristoteles Ehre und Gewinn. Entweder erstreben die Aufrührer diese Ziele oder sie versuchen ihren Verlust zu verhindern.26 Das allallgemeine Streben der Bürger nach Ehre in der Polis kommt ihrem Streben nach politischen Ämtern gleich, weil Ehre oder Ansehen vor allem durch deren Ausübung erworben werden kann.27 Wie das Streben nach Ehre begreift Aristoteles das Gewinnstreben als zentralen Grundtrieb des Menschen. Das Gewinnstreben motiviert etwa in Demokratien die Volksführer dazu, das Volk gegen die reichen Bürger aufzuhetzen und sich an deren Vermögen zu bereichern, wodurch die Reichen zum Sturz der Demokratie bewegt werden.28 Über das Verhältnis des Strebens nach materiellem Gewinn zu dem Streben nach Ehre erklärt Aristoteles: Die „Mehrzahl der Leute strebt mehr nach Gewinn als nach Ehre“.29

Die dritte Art von Ursache für Aufstände sind die Bewegungsursachen, die ihren anfänglichen Anstoß oder Auslöser bilden. Dazu zählt Aristoteles die Wahrnehmung, dass andere auf gerechte oder ungerechte Weise ein Übermaß an Gewinn und Ehre erlangen, die Hybris der Regierenden, die Übermacht eines Bürgers, die Furcht von Übeltätern vor Strafe und von Bürgern vor einem ihnen drohenden Unrecht, die Verachtung, die Amtserschleichung und einiges mehr.30

III. Die speziellen Ursachen von politischen Revolutionen und die empirische, induktive und komparative Methode

Von Aristoteles‘ Analysen der speziellen Ursachen, die in einzelnen Verfassungsformen zu Veränderungen führen, und den davon abgeleiteten Maßnahmen zu ihrer Erhaltung können hier nur wenige Beispiele dargelegt werden. Betont werden muss jedoch, dass er diese Ursachen und Maßnahmen auf empirischem und induktivem Wege durch den Vergleich ähnlicher Fälle aus der ihm bekannten Verfassungsgeschichte gewinnt. Bereits im letzten Abschnitt der Nikomachischen Ethik, in dem Aristoteles einen ersten Umriss seines Programms für die Politik skizziert, erklärt er über das spätere Buch V, er wolle „mit Hilfe der gesammelten Staatsverfassungen prüfen, was die Staaten und die einzelnen Staatsverfassungen bewahrt und zerstört.“31 Wie später Machiavelli3233343536