Für Irmtraud und Lothar



periplaneta

Barbara Fischer: „Lilith“
Baumweltensaga I
2. erweiterte und überarbeitete Auflage, Dezember 2019
Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege

© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Silvia Klein
Cover: Holger Much (www.holgermuch.de)
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-147-9
epub ISBN: 978-3-95996-148-6

Barbara Fischer

LILITH

BaumweltenSaga 1




periplaneta


Ragnarök 1

1. Wie alles begann

Träge strömte Uradat Besar durch den kosmischen Urozean. Geheimnisse umwaberten den allumfassenden Schöpfergeist wie Nebel um Moorlöcher. Uradat Besar gehörte zur Gattung der Maulbrüter. Die Erscheinung war so wandelbar wie das Geschlecht. Gerade dümpelte sie oder er in Gestalt eines Walfischs durch die Urflut.

Eines Tages zum Fünf-Uhr-Tee biss Uradat Besar in einen Keks, setzte die Teetasse an den Mund und trank. Ein Nanopartikel kam aus dem Nichts angeschossen und blendete ihn oder sie. Er oder sie verschluckte sich, hustete und da passierte es. Sie oder er spuckte alles aus, was er oder sie im Maul hatte, Tee mit Sahne, Shortbread, Galaxien, taumelnde Spiralnebel, Sternenwirbel, schwarze Löcher, Haufen, Superhaufen, vier Schwestern, einen kleinen Stern, kurzum, alles, was je existiert hatte und existieren wird, samt verschiedener Zeitstrahlen in mehreren Paralleluniversen voller Unmöglichkeiten. Alles war fertig gebrütet. Und alles war gut. Alles? Alles, bis auf eine einzige unfertige Zelle, die ihren Weg aus dem riesigen Maul heraus fand, was sie nicht sollte.

Aber es war nur eine einzige unfertige Zelle unter all den großartigen Dingen, die er oder sie geschaffen hatte, tröstete sich Uradat Besar darüber hinweg, dass diese entschlüpft war. Der allumfassende Schöpfergeist betrachtete die vielen Universen und Welten und schwamm ganz zufrieden weiter.

Zufrieden war auch der kleine Stern, der es sich inmitten vieler anderer Sterne und Spiralnebel in einer Galaxie namens Milchstraße am Firmament bequem gemacht hatte. Sein Glück strahlte er hell ins Multiversum und beleuchtete nebenbei auch das Buch, das er Tag und Nacht in seinen spitzen Sternenfingern hielt und las. So fügten sich die Dinge, von Galaxie zu Galaxie und von Zeit zu Zeit.

Der kleine Stern studierte die „Intergalaktische Enzyklopädie“ des Doktor Broud von der Sternenakademie, des berühmtesten Wissenschaftlers des Andromeda-Nebels, einer Nachbargalaxie der Milchstraße. Der Doktor beschrieb in seiner Enzyklopädie alle bekannten taumelnden Spiralnebel, Sternenwirbel, schwarzen Löcher, Haufen, Superhaufen und Zeitstrahlen samt zugehörigen Sternen und Planeten in dem von ihm als „Multiversum“ bezeichneten Lebensraum mehrerer Paralleluniversen.

Da der Meister oder die Meisterin der Schöpfung anlässlich des Zwischenfalls mit dem Nanopartikel und der unmittelbar darauf folgenden Sturzgeburt keinen genauen Überblick über ihre oder seine Schöpfung mehr hatte, fühlte Doktor Broud sich nach einem längeren Fünf-Uhr-Tee-Gespräch mit Uradat Besar berufen, im Namen des Herrn oder der Frau, Namen, geographische Lage, Bewohner und alle Arten planetarischer Besonderheiten akribisch aufzulisten.

Der Doktor bereiste das vom allumfassenden Schöpfergeist Uradat Besar geschaffene Meisterwerk bis in seine letzten Winkel. Dann fasste er seine Forschung in dem Lexikon zusammen, das der kleine Stern der Milchstraße nun Seite für Seite verschlang. Geschichten über die unterschiedlichsten Lebensformen, klimatische Besonderheiten, Pflanzenwelten, aber auch Zeitlinien aller Art. Der kleine Stern liebte die gigantischen roten Eidechsen in den Donnersümpfen von Abdalla, die trotz ihrer Körpergröße quasi Einzeller geblieben waren. Er bewunderte, dass die eine einzige Zelle dieser Eidechsen sich zu einer Riesenechse ausgedehnt hatte und in sich so hoch entwickelt und ausdifferenziert war.

Er träumte nachts von Planeten, auf die sieben Sonnen gleichzeitig schienen und die unfassbaren Lichtimplosionen ausgesetzt waren, mit erstaunlichen Folgen bezüglich der Vielfalt ihrer Bevölkerung. Und er fühlte mit denen, die sich mit zwei oder noch weniger Sonnen begnügen mussten.

Dann gab es noch diesen einen ganz speziellen Planeten. Der Doktor beschrieb ihn besonders detailreich, weil er über einige bemerkenswerte Eigenheiten verfügte. Nicht allein, dass Uradat Besar die ganze Galaxie mitsamt der Erde um nur eine einzige Sonne herum geschaffen hatte. Diese Sonne war dann auch noch der Mittelpunkt und so stark, dass sie allein die ganze Erde wärmen konnte. Dort selbst aber war diese bewundernswerte Konstellation gänzlich unbekannt.

Den Erdlingen mangelte es erstaunlicherweise an nichts, obwohl ihr Planet in relativer Dunkelheit verharren musste. Relativ, weil auf und in ihm Feuer brannten, und zwar so unglaublich heiß, dass sie sogar Felsen schmolzen. Die Glut erhitzte Gestein im Inneren der Erde so lange, bis es fast so gut floss wie eine andere Substanz, die die Enzyklopädie als Wasser bezeichnete und von der es dort ebenfalls reichlich gab. Wenn alles heiß und flüssig genug war, holten die Berge Luft, husteten ein-, zwei-, dreimal und spuckten alles aus. Flüssiger Felsen verteilte sich über die äußere Bergflanke, kühlte ab, wurde fest, und schon waren die Feuerberge allein aus sich selbst herausgewachsen.

Faszinierend, dachte der kleine Stern.

Die Brände auf und in der Erde zerstörten also nicht, sondern sie erschufen vieles, vom einzelnen Berg bis zum ganzen Gebirge.

Einmalig, erkannte er.

Doch es gab einen Nachteil an dieser Meisterleistung: Qualm und mit ihm die erste und oberste Unklarheit auf dem Planeten. Es gab Wärme, aber eben kein Sonnenlicht, das die Erde eigentlich heizen sollte. Uradat Besars Plan war leicht verrutscht.

Denen kann, ja, muss geholfen werden, der kleine Stern atmete kaum vor Aufregung.

Der Qualm behinderte nicht nur das Sonnenlicht, sondern auch Sternenglanz und Mondschein. Kein Licht, nirgends, nur Feuer und Rauch. Dahinter versteckte sich, irgendwo, die Erde.

Für Luft auf der Erde sorgten immerhin die zahlreichen Farne und Nachtschattengewächse, die in Wärme und Dunkelheit gediehen. Wobei die in Doktor Brouds Enzyklopädie beschriebene sogenannte „frische Luft“, die sich auf einigen anderen Planeten fand, aus Sicht der Erdlinge völlig überbewertet wurde.

Zeit, ein paar Dinge zu ändern, träumte der kleine Stern und nahm einen tiefen Atemzug aus frischer, galaktisch staubfreier Atmosphäre.

Viel wichtiger war den Erdlingen ein angenehmes Miteinander im Feuerschein ihrer ganz besonderen Berge, wie die vier Schwestern es zelebrierten, die gerade zusammen an einem kleinen Teich inmitten eines Gartens saßen, in dem Farne und Engelstrompeten, Stechäpfel und Tollkirschen sowie eine Vielzahl Alrunen gediehen.

Das funktioniert mit Sonnenlicht noch besser, fand der kleine Stern, aus dem Fundus seines Wissens schöpfend.

Während der kleine Stern von der Milchstraße aus unverdrossen nach seinem Lieblingsplaneten Ausschau hielt und überlegte, ob man auf der Erde im Schein der Feuerberge auch lesen konnte, hielt sich eine der Schwestern auf eben diesem Himmelskörper auf. Ihr Name war Mahhara, in der linken Hand hielt sie ein Blatt direkt vor ihrer Nase, auf das etwas gezeichnet war. Aus der Pfeife in ihrer anderen Hand stieg Tabakqualm nach oben und vermischte sich mit dem der Umgebung.

„Wenn man mal Licht braucht“, grummelte besagte Schwester und schaute sich um, ob der nahe Feuerberg nicht endlich wieder seine Abhänge bespucken wollte. Wollte er nicht. Es blieb so dunkel wie Mahharas Haar, das sich gleich abgekühlter Lava über ihr nachtfarbenes Kleid verteilte. Aus ihrem Gesicht, das schimmerte wie Alabaster in einer Neumondnacht, ragte die Nase wie ein Zierbogen. Ihre Miene war grimmig, wünschte sie sich doch nichts weiter als ein wenig Helligkeit, damit sie die Nachricht lesen konnte, aber nichts geschah.

Nichts? Ihre Gedanken jagten hinaus ins All, hüpften über die Milchstraße und tanzten über die Sterne. Sie tippten in dem Moment auf die Spitzen des kleinen Sterns, als der gerade über seiner Lektüre eingenickt war und davon träumte, endlich die Erde zu finden. Er kuschelte sich in sein Kissen aus Sternenstaub, während er im Traum zu seinem Lieblingsplaneten reiste, Licht brachte in dunkles Dasein und – sich abstieß. Im selben Moment flammte ein Komet helllodernd übers Firmament und ein kleiner Stern floss über die Milchstraße.

Dinge verknüpften sich in einem fantastischen Multiversum der Unmöglichkeiten bisweilen auf unvorhersehbare Art. Aus Gedankenimpulsen konnten wirkliche Dinge werden, wie die Strickstrümpfe der Großmutter von Uradat Besar, die oft unter kalten Füßen litt. Im rhythmischen Geklapper ihrer Stricknadeln machte sie lose Fäden zu einer Masche, an diese Masche hängte sie die nächste dran, dann noch eine, so lange, bis ein fertiger Strumpf an der Nadel schlenkerte, der sie später wärmte. Die Gedanken des kleinsten Sterns am Firmament,waren die Wolle, aus der eine Stricknadel namens Fantasie einen wärmenden Strumpf erschuf. In der Nähe des Teichs brauchte niemand Strümpfe, nur Beleuchtung. Doch der Feuerberg ruhte. Es blieb dunkel und die Nachricht ungelesen.

Hilfe nahte. Die älteste der Schwestern, Kundrie, war in die Hütte gegangen, um einen Kienspan an dem kleinen Klumpen vor sich hinglühender Lava zu entzünden, den sie dort in einer Ecke hütete.

In der Zwischenzeit bellte Mahhara ungeduldig nach oben: „Hey, kannste nicht mal hierher leuchten?“ Es klang eher nach einer Forderung als einer Bitte, gerichtet an einen nebulösen Schweif, den sie durch den Dunst der Vulkanasche mehr erahnte, als wirklich sah.

Sie rief auch mehr im Scherz als in der Annahme, wirklich gehört zu werden. Welch Irrtum! Der kleine Stern zog den üppig feurigen Schweif hinter sich her, den Mahhara bemerkt hatte. Er war schon unterwegs im Auftrag, Licht ins Dunkel zu bringen.

Und er hörte Mahharas Ruf. Nichts konnte ihn mehr aufhalten. Auf seinem Weg zur Erde raste er auf eine Dunstglocke zu, atmete tief ein und hielt die Luft an. Er kniff die Augen zusammen, atmete nur stoßweise aus und durchquerte den äußeren Rand der Atmosphäre. Teilchen kratzten an seiner Oberfläche, sein Feuerschweif wurde immer länger, unter ihm lag die Welt. Der Nebel lichtete sich, ohne dass es deutlich heller wurde.

Der Stern sah als Erstes riesige Wasserflächen, durchsetzt mit Landmassen, auf denen Farnwälder und Feuerberge wuchsen, große, kleine, mit tiefen oder flachen Kratern, zornig spuckend oder ruhig vor sich hin träumend. Auch Seen gab es und Teiche in allen Größen. An einem kleinen Teiche staunten die dort ansässigen vier Schwestern nicht schlecht, als sich ihnen eine Sternschnuppe in atemberaubender Geschwindigkeit näherte.

Die Sternschnuppe allein wäre schon Ereignis genug gewesen. Doch sie brachte außerdem noch einen diffusen Schein mit, der sich erst strahlenförmig über ihren Köpfen ausbreitete und schließlich langsam über die ganze Erde kroch. Dieses Licht war völlig anders als das der Feuerberge. Es leuchtete in jede Ritze, gab dem Teich, um den die Schwestern saßen, eine grüne Farbe und erhellte schließlich die Nachricht für Mahhara. Sie konnte die Zeichen erkennen, ohne dass ein Feuerberg oder ein Kienspan leuchtete.

„Das is‘ ja‘n Ding“, kommentierte die Schwester die Sensation, hielt sich das Blatt vor die Nase und las: „Kommen erst morgen, müssen heute noch Tollkirschen sammeln.“ Sie ließ die Hand sinken.

„Stare“, erklärte sie Kundrie, die mittlerweile mit einem leuchtenden Kienspan neben ihr stand, „immer unterwegs heutzutage und nicht mehr überall anzutreffen, so wie früher. Sie sollten mir frischen Tabak bringen.“ Zur Erklärung, was sie mit dem Tabak anstellen würde, wenn sie ihn erst einmal hätte, hielt sie ihre mittlerweile erkaltete, aus Farnstamm geschnitzte Pfeife hoch.

Tragischerweise war das die erste und letzte Nachricht, die Eulenfrau Mahhara im Schein des Lichts lesen sollte. Eulen und Tageslicht schlossen sich einfach aus, und fortan zog sie mit geschärften Sinnen, aber blind im eigentlichen Sinne durch die Welt, was sie selbst nicht im mindesten störte.

Aber so weit war es noch nicht. Alle starrten zum Himmel. Wo früher nichts als Qualm gewesen war, bildete sich jetzt vereinzelt weißer Wolkenflaum vor blauem Hintergrund.

In dem Moment, da der kleine Stern als Sternschnuppe auf die Erde zuraste, bekamen Gewissheiten und feststehende Grundsätze Risse, wie der Qualm, der bis dato verlässlichste Partner am Firmament. Dieses verströmte jetzt immer mehr Helligkeit.

Nicht lange, nachdem die ersten Einstrahlungen die Erde erreicht hatten, zeigte die älteste Schwester Kundrie zum Himmel und fragte: „Schaut mal, was ist das?“ Sie hielt sich eine Hand vor die Augen, um sich vor dem Funkeln zu schützen, das konzentriert von einer gelben Scheibe zu kommen schien und ihre Augen schmerzen ließ. Alles war so grell.

„Das da heißt ‚Sonne‘“, die Antwort auf Kundries Frage gab eine Erscheinung, die wie aus dem Nichts neben ihr auftauchte, sich in vollendeter Höflichkeit verbeugte und so goldene Augen hatte wie der Knopf am Himmel, auf den sie zeigte. Dann fügte sie hinzu: „Wenn ich behilflich sein darf: Sie strahlt extra für euren Planeten. Ihr Licht heißt ‚Sonnenschein‘ oder ‚Tag‘. Ihr habt sie nicht gesehen, wegen des Qualms aus euren Feuerbergen.“

„‚Sonnenschein‘ und ‚Tag‘“, wiederholte Mahhara ungewohnt andächtig, deren Wahrnehmung sich auch durch die ungewohnte Helligkeit veränderte, nur anders als bei Kundrie. Sie sah Dinge hell, die bis dahin nur schemenhaft im Schatten der Feuerberge existiert hatten. Dann blitzte die ganze Welt einmal kurz auf eine Weise hell auf, die Mahhara nicht hätte beschreiben können. Danach „sah“ sie die Dinge irgendwie mit ihrem Inneren, während es um sie herum dunkel blieb. Vollkommen neu, vollkommen unvertraut. Sie vertagte es, sich damit zu beschäftigen. Jetzt war ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge gerichtet.

Alle vier Schwestern schauten bewundernd nach oben, dorthin, wo sich diese gelbe Scheibe zeigte, die nach Aussage des Gastes ‚Sonne‘ hieß.

„‚Sonnenschein‘ und ‚Tag‘“, wiederholte auch die zweitälteste Schwester des Quartetts, eine Titanin mit Körpermaßen wie die der gigantischen roten Eidechsen in den Donnersümpfen von Abdalla, und schaute bedeutungsvoll in die Runde.

„Die Prophezeiung“, atmete sie jeden Buchstaben einzeln aus.

Die titanenhafte Person auf dem Fels Mahhara gegenüber hatte praktisch jede bekannte Gegend des Planeten Erde bereist, hunderte Kämpfe siegreich überstanden und war mit einem reicheren Erfahrungs- und Erlebnisschatz gesegnet als alle anderen drei Schwestern zusammen. Angesichts der jüngsten Ereignisse fiel ihr als Erste ein, dass sie auf diese Erfahrung schon lange vorbereitet worden waren.

Kundrie ließ den Kienspan sinken und schaute, als könnte sie das alles nicht glauben. „Natürlich, die Prophezeiung!“, stimmte sie der Schwester zu. „Es ist so weit.“

Ein Reptil aus einem unterirdischen Felssee des größten Feuerberges der Erde weissagte schon kurz nach Uradat Besars Kollision mit dem Nanopartikel, dass die Erde nicht mehr dieselbe sei, wenn es erst „Tag“ ward. Es sang ein Lied davon, dass Helligkeit und Wärme über sie alle kommen, sie aus irgendeinem Dasein befreien und in höhere Gefilde heben würden.

Diesem ersten Gesang folgte eine ganze Reihe weiterer, die von den Amöben bis zu den Reptilien und schließlich von allen Lebewesen auf dem Planeten gesungen wurden.

Unzählige Generationen überlieferten sie seither an ihre Nachkommen, die wiederum an ihre Sprösslinge dieselben Lieder weitergaben. Nicht in der Annahme, dass es tatsächlich jemals einen „Tag“ gäbe, was immer das sein mochte, sondern eher wie einen schönen Gedanken, an den man sich sein Leben lang klammerte, der aber glücklicherweise immer weit genug entfernt war, um die Dinge, die letztlich gar nicht so schlecht liefen, in Wirklichkeit doch nicht zu verändern. Denn sie hatten hier doch alles, so viele Arten von Farnen und Nachtschattengewächsen, für Licht gab es die Feuerberge und es war warm.

„Wir kennen Geschichten über die Sonne, den Tag und das Licht. Ich hatte es nur vergessen.“ Ausgerechnet Mahhara, über deren Raubvogelblick sich gerade ein Schleier senkte, der nicht von Qualm herrührte, stimmte das bekannteste Lied des Reptils an, nicht zuletzt, um dem Gast Einblicke in ihre Weltläufigkeit und ihr reichhaltiges Repertoire zu geben. „Sonne und Tag, Welten im Licht, zweifle nicht. Zusammen mit Regen werden sie Wachstum ergeben, zusammen mit Nacht sind sie gemacht für ein langes Leben, welch Segen.“

Kundrie und Titanin fielen in den Gesang mit ein. Der Text war ihnen ein wenig peinlich, aber sie kannten ihn und auch die Melodie saß.

Über die Erde ergossen sich im Glanz der Sonne so viele neue Impulse, dass dieses alte Kinderlied nun buchstäblich in vollkommen neuem Licht erschien.

Der einen gefiel das, doch Fangdarna, die jüngste der Schwestern, verweigerte sich leicht trotzig Mahharas Gesang. Sie hatte die Gestalt einer Feuersalamandra, allerdings im wesentlich kleineren Format als die roten Eidechsen aus Abdalla und ihre Schwester Titanin. Zwei Hauer ragten bedrohlich aus ihrer länglichen Schnauze, ihre Zunge flackerte immer wieder zwischen zwei Lippen hervor. Sie war sehr zufrieden mit ihrem Dasein auf dem Feuerplaneten, verqualmt oder nicht. Sie brauchte keinen Tag, Sonne oder was auch immer. Prophezeiung hin oder her.

Der Gast stand da, beobachtete, lächelte und sagte nichts. Er leuchtete. Es war ein Strahlen, das von innen herauskam.

Kundrie trat den Kienspan aus, der jetzt ja nicht mehr gebraucht wurde, und reichte dem Gast die Hand.

„Entschuldige, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Kundrie, die älteste von uns Schwestern hier“, sie zeigte reihum.

„Heimdall mein Name“, sagte der Gast und verbeugte sich.

„Mit dir sind „Tag“ und „Sonne“ zu uns gekommen“, brachte Mahhara das Offensichtliche noch einmal auf den Punkt. Durch ihr spitzes Gesicht fräste sich ein Lächeln, das von ihren gelben Augen ausging, die mittlerweile recht unbeweglich vor sich hinstarrten.

„Willkommen! Ich bin Eulenfrau Mahhara, die zweitjüngste von uns“, sie legte das Blatt mit der Nachricht und ihre Pfeife zur Seite, stand auf und gab Heimdall ebenfalls die Hand. „Eigentlich liebe ich die Dunkelheit“, ergänzte sie, „ich bin viel als Eule unterwegs, musst du wissen. Aber das hier“, sie schaute sich um, „hat schon eine andere Qualität als unsere Feuerberge.“

Heimdall verbeugte sich. So etwas wie Ehrfurcht schimmerte in seinen goldenen Augen. Er hatte viel über die auf diesem Planeten beheimateten Gestaltenwandler gelesen und jetzt stand eine Meisterin des Fachs direkt vor ihm: „Eule und Mensch? Wie erstaunlich.“

Mahhara setzte sich wieder auf ihren Stein: „Meine Schwester hier ist auch Seehündin, sollte man gar nicht glauben, oder?“, sie zeigte auf Kundrie, deren weiße Haare ein apfelrundes Gesicht säumten.

Mahhara erwartete keine Antwort. Sie schaute versonnen nach oben und summte erneut die Melodie des Kinderliedes über das Tageslicht. „Ich entdecke gerade eine ganz neue Seite in mir“, sagte sie, „die, die sich an, wie sagtest du doch gleich, ‚Sonnenschein‘ erfreut.“

In ihrer neuartigen inneren Helligkeit tauchten Bilder von Dingen auf, die sie umgaben. Ihre Vorstellung davon kam aber von unterhalb der äußeren Erscheinung. Interessant. Mahhara beschloss, still zu genießen und den anderen zu einem späteren Zeitpunkt davon zu erzählen.

Die Erde, freute sich Heimdall seinerseits, ich bin tatsächlich auf der Erde. Er begegnete dem fröhlichsten aller Lächeln, zu dem Mahhara fähig war, mit noch hellerem Strahlen.

„Mir gegenüber sitzt unsere Schwester Titanin“, setzte Kundrie die Vorstellungsrunde fort und zeigte auf die imposante Erscheinung neben Mahhara.

Titanin schaute mit zusammengekniffenen Augen zu und zwackte ein Lächeln aus ihrem eher dünnen Repertoire ab. Ihre grünen Augen blitzten, eine große Nase wölbte sich zwischen hohen Wangenknochen und unter einer ausladenden Stirn, die hellen Haare waren bis über die Ohren gestutzt.

„Neben Titanin sitzt Fangdarna, unsere Jüngste“, endete Kundrie und deutete auf die Feuersalamandra mit den beeindruckenden Hauern und der länglichen Schnauze. Ihre schuppige Haut umschloss zwei gelbe Augen, die Heimdall eher skeptisch beäugten. Als sie eine ihrer Pranken hob und dem Gast zuwinkte, rollte ihre vorn gespaltene Zunge aus der Schnauze raus und sofort wieder rein, gefolgt von ein, zwei Gluttropfen. Auf ihrem schuppigen Gesicht spiegelte sich leichte Unruhe wieder, fühlte sie sich doch geborgen im Feuerring der Berge. Warum also etwas verändern, nur für Tageslicht? Prophezeiung hin oder her, sie musste nicht lesen.

Doch nun war es so gekommen, wie die Prophezeiung es seit Generationen verkündet hatte. Die Sonne schien jeden Tag neu. Manchmal war sie nicht zu sehen, manchmal regnete es, doch hell wurde es immer.

Damit allein war es aber nicht getan. Was nach der Ankunft von Tageslicht auf dem Feuerplaneten Erde geschah, beschrieb man am besten mit dem Wort „Explosion“. Ein Ruck erfasste den ganzen Planeten, der nichts so ließ, wie es vorher war.

Der Grund dafür fand sich in dem Umstand, dass in jenen fernen Zeiten die Wegstrecke zwischen Vorstellung und Realität kurz war. Theoretische Betrachtungen, wie sie zum Beispiel unsere Schwestern jeden Nachmittag an ihrem Teich betrieben, beschränkten sich in der Ära der Feuerberge zum größten Teil auf sehr greifbare, praktische Angelegenheiten. Daher fiel die auf der Erde weitverbreitete Gabe, Dinge zu erschaffen, indem man sie sich einfach vorstellte, früher nicht weiter auf, zumal die Aufmerksamkeit der Erdenbewohner sich auf ihre unmittelbare, meist notdürftig erleuchtete Umgebung beschränkte, die trotzdem alles bereithielt, was vonnöten war.

Wie das kam? Nun, wer wüsste besser, was sie brauchten, als die Bewohner selber? Sie erschufen einfach alles, indem sie daran dachten. Allerdings ahnten nur Wenige, dass das so funktionierte. Zu den Eingeweihten gehörten unsere vier Schwestern. Doch die Dimension der Möglichkeiten übertraf auch ihre Erwartungen. Mahhara glaubte zum Beispiel, mit ihrem Wunsch nach Licht allein einen Feuerberg zum Ausbruch bewegen zu können.

Stattdessen kam die Sonne ins Spiel und verschob die Horizonte und Grenzen des Vorstellbaren. Das Sonnenlicht erweiterte mit dem Lebensraum und der Wahrnehmung auch die Konzepte und Ideen vom Dasein. Daraus ergaben sich die lustigsten Kombinationen.

Es gab zwar vor Heimdalls Ankunft auf der Erde schon eine Vielzahl von Lebensformen, in der Luft, über und unter dem Land und im Wasser, doch die Menge war insgesamt überschaubar gewesen. Nun aber vermehrten und veränderten sich Formen, Farben und Erscheinungen auf dem Planeten so rasant, als hätten ihre Zellen während eines äonenwährenden Schlafes nur auf Sonnenlicht gewartet, um endlich loslegen zu dürfen.

Heimdall war begeistert. Er hatte nicht vor, die Erde je wieder zu verlassen, und machte es sich umgehend zur lieben Gewohnheit, ebenfalls zu den täglichen Treffen am Teich zu erscheinen. Wenn sich die Schwestern, mittlerweile im Schein der Sonne, zu ihren Zusammenkünften einfanden, war ihr Kreis nicht nur dauerhaft um einen Gast erweitert, es gab darüber hinaus fast täglich neue Lebensformen zu bestaunen.

So saßen die Schwestern eines schönen Tages mit Heimdall und der Nachbarschaft aus dem nahen Dorf zusammen. Der Bote des Dorfes sah am Horizont eine Herde Pferde galoppieren und dachte sich, wie zuträglich es seinem Beruf wäre, auf vier Beinen mit Hufen durch die Welt laufen zu können. Er wurde der Erste einer ganzen Herde von Zentauren. Denn seinem Beispiel folgten etliche Menschen, die etwas von A nach B transportieren mussten. Fortan bereicherten Menschen mit Pferdekörpern die Welt.

Eines Tages dachte sich einer der Pferdemenschen, wie praktisch es wäre, gleich mit zwei Mäulern fressen zu können. Die dualen Teams waren erschaffen, mit ihnen leider auch die Gier. Eines Tages genügte es ihnen nicht mehr, mit ihren zwei Köpfen schneller satt zu werden, sie wollten immer mehr fressen und Besseres und Anderes. Vor allem mehr und noch mehr, viel mehr, als sie eigentlich wirklich brauchten. Neue Zeiten eben, die auch unangenehme Nebenerscheinungen nach sich zogen, aber das ist eine andere Geschichte.

Unsere Schwestern an Kundries Teich waren schon im Schein der Feuerberge theoretische Parcours rund um die Welt geritten. Nur Titanin war ganz real gereist, und ihre Geschichten waren nach ihrer Rückkehr immer ein schöner Rahmen für das Rumphilosophieren der Anderen. Tatsächlich hielt sich Fangdarna damals schon aus diesen Gesprächen raus. Das hinderte Titanin nicht daran, von fremden Gegenden und fernen Wesen zu schwärmen, die in vielem anders und im Prinzip doch so ähnlich waren wie alles rund um den heimischen Feuerberg. Sie konnte mitreißend erzählen und zog Mahhara und Kundrie völlig in den Bann.

Eines Tages kehrte Titanin mit einer Geschichte im Gepäck zurück, die eine Welt geordnet durch einen gewaltigen Weltenbaum in ihrem Zentrum beschrieb. Solche Bäume gab es in der Gegend rund um den Teich nicht. Aber die Geschichte ließ die Schwestern nicht mehr los. Ein Weltenbaum! Welch schöne Vorstellung. Manchmal kicherten sie bei dem Gedanken, wie es wäre, wenn ein solcher Stamm Kundries Garten zerschnitt; manchmal dachten sie sehnsüchtig daran, als wäre ein solcher Baum der wunderbare Beginn von vielen verschiedenen Lebenswelten, die sich ergänzten; manchmal belächelten sie ihre Idee, als wären sie einem Märchen aufgesessen. Dazu schwärmten sie von den verschiedenen Lebensräumen rund um einen solchen Weltenbaum.

Nach Heimdalls Ankunft drängte sich nicht nur die Prophezeiung wieder auf, sondern auch die Vorstellung von einem heimischen Weltenbaum. Das Bild wuchs, veränderte sich und blieb. Es dauerte nicht lange, bis alle über ihre ganz persönlichen Vorstellungen vom Leben rund um einen solchen Weltenbaum sprachen.

Mahhara schwärmte von einem Eulendasein in Schnee, Eis und gerne auch Dunkelheit.

„Nichts gegen Wärme und Helligkeit“, betonte sie, „aber für mich ist das eigentlich nur Energieverschwendung. Ich käme in einer Eiswüste mit einem heftigen Nordwind bestens klar. Stellt euch doch mal so einen ausgewachsenen Schneesturm hier bei uns vor, wie der, von dem Titanin uns nach ihrer Reise zum Nordpol erzählte. Herrlich!“, schloss Mahhara eines Nachmittags am Teich.

„Für mich kann alles so bleiben“, murrte Fangdarna, „so ein Feuer gleich in der Nähe ist doch wunderbar.“

„Mein Garten hat sich jetzt schon völlig verändert“, überlegte Kundrie, „aber ein richtiger Weltenbaum wäre doch noch die letzte Ergänzung, was meint ihr?“

Kopfnicken und Zustimmung rundherum.

„Ich kann im Sonnenlicht viel weiter sehen. Stellt euch mal vor, ich stehe unterwegs in der Wüste auf einer Anhöhe und kann die Gegend überschauen, obwohl es in der Nähe nicht mal einen Feuerberg gibt, geschweige denn einen, der spuckt“, träumte Titanin.

Solcherart Gespräche wiederholten sich. Im Nachhinein vermochte niemand mehr mit Sicherheit zu sagen, welche der Schwestern den entscheidenden Funken zündete, der zu der Idee führte: „Ein Weltenbaum, hier bei uns, wäre das nicht herrlich?“

Kundrie war sofort Feuer und Flamme: „Der Stamm bei mir im Garten!“

„Und ich bewohne die Eiswelt! Dort ist es schön dunkel und kalt“, Mahhara war aus dem Häuschen.

„Ich will mein Feuer zurück“, maulte Fangdarna.

„Sollte alles möglich sein“, resümierte Titanin. „Aber wohin soll das Tageslicht? Es braucht eine ganz besondere Gegend.“

„Ganz oben, wohin es gehört“, kam es wie aus einem Mund.

Fangdarna hoffte, es damit weit genug von ihrer Welt verbannen zu können, in der nur Feuer alles erleuchten sollte. Kundrie dachte an die Segnungen des Sonnenlichts für das Pflanzenwachstum. Mahhara fürchtete den Einfluss der Sonne auf weite Schneefelder, die sie sich bereits schwärmerisch ausmalte. Und Titanin war alles recht, solange sie nur immer weiter reisen konnte. Es war fast zwangsläufig, dass alle beim Wort „Tageslicht“ zu Heimdall schauten.

„Deine Welt“, fasste Kundrie ihrer aller Gedanken zusammen, „soll ganz oben sein.“

Und Heimdalls Antwort fiel so kurz und knapp und zutreffend aus wie nur möglich: „Ja!“

Mahhara hob eine Kalebasse vom Boden neben ihrem Felsen hoch, schenkte fünf Becher einer klaren Flüssigkeit ein und verteilte sie.

Kundrie hob abwehrend die Hand.

„Nur heute“, drängte Mahhara, drückte ihr und allen Anderen den Becher in die Hand und brachte einen Toast aus: „Auf unseren Weltenbaum!“

Die anderen prosteten zurück: „Auf unseren Weltenbaum!“

Außer Kundrie liebten sie alle Mahharas Gin. Heimdall hatte sich schnell viele Gepflogenheiten der Schwestern zu eigen gemacht, die ihm zuvor, als er noch als Stern in der Milchstraße gewohnt hatte, gänzlich unbekannt gewesen waren. Gin trinken war nur eine davon.

Mahhara schenkte nach. Gerade in diesem Moment schwirrte eine Lebensform an dem Teich vorbei, die einzig für den Zweck entstanden war, sich der Hege der neuentstandenen Pflanzenvielfalt zu widmen. Ein ganzer Schwarm geflügelter Wesen, mit spitzen Ohren und in luftige Stoffe gehüllt, sirrte durch die Luft.

„Hallo, Elfen“, begrüßte Mahhara die neuen Nachbarinnen. „Nettes Volk“, erläuterte sie den anderen, die das erste Mal Elfen sahen.

Heimdall, er konnte nicht anders, verbeugte sich und verschüttete dabei fast den ganzen Becher Gin. Mahhara konnte sich einen missbilligenden Blick nicht verkneifen, sagte aber nichts. Sie schenkte umgehend nach und stieß mit Heimdall an, um einem erneuten Malheur vorzubeugen, hörte sie doch am Horizont eine Herde Zentauren über die Wiese in ihre Richtung galoppieren und wusste um die Höflichkeit des zugereisten Erdenbewohners.

Zu Heimdalls großer Freude gehörten die Schwestern keiner Spezies an, die sich so stark veränderte, wie es viele Erdlinge und Pflanzen in diesen bewegten Zeiten taten. Er hatte sich mit dem personifizierten und unwandelbaren Urgrund allen Seins auf dem Planeten Erde angefreundet: Die Schwestern behielten ihre Form im Feuerwerk der Evolution. Einzig ihrer Energie und Phantasie war es geschuldet, gepaart mit Uradat Besars Plan, dass schon bald ein gigantischer Baum mitten in Kundries Garten wuchs. Die Schwestern trafen sich seit kurzem dort, um das Kunstwerk immer wieder neu zu bewundern, aber auch, um die neu entstandenen Welten ein- und aufzuteilen.

„Yggdrasil sollst du heißen“, platzte es eines Nachmittags aus Kundrie heraus. Sie erntete keinen Widerspruch.

Die Weltenesche Yggdrasil ragte mit ihrem Blätterdach bis weit in den Himmel hinauf und wurzelte tief in der Erde, getragen von einem gewaltigen Stamm als Mittelpunkt der neuen Welt.

Wen wunderte es, dass es auch eine unterirdische Welt mit einem kräftigen Nordwind gab, der über eine Eiswüste hinwegfegte? Dieses Niefelheim genannte Paradies für die Eulenfrau Mahhara lag gleich neben dem Muspelsheim, in dem fortan das Weltenfeuer loderte, das alle Vulkane befeuerte und die Heimat Fangdarnas wurde.

Kundries Herz quoll förmlich über angesichts der neuen Vielfalt in ihrem Garten rund um die Weltenesche. Und es war von Anfang an ausgemacht, dass die oberste aller Welten, Asgard genannt, Heimdall zur Heimstatt wurde. Menschen, Zwerge und Elfen siedelten ganz in der Nähe von Kundries Paradiesgarten. Es fügte sich alles zum Besten in einer Zeit, in der Bewegung und Vielfalt die obersten Gebote der, seit neuestem nach dem Sonnenstand gezählter, Stunde waren. Es hätte perfekt sein können. Hätte!

Doch auch die andere Seite schlief nicht. Selbst Uradat Besars Großmutter produzierte von Zeit zu Zeit Laufmaschen in ihrem Strickstrumpf, seit ihr Enkel, oder ihre Enkelin sich beim Fünf-Uhr-Tee verschluckt hatte. Diese eine unfertige Zelle schlich sich zwischen all die perfekten Zellen, aus denen Galaxien, Universen, Haufen, Sterne, Spiralwirbel mit entstanden waren, und blieb.

Eine Einzige nur, hatte Uradat Besar damals gedacht. Doch eine einzige Laufmasche inmitten tausender perfekt miteinander verstrickter und fertiger Maschen vermochte den ganzen Strumpf aufzudröseln.

Glücklicherweise war das aber nur eine Metapher. Keine unfertige Zelle dröselte eine fertige Zelle auf. In Wirklichkeit wollten alle Zellen leben und sich teilen. Fertige Zellen pflegten, sich erfolgreich gegen unfertige Zellen zu verteidigen, die sie am liebsten in Luft aufgelöst hätten. Die unfertigen, am Rande leicht ausgefransten Zellen aber verteidigten sich ebenfalls, indem sie einfach das taten, was fertige Zellen auch taten: Sie vermehrten sich.

Ein Kampf schien unausweichlich.

2. Heimdall auf Wanderschaft

Eine ganze Weile später

Heimdall stieg die Treppen im Inneren der Weltenesche Yggdrasil von Asgard nach Midgard hinab, während seine geliebte Enzyklopädie von Doktor Broud in seiner Schreibstube verstaubte. Das Buch, das Heimdall einst auf die Erde gebracht hatte, war nicht mehr als ein Schatten gegen das bunte Leben auf dem Planeten selbst. Heimdall, längst in Asgard heimisch geworden, genoss es in vollen Zügen.

Die täglichen Treffen an Kundries Teich waren mittlerweile zu einem wichtigen Bestandteil seines Daseins geworden. Dieser Brauch vom Anbeginn der Zeiten hatte alle Veränderungen und Entwicklungen überstanden. Mittlerweile kamen viele Gäste dazu, aus dem nahen Menschendorf Salisborn, dem Elfenreich, Zwerge oder wer immer kommen wollte. Sie tranken gemeinsam Gin oder Kundries Kirschblütentee und diskutierten die wichtigsten Tagesereignisse, neuesten Lebensformen und Veränderungen aller Art.

Als Heimdall heute zum Teich kam, brachte ein Kranich Nachrichten von Titanin, der Schwester, die wieder aufgebrochen und kreuz und quer über den Planeten gezogen war und im Moment ein Bewässerungssystem in einem fernen Wüstenland mit konstruierte.

Heimdall bekam nur noch die letzten Gesprächsfetzen mit, doch die Bilder von dem heißen Ort, an dem Titanin sich aufhielt und den der Kranich anschaulich beschrieb, verankerten sich in ihm. Wie ein Echo auf die Erzählungen des über die Erde gereisten Vogels ließen sie sich während Heimdalls Rückkehr nach Asgard einfach nicht mehr abschütteln.

Als er später allein durch Walhall, der Halle der Begegnungen in seinem Weltenschloss in Asgard, schlenderte, füllten sich die Bilder von der Wüste mit Leben. Heimdall sah Ziegenherden, die unter der heißen Sonne so lange an kargen Bäumen knabberten, bis die Bäume zu schwach dafür waren, Blätter zu tragen, und verdorrten. Als er hinaus in die ewig scheinende Sonne Asgards spazierte, lief er in Gedanken eine erbarmungslos heiße Sandstraße entlang und stillte seinen Durst an einem Wasserloch in der Gesellschaft von Kamelen und anderen Tieren, von denen der Kranich berichtet hatte.

Er schwamm eine Runde im Asgarder See, während er sich in Oasen sah, die ihm Ruhepausen vor der Wüstensonne gewährten. Im Hain der Goldenen Äpfel durchquerte er eine Wüste und fand später einen ausladenden grünen Baum mit sprudelnder Quelle.

Heimdall lag auf der Wiese, starrte in den blauen Himmel rund um die Sonne, zupfte etwas Gras, kaute darauf herum und kehrte letztlich nur aus dem Grund zurück ins Weltenschloss, um seine Runde zu wiederholen. Er durchschritt die Halle der Begegnungen, schlenderte hinaus zum See, schwamm eine Runde, lag im Gras und rief sich endlich selbst „Halt!“ zu.

Diese Art von Unruhe war nicht allein mit seiner alten Reiselust zu erklären. Zwar wollte er allzu gerne sein Ränzlein schnüren, um auf Wanderschaft zu gehen und neue Welten zu entdecken, doch darunter lag ein neues Gefühl. Wenn er jetzt ging, gab es niemanden, der auf ihn wartete, wenn er zurückkam. Dieses unbestimmte Bedauern darüber war neu für ihn.

Genauso äußerte sich Heimdall am nächsten Tag während des Treffens am Teich und musste feststellen, das war nur die halbe Wahrheit. Er wollte auf Reisen gehen? Gut, dann sollte es so sein! Aber Kundrie und Mahhara rangen ihm das Versprechen ab, wiederzukommen. Und versprochen war versprochen! Fangdarna hielt sich zurück mit irgendwelchen Äußerungen. Sie war nie so ganz warm geworden mit demjenigen, den sie noch immer als „den Gast“ bezeichnete und der die Gegend rund um ihre geliebten Feuerberge mit so viel Licht geflutet hatte, dass sie selber jetzt unter der Erde lebte, im Licht des Weltenfeuers. Mit dieser Haltung stand sie aber recht alleine da. Alle wollten, dass Heimdall seine Wünsche umsetzte, und genauso, dass er wiederkam, wenn er gefunden hatte, was er suchte.

Heimdall packte die Enzyklopädie von Doktor Broud in seinen Rucksack und machte sich wieder auf den Weg. Er wanderte durch dichten Dschungel, überwand zerklüftete Berge und durchquerte endloses Grasland. Er trug die Bilder aus der Erzählung des Kranichs im Kopf und die Gewissheit im Herzen, er wurde erwartet, wenn er zurückkehrte. So marschierte er frohgemut dahin.

Irgendwann knirschte Sand unter seinen Füßen. Die Sonne brannte mörderisch und Schweiß rann ihm über die Stirn, während er mit schwerem Schritt Sanddüne um Sanddüne abschritt. Das Tuch, das seinen Kopf vor der Sonne schützte, bedeckte längst auch den Mund, um den allgegenwärtigen Sand abzuhalten. Der Wasservorrat in der Kalebasse an seinem Gürtel war fast aufgebraucht. Heimdall dachte an Titanin und ihr Vorhaben, solch eine Gegend fruchtbar zu machen.

Er träumte von einem Bad in seinem See unter dem gnädigen Sonnenlicht Asgards. Er sah sich durch den kühlen Schatten des Midgarder Silberwaldes gehen. Er erinnerte sich an die Nachmittage an Kundries Teich und vermisste den Kirschblütentee, den sie gemeinsam getrunken hatten, und ja, auch Mahharas Gin.

Irgendwann waren selbst seine Erinnerungen verdunstet, so wie jedes Wasser hier im weiteren Umkreis. In dem Moment begann Heimdall, zu halluzinieren. Die Sanddünen bewegten sich auf ihn zu, und wenn er oben auf einer stand, sah er eine silberne Riesenboa sich am Horizont schlängeln. Er setzte sich auf den heißen Sand, stützte seinen Kopf auf die Hand und wusste sicher: Es war ein Riesenfehler gewesen, Asgard zu verlassen, sein Dasein inmitten von Freunden und Überfluss gegen Abenteuer und neue Welten zu tauschen. Zu Beginn seiner Reise durch die Wüste hätte er schwören können, an ein Ziel zu kommen, wohin und wie auch immer. Unter dem Einfluss einer erbarmungslosen Sonne aber schmolz diese Gewissheit wie das winterliche Eis Midgards in der Frühjahrssonne.

Heimdall erhob sich und schleppte sich weiter. Er hatte noch nie von riesigen Silberboas gehört, die an einem Ort verharrten. Also glaubte er in jedem Tal zwischen zwei Dünen an eine Täuschung. Dann erklomm er den Gipfel einer Düne und sah sie wieder hervorblitzen, die Schlange mit der silbernen Haut.

Als ihn schließlich mehr sein Trotz als echte Körperkraft durch die Wüste trug, erweitert sich die Fata Morgana um dunkle Einsprengsel im Sand, die aus der Wüste ein Schachbrett machten. Heimdall setzte sich auf einem Sandgipfel wieder in den heißen Sand, er stellte sich vor, wie er die nächste Düne erklomm, dort Schatten und ein Zelt fand, in das er sich legen und endlich schlafen konnte. Den Kopf auf die Hand gestützt, schaute er in die Ferne auf die Riesenschlange. Seine Augenlider senkten sich. Er griff nach seiner Kalebasse, nur um festzustellen, dass sie leer war. Bevor es um ihn herum dunkel wurde, kamen Schatten auf ihn zugeschaukelt. Er träumte davon, wie ihn jemand auf den Rücken von etwas Hohem, Warmem, Felligem hob. Endlich konnte er schlafen.

Im Schatten hoher Dattelpalmen in einem offenen Zelt liegend, kam Heimdall wieder zu sich. Seine Lippen waren aufgerissen, und er hatte höllischen Durst. Neben ihm stand eine verschlossene Ziegenfellflasche. Er entkorkte den Stöpsel und roch daran. Herrlich kühles Wasser rann ihm die Kehle herunter, nachdem er die Flasche angesetzt hatte.

Ein hochgewachsener Mann trat an sein Bett, er hatte Augen wie ein sternenloser Nachthimmel und einen Turban, so hoch wie ein Storchennest, unter dem schwarze Haare hervorzottelten wie ein ausgefranster Teppich. Zu dem passte auch der finstere Bart und seine Nase war gebogen, wie bei Eulenfrau Mahhara. Heimdalls Blick fiel auf einen Krummdolch am Gürtel des Kaftans, der unangenehme Assoziationen erzeugte.

Etwas in den Händen tragend, kauerte der Mann sich neben Heimdall und lächelte: „Hier, iss! Du musst wieder zu Kräften kommen.“ Er stellte ein Palmenblatt neben Heimdalls Holzpritsche ab.

Der richtete sich etwas auf in seiner Bettstatt und wartete, bis das mit Sternenfeuer gesprenkelte Schwarz vor seinen Augen verflogen war und das Rauschen in den Ohren etwas nachließ. Dann erst konnte er seine Umgebung wahrnehmen.

„Wo bin ich?“, stellte er die naheliegendste aller möglichen Fragen.

„In der Oase Uruk, wir haben dich nicht weit von den Skorpionfelsen aufgelesen. Du hast wirklich Glück gehabt“, der dunkelhaarige Mann schaute seinen Gast tadelnd an. „Was um aller Sandgeister willen hast du dort draußen zu suchen gehabt? Alleine und zu Fuß? Und mit nur einer Kalebasse Wasser? Woher bist du überhaupt gekommen?“

Es war mehr ein Reflex als eine Antwort, als Heimdall mit dem ausgestreckten Zeigefinger nach oben zeigte: „Von dort“, sagt er, „Ich bin vom Himmel gefallen.“

Der Mann lächelte nachsichtig: „Iss, aber langsam und gut kauen.“ Dann stand er auf und ging.

Heimdall sah ihm nach, wie er zu einer Gruppe Kamelen ging, die ihre Köpfe über ein Wasserloch beugten. Auf einmal merkte er, dass er einen Riesenhunger hatte. Er nahm ein Fladenbrot vom Palmenblatt und biss kleine Stücke ab. Es war mit Ziegenkäse und gegrilltem Gemüse gefüllt und schmeckte vorzüglich.

Während Heimdall langsam aß, gründlich kaute und immer mal wieder einen Schluck Wasser zu sich nahm, sah er sich um. Der ganze Hain war voller Dattelpalmen mit üppig orangefarbenem Fruchtstand. Ganz in der Nähe plätscherte eine Quelle in den kleinen See, neben dem auf einer grünen Wiese viele Kamele standen, Gras fraßen oder Wasser tranken.

Zahlreiche flache Zelte aus hellem Stoff standen im Schatten der Dattelpalmen. Frauen und Männer gingen allerlei Beschäftigungen nach, Spinnen, Leder nähen oder Seile verknoten. Alle hier trugen nachtfarbene Tücher auf dem Kopf oder hatten sie um das ganze Gesicht geschlungen.

Vor dem Nachbarzelt zerstampfte eine hochschwangere Frau, auf einem Schemel sitzend, mit dem Mörser dunkle Samen, kippte das entstandene Mehl mit Wasser in einer kleinen Zinnkanne zusammen, kochte alles auf und zauberte einen würzigen Duft, der die ganze Oase durchzog.

„Mahmud“, rief sie. Der dunkelhaarige Mann mit dem hohen Turban und dem Zottelbart kam von den Kamelen zu ihr rüber. Sie drückte ihm zwei irdene Becher in die Hand und füllte die dampfende Flüssigkeit hinein.

Mahmud trug die Becher zu Heimdalls Pritsche, der sich mittlerweile mit dem Fladenbrot gestärkt hatte und, aufrecht sitzend, die Beine zu Boden baumeln ließ.

„Kaffee“, erklärte Heimdalls Gastgeber und reichte ihm einen Becher, „weckt die Lebensgeister.“ Mahmud nippte an dem Getränk.

Heimdall machte es ihm nach und zog schon nach dem ersten Schlucken ein anerkennendes Gesicht. „Heiß und sehr gut, danke!“

„Ich bin Mahmud“, stellte sich sein Gastgeber vor. „Dort drüben, das ist mein Zelt. Meine Frau Shahla erwartet unser erstes Kind.“

Heimdall hob den Becher und bedankte sich mit einem Kopfnicken bei Mahmuds Frau, die ihm zulächelte.

„Heimdall ist mein Name“, antwortete er, „wie lange habe ich geschlafen?“

„Zwei Tage und Nächte. Unser Heilkundiger hat gesagt, du schaffst es, aber, ganz ehrlich, ich habe geglaubt, wir hätten dich verloren.“ Er hob wieder den Becher und knipste ein Strahlen in seinen Augen an. „Ich freue mich, dass ich mich geirrt habe.“

„Wie kann ich mich erkenntlich zeigen? Ihr habt mich gerettet.“ Heimdall sah sich erneut um. „Wo ist der Heilkundige?“

„Oh“, Mahmuds Gesicht verdüsterte sich. „Er musste weg, ein Notfall“, Mahmud starrte in die flirrende Wüstensonne hinter der schattigen Oase. „Du wärst nicht der Einzige gewesen, der es nicht schafft. Da draußen gibt es viele Skorpione.“ Mahmud seufzte und sah aus, als schaute er über die Oase hinaus auf ein fernes Ziel. Heimdall fragte nicht nach, und schweigend nippten sie am Kaffee.

Nach einer Weile redete Mahmud weiter: „Du willst dich erkenntlich zeigen? Dann sei nicht mehr so leichtsinnig und leb weiter, zum Wohle aller.“

Heimdall nickte lächelnd: „Ich werde mir deine Worte zum Auftrag machen, mein Freund.“ Er reichte Mahmud die Hand, der schlug ein. Alles war besprochen. Heimdall stand langsam auf, nahm seine Kalebasse und die Ziegenlederflasche von Mahmud entgegen. Er befüllte beide mit Quellwasser.

Mahmud trat hinter ihn und reichte ihm einen Lederbeutel: „Ich weiß nicht, wie weit dein Weg ist, aber die hier soll dir helfen an deinem Ziel anzukommen, wo immer das ist.“

Heimdall dankte ihm mit einem Lächeln: „Ja, wo immer das ist.“

Mahmud zeigt mit dem Kinn in die Richtung, in der die Sonne aufgeht: „Dann geh von hier aus in Richtung Uruk“, schlug er vor, „alle wollen immer nach Uruk. Heute ist nur ein trauriger Tag. Der Sohn unserer Stadtobersten ist… Aber geh und sieh selbst!“

Heimdall hatte über Uruk nichts in der Enzyklopädie von Doktor Broud gelesen, fragte aber nicht nach. Mahmud sagte, dass er dahin sollte, der kannte sich schließlich hier aus.

Er verabschiedete sich von seinem Retter und wünschte ihm und Shahla den Segen des Universums. Dann schnallte er sich seine Wasserflaschen um. „Danke! Für alles“, er umarmte Mahmud, drehte sich um und verließ die Oase. Sobald er aus ihrem Schatten trat, hatte er das Gefühl, gegen eine Wand aus Hitze zu rennen.