Georg Engel: Hann Klüth. Roman
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Caspar David Friedrich, Die Lebensstufen, 1835
ISBN 978-3-8430-8757-5
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-1456-4 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-1457-1 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: 1905
Dieses Buch folgt in Rechtschreibung und Zeichensetzung obiger Textgrundlage.
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Du liebe Alte, hoch am Meer,
Mit blauen Augen, weißen Haaren,
Wann wird mir wohl die Wiederkehr
Nach all den langen Wanderjahren?
Wann wirst du mir den Schemel rücken
Und sprechen: »Jünging, ruh di ut«?
Wann werd' ich leis die Hand dir drücken
Und fragen: »Mudding, büst mi gut?«
Vielleicht bin ich schon siech und grau,
Bevor der Weg zu dir durchmessen.
Du liebe, gute, alte Frau,
Vergiß mich nicht, ich werd' dich nie vergessen.
»Mudding«, sagte der Kranke, »ich seh sie ganz deutlich. Es sind zwölf schwarze Käfer, die da auf dem Zifferblatt von der alten Uhr im Kreis laufen.«
»Ne, ne«, entgegnete die kleine Frau, und in ihre Stimme kam ein Stocken und Zittern, während sie nichtsdestoweniger unablässig an dem großen, grauen Strumpf, der schon fast bis auf die Erde herabhing, weiterstrickte. »Das is man dein Fieber. Und wenn das Fieber wiederkommt, sagte heut der Doktor, dann steht es schlimm.«
»Das kann sein«, meinte der Lotse Krischan Klüth, und das Reißen krümmte ihn in den rot und weiß gewürfelten Kissen noch etwas mehr zusammen. »Aber ich hab' die Käfers gezählt – hör', und nu brummt einer.«
An der schmalen Kastenuhr in der Ecke sank ein Gewicht. Es rollte dumpf.
»Sechs«, zählte die kleine Frau Klüth. Dann seufzte sie tief auf. »Ich soll wohl nun Licht anmachen?«
»Ja, ja, Mudding, es muß doch hell sein, wenn er kommt.«
»Ja, wenn er es tut«, meinte Frau Klüth bedenklich. »Denn sobald man ihn nich höflich einladet, dann kommt er nich.«
Von der roten Birkenkommode flackerte ein Talglicht auf. Der Kranke rückte sich in dem trüben Schein etwas höher im Bett zurecht und warf zuvörderst einen mißtrauischen Blick auf das Zifferblatt. Dann strich er beruhigter über die Decke. »Ja, ja – nu kriechen die verfluchtigen Biester nich mehr. Es is doch gut, wenn es hell is. – Mudding, halt mir das Licht dicht an die Finger. Mir is kalt. – So – sieh eins, wie dünn sie geworden sünd.«
Er wurde wieder ungeduldig und schlug auf den Bettrand.
»Siehst du das Boot noch immer nicht?«
Die Frau trat an das kleine quadratförmige Fenster, das auf den Bodden hinausging, und schüttelte den Kopf.
Da draußen war nichts als leere, graue Fläche. Hinter ihr schrie der Lotse plötzlich auf. Die tollen Schmerzen würgten ihn bereits im Halse.
»Mudding«, gellte der Kranke.
»Lieber Gott – lieber Gott«, murmelte die hilflose Frau, ohne sich umzuwenden, und faltete die Hände. »Was soll man da tun?«
Dann wurde es wieder still. Die Uhr knarrte laut und deutlich ihren Schlag.
Inzwischen hatte der alte Klüth nach dem Stuhl gelangt, auf dem ein Stück gedrehten schwarzen Priems und ein Taschenmesser lagen. Rasch und heimlich schnitt er ein großes Stück ab und schob es in den Mund.
Doch die Frau, obwohl sie noch immer abgekehrt über die See spähte, hatte es gemerkt, als wenn sie auch im Rücken Augen besäße. »Das darfst du nicht«, verwies sie matt.
Doch ohne darauf zu achten, kaute der Lotse eine Zeitlang begierig weiter, dann spie er den Tabak wieder aus und schüttelte so mutlos das Haupt, daß die schweißnassen grauweißen Locken ihm struwlig über die Stirn fielen. – »Ne, Mudding«, stöhnte er und sank zusammen – »es wird nichts mehr. Fünfzig Jahre hab ich ihm nu gekaut. Und seit vier Tagen will's nich mehr – kuck' – das is ein Zeichen vom lieben Gott.«
»Ja, ja, was wollt's nich?« nickte die kleine, ältliche Frau und faltete wieder zerknirscht die Hände. Darauf strickte sie, wie erschreckt, an dem grauen Strumpf weiter.
Dicht unter den Fenstern des Lotsenhäuschens lag zur selben Zeit eine kleine Jacht am Bollwerk angeschlossen. Sie war von oben bis unten mit Kartoffeln beladen und gehörte Johann Christian Petersen. Wenigstens stand sein Name in goldenen Buchstaben vorne an der Schiffswand. Aber der eigentliche Kapitän des Fahrzeuges war Frau Dörthe Petersen, die eben in ihrer Küchenkajüte einen Eierkuchen gebacken hatte und nun von der Steuerbordseite aus der kleinen Line, die am Bollwerk stand, ein großes Stück heraufreichte.
In der bloßen Hand. Aber das schadete nichts.
»Nu iß, mein Döchting«, sagte die starkknochige Frau, die mit nackten Füßen und hochaufgeschürzt herumging, denn aus dem kleinen Schiff wurden von zwei halberwachsenen, strohblonden Söhnen der Frau Dörthe ununterbrochen Kartoffeln über das Landungsbrett gekarrt und draußen in Säcke gefüllt. Wenn es zu langsam ging, dann sprang Frau Dörthe selbst entschlossen hinzu, um ihren beiden Sprossen je einen freundlich-aufmunternden Puff unter die Rippen zu versetzen.
»Au, Mudding, das tut jo weh!«
»Das soll es ja auch. – Man immer zu.«
Und das Karren ging weiter.
So hielt sie alles im Gang. Nur ihr Mann hockte in einem braunen, fellartigen Anzug auf dem Kajütendach und spielte, ohne sich um etwas zu kümmern, die Handharmonika.
Eine andere Beschäftigung hatte nie einer bei ihm wahrgenommen, und man verlangte sie auch nicht. Denn bei der großen Flut war ihm bei einer Rettungsarbeit ein Balken auf den Kopf gestürzt und hatte ihm den klaren Verstand eingeschlagen. Frau Dörthe aber, obwohl sie ihn erst nach dieser Zeit geheiratet hatte, war dennoch felsenfest überzeugt, daß Malljohann, wie er in Moorluke genannt wurde, ein tiefsinniges und nachdenkliches Haupt und auf dem Gebiete der Handharmonika ganz einzigartig dastehe.
Malljohann saß und spielte –
»Judemädel, wasch dich, kämm dich, putz dich schön,
Denn wir woll'n zum Tanze geh'n.«
Der Walzer, von der Harmonika mit Glockenspiel vorgetragen, klang laut und scharf über den stillen Fluß und mußte auch in die Krankenstube hinaufdringen. Von oben antwortete auch sogleich ein schriller, ächzender Wehlaut.
»Hörst du?« begann Frau Dörthe zu Line, während sie vielsagend die Achseln zuckte: »Da stirbt nu dein Vater. – Ja, so is es in der Welt. – Willst du noch'n Stück Eierkuchen, min Döchting?«
Line empfand noch Appetit. Sie hatte sich auf das wurmstichige braune Bollwerk gesetzt und schaukelte mit den nackten, weißen Beinchen zwischen Schiff und Holzwand nachlässig hin und her.
Für ein vierzehnjähriges Kind war sie auffällig zierlich und biegsam gewachsen.
Plötzlich hob sie das schwarze Haupt mit den merkwürdig blitzenden Augen und sagte bestimmt, auf das kleine Fenster des Lotsenhauses deutend: »Das is nich mein Vater.«
»Wer denn?« fragte Frau Dörthe gespannt, obwohl sie ganz gut wußte, daß die Kleine recht hatte.
»Das is man bloß mein Pflegevater«, antwortete Line kauend, »mein richtiger ist der Klabautermann.«
»Huch«, schrie die Schifferfrau entsetzt auf und schielte zu Malljohann empor, ob er das Kind auch ordentlich verstanden hätte. – »Huching – Jochen, hast gehört? – Lütting, oh, wer ist denn der Klabautermann?«
Der tapfere weibliche Kapitän war ordentlich scheu zurückgewichen.
»Der Klabautermann?«
»Je.« – Die Kleine schaukelte wieder ein bißchen mit den nackten Beinen, dann gab sie so fest zurück, wie sie etwa in der Schule eine Antwort deklamierte: »Je, der Klabautermann is ein Wasserzwerg.«
»Und von so einem bist du die Tochter?«
»Ja, so is es«, beharrte Line ernsthaft, und wischte sich die Kuchenhände an ihrer Schürze ab.
»O jeh – o jeh«, schrie Frau Dörthe und schlug entsetzt ihre Fäuste zusammen. Und die Söhne hielten mit ihren Karren still. Und Malljohann endete das »Judenmädel« mit einem schrillen Wehlaut – und zog sein glattrasiertes Gesicht in hundert Falten – und alle starrten sie auf Line hin.
»Aber du liebe Güte, wer hat dir denn so was eingeredet?« stotterte endlich Frau Dörthe.
Allein, Line befand sich zu sehr in ihrem Recht.
»Das hat mich oll Kusemann erzählt«, brachte sie rasch hervor und stand beleidigt auf, »und Hann hat es auch gesagt.«
»Oll Kusemann?« wiederholte Frau Dörthe nun ehrlich empört und dabei ein wenig triumphierend – »Jochen, hast's woll gehört? – Das is ja der oll Lügenlotse hier. – Und Hann? Hann is weiter nichts als ein Dummkopf.«
»Ja, dumm is er man«, pflichtete Line bei. Dann verzog sie das kirschrote Mündchen zu einem spitzbübischen Lächeln.
Da wurde das Idyll häßlich unterbrochen.
Im gleichen Moment vernahmen alle auf dem Schiff so namenloses, tobendes Geheul aus dem Krankenzimmer herabschrillen, daß alle zusammenschreckten und verlegen auf die Planken sahen.
Als sie wieder aufblickten, lag Line lang auf dem harten Uferboden ausgestreckt, die Stirn auf kleinen Kieselsteinen, und wühlte mit den Fingern in Gras und Erde herum.
»Was machst du da?«
»Er soll nich sterben! – soll nich sterben«, raste die Kleine in wütendem Trotz und schleuderte allerlei Steine von sich. – »Wozu muß denn gerade er sterben? – Kann es nich Hann sein?«
Die Kapitänin sah wieder zu ihrem Gatten empor. Der aber hatte das Kinn auf die Harmonika gelehnt und schien nachzudenken.
»Lütting, du mußt zu dem lieben Gott bitten«, entschied die Frau endlich überzeugt und nickte dreimal sehr stark mit dem Kopf. »Das ist das einzigste Mittel.«
Aber bei Line verfing es nicht. Immer erregter schlug sie auf das Bollwerk und schluckte vor Wut und Tränen: »Das hab ich alles schon versucht. Aber es hat mir nichts genützt. Vielleicht weil ich gar nich sein richtiges Kind bin«, setzte sie hinzu, »wie die andern. Ich heiß ja auch nich Line. Ich heiß ja Aline. Und draußen auf dem Bodden, da haben sie mich gefunden.«
Damit erhob sie sich auf den nackten Knien und zeigte auf die graue Wasserfläche der See hinaus, als ob sie dort draußen etwas Schreckliches und Merkwürdiges zugleich erspähe.
Seltsam, wie sich dabei die Augen des Kindes veränderten. Etwas Wildes, Dunkelleuchtendes flackerte darin auf. Es war jetzt bereits klar, daß in diesem kleinen Wesen die Phantasie mächtig schaffe und wirke.
Unvermittelt fuhr sie empor.
»Malljohann«, schrie sie zu dem Fellbraunen hinauf: »Spiel wieder – ich will eins tanzen.«
»Was? Jochen, untersteh dich«, – rief Frau Dörthe fassungslos dagegen, »pfui, was für ein Gör – ihr Vater stirbt da oben, und dann will sie so was!«
»Doch, doch, wenn der liebe Gott mir nicht hilft, dann tanz ich«, schrie Line noch einmal und wirbelte bereits, wie zum Hohn, auf einem Fuße herum.
Und dann geschah etwas Unvorhergesehenes!
Malljohann ließ plötzlich mit aller Macht den unterbrochenen Walzer ausklingen. Die Glöcklein klirrten, die Pfeifen brausten, und die Kleine begann sich graziös und sicher herumzudrehen, bis ihr rotes Röckchen um die nackten Beine flatterte und die beiden Schifferjungen begehrlich zu ihr hinüberglotzten. Und immer, wenn sie sich zur Kapitänin wandte, streckte sie drollig die Zunge heraus.
»Jochen, willst du woll?« tobte diese noch einmal kirschbraun vor Zorn.
Aber der Mann auf dem Kajütendach winkte mit dem Kopf zu Line herüber, und aus dem sonst so schweigsamen Munde brach ein merkwürdiges Knastern: »Gurr – gurr – Klabautermann.«
Da erschrak Frau Dörthe und schwieg. Jetzt wußte sie es. Jochen hatte sich ebenfalls für den Seezwerg entschieden. Und Jochen war ein tiefer und gründlicher Geist.
Und mit heimlichem Schauder sah sie mit an, wie Line sich röter und immer röter tanzte, gerade unter dem Fenster des gequälten, hinsterbenden Lotsen, der von Zeit zu Zeit dazwischenheulte.
Der Erwartete war gekommen.
Hann hatte ihn mit der roten Jolle von der Landzunge herübergeholt.
Es war der Schäfer von Ludwigsburg. Ein Heilkünstler, gegen den alle Professoren drin von der kleinen Universität zu lächerlichen Pfuschern herabsanken.
Ein Mann im Besitz wunderbarer Naturkräfte und dabei von wirklich frommer Gesinnung.
Menschen- und Tierarzt zugleich, der durch ein getragenes, feierliches Schweigen überall, wo er erschien, eine direkt priesterliche Stimmung erzeugte.
Dieser war oben.
Unten zu ebener Erde, dicht neben der Treppe, die zu dem Schlafzimmer hinaufführte, in einem kahlen Raum, der wie mit Waschblau gefärbt schien, warteten inzwischen die beiden ältesten Söhne des Lotsen, während Line auf der untersten Stufe der Treppe saß und gedankenvoll auf das leise Murmeln lauschte, das seit einiger Zeit aus der Krankenstube herunterquoll.
Sie stützte den Kopf auf und schüttelte sich leicht wie im frostigen Winde.
Dort oben trieb der Zauberer nun sein Wesen, denn hexen konnte er, daran zweifelte Line nicht einen Augenblick. Der Lügenlotse, oll Kusemann, hatte ihr ja auch erst neulich in seinem Wetterhäuschen an der See erzählt, wie Schäfer Sturm vor einiger Zeit kurz vor Mitternacht auf dem Moorluker Kirchhof aufgetaucht und dort zwischen allerlei Kreuzen suchend auf- und abgeschritten sei. Vor dem Grabe eines längst verstorbenen Fischers wäre er dann stehen geblieben und hätte einen Zettel auf dessen Hügel gelegt. – Einen Zettel. – »Denk' bloß, Lineken, einen Zettel mit wunderbaren Buchstaben beschrieben.« Der Tote aber sei der alte Glückspeter gewesen, der, solange er lebte, den unheimlichen Fischzug besessen und stets sein Netz mit Hunderten von Heringen ans Tageslicht gefördert habe. – Und richtig – Line zuckte in der Erinnerung förmlich in die Höhe und starrte mit weitgeöffneten Augen vor sich hin – als die Kirchhofsuhr Mitternacht schlug, da habe sich das Grab mit einem Schlag geöffnet und –
Oben ächzte die Tür und fiel schallend wieder ins Schloß.
»Tu mir nichts«, rief Line halblaut in ihrem Traum und streckte die Hände aus.
Aber es war kein Gespenst, das da die Treppe herunterwehte, sondern Hann polterte herab und stieß mit seinem schweren Stiefel gegen ihren Rücken.
»Au – dummer Junge – nimm dich doch in acht!«
»O Lining, ich wollt ja nich – ich soll bloß – –« damit fiel der fünfzehnjährige, gedrungene Bursche bereits in den lichtblauen Raum hinein und hob vor seinem ältesten Bruder ordentlich bittend die Hände in die Höhe.
»Was willst du, Hann?«
»O Paul – Pauling – nich wieder böse sein.«
»Nein, aber ich soll doch nicht etwa hinaufkommen, solange der da oben ist?«
»Das nich, aber du sollst – –«
»Was?« unterbrach der junge Theologe ungeduldig.
»Du sollst mir das Buch geben.«
»Welches Buch?«
»Oh, die Bibel, Pauling.«
»Die Bibel?«
Für Schäfer Sturm!
»Was will der mit ihr?«
»Das darf ich dir nich sagen.«
Der Student streckte die Hand aus. Wie er so dastand mit seiner mageren Gestalt und dem abgezehrten, verarbeiteten Kopf, hatte er etwas Hartes und Eckiges.
»Hann –« Rasch und stoßend redete er, gleich einem, der die Sprache nicht recht meistert, und deshalb hatten seine Worte etwas Unbeholfenes, Stammelndes, das zum Herzen drang. »Hann – ich hab' dir nie was getan.«
»Ne – ne«, schluckte der Junge.
»Mir kannst du alles sagen.«
In seiner Aufregung überfiel ihn wieder jenes verwünschte Stammeln. Und diesem hilflosen und doch fanatischen Klang gegenüber unterlag Hann widerstandslos.
Der Junge zitterte: »Pauling, nich böse sein.«
»Nein.«
»Der Schäfer – will einen Spruch aus der Bibel reißen, und den soll Vating verschlucken.«
»Verschlucken?«
»Ja, verschlucken«, sagte Hann ernsthaft.
»Und dazu soll ich ihm das heilige Buch überliefern?« entgegnete der Student entrüstet. Schon war er auf einen kleinen Schrank zugeeilt, auf dem oben ein paar Bücher standen, und nun riß er das umfangreichste an sich. Etwas Eckiges, Bäuerisches, Überzeugtes steckte in all seinen Bewegungen.
»Das Tiefste, das uns geschenkt ward, soll ich so mißbrauchen lassen? So – so – Zu solch abergläubischem Betrug?« stammelte er von neuem. Er drückte das Buch an sich, daß ihm die Arme bebten. Dann machte er einen hastigen Schritt nach der Treppe zu und redete voller Zorn und Eifer weiter.
Er sei kein Frömmler, aber das dürften die Eltern eines Gottesgelehrten nicht begehen. Solche Sünde. Solch heidnisches Hexenwerk. Gleich – gleich wolle er selbst in die Krankenstube hinauf und Schäfer Sturm vertreiben. Mit Gewalt, wenn es sein müßte.
Dabei betrat er schon die erste Stufe.
Allein, unbeweglich, mit aufgestütztem Haupt, aus dem nur die Augen wie glimmende Punkte herausfunkelten, so saß Line zu seinen Füßen und sperrte ihm den Weg.
Er hätte über sie forttreten müssen.
»Line, so geh doch zur Seite«, herrschte er sie an.
»Nein – erst gib Hann das Buch.«
»Was?« stotterte der Student.
»Gib her«, flüsterte das Kind noch einmal mit seiner heißen Stimme und schlang trotzig die Arme um seine Beine, um ihn am Steigen zu hindern. »Du verstehst das nicht – der Schäfer kann hexen.«
»Oh, das kommt davon, das kommt davon, daß du so gar nichts lernst«, kam es heiser von den Lippen des Studenten. – »Aber das muß anders werden. Und jetzt gleich laß los – ich muß – ich muß hinauf.«
Er drängte sie mit seinem Fuß beiseite.
Line fiel, im nächsten Moment wäre der Gereizte an ihr vorüber gestürmt.
Da mischte sich eine neue Stimme in den Streit.
Am Tisch in der kahlen blauen Stube saß der mittelste der drei Brüder, Bruno.
Sekundaner war er drinnen auf dem Gymnasium in der Stadt. Ein hübscher, dunkelhaariger, siebzehnjähriger Bursche. Der Liebling der Eltern, der Liebling der Lehrer. Einer von denen, auf die alle Hoffnungen gesetzt werden, die dann die Zeit erfüllen soll!
Die Zeit!
»Paul«, sagte der Sekundaner mit seiner hellen, frischen Stimme, »gib doch das Buch. Wenn es nichts nützt, so schadet es doch auch nichts.«
Der Theologe beugte sich über das Geländer, um Bruno besser sehen zu können.
»Ja, ja, so bist du«, grollte er. »In jedem Wort sprichst du dich selbst aus. Immer nur auf den augenblicklichen Vorteil hin leben. Was man damit anrichtet und aufgibt, ganz gleich. Nein – aber es soll doch wenigstens einer hier in dem Hause existieren, der einen Willen und eine Meinung besitzt. Der Vater wird zu Gott berufen, die Mutter hat in ihrer Sanftmut nie gewußt, was Selbstbestimmung heißt. Du und dieses kleine Ding, die Line, ihr lebt wie in einem heidnischen Traum befangen, und Hann – Gott« – er zuckte die Achseln – »Hann ist es nicht so gegeben. Deshalb soll Vater noch beim Scheiden die Beruhigung empfinden, daß wenigstens eine Hand da ist, die alles zusammenhalten will.«
In seinem Eifer hatte er auf das so fest an sich gepreßte Buch nicht mehr acht gegeben. Jetzt vermißte er es.
Einen halblauten Ausruf der Überraschung stieß er aus.
»Bruno – Hann – wo ist die Bibel? – Wo?«
Ja, wo war sie?
Wie ein Schatten, katzenhaft, leichtfüßig, in all ihrem Schrecken vor dem Tode da oben leicht kichernd, flog Line die Treppe in die Höhe.
In ihren Händen etwas Schwarzes, Umfangreiches.
»Line – Line«, rief der Student totenbleich hinter ihr her.
Da zögerte sie an der Tür noch einen Moment. Als sie aber Schritte, Sprünge vernahm, duckte sie sich, und – – durch die entstehende Türspalte steckte sie etwas hindurch.
»Da –«
Ihr Atem pfiff.
»Ich dank dich, mein Döchting«, tönte es von drinnen.
Es war geschehen.
Im gleichen Moment fühlte sie sich an den Schultern gepackt. Oh, wie heftig dieser große, schmale Mensch immer zugriff mit seinen Händen, die nichts als Sehnen und Knochen waren. Und doch empfand das wilde, kleine Wesen eine Art Ehrfurcht vor ihm.
»Du – du Geschöpf«, keuchte er, »du bist wie solch' kleine, böse Hexe – aber warte, das muß anders werden. Und wenn ich mich dabei an dir vergreifen sollte. Diese schreckliche Unbildung muß aus dem Hause. Warte nur.«
Wie wenn er gar nicht wüßte, was er tat, schüttelte er sie zornig hin und her.
Das Kind gab keinen Laut von sich. Nur als Bruno, erschreckt über das dumpfe Geräusch dieses stummen Ringens, mit einem Lichtstümpfchen an die Treppe trat, da sah der Student, wie ihre Augen ununterbrochen und fest in die seinen blickten.
Eine große, merkwürdige Ruhe wohnte in ihnen.
Da ließ er von ihr ab, als habe er sich an einem Dorn gestochen.
Tief seufzte er auf und wollte eben wieder hinuntersteigen, als die Tür des Krankenzimmers sich in ihren Angeln drehte. Und in dem breiten Lichtschein stand die kleine Frau Klüth und sagte mit ihrer ebenen Stimme: »Vating will euch alle noch eins sehen. Kommt!«
Hierbei verlor ihre Stimme den ruhigen Klang. Aber den halbfertigen Strumpf hatte sie noch immer in den Händen.
»Ja, nun seid ihr alle da«, flüsterte der Lotse und hob sich weit aus den Kissen heraus, um die Anwesenden zu überzählen.
Seine Hand schwankte dabei hin und her – –
»Und Paul – und Bruno – und Line – und Hann – un Mudding – un der oll Schäfer – un mein Bootsmann Dietrich Siebenbrod – ihr seid alle da – ja, ja, das is mein Bootsmann. Mit dem zusammen hab' ich damals die kleine Line gerettet. Prösting Dietrich – – wann werden wir wieder eins von dem feinen Kognak trinken? – von dem feinen Kognak. – Ja, ja, Dietrich Siebenbrod – das mußt du nich tun, ümmer so viel trinken, sonst bist du 'n guter Kerl – und verstehst deine Sach! – Komm Mudding – komm her – gib mich deine Hand. Und Dietrich Siebenbrod gib mich auch deine. – Ich muß nu rauf – das nützt allens nichts – Schäfer Sturm, der doch sonst seine Sach versteht, nützt da auch nichts. – Hör', Dietrich Siebenbrod, da sollst du auf mein Haus aufpassen, denn du büst 'n anständiger Kerl und verstehst deine Sach'. Ja, Mudding, das is Dietrich Siebenbrod. – Du, Mudding und Siebenbrod, ihr bleibt zusammen. – Und wenn's mit der Lotsenanstellung nichts is, denn is es mit der Fischerei was. Ja, ja – da hat man dann auch weniger Zeit, dann trinkt man auch nich soviel. – Der verfluchtige Kognak, – Mudding, nu spür ich's. – Und du und Dietrich Siebenbrod, ihr bleibt zusammen. Und dann paßt ihr auf die Kinder auf, damit da was draus wird. – Und – und – Siebenbrod, klopf' mich auf den Rücken, mir ist's, wie wenn ich in der See läg. Weißt noch, wie wir das kleine Jöhr, die Line, von der schwedischen Bark gerettet haben, und keiner wußt, wie das Ding hieß? – – Lining, komm her – steh nich so in der Ecke – sterben muß jeder mal. – Du bist ümmer 'n drolliges Ding gewesen und hast mir viel Spaß gemacht. Ja, und Mudding, unser Ältester wird Paster – Paster – ja – denn er is 'n feiner Kopf. Und wenn's auch viel Geld gekostet hat – ja, Siebenbrod, gar zuviel Geld – 's freut mich doch. 'n Paster, – 'n wirklichen Herrn Paster, hab ich doch zustand' gebracht. Und was unser zweiter is, Bruno – der is klug, der is sehr, sehr anschlägig – hat auch was gelernt. – Da hat mich Konsul Hollander versprochen, er kommt zu ihm ins Kontor – Schiffsreeder – Bruno wird eins 'n reicher Mann werden – Hollander hat ja auch man so klein anfangen, na, man kann nie – nie wissen. – Und ja, paß auf – ich sag weiter nichts.
»Und was soll nu aus Line werden? Line? – Line? Ja, das weiß ich nich, darauf versteh ich mich nich. Da wird schon einer kommen. – Aber nu – nu mit Hann. – Hann, wein' nich, du kannst da auch nichts für. Lernt nichts – und hat nichts gelernt – oh, Siebenbrod, den mußt du hier anbändigen. Is'n guter Jung, un 'n Boot regiert er auch ganz gut. Den müßt ihr hier so nebenher mit auffüttern. – O je, Hann, wein' nich, du kannst da auch nich für. – Siebenbrod, klopf' mich auf den Rücken. – Und nu, nu ruf mir die Lotsen mal her – du sagst doch, sie stehen hier an der Tür, die Kollegen. Na, denn soll'n sie raufkommen. Ja, 's is gut, Siebenbrod, ruf 'runter!
»Je, da seid ihr ja, ihr zwei, oll Kusemann un Friedrich Pagels. –? – Je, nu nehmt man an, vor vier Wochen nu noch Dienst getan – und nu jetzt soll's losgehn. – Na, oll Kusemann – ich dank dir auch, daß du das mit Hann so gut meinst, dem armen Jung. Aber tu mich den Gefallen, mußt ihm auch nich mehr so viel dumm Zeug erzählen. Und du, Pagels – na, hast du auch wieder das verschnürte Bein? – Ja, ja, auf die Art geht das mal mit uns allen zu Ende. – Ich wollt dich fragen, ob du wohl mein zweites Boot kaufen willst. 's kann ein Zesner draus gemacht werden. Ganz bequem. Und du hast doch die Erbschaft getan und kannst gleich bezahlen. Und bei mir is das man – mit dem Begräbnis – verstehst du – es muß doch gleich Geld da sein. Und wir haben nu so viel eingebrockt durch die Krankheit und das alles. Und wenn du zweihundert Taler so geben würdest – – Weniger? – Na, einhundertachtzig. Aber dafür is 's halb umsonst, nich war, Siebenbrod? Also, 's is zwischen uns abgemacht, Friedrich Pagels – ihr habt's gehört. –
»Und – und – Paul, komm her, du büst mein Paster, sing was Geistliches, ein schönes Gebet, du kannst ja – – Und, und Mudding, ich dank dich auch für alles – und – und der Kauf mit Friedrich Pagels ist abgemacht – – – und Lining – un – un Hann – un – abgemacht – is – allens!«
»Nu 's vorbei«, murmelte der aufgeschwemmte Lotse mit dem verschnürten Bein, dem die Wassersucht deutlich anzumerken war.
»Das is es«, flüsterte oll Kusemann und schlich zu Hann. Und nach einer Weile sagte er ganz leise: »Mich war's, als wenn ich so was Graues an den Fenstern hätt' entlangflattern sehn.«
»Wollen ihm die Augen zudrücken«, sagte der riesige Siebenbrod und näherte sich vorsichtig dem Bett. Und als er seine Pflicht erfüllt hatte, brachte er noch stockend heraus: »Schlaf woll, Herr Klüth.«
Es war am Abend nach dem Begräbnis.
Da begab sich folgendes:
Die leidtragenden Fischer und Lotsen, die so altertümlich in ihren weit abstehenden, schwarzen Gehröcken und den unförmigen, pudligen Zylindern aussahen, waren nach einem reichlichen Leichenschmaus abgezogen. In dem Stübchen, in dem der Kranke so lange gelegen, blieben nur seine beiden Ältesten zurück, um in einem alten Rollpult nach Papieren zu suchen, die der Verstorbene vielleicht hinterlassen. Es sollte eine Verschreibung des Magistrats auf eine Pension vorhanden sein.
Wenigstens hatte sich oll Kusemann während des Leichenschmauses bei einem Glase Kirschlikör urplötzlich darauf besonnen.
Wenn das wirklich ausnahmsweise kein Geflunker war! Wenn das Wahrheit wäre! –
Fast ohne zu sprechen suchten die beiden.
Das Fenster stand offen. Man wollte auslüften. Unterdes befanden sich die andern Trauernden auf dem Hofe hinter dem Häuschen.
Es war ein kleiner, ungepflasterter Hof. Rings herum ein Bretterzaun, an dem rote Johannisbeersträucher in die Höhe rankten. In der Mitte ein niedriges, grünmoosiges Rohr, die Pumpe. Ganz in der Ecke, auffallend niedrig, mit Moos und Schindeln gedeckt, ein Stall für drei Kühe und daneben, nicht größer als eine Hundehütte, ein hölzerner Schweinekoben.
Aus ihm drang Schnuppern und Schnaufen den ganzen Tag. Auf dem schrägen Dach jenes Kobens saßen an diesem Abend Hann und Line.
Beide in ihren schwarzen Traueranzügen.
Der Junge ungeschlacht, wie ein verzauberter kleiner Schornsteinfeger; das Mädchen vornehm, wie die Prinzessin, die den Schweinehirten heiratet.
In dem Kuhstall aber weilte noch ein anderes Paar. Ein älteres. Hier saß die Witwe, die kleine Frau Klüth, mit ihrem vergrämten Gesicht auf einem Schemel und verrichtete langsam und trauervoll ihr abendliches Werk. Sie melkte ihre wohlgenährten, glänzenden Kühe.
An der Schwelle, leicht an den Pfosten angelehnt, sah Dietrich Siebenbrod, gleichfalls im Trauerrock, diesen Geschäften nachdenklich zu.
Er hatte eine kleine Pfeife in der Hand. Aber er rauchte nicht. Er hielt das in diesen Augenblicken für unschicklich.
Ein wundervoller Herbstabendglanz lag auf dem Fischerdörfchen.
Bäume und Dächer leuchteten einen unbestimmten matten Schimmer. Am Himmel zogen lichtrosige Wolken dahin. Rosig durchleuchtet ringelte sich Rauch aus den Schornsteinen. Überall tiefe Ruhe. Nur vom Bodden strich ab und zu ein leichter Windzug daher, und dann sah man fern durch die Bäume und Büsche, wie die See draußen ihre Farben änderte.
Ein Jagen von Grün und Zitterblau!
Dann wieder Stille.
Da regte sich Line auf dem Koben.
»Sprich was«, sagte sie zu Hann und stieß ihn leicht an den Arm. »Es ist so häßlich, das Stillsein.«
Sie fürchtete sich heimlich. Denn ununterbrochen, klammerfest wurde sie von diesem einen Bilde gefangengenommen, wie die Lotsen den Sarg heruntergelassen, die Erdklumpen hohl daraufgekollert, und wie oll Kusemann hinter ihr, scheinbar absichtslos, die Worte geflüstert: »Sieh, wenn die letzte Handvoll drauf liegt, dann macht sich die Seele auf ihren Weg.«
»Ja, dann macht sie sich auf den Weg«, ging es ebenfalls durch Hanns Gedanken, denn auch er hatte, ohne daß Line davon wußte, die Worte oll Kusemanns wohl vernommen.
Und zum erstenmal – an dem dunklen Grab – regte sich bei dem blöden Jungen, dem das Lernen versagt war, eine nachdenkliche Frage.
Jetzt sprach er sie aus. Langsam und stockend in den lichten Abend hinein, während unter ihm die Schweine schnüffelten und ganz nahe die Milch in den Eimer klatschte.
»Lining«, begann er, »hast gehört, was oll Kusemann sagte? – Weißt du, was 'ne Seel' is?«
»Nein – laß«, versetzte die Kleine ängstlich und zog an ihrem Kleid. »Aber oll Kusemann meinte ja vorgestern, sie säh' grau aus.«
»Ja, grau sieht sie aus«, nickte der Junge schwerfällig, »denn irgend 'ne Farb' muß sie haben. Schweine sehen gelb aus und Rosen rot, und Seelen werden dann woll grau sein.«
»Vaters Seel' is nu im Himmel«, – sagte Line geheimnisvoll. »Sieh, da oben, wo die rote Wolke geht, da oben sitzt er gewiß und sieht zu, wie hier das Vieh gefüttert wird. Das hat er sonst ja auch immer gemacht. – Meinst du nicht, daß er's da oben gut hat?«
»Das hat er«, bestätigte Hann ernsthaft.
»Woher weißt du das?« fragte Line rasch.
Hann rückte eine Weile hin und her, als getraue er sich nicht recht. Dann beugte er sich vor, warf einen spähenden Blick in den Kuhstall hinein und schob sich endlich ganz dicht an Line heran, so daß die beiden Köpfe sich eng berührten.
Sonst ließ ihn Line nie so nahe heranrücken, ohne die Hand gegen ihn zu erheben.
»Ich weiß, daß er's gut hat«, brachte der Junge scheu hervor und seufzte, als wenn ihn ein Geheimnis drücke. »Aber sieh, du mußt es Paul nicht sagen.«
»Was denn, Hann?«
Wieder ein schwerer Atemzug, dann rasch: »Ich hab neulich in den Himmel reingekuckt.«
»Du?«
»Ja, ich.«
»Womit?«
»Oll Kusemann hat in seinem Wetterhaus ein Rohr. Damit kann er in den Himmel kucken. Und da hat er es mir auch gezeigt.«
»Hann – Hanning, und was hast du da gesehn?«
»Lauter Glänzendes, das so hin und her zieht, und dann solche grauen Punkte, die fliegen überall herum. Das sind die Seelen. Oll Kusemann hat es mir ganz genau erklärt.«
»Hann –«
Line zögerte einen Moment. Dann schlang sie ihren Arm in den seinen. Die Frage war zu wichtig.
»Hast du auch den lieben Gott gesehn?«
Hann zögerte und seufzte wieder.
Es fiel ihm zu schwer.
»Hann, was tat der liebe Gott?«
»Line – ich darf nicht drüber sprechen. Oll Kusemann hat es mir direkt verboten. Aber« – er wälzte sich seine Last ab – »du sollst es wissen. Der liebe Gott sitzt an einem großen goldenen Tisch und um ihn herum lauter graue Seelen.«
»Und was machen sie da?«
»Da essen sie Mittag.«
»Mittag? Jemine, essen die da oben auch?«
»Jawoll – – die Schüsseln und Gläser hab' ich genau erkannt. Oll Kusemann sagt, die wären all' von Sonnenschein.«
Line starrte ihn an.
»So schön is es da oben?« fragte sie endlich. Begierig hob sie die Augen zu den großen roten Flecken empor, die sich allmählich silbern ränderten.
Es wurde immer dunkler. – Plötzlich schrie Line auf.
»Line, was is?«
»O da oben!« rief sie und legte schaudernd den Kopf auf das Dach des Kobens. Sie zitterte.
Deutlich hatte sie den alten, toten Lotsen geschaut, wie er in seinem roten Schiff über sie hinfuhr. Dabei hatte er »Line« gerufen – ganz deutlich »Line«. Jetzt hob auch der Junge das Haupt. Dann nahm er die Mütze ab und grüßte nach oben.
»Ich hab' ihn auch gesehn«, flüsterte er dabei.
Für eine Weile herrschte tiefe Stille zwischen den Kindern. Erst nach einiger Zeit nickte Hann ernsthaft vor sich hin und legte den Zeigefinger an seine plumpe Nase: »Ich hab's mir gleich gedacht«, sprach er, »daß er nun da oben als Schiffer angestellt is. Ich möcht' auch gern einmal in solch schönem roten Schiff fahren.«
»Möchtest du denn auch schon dahin?« fragte Line frierend vor Furcht und schüttelte die schmalen Schultern.
»Da kommen alle Menschen hin, die hier unten nicht gesessen haben.«
»Und die gesessen haben?«
»Die kommen zum Teufel. – Oll Kusemann hat ihn erst neulich in Stralsund getroffen. Er trug einen Zylinder.«
»Nein, nein«, zitterte Line und nahm rasch Hanns Hand in die ihre.
Sie hielt ihn ganz fest.
Aber nach ein paar Augenblicken sprach Hann nachdenklich weiter: »Das hat der liebe Gott schlecht gemacht.«
»Was, Hann?«
Immer näher drängte sie ihre zitternden Glieder an den Jungen heran.
»Daß er nicht gleich lauter Seelen gemacht hat. Dann brauchte man nicht erst in solch engen, schwarzen Kasten, und die Begräbniskosten wären auch nicht da – und man hätte gleich eine Anstellung in so einem feinen, roten Schiff.«
In diesem Moment ging ein Windstoß durch die Bäume. Altes Laub flog den Kindern um die Ohren, und eine der Kühe nebenan stieß ein wehklagendes Brüllen aus.
Da durchdrang das kleine Mädchen ein überwältigender Schrecken. Heftig, wie sie war, glaubte sie, Hann wäre an allem schuld. Und während sie ihn mit aller Kraft in den Arm kniff, so daß er einen heiseren Schmerzensruf ausstoßen mußte, schrie sie wild auf: »Du Dummerjahn – bloß hier unten bleiben – ich will nich solch ein Gespenst werden – nein, nein, ich will nich grau sein.«
Heftig sprang sie auf den zottigen Hofhund zu, den sie schutzsuchend umklammerte. Und Pluto, der Hann nicht leiden konnte, heulte wütend nach dem Dach des Schweinekobens hinauf und fletschte die Zähne nach dem Jungen.
So hob über den Schweinen die Geburtsstunde eines Philosophen an. In dem Kuhstall daneben aber wurde zu derselben Spanne Zeit das Schicksal entschieden, das alle, die sich jetzt in dem Lotsenhäuschen befanden, aneinanderketten, verwirren und dann auf ewig trennen sollte.
Im Abendglanz lachte dazu von fern die See, die sich doch einmal zwischen die Schuldigen legen sollte, unschuldig wie ein kleines Kind, das in azurner Wiege geschaukelt wird.
Der Bootsmann Dietrich Siebenbrod lehnte am Pfosten des Kuhstalles und beobachtete, wie die Witwe seines Brotherrn die Kühe melkte.
Der leichte Seewind spielte mit den Enden des ihm so ungewohnten Bratenrockes, und unter dem wolligen Zylinder, der noch immer sein Haupt bedeckte, fühlte sich Siebenbrod feierlich angeregt.
Deshalb sprach er auch kein Wort, sondern horchte mit Ernst auf das Einströmen der Milch.
»Strull – strull«, ging es gleichmäßig fort.
Da schlug vom nahen Kirchturm die Uhr, deren goldene Buchstaben in der Abendsonne gleißten und funkelten.
Die entscheidende Unterhaltung begann. Erst harmlos und ungewollt, wie fast alle großen Ereignisse.
»Acht«, sagte Dietrich Siebenbrod, und nachdem er seine sogenannte Warmbieruhr gezogen hatte, setzte er hinzu: »Nu is der Herr all sechs Stunden begraben.«
»Ach, Gott!« –
In das »Strull-strull« mischte sich ein Schlucken, man hörte das Rascheln des frischen Heus, das von den Kühen aus den Raufen gezogen wurde, und dann rann die Milch wieder stoßweise in den Holzeimer.
Nach einer Pause der Sammlung fuhr Siebenbrod fort: »Der Lotsenkapitän aus Göhren war auch beim Begräbnis.«
Und die melkende Witwe antwortete seufzend: »Ja, ja, sie haben meinem sel'gen Mann alle viel Ehr' angetan.«
Darauf zog sie mit der Linken ihr Taschentuch hervor und führte es an ihre weinenden Augen, mit der Rechten melkte sie fürbaß.
»Den Lotsenposten bekomm' ich nich«, sprach Siebenbrod ruhig weiter – »Der Kapitän hat gesagt, es is wegen ...«
»Den Schnaps«, tönte es aus dem Stall – »ja, ja Siebenbrod, das is nich recht von Ihnen.«
»Jetzt gewöhn' ich mir ihn aber ab«, unterbrach der Bootsmann mit festem Entschluß.
»Is das sicher?«
»Ganz sicher.« – –
Die Witwe setzte den vollen Eimer beiseite, jedoch bevor sie den andern heranzog, wandte sie ihr ältliches, vergrämtes Gesicht der Stallöffnung zu. Dann betrachtete sie den Bootsmann aufmerksam, brach aber sofort, kopfschüttelnd, in ein leises Weinen aus: »Ne – ne, – es is zu slimm.«
»Was? – Frau Klüth.«
»O nix nich – Siebenbrod – ich meinte man so.«
Damit machte sie sich an die letzte Kuh.
»Strull – strull.«
Siebenbrod rührte sich. Er hatte sich in der Nacht vorher alles überlegt. Es ging nicht anders. Er mußte es tun.
»Frau«, begann er und nahm vor der Wichtigkeit des Moments den Hut in beide Hände: »Ich wollt' nun noch fragen, wie es mit mir wird?«
»Mit Ihm?«
»Ja, da ich ja nun den Lotsenposten nich bekomm, und da das mit der Pension wohl auch man dumm's Zeug von oll Kusemann is, so wollt ich man fragen, wie ich mich von nu an gehaben soll?«
»Je, Siebenbrod, wie mein lieber Mann gesagt hat – dann wollen wir es in Gott's Namen mit der Fischerei versuchen. Man muß doch leben. Und vier Kinder sind auch nich leicht durchzubringen.«
»Je, das sag' ich man. Aber – aber, Frau, nehmen's nich übel – ich bin doch nu auch all siebenunddreißig Jahr alt.«
»Je, was meint Er damit?«
Die Witwe melkte hastiger, so daß die Kuh ein wehklagendes, mißbilligendes Brummen ausstieß.
Siebenbrod überzählte noch einmal die Kühe, dann sagte er ruhig: »Je, es is man wegen den Zesnerfischern.«
»Was wollen die, Siebenbrod?«
»Strull – strull.«
»Je, Madamming, nehmen's nich übel – aber sie nehmen keinen Unverheirateten auf.«
»Huch«, rief die Witwe tief erschrocken.
Was der Bootsmann da vorbrachte, bedeutete ja eine Gefahr für das verwaiste Häuschen. Ein Fremder würde sich ihrer sicher nicht annehmen, und die paar Groschen, die ihr armer seliger Mann erübrigt hatte, ja, du lieber Gott, die reichten gerade für ein halbes Jahr.
»Strull – strull.«
Und dann das Studium von Paulen – und Bruno mußte erst Kaufmannslehrling werden (Ladendiener nannte es Frau Klüth). Gott – o Gott, die offenste Angst sprach sich in dem ältlichen, so merkwürdig glatten, ausdruckslosen Weiberantlitz aus. Und wenn nun Siebenbrod sie auch noch im Stich ließ? Vielleicht besaß er bereits eine Braut? Ja, dann saß sie ja ganz hilflos mit zwei alten Booten und vier unversorgten Menschen da!
Was war hier zu tun? Sie wurde sehr nervös, und ihre Gedanken schwenkten immer rechnender von dem Toten zu dem Heute zurück.
»Hat Er denn schon eine?« begann sie plötzlich überstürzt, und als Siebenbrod ein wenig verlegen vor sich hinnickte, setzte sie halb weinend hinzu, warum er das denn nicht schon früher geäußert hätte.
An der Kuh wurde lebhaft gerissen. Schmerzlich brüllte das Tier auf. –
»Muh!«
»Je, Madamming«, sagte Siebenbrod schon etwas sicherer, »ich dacht mich auch, es hätt' bis nach dem Begräbnis Zeit.« Und während er den wolligen Zylinder etwas langsamer drehte, fügte er noch ehrbarer bei: »Denn vorher schickt sich das doch wohl nich gut?«
»Ach, mein Gott!« murmelte die Witwe.
Dann trat Stille ein.
Eine lange, feierliche Schweigsamkeit, während welcher das Strull-strull immer langsamer auftönte, um endlich ganz zu verstummen. Auch Siebenbrod versank wieder in seine würdige Ruhe. Nur daß er jetzt den Zylinder aufsetzte, als hätte dieser seine Dienste verrichtet, und daß er aufmerksam in die Ecke des Kuhstalls hinüberlauschte, von wo einige schwere Seufzer laut wurden. Auf einmal sprach aus der Dunkelheit eine traurige Stimme: »Siebenbrod, will Er sich denn wirklich das Trinken abgewöhnen?«
»Je, Madamming, seit drei Tagen all keinen Tropfen mehr. Nich rühr an.«
»Das is gut«, lobte die Witwe und fiel wieder in ihr früheres Grübeln.
»Ja«, fuhr Siebenbrod nun schon beruhigter fort, »und die beiden Ältesten gehen ja nun aus dem Haus, und Hann lern' ich an, und wenn dann die lütte Dirn auch erst in die Stadt kommt, je, dann werden wir ganz gut fertig werden, Madamming.« Und die Witwe nickte in ihrer festeren Ecke und murmelte in sich hinein: »Ja, ja, Siebenbrod, das is ja soweit ganz richtig.«
»Je, Madamming, und dann freu' ich mich auch, daß alles so schön in Ordnung is. – Denn ich bin nu auch all in die Jahren. Lassen Sie man, ich werd' Sie die Eimers raustragen helfen.«
Von der Dorfuhr schlug es neun. Ein weiches Abenddunkel sank auf Moorluke. Auf den beiden schlanken Pappeln vor dem Häuschen hatte sich eine schwarze Wolke junger Stare niedergelassen und zwitscherte hundertstimmig Braut-, Wander- und Jugendlieder.
Und der alte Klüth ruhte jetzt doch bereits die siebente Stunde.
An einem der nächsten Tage – noch wußten die Kinder nicht, was im Kuhstall beschlossen war – wurde Hann ins bürgerliche Leben eingeführt.
Er lag gerade mit Line auf einer der schönen grünen Wiesen, auf denen Moorluke gebaut ist, und die sich bis zum Meer hinunterziehen. Die letzten Gräser biegen und wiegen sich über den sanften Wassern und flüstern mit den Stichlingen. Manchmal schießt auch ein rotkäppiger Barsch heran, beißt vor Lebenswonne in die schwanken Halme und saust wieder in die schillernde Weite zurück. Hann wußte das alles.
Er fühlte es, wenn er es auch nicht sah. Seine Umgebung war das einzige, was er gelernt hatte, und was ihm vertraut war.
Da, wo das Gras am höchsten und üppigsten grünt, da liegen die beiden Kinder.
Line ruht auf dem Rücken. Um sie herum wehen wunderbar feine, seidig-graue Gespinste. Es sind die zarten Heringsnetze, die aus meerblauer Seide geknüpft sind, damit sie mit der Seefarbe übereinstimmen und den scheuen Silberflößler nicht erschrecken. Jetzt sind sie zum Trocknen aufgehängt. Wenn der leichte Seewind zuweilen an sie rührt, dann zittern sie so seltsam um das Dirnchen, wie ungeheure, phantastische Spinnenwebe, in denen sich ein Nixenkind gefangen.
Es ist Vormittag.
Ringsherum Sonnenschein.
Das Meer funkelt wie ein weißgedeckter Tisch, auf dem eine Million in Goldstücken aufgezählt liegt.
»Line«, sagt Hann, der in seinem abgetragenen, blauen Drillichanzug in einiger Entfernung von ihr liegt und, den plumpen Kopf in beide Hände gestützt, aufmerksam einen wimmelnden Ameisenhaufen betrachtet: »Hast du wohl acht gegeben – – –«
»Still«, unterbricht Line unwillig.
»Ich mein', daß Dietrich Siebenbrod nun ümmer bei uns zu Tisch ißt?«
Wieder eine heftige Bewegung der kleinen Hand: »Sei ruhig.«
»Je, warum?«
»Weil ich da oben raufkuck.«
»Lining, siehst du was?«
»Nein – aber es is so häßlich, wenn du sprichst.«
»Oh, Lining, warum is das so?«
»Das weiß ich auch nich. Es is häßlich.«
»Je, dann kann ich ja auch ruhig sein.«
»Das tu. Dann kommt es wieder.«
»Was kommt?«
»Das Schöne.«
»Welches Schöne?«
»Dummer Jung. – Als wenn mich einer streichelt.«
»Oh, Lining – –«
»Sei still.«
Und nun liegen sie beide wieder wie vorher. Die feinen blauen Maschen zittern und beben, und die fleißigen Ameisen rennen auf ihrem Hügel im Kreise.
Allmählich vergißt Hann, wie die kleine Pflegeschwester ihn schlechter als Pluto, den Hofhund, behandelt. Aber das ist ja schließlich auch so natürlich. Sie ist so viel vornehmer als er. Auf einer untergehenden schwedischen Bark ist sie gefunden worden. Vielleicht stellt sie wirklich was sehr Hohes vor. Am Ende gar eine Prinzessin. Ja, ja, und solch eine, die muß wohl so kurz angebunden sein. Das hat er ja immer gehört.
»Na, denn is es ja ganz in Richtigkeit«, meint Hann vor sich hin.
Damit wendet er sich wieder seinem Ameisenhaufen zu und beugt sich tiefer und tiefer darüber.
Wie die Tierchen alle beladen herumrennen. Ganze Züge in einer Richtung. Das ist sehr wunderbar. Der Junge denkt zum erstenmal darüber nach.
Da fällt unvermutet ein langer Schatten über den grünen Plan. Er gleitet langsam näher.
Line erhebt sich halb, blinzelt nach vorn und sagt wegwerfend: »Da kommt Dietrich Siebenbrod.«
»Ja, Lining«, antwortet Hann, »leiden kann ich ihn auch nicht recht.«
»Du auch nicht?«
»Ne, er spuckt ümmer in die Stuben.«
»Ja, ja – wollen ihn heute mal recht ärgern«, regt Line an.
Und Hann ist gänzlich damit einverstanden. Ganz selbstverständlich. Er ist immer nur der Gefolgsmann seiner Dame.
Der Bootsmann steht nun in seinen großen Wasserstiefeln vor ihnen.
Er hat ein gutmütiges, hageres, dunkelbraungebranntes Gesicht, glanzlose, schwarze Augen, eine große Menge schwarzer, schweißnasser Haare und eine glühende Adlernase.
Als er so vor ihnen steht, sieht er mit Vergnügen auf die schlanken, nackten Beinchen von Line herab, die in der Sonne seidig glänzen.
Die kleine Dirn findet er niedlich. Auch Hann mag er leiden. Nur hält er es an der Zeit, daß aus dem Jungen etwas wird. Überhaupt, seit aus dem Kuhstall die Zukunft ihn, wenn auch nur mit einem alten, unbeweglichen Weibsantlitz angelächelt, ist er von väterlichen Gefühlen beseelt.
Verwundert blickt er auf die beiden Kinder hinab, die so stumm daliegen, als wäre er gar nicht vorhanden. Nur Line schlenkert ein wenig mit dem rechten Bein hin und her, als schlüge sie damit den Takt zu einem Liedchen. Hann dagegen starrt unbeweglich in seinen Ameisenhaufen.
»Morgen«, beginnt Siebenbrod gemütlich, denn der Sonnenschein, die Kinder und das Gesumm der Käfer wecken Wohlgefallen in ihm.
»Aber ja nicht antworten«, »Man jo nich« – Auf keinen Fall; das ärgert den Säufer sicherlich.
Die kleinen Boshaften verhalten sich mäuschenstill.
Siebenbrod wundert sich, sperrt den Mund auf und faßt sich an die Nase.
Die Stille, das Schweigen, das seltsame Benehmen verwirren ihn sichtlich.
Wozu tun das die Jören?
»Was gibt's denn?« räuspert er sich endlich, indem er sich zusammennimmt. »Was is hier?«
Stille.
Nur Line summt mit den Käfern um die Wette und dirigiert das Konzert immer geschickter mit dem Fuß.
»Na, da soll doch«, bricht Siebenbrod, noch immer voller Erstaunen, los, denn an einen Kinderhaß, an eine Rebellion denkt er noch lange nicht. – Auch geht ihn die Dirn schließlich nichts an, ist zudem auch 'n netter Racker.
»Jung, bist du dumm? – Was kuckst du so in den Haufen? Steh gleich auf!«
Line wendet das Köpfchen und schielt zu ihrem Begleiter hinüber. Aber der bleibt fest. Er ist stolz, sich vor seiner Dame einmal zeigen zu können.
Er rührt sich nicht.
»Hann!« brüllt Dietrich plötzlich kirschrot, denn er begreift, und die Nase beginnt so merkwürdig zu zittern und zu funkeln, daß beide Kinder in ein befriedigtes, höhnisches Gelächter ausbrechen.
Siebenbrod reißt den Jungen in die Höhe: »Verfluchtiger Lümmel, willst du woll?«
»Laß los«, schreit Hann wütend dagegen. Aber die Habichtkrallen des andern geben ihn nicht frei. Sie wirbeln ihn vielmehr im Kreise umher, wie ein altes Kleidungsstück, das von dem Trödler von allen Seiten betrachtet werden soll.
Entsetzt springt jetzt auch Line in die Höhe.
Das bedeutet keinen Spaß mehr. Dietrich ist gewiß wieder betrunken.
»Laß ihn los«, will auch das kleine Kind rufen, aber der Laut bleibt ihr in der Kehle stecken.
Starr, gebannt, mit weiten, erschreckten Augen muß sie das Begebnis mit ansehen.
Das wickelt sich jedoch unheimlich schnell ab.
Siebenbrod wirbelt den Haufen Kleider noch zwei-, dreimal mit wütender Kraft herum, dann wirft er ihn ins Gras.
»Da lieg.«
»Was? – Was?« – heult Hann, halb vor Wut, halb vor Schmerz. »Was hast du mir zu sagen? – du oll Säufer? – Nichts – du büst ja man bloß unser Bootsmann, unser Knecht.«
»So«, lacht Siebenbrod höhnisch, »dann komm noch eins her, mein Hühning.«
Wieder streckt er die Klaue aus. Hann, rasend mit weißem Schaum vor dem Mund, entgeistert von der Scham, vor seiner Dame mißhandelt zu werden, hebt einen großen Feldstein in die Höhe – und dann – der arme Junge. – Er ist kein David, der den Goliath zerschmettert.
Mit wilden, funkelnden Blicken verfolgt Line nun das sich aufrollende Bild.
Hinten auf den blauen Hosen hat Hann einen grauen Flicken eingenäht. Der glänzt jetzt in der Sonne, als er über dem Knie von Siebenbrod liegt, und gerade auf diesen Fleck prasseln die flachen Hiebe des Bootsmannes hageldicht nieder.
Immer mehr – immer mehr – bis der Schall selbst das Schlucken und Schluchzen übertönt.
»Wart, mein Hühning, wirst du das wieder tun?«
»Nein – nein«, wimmert es.
»Na, dann verbitt' dich.«
»Oh – oh – ich verbitt' – mich.«
»Na, denn 's gut – Und nu gib mich die Hand, mein Söhning.«
Hann schleicht heran und gibt tiefgesenkten Hauptes die Finger.
»Na, dann 's gut – Nu is alles in Ordnung.«
»Oh – und oh – und oh – Line – Line – hat es gesehen.«
Da steht er im Sonnenschein, mitten auf dem zertretenen Ameisenhaufen, und schluckt und zittert am ganzen Leibe. Und ihm gegenüber verharrt noch immer das kleine Mädchen und sieht auf ihn hin.
Aber merkwürdig.