Ada Christen: Jungfer Mutter. Roman
Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Rudolf Krziwanek, Fotografie von Ada Christen
ISBN 978-3-8430-8572-4
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-8000-2 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-9369-9 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: Dresden (Heinrich Minden) 1892.
Der Text dieser Ausgabe folgt:
Ada Christen: Das Haus zur Blauen Gans. Erzählungen und Gedichte. Herausgegeben von Hanna-Heide Kraze, Berlin: Union Verlag, 1964.
Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.
Die Geschichte, wie die Walter Hanni eine alte Jungfer geworden ist und warum sie von den Leuten in der Blauen Gans Jungfer Mutter genannt wurde, ist nicht so leicht und schnell zu erzählen, als man meinen könnte, daß sich ein armes kleines Leben erzählen läßt. Sie wundert sich heute noch, wenn man ihr sagt, daß sie viel erlebte, denn so eigentlich weiß sie nur, daß sie immer fleißig gearbeitet hat.
Sie ist vor der Zeit schneeweiß und alt geworden und hat nie eine andere Freude gehabt als ihr Kind.
Ihr Kind war der eheliche Sohn ihrer Jugendfreundin, der Weis Leni, welche sich längst Madame Madeleine Weis nennt. Der kleine Ziehsohn der Hanni wurde nach seinem Vater Leopold Weis getauft und wußte seit seinem zehnten Jahre, daß sein Vater sich ein Taschenmesser in das Herz stieß und zu Füßen seines wunderschönen Weibes starb. Sooft der kleine Polderl seine »Frau Mutter« sah, ging ihm das, was er gehört, durch den Kopf, mehr als einmal wollte er sie fragen: Warum? – aber er getraute sich nicht, sie war so schön und sah so vornehm aus und redete wenig mit ihm. Niemand konnte oder wollte ihm die ganze Geschichte von dem Tode seines Vaters erzählen.
»Wenn du groß bist und alt genug dazu, wirst schon alles hören«, tröstete ihn seine Ziehmutter, die Hanni, wenn er ihr vorgreinte davon.
Der kleine Weis Polderl wußte auch nicht, daß sein sterbender Vater ihn als heiliges Vermächtnis der Hanni hinterlassen hatte und daß die Leni, seine »Frau Mutter«, ihn der Hanni nur zugeschickt hatte, weil der sterbende Mann dem Weibe in der wilden, lustigen Art drohte, er werde aus seinem Grabe aufstehen und sie allnächtlich als kohlschwarzer Mann schütteln und beuteln, bis ihr die Seel halb aus ihrem wunderschönen heiligen Leib fliege, wenn sie den letzten Willen nicht erfüllen sollte.
Die Leni war und ist immer eine ehrbare, tugendhafte, fromme[83] Frau und so felsenfest überzeugt von der dies- und jenseitigen Nichtsnutzigkeit ihres Ehemannes, daß sie an seinen nächtlichen Ausflügen nach dem Tode niemals zweifelte. Sie ließ auch darum gleich am nächsten Morgen das Kind zu ihrer »falschen Freundin« tragen und dem Toten ein teures Begräbnis bereiten. Bald stand auch auf seinem wohlgepflegten Grabe ein Kreuz von Stein, und jedes Jahr ließ sie an seinem Todestage eine Seelenmesse lesen. Gewissenhaft kleidete sie sich ein Jahr in schwarze und ein zweites in graue Gewänder, und sie war in der schlichten Trauertracht mit ihrem goldroten Haar schöner als jemals.
Der Sohn der Leni blieb also bei seiner Ziehmutter, die er, als er erst reden konnte, »Frau Mutter« nannte, wie die anderen Kinder es zu ihren Müttern sagten, obwohl es altmodisch war. Da gab es aber ein großes Entsetzen in der Blauen Gans, aus Respekt vor der Leni wurde es ihm gelinde verwiesen und ihm eindringlich erklärt, seine rechte Frau Mutter habe ihn nur »dem Mädel« – der Hanni – zum Aufheben gegeben; denn die Hanni sei gar keine Frau und werde keinen Mann nicht kriegen und eine alte Jungfer werden!
Von der ganzen wohlmeinenden Auseinandersetzung behielt das Büblein das, was er oft gehört hatte: »alte Jungfer«, und Gott weiß, wie er sich das in seinem Köpfchen zurechtrückte, aber er nannte von da ab die Hanni »Jungfer Mutter«. Erst wurde der Titel von den Nachbarn spottend wiederholt, als jedoch die Kinder ihn stündlich lallten und schrien, bürgerte er sich ein, und das alte Mädchen heißt nun schon seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr anders unter den Leuten, die sie kennen.
Gleich nach dem Tode ihres Mannes wollte die Leni den Unterhalt ihres Sohnes bestreiten, aber da erwies sich die falsche Freundin zum erstenmal im Leben ihr gegenüber widerspenstig. Sie nahm keinen Kreuzer und ließ die Frau Mutter des Polderl nur um zwei Dinge bitten: Zuerst, daß sie die alte Einrichtung der Wohnung behalten dürfe für ihren Ziehsohn, als Erbschaft von seinen Urgroßeltern, Großeltern[84] und Vater, und dann, daß die Frau Mutter das Geld für den Polderl in die Sparkasse legen möchte bis zu der Zeit, in der er ein Handwerk lernen müßte. Dabei blieb es.
Der Polderl wurde ein Poldl, ein Leopold endlich, als er die Kunstschlosserei erlernt hatte, aber seine »Jungfer Mutter« hatte von seiner »Frau Mutter« noch immer kein Geld genommen. »Ich laß mich derweil recht schön bedanken, ich kann derweil gar nichts brauchen für unsern Buben«, war immer die gleiche Antwort.
Als der Poldl Soldat werden mußte, kam wieder eine sauber geschriebene Anfrage, ob denn der Sohn jetzt nichts brauche in dem neuen Stande. Da ging die Hanni in das Stübchen des Advokatenschreibers, der auch ein heimlicher Maler und Dichter war, Virgilius Stramirisko hieß, der Kürze wegen aber der »einsame Spatz« genannt wurde. Nur in besonders wichtigen Dingen ging die Hanni zu dem alten Herrn, dessen rosiges glattes Gesicht nicht zu seinen fünfundsechzig Jahren und seinen schneeweißen Locken passen wollte.
»Ich bitt, Herr ei ...«, sie mußte schnell den einsamen Spatzen schlucken, so gewohnt war sie ihn, »Virgilius, schreiben Sie mir an meinen Sohn seine Mutter, aber gelten's, Wort für Wort, wie ich's Ihnen vorsag?«
»Ja, Jungfer Mutter«, sagte er fein lächelnd und setzte sich zurecht.
Die Hanne streifte mit beiden Händen über ihre Schürze, räusperte sich und begann:
»Frau Magdalena Weisin!
Ich danke dir für deinen guten Willen, aber derweil ist kein Geld nicht notwendig, die selige Großmutter vom Poldl hat seinem gottseligen Vatern auch nichts mitgeben können als ihren Segen, und um den tät ich dich für unsern Sohn recht schön bitten, den einen Segen von mir hat er eh' schon, kriegt er deinen dazu, so hat er zweimal so viel als sein gottseliger Vater kriegt hat. Indem ich dir die beste Gesundheit wünschen tue, schließe ich mein Schreiben und danke dir mein Lebtag.
Mit Achtung Johanna Walter.«[85]
Die Frau Mutter legte den Brief hübsch zu manchen andern und wartete mit ihrem Segen, bis der Leopold kam und ihn holte und damit versehen nach Bosnien marschierte.
Für die »Jungfer Mutter« begann eine schwere Zeit, aber sie hielt sich aufrecht und still wie allzeit. Sie saß am Fenster bei ihrer längst neumodischen Handmaschine und dachte an den fernen Sohn ...
Ach, wie oft tauchte sein Vater, der tote Leopold, vor ihr auf ... der hatte nur einen Arm mit heimgebracht von Italien; sie dankte Gott demütig, daß ihr Poldl noch mit zwei Armen Krieg führte in Bosnien.
Jeden Abend fuhr sie mit leichter Hand über die alte Wiege, die noch bei ihrem Bett stand, genau wie vor fünfundzwanzig Jahren, als das Kind immer neben ihr schlief.
Fünfundzwanzig Jahre!
Heute ist sein Geburtstag, und heute soll er heimkommen aus Bosnien, das hat er seiner Jungfer Mutter sogar von der vorletzten Station noch telegrafiert. Die ganze Blaue Gans lief zusammen über das Ereignis – ein Telegrafenbrief!
Und nun sitzt sie am Fenster, wartet und murmelt vor sich hin: »Ob er daran denkt, daß heut sein Geburtstag ist?« Sie läßt die Hand von der Maschine gleiten, hält den Atem ein und lauscht.
Ein kleines, blondes, zerzaustes Mädel kommt zum Fenster gesprungen und plappert hastig: »Laß mich die schönen Blumen sehn, Jungfer Mutter, für den Leopold sein's, gelt?« Sie steckt das Köpfchen ins Fenster, bläht die feingeschwungenen Nüstern, schnuppert und guckt hastig um und um wie ein Eichkätzchen.
Die Hanni lacht.
»Wart nur, bis mein Sohn wieder da ist, dann zeig ich dir alles.«
»Ja – nein – aber, weißt, die Laternenanzünder-Godel erzählt's schon allen großen Leuten, daß 's den Rosenbuschen von seiner Frau Mutter g'sehn hat, und alle Kinder haben ihn unterm Haustor g'rochen, gleich wie ihn der Dienstmann bracht hat,[86] mit ein' seidernen Papier! Das seiderne Papier will ich aber auch sehn!« schreit sie herausfordernd und springt wieder davon.
Die alte Jungfer streicht ihre Scheitel zurecht, glättet ihre frische Schürze und schaut wieder auf den Torbogen. »Er müßt schon da sein, der Eisenbahnzug ist gewiß in Wien ... wenn er keine Verspätung hat«, fügt sie in Gedanken bei.
Sie soll ihm nicht auf dem Bahnhof entgegenkommen, hat er sie in seinem letzten Briefe gebeten, nicht unter den vielen Leuten, die sie hin und her stoßen, weil sie sich nirgends auskennt, sie soll ihn nur zu Hause erwarten und sich keine Sorgen machen, wenn er etwas später kommt.
Und sie wartet ... wartet ... wartet.
Sie sucht die Zeit hinzubringen, wie es nur angeht. Sie hat viel gearbeitet, gebetet, mit den Nachbarn geplaudert, die sich zu ihrem Fenster stellten, sie hat sogar gesungen! Alle die lustigen und empfindsamen Wiener Lieder, die er als Kind mit[87] ihr zwitscherte, und so ist der Tag hingegangen, sie aber lauscht und wartet.
Draußen im Hof verklingen die schrillen Kindersrimmen, der Tageslärm erstirbt, und der Herbstabend fällt ein, schnell, düster, wie von dem wimmernden Wind heruntergedrückt, der noch in der Höhe saust. Jetzt fährt er schon über die Dächer, mit einmal aber stürzt er sich herab, springt durch den Hof und jagt pfeifend alle Papierfetzen, Taubenfedern, Haarbüschel und wirren Kram vor sich her, erwischt die Brunnenstange und schüttelt sie, daß sie wie ein Uhrpendel hin und her baumelt und angstvoll knarrt. Da schlurft ein Mensch über den Hof – hopp! – Der Wind wirft sich über den greisen Laternenanzünder, packt den langen grünen Kittel, zerrt an ihm und bläht ihn auf wie ein Segel. Der Alte stößt atemlos einen Dragonerfluch nach dem andern aus, und der Wind fliegt jählings davon, wieder hoch über die dunklen Hausdächer hinweg.
Seit langer Zeit brennt in dem großen Hof der Blauen Gans das Gaslicht, aber es brennt in so kleinen Flämmchen, daß es schwer zu unterscheiden ist, ob die dünnen Lichter nicht doch verkappte Öllampen sind.
Die junge Brut der Blauen Gans behauptet steif und fest: »Der Laternenanzünder-Göd vernagelt die Gasbrenner, so daß nur ein Viertellicht heraus kann, und nachher schimpft er, daß bei dem ›Luftlicht‹ sich alle Leut die Füß brechen müssen.«
Der alte Mann schleppt seinen Lampenstock bis zu dem Fenster der Hanni; als er ihr blasses verfallenes Gesicht sieht, sagt er gutmütig: »Mußt nimmer warten, Jungfer Mutter, heut kann er nimmer kommen, dein Bub!«
»Aber schau, Göd, der Kaffee ist schon seit drei Stunden fertig.« Dann zupft sie an seinem grünen Kittel. »Du, ein' Gugelhupf hat ihm dein Weib heimlich g'backen, du darfst aber nichts wissen davon, hat's g'sagt, weil du so schmutzig warst und ihm nur drei Packeln Tabak schenkst zum Geburtstag«, flüstert die Hanni, und die beiden nicken sich zu und lachen lustig.[88]
»Seine Frau Mutter hat ihm einen Rosenbuschen g'schickt mit einer seidernen Einfassung! Fuffzig Rosen beieinander auf einmal, mir scheint, man riecht's bis daher, gelt? Und eine Visitenkarte steckt mittendrin, da steht drauf, sagt der einsame Spatz: Mei-nem Heim-gekehr-ten zum Geburtstage. Siehst, sie denkt halt doch an ihn.«
»Mei-nem?!« Der Alte lacht kurz auf. »Bin ich mein Weib«, knurrt er dann, »daß ich aus allem, was die Lenerl zu heiligen Zeiten tut, ein blaues Wunder mach? Was hat er denn von die fuffzig Rosen? Laß anschaun!«
Sie schleppt das große kostbare Bukett zum Fenster, und der Laternenanzünder vergräbt seine lange Nase in die Blumen. »Ah! – ah! Schad', daß man's nicht essen kann! – Der Wind schlägt um, wirst sehn, Hannerl, das wird ein Regen.«
Gravitätisch zündet er die Laternen vor dem Fenster der alten Jungfer an. »Dem Poldl zu Ehren hab ich's ganz aufgedreht«, sagt er feierlich, »aber du wirst's sehen, er kommt heut nimmer. Denkst dran, wie sein Vater heimkommen ist von Italien aus dem Feldzug mit ein' Arm? – Das ist doch recht was Sonderbares, gelt? – Dem armen Kerl sein ganzes Leben hat der Krieg verpatzt, wär er kein Krüppel worden, so wär er ein lustiger glücklicher Mensch geblieben. – Jetzt schau – der Lepold liegt am Währinger Gottesacker, und sein rechter Arm ist in Italien am Schlachtfeld verscharrt« – er wischt sich seinen großen weißen Schnurrbart ab, seufzt nachdenklich: »Wie wird er den Arm nach Wien kriegen bei der Auferstehung des Fleisches?!«
»Hab heut viel an den Verstorbenen denkt und unsern Herrgott kniefällig dankt, daß er mir den Buben als ganzen Menschen z'Haus schickt, g'sund und frisch, wie er fort ist.«
»Hast du's seiner Frau Mutter sagen lassen, daß er kommt?« brummt der Laternenanzünder vorwurfsvoll.
Die Hanni nickt nur freundlich.
»Na, hörst! Und sie? Sie kommt nicht g'rennt und hockt sich daher und wart't auf ihn, gelt? – Da ist sie z'nobel, sie kann's kommoder z'Haus tun«, schreit der Alte entrüstet. »Weißt, ich mag mit der Meinigen nimmer streiten, jetzt sein wir schon[89] zu alt dazu, aber den Magen dreht's mir um, wenn sie die Lenerl so in Himmel hebt.«
»Mußt nicht ungerecht sein!«
»Laß mich aus mit ihr, seit's das Geschäft von der alten Blank, von der Mode-Madam, übernommen hat, tut's ja, als ob's gar nicht mehr reden könnt mit unsereiner. Warum's nimmer g'heirat't hat, sie ist doch allerweil noch eine sehr saubere Person, und jung ausschaun tut's! Von auswendig könntst du ihre Großmutter sein, und ihr seid's doch in ein' Alter?«[90]
»Nein, nein«, sagt die Hanni eifrig, »sie ist um sechs Monat jünger, und nachher hat sie sich halt pflegen können, gut essen und trinken, hat keine schwere Arbeit g'habt, keine Sorgen und keine Kinder!«
Er lacht und lacht, daß seine hagern Glieder schlottern: »Jetzt fehlt nur noch, daß du dir einbildst, du hast ihren Buben geboren, nachher bist ganz verruckt! – Bist und bleibst halt eine alte dumme Urschel!«
Der Laternenanzünder schlurft weiter durch den Hof, und als in dem breiten niedern Torbogen ein dünnes Flämmchen aufblitzt, das er angezündet hat, hört sie noch immer sein vergnügtes überlegenes Kichern.
Die Hanni lehnt den Kopf an das Fensterkreuz und bleibt in dem finstern Zimmer einsam sitzen. Draußen hebt der Wind wieder sachte an, darum zittern und zucken die Gasflämmchen, ihr unsicheres Licht huscht in die große Stube und weckt die Schatten auf, die in allen Winkeln schlafen, sie hasten hervor, fliegen über die Zimmerdecke, rennen an den Wänden hinab, laufen über den Fußboden und flattern über das sanfte Gesicht der alten Jungfer. Die wurmstichigen Kasten krachen und stöhnen, wenn ein Windstoß durch den Ofen hereinschnaubt, und das alte Ledersofa knistert, es steht mit seinen breit ausgespreizten Beinen wie ein schwarzes Ungetüm in der dunkelsten Ecke, und die Lichter hüpfen darüber hin wie gelbe Frösche, sooft der Sturm an der knarrenden Laterne vor dem Fenster rüttelt.
Ein weicher Duft zieht durch die Stube, so süß und eindringlich, daß er die Einsame fast betäubt, sie denkt nicht mehr daran, woher der Wohlgeruch kommt, sie atmet nur tief, schaut zurück in die Vergangenheit ... und es schüttelt sie ein träumerischer Schreck.
Vergangenheit!
Weit, weit liegt sie dahinter mit ihrem unklaren Leid ... Sie sitzt ja schon bald ein Vierteljahrhundert da an dem Fenster und arbeitet für den Sohn des toten Leopold und seiner schönen Frau. Bringt die stille Geburtstagsfeier das holde Gesicht der Jugendfreundin so lebendig vor ihre Augen? ... Die Leni[91] kommt ja niemals da herunter in die Dunkelheit ... die lebt oben im Licht, geehrt, reich, schön, was soll sie da auf dem vergessenen armen Platz?
Sie aber, die Einsame, hat sich diesen Platz schwer errungen durch harte Arbeit, stumme Demut, tiefes Mitleid und grenzenlose Liebe. Ein verlorner Posten sitzt da, dessen keiner gedenkt als er ... Die Vergangenheit versinkt ... Er ... ihr Sohn, ist das Glück und die Zukunft.
Die Rosen duften stärker, die Gewitterluft hat sie erfrischt, und wie jetzt draußen der Regen niederprasselt, tun sie ihre Kelche weit auf, und das Gemach ist ganz erfüllt von schwülem Geruch.
Sie, »das alte Mädchen«, denkt jetzt nur daran, daß die Blumen für ihn da sind, zu seinem Geburtstag auf ihn warten gleich ihr, und sie weiß, daß es ihn zu ihr drängt, daß er auch auf der ganzen weiten Welt keinen lieberen Platz hat als ihr Herz und den Winkel, in dem seine Wiege steht.
In der Küche auf dem Herd sprühen plötzlich die glühenden Kohlen – ein Windstoß tobt durch die aufgeschleuderte Türe, und aus der Finsternis jubelt eine junge gute Stimme: »Grüß dich Gott, Jungfer Murter!«
»Mein Bub! ... mein Poldl! ... mein ... mei!«
Der Ton bricht ab, sie kichert, lacht und lacht, daß ihr die Tränen über die Wangen fließen.
Die zwei blutfremden Menschen halten sich fest umschlungen, eins geworden durch überwundene Leiden, unermeßliche Liebe und eine Treue, die stärker ist als der Tod!
»Warum kommst du denn so spät, mein Kind?« stammelt sie. »Ich hab mir denkt«, und er blinzelt pfiffig nach dem Hof, »ich möcht heut Ruh haben vor unsern Nachbarn. Weißt noch, was du mir oft erzählt hast, wie's mein' Herrn Vattern seckiert haben mit'n Erzähln, wie er heimkommen ist aus'n Feldzug. Ich hab aber mit dir allein sein wollen, Jungfer Murter! Du, was riecht denn so gut bei uns?«
»Jesus ja! Laß den Vorhang runter und zünd's Licht an, ich möcht dich ja sehn als'r Ganzer!«
Er zieht rasch den Vorhang vor und zündet mit einem Griff[92] die Lampe an, sie aber rückt die geweihten Kerzen, die auf dem Schubladenkasten neben dem Christus stehen, vorsichtig näher und steckt sie feierlich an, dann nimmt sie den jungen Soldaten bei der Hand, führt ihn zu dem Kasten und fragt geheimnisvoll: »Weißt, was heut für ein Tag ist?«
»Nein, Murterl, ich hab ja unter den Wilden g'lebt!«
»Alsdann«, sagt sie immer noch sehr feierlich, »dein Geburtstag!«
»Der – meiner Seel!«
»Der noble Rosenbuschen da, der so gut riecht im Zimmer, ist von deiner Frau Mutter, der Gugelhupf da ist von der Laternanzünder-Godel!«
»Hat's recht stark g'weint, wie's ihn g'macht hat, die Frau Patin?« unterbricht er die Hanne in kläglichem Ton und[93] geschraubtem Hochdeutsch, und dann lachen beide gutmütig. »Da sein drei Packeln Tabak vom Laternanzünder-Göden, und da ... zwölf Paar Zwirnsöckeln, die hab ich dir g'strickt bei der Nacht, im Bett, in der Finster, wann ich nicht schlafen hab können und viel hundert Vatterunser für dich bet't hab und für die arme Seel im Fegfeuer, für dein Vattern. Kein Fürscht hat schönere. Und jetzt, jetzt kommt der Oberskaffee!«
Sie sitzen lange beieinander und reden nur von der Zukunft, von dem glücklichen Beisammenbleiben bis an ihr Lebensende.
»Ich bin dir so viel schuldig, Jungfer Murter, daß ich es dir nicht zahlen kann, wenn ich hunderttausend Jahr alt würd«, beteuert er treuherzig und tätschelt die hagern Hände der alten Jungfer in den seinen. »Magerer bist word'n.«
»Ja. Aber akarat wie dein seliger Vatter schaust du aus, so ist er g'sessen auf demselben Sessel, wie er heimkommen ist, und o du mein ... g'nauso hat er an sein' blonden Schnauzbartel zupft ... und hat deine Frau Mutter und mich angelacht.«
»Und so müd war er auch wie ich ... gelt, Murterl? Es ist ein tüchtiger Marsch von Bosnien bis nach Wien, unter Menschen, die wieder eine ordentliche Sprach reden als wie wir jetzt miteinander.«
Sie räumt den Tisch ab und verlöscht die Lichter, als sie aber den Vorhang wieder aufzieht, schaut sie verwundert hinaus in die lautlose Nacht.
»Da schau, wie schön all's worden ist, das klare Mondlicht, die frische Luft und die Stillheit, das tut so wohl ... so wohl ...«
Und nun bettet sie ihr großes Kind auf das breite alte Ledersofa, schüttelt ihm noch einmal die Polster recht hoch und macht ihm genau wie allzeit in seinen Kindertagen das Zeichen des Kreuzes über die Stirn. Nur wie der Schatten eines Lächelns huscht es dabei über seine hübschen Züge, und mehr zu sich selbst sagt er halblaut: »Bin halt noch allerweil für dich der kleine Bub.«[94]
Als sie das Fenster geschlossen hat, schiebt sie den Bettschirm vor ihr Lager und liegt nun still dahinter mit gefalteten Händen, bewegt die Lippen wortlos und horcht auf die Atemzüge ihres Kindes. Er muß ja heute gut schlafen, zum erstenmal wieder daheim nach Jahren. Eine Weile lauscht die Hanni vergeblich, dann hört sie ihn leise reden, wie im Traum.
»Jungfer Murter!«
Sie horcht gespannt, jetzt wieder: »Jungfer Murter!?«
»Was denn, Poldl?«
»Ich kann nicht schlafen, schau, da scheint mir der Mond mitten ins Gesicht – der läßt mich nie in Ruh – b'sonders in den letzten Jahren. Wenn ich auch die Fenster mit Kotzen verhängt hab, ich g'spür ihn doch, und er findet mich. Wenn ich aber doch einschlafen kann, so träum ich allerweil eine Menge durcheinander, drum bin ich schon lieber munter, wenn ich auch schnurgrad ins Mondlicht schaun muß.«
Die Hanni seufzt verzagt und murmelt befangen: »Das hast schon als kleines Kind g'habt, hast's von dein Vattern geerbt, der hat oft lange Reden g'halten im Schlaf, wenn Vollmond war.«
»So – so –?« sagt der Soldat unvertraut aushorchend: »Aber du, ich glaub, die Rosen von der Frau Mutter riechen jetzt noch stärker, oder sein wir das nicht g'wöhnt?«
»Wird schon so sein ... wir werden's halt erst g'wöhnen.«
Die Schwarzwälder Uhr neben dem Bett der alten Jungfer schlägt zwölf. »Gute Nacht«, lispelt die Hanni.
Das Gemach ist wie in bläuliche Schleier gehüllt, das unbewegliche Mondlicht erfüllt es ganz, und die beiden schauen hinaus in den feucht glitzernden Hof und lauschen den heimlich wispernden Stimmen der träumenden Herbstnacht.
»Jungfer Murter, heut war ich fünfundzwanzig Jahr alt, schau, sei gut, erzähl mir, weil du auch nicht schlafen kannst, die G'schicht von meinen Eltern. Jetzt bin ich doch alt genug dazu, daß ich alles wissen kann? – Morgen, wenn ich ausgerast't bin, muß ich nachschauen, wie's der Frau Mutter geht.«
Eine Weile schweigt die Hanni, denn das Herz klopft bleischwer[95] , sie setzt sich in ihrem Bett sachte auf und sagt halblaut verlegen: »Ja, das ist halt schwer ... Wissen tu ich alles ganz genau, aber erzählen kann ich's dir nicht so wie es eigentlich war, so nacheinander. Der einsame Spatz hat sich die ganze G'schicht aufgeschrieben, so, wie ich sie ihm einmal erklärt hab. Dann hat er sie mir wieder vorg'lesen, und es war alles ganz recht, nur so, so halt, als ob er besser gewußt hätt, was wir uns alle miteinander denkt haben. Les' das in Gottes Namen, mein Kind, wenn du eh' nicht schlafen kannst. Im Schubladkasten, in der ersten Lad auf der rechten Seiten liegt das geschriebene Büchel.«
Der junge Soldat zündet die Lampe wieder an, holt sich das Buch, atmet so tief, als ob er den süßen Rosenduft trinken wollte, und beginnt dann zu lesen.
Aus der Chronik der Blauen Gans Niedergeschrieben von Virgilius Stramirisko
Die kleine Walter Hanni war vom Dach gestürzt, als sie dem eben Heimgekehrten, dem Weis Leopold, seinen Kreuzschnabel holen wollte, der davongeflogen war und neben dem hohen Rauchfang saß.