Louise von François

Die Geschichte

meines Urgroßvaters

 

 

 

Louise von François: Die Geschichte meines Urgroßvaters

 

Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Louise von François (Fotografie von Karl Festge in Erfurt, um 1881)

 

ISBN 978-3-8430-9345-3

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9505-1 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9506-8 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: (anonym) unter dem Titel »Aus dem Leben meines Urgroßvaters« in: Europa, Leipzig (Ernst Keil) 1855, Nr. 3; erste Buchausgabe in: Hellstädt und andere Erzählungen, 3. Band, Berlin (Otto Janke) 1874.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Louise von François: Gesammelte Werke, Band 1–5, Leipzig: Insel-Verlag, 1918.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Einleitung

Wenn ich dir, lieber Leser, die Geschichte des alten Bürgers, meines Urgroßvaters, erzähle, so setze beileibe keine tiefsinnige Absicht in mir voraus, keinen großartigen Standpunkt oder kühnen Griff in die Region des Zopftums; nicht eine spirituelle historische Auffassung, eine vaterländische moralische, wohl gar ästhetische Tendenz. Denke ja nicht etwa an einen Nettelbeck oder Lorenz Stark und Wirt zum Goldenen Löwen.

Tu mir das nicht zuleide, guter Leser, verdirb mir nicht die Freude an meinem Urgroßvater; lege lieber seine Geschichte aus der Hand, bevor du sie angefangen hast. Willst du mir aber den Gefallen erweisen, sie anzuhören, so siehe von vornherein in mir nichts als einen Enkel, den es glücklich macht, von dem Werte seiner Ahnen zu plaudern, auch wenn diese Ahnen nur schlichte Bürger eines kleinen Landstädtchens gewesen sind, und von der Geschichte meines Urgroßvaters erwarte nichts als das Leben eines Mannes, der unangefochten bis zum letzten seinen Zopf im Nacken und seinen Gott im Herzen trug.

Sein Bild hängt noch heute über dem Sofa seiner Enkelin, meiner lieben Mutter. Er mochte etwa fünfzig Jahre zählen, als er, wie jeden Sonntagsmorgen nach der Kirche, am offenen Fenster seiner Ladenstube stehend, die städtische Garnison, zwei Kompagnien von Prinz Xaver, zur Wachtparade auf den Markt marschieren sah. Da trat ein junger Mensch an ihn heran, der demütig seinen Hut abzog und schüchtern fragte: Ob Herr Haller nicht geneigt seien, sich von ihm malen zu lassen? Er betreibe diese Kunst.[177]

Ich habe in meines Vorfahren Leben keinen weiteren Zug aufzuspüren vermocht, welcher Neigung oder Eitelkeit eines Mäzen bekundet haben würde. Heute aber: ein rascher Blick auf den bittstellenden Künstler – und er ward's! Der junge, blasse Mensch sah aus wie guter Leute Kind. Wie sorgfältig gebürstet war sein knapper Rock, aber wie abgetragen und fadenscheinig! Wie blank gewichst glänzten die Stiefeln, aber wie bedenklich drohten die Flicken auf den Ballen wieder auszuplatzen! Und das mitten im Januar! Er mochte wohl der Truppe angehören, die seit voriger Woche, nicht wie in der guten alten Zeit in der Scheune des Gasthofs zum Goldenen Scheffel, nein, Gott sei's geklagt! im ehrwürdigen Rathaussaale ihre Schauspiele zum besten gab, in dem nämlichen Saale, wo vor dreißig Jahren David Hallers Hochzeitsfest gefeiert worden war.

Ob es nun die Vorstellung dieses Zeitenwandels bewirkte, oder eine noch weheleidigere Erinnerung, kurzum, eine jähe Röte stieg in meines Ahnherrn Gesicht, und ein Schatten tiefer Traurigkeit breitete sich über seine sonst so freundlichen Züge. Er winkte den Komödianten in die Ladenstube und ward ohne Handeln mit ihm einig um sein Porträt; gleichviel ob in Wasser oder Öl, aber versteht sich in natürlicher Couleur und in voller Figur. Zwei Sitzungen und drei Laubtaler Honorar wurden bewilligt, die Ausführung der Muße des Künstlers überlassen.

Vor Ablauf der Woche war das Bild fix und fertig unter Glas und Rahmen, das Honorar erstattet; aber noch selbigen Abends lohnte der großmütige Bürger extra und heimlich mit einem Paar neuer rindslederner Stiefeln und sechs Ellen vom derbsten, grünen Kalmuck aus seinem Geschäft dem Verfertiger sein wohlgelungenes Stück.[178]

Ich habe mich vergeblich bemüht, etwas Näheres, oder eigentlich Ferneres über diesen doppelter Kunst beflissenen Jüngling in Erfahrung zu bringen; er würde eine interessante Staffage für mein Stilleben abgegeben haben. Denn obgleich ich fast zweifle – ich bin kein Kenner –, ob das werte Familienbild einem Kunstwerk entspreche, da es in ein paar Tagen gefertigt worden ist und im Grunde doch nur drei Laubtaler gekostet hat (Stiefeln und Kalmuck waren ja Geschenk!), so lasse ich mir es nicht nehmen, daß der blasse, junge Mensch ein großer Künstler gewesen oder geworden ist, denn das Bild leibt und lebt.

Gerade so habe ich meinen Urgroßvater fast dreißig Jahre später noch gekannt; gerade so sorgfältig aus der Stirn gestrichen und im Haarbeutel zusammengefaßt das starke, nunmehr auch ohne Puder schneeweiße Haar; genau nach dem nämlichen Schnitt der grüne Pattenrock und die safrangelbe Weste über dem rundlichen Leib; dieselben feingefältelten Busenstreifen, das in den Zipfeln gestickte Halstuch, die goldenen Schnallen an der schwarzen Manschesterhose; die weißseidenen Strümpfe und blanken Schuhe und vor allem dasselbe schöne, volle, ja rosige Gesicht mit dem seelenfreundlichen Blick, gerade so stand er an dem nämlichen halbrunden Fenster seiner Ladenstube und sah die Kompagnien allerdings eines anderen Regiments als des Xaver auf die Wachtparade ziehen, wenn Sonntags früh meine Mutter und ich über den Marktplatz kamen, um seine Mittagsgäste zu sein.

Der alte Herr hatte, soviel ich weiß, eine einzige Liebhaberei: das waren Uhren. Von jeder Leipziger Messe brachte er eine Uhr, in jeder Auktion forschte er nach einer Uhr. Ein Stück Kulturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts[179] hätte ich an den Uhren über und auf dem Schreibpult meines Urgroßvaters studieren können, wenn ich bei seiner Lebzeit nicht noch ein gar zu einfältiges Menschenkind gewesen wäre. Da standen und hingen sie nun alle nach der Größe gereiht und waren also gestellt, daß eine zu schlagen immer anfing, wenn die andere aufgehört hatte. Das Bimmeln war mein Gaudium, Nummer Eins aber, nach der Rathausuhr uns gegenüber gerichtet, der Regulator des Hauses.

Sobald die zwölfte Stunde ausgehoben hatte, stellten wir vier uns hinter unsere Stühle. Der Urgroßvater nämlich, die Großmutter, die Witwe seines einzigen Sohnes, deren einzige Tochter, meine Mutter, und ich, wieder ein einziges Kind. (Obgleich es in diese Geschichte just nicht gehört, will ich beiläufig bemerken, daß der, welchem der fünfte Platz an dem Familientische gebührt haben würde, mein Vater, zur Zeit dieser Erinnerungen beim Kleistschen Besatzungskorps in Frankreich stand und von da ab verschiedentlich das Quartier wechselte, bis er als Landwehrmajor dauernd in meine mütterliche Heimatsstadt versetzt wurde. Was aber die ledigen Gehülfen des Geschäfts und des Gesindes anbetrifft, die beide an Werkeltagen am Herrentische teilnahmen, so tafelten die ersteren sonntägig nach Belieben außerhalb des Hauses, die letzteren unter sich in der eigentlichen Eßstube, die nach dem Hofe hinaus gelegen war. Um der gebührlichen Abwartung dieses Leutetisches willen war der der Familie auch von der elften Stunde in die zwölfte hinausgerückt.)

Also wir standen mit gefalteten Händen hinter unseren Stühlen; der Urgroßvater betete laut, dann verneigten wir uns gegeneinander, setzten uns, und das Mahl begann.[180] Auf zinnernem Gerät nichts als Suppe und Braten; nur an hohen Feiertagen, inklusive der Geburtsfeste der Familie, der noch Lebenden und der Toten, eine Schüssel mehr: gewöhnlich Polnischer Karpfen. Aber wie delikat war alles zubereitet! es zerging einem auf der Zunge. Ach, diese Gänse! Sie wurden auf dem Hofe gezogen; nicht etwa genudelt, das heißt unmenschlich gemartert, nein sattsam gefüttert, ganz nach ihrem gänslichen Belieben. Und dieses Füllsel von Beifuß und Borsdorfer Äpfeln! Kein Enkel ißt wieder solchen Gänsebraten; schon um sein Andenken auf die Nachwelt zu bringen, hätte ich die Geschichte meines Urgroßvaters und seines Hauses schreiben müssen.

Wir tranken auch Wein, alten guten Rheinwein; jeder ein Glas und der Urgroßvater zwei; nie mehr und nie weniger. Sobald der Braten aufgetragen war, stand der alte Herr auf, zog das schwarze Käppchen von seinem weißen Haar, klingte an den grünen Römer und sprach mit lauter Stimme: »Seiner Kurf.... hm, hm! Seiner Majestät dem König!« Unsere Stadt gehörte nämlich zu denen, welche kürzlich nach dem Frieden einem gewissen Kurfürsten genommen und einem gewissen König abgetreten worden waren. Schon hatte sich die Jugend an den letzteren und an den Staat, welchen er repräsentierte, angeschlossen; die Alten aber, und mein Urgroßvater unter ihnen, hingen vor wie nach an dem, der ihr guter Kurfürst geblieben, auch nachdem er dem Namen nach ein König geworden war, dessen Haar sich mit dem ihren gebleicht und der so vieles erduldet und verloren hatte. Sein Leben lang hatte David Haller mit jedem ersten Tropfen, der seine Lippen benetzte, die Gesundheit Seiner Kurfürstlichen Gnaden getrunken; nun wurde es ihm herzlich sauer zu sagen: Seiner[181] Majestät dem König! Aber: »Alle Obrigkeit ist von Gott«, darum schluckte David Haller die alte Liebe hinunter und tat seine Schuldigkeit in diesem wie in jeglichem Stücke.

Die Tafel war aufgehoben, die Danksagung laut vom Urgroßvater gesprochen; wir wünschten uns eine gesegnete Mahlzeit. Die Großmutter, selber schon nahe den Sechzigern, knickste bis zur Erde und küßte dem Herrn Vater ehrerbietig die Hand. Wie aber die Zeiten sich geändert hatten, daß sah man wieder einmal deutlich an dem Mahlzeitsgruße meiner lieben Mutter. Die schlanke, holdselige Frau mit den sanften, schwarzen Augen umarmte den Greis und sagte lächelnd: »Wohl bekomm's Ihnen, Väterchen!« Und gar ich, ich nannte ihn du und Papa, kletterte auf seinen Schoß, zupfte ihn am Haarbeutel und leckte ein Stückchen Zucker, das er in seine Kaffeetasse getaucht hatte.

Der Urgroßvater trank nämlich Sonntags seinen Kaffee schwarz und gleich nach dem Essen, wegen des Wachbleibens in der Nachmittagskirche. Zwar war es nichts Auffälliges, im großen Bürgerstuhle neben der Kanzel ein Weilchen einzunicken; die Mehrzahl der würdigen Herren ruhte während der Predigt auf der harten Bank so sanft als ohne Predigt daheim im gepolsterten Ohrenstuhl. Meinem Urgroßvater aber entging keine Silbe von dem göttlichen Wort; sein frommer Wille und der Kaffee hielten ihn rege.

Bei aller Andacht indessen möchte dieser nachmittägige Kirchgang wesentlich als pflichtschuldiger Akt des Bürgers und Ratsherrn, guten Beispiels halber, zu betrachten sein; Herzens halber war er schon einmal im Gotteshause gewesen; früh um fünf in den Metten. Denn nur ein einziges Mal seit seinen Mannesjahren, an einem bitterbösen Lebenstage, hat David Haller diese morgendliche Betstunde versäumt,[182] und alles, was der bedrängte Mensch mit seinem Gewissen und mit seinem Herrgott abzumachen hatte, das machte er ab in dieser stillen Feier.

Aus den Metten ging es dann regelmäßig, ob's regnete oder ob die Sonne schien, im Winter noch bei Sternenschein auf den Gottesacker, zu welchem der Schlüssel in der Tasche des Sonntagsrocks seinen Platz hatte. Dort ruhte er eine gute Weile zwischen den Gräbern seiner Vorangegangenen auf einer Bank, an deren Stelle er einmal versenkt sein wollte und versenkt worden ist. Bevor aber um acht seine Schwiegertochter mit dem Hausgesinde zum großen Morgengottesdienste aufbrach, da saß er schon wieder gelassen und freundlich wie alle Tage vor seinem Pult in der Ladenstube, der einzigen, in welcher ich ihn jemals gesehen habe. In einem Alkoven, richtiger: in einer anstoßenden kalten, stockdunkeln Kammer schlief er. Heutzutage würde man es für den hellen Tod eines Menschen halten, in solchem luft- und lichtlosen Raume aus- und einzuatmen: David Haller, dem nie in seinem Leben ein Finger weh getan hat, ist nahezu achtzig Jahr darin geworden.

Seine Schwiegertochter wohnte im oberen Stock, neben der guten Stube, die meinerzeit nur noch geöffnet ward, um gelüftet und gereinigt zu werden. Früherhin hatte alljährig an dem Tage, an welchem der Hausherr Bürger und Meister geworden war, für städtische Honoratioren und werte Freunde ein Traktament in dieser guten Stube stattgefunden und David Haller bei dieser Gelegenheit gezeigt, daß er zu leben verstehe und einen würdigen Aufwand nicht scheue. Die Hausfrau, die natürlich in Küche und Keller alle Hände voll zu tun hatte, erschien erst, wenn[183] der Kaffee gereicht ward, die Gäste zu begrüßen und für die Ehre zu danken, die ihrem armen Hause erzeigt worden sei.

Wie gesagt, zu meiner Zeit hatten diese Festlichkeiten aufgehört; ich weiß nicht, ob infolge der beiden großen Sterbefälle in der Familie oder des Königlichwerdens, das einen Wechsel in den Beamtenverhältnissen mit sich gebracht hatte. Die gute Stube blieb unbenutzt.

Nach dem Tode ihres Schwiegervaters und bis zum eigenen lebte die Großmutter weiter in dem alten Hause, das nun mein elterliches geworden war, eine rührige, muntere Matrone, auch dann noch, als der Körper schon recht gebrechlich und das Ingenium zum Fassen und Behalten merklich schwach geworden war. Ihr fehlte der große Haushalt; es fehlten die alten Genossen und Zeiten. Wenn ich, gegen Abend aus der Schule kommend, sie in ihrem Zimmer besuchte, rief sie mir einmal wie das andere entgegen:

»Ich sitze hier wie auf einer wüsten Insel. Erzähle mir was Neues, mein Lämmchen.«

»Es passiert gar nichts Neues, Großmutter«, erwiderte ich.

»Nun denn was Altes, Sohnemann.«

»Ich bin noch so jung, ich weiß gar nichts Altes, Großmutter.«

»So erfinde was, mein Junge, lüge was; die Zeit wird mir gräßlich lang.«

»Erfinden kann ich nichts, und lügen darf ich nicht. Aber weißt du, Großmutter, erzähle du mir was vom seligen Urgroßvater; das hör ich so gern.«

Und gleich war sie im Zuge. Stundenlang hörte ich[184] die alten oft gehörten Geschichten von neuem mit an. Oftmals mochte ich wohl an etwas anderes dabei denken; unwillkürlich aber prägten sie mir sich ein, so, als hätt ich mit dem alten Mann, der mir ein liebes Bild hinterlassen hatte, Stück für Stück erlebt. Die Großmutter erzählte nämlich allezeit nur gern von ihrem Schwiegervater; die Erinnerung an seinen Sohn machte sie traurig. Den hatte sie wohl geliebt, aber jenen hatte sie verstanden; darum wurde sie immer wieder jung, wenn sie an ihn zurückdachte.

Die alte Frau hatte eine Redensart, mit der sie ihr Temperament bezeichnete. »Ich, wie ein Wetter!« hieß es Satz um Satz. »Ich, wie ein Wetter, zum Bette heraus! Ich, wie ein Wetter, die Treppe hinunter oder den Boden hinauf!« und so weiter.

Ihr Schwiegervater wird diese Redensart im Leben niemals angewendet haben, und sie würde auf ihn niemals anwendbar gewesen sein.

»Ich, wie eine Uhr«, hätte der von sich sagen dürfen, wenn er selber nicht der Meister gewesen wäre, der streng nach seinem Gewissen und nach seines Gottes Gebot den Gang dieser Uhr und ihren Schlag gerichtet hätte.[185]

 

I. Ein Wunder!

Die alten Geschichten fielen mir heute alle wieder ein, als ich nach langer Abwesenheit von der Heimat über unseren Friedhof ging, der sich so malerisch in einer Schlucht zwischen zwei schützenden Bergen hinanzieht. Die Gräber[185] meiner mütterlichen Familie liegen liebreich gepflegt auf dem höchsten Punkt, von dem weit hinaus man den westlichen Horizont überblickt. Die Sonne sank wie in einem grünen Rahmen und spiegelte ihre letzten Strahlen im still dahingleitenden Flusse.

Der älteste der alten Leichensteine meiner Ahnen trägt unter der unvermeidlichen Urne seiner Zeit die folgende Inschrift:

»Allhiero ruht in Gott weiland Meister Andreas Haller, Bürger und Tuchmacher hiesigen Orts. Der Herr hatte sein Haus gesegnet. Er überlebte drei Ehefrauen, deren Gebeine an seiner Seite schlummern, und allwelche ihm zweiundzwanzig Kinder gebaren, von denenselbigen eilf ihn hienieden beweinen, eilf ihm in das ewige Freudenreich vorangegangen sind.«

Das älteste von diesen eilf überlebenden Kindern war mein Urgroßvater David Fürchtegott Haller. Bei vierzehn Jahren hatte er schon eine Mutter und eine Stiefmutter verloren; von des Vaters allererster Frau lebten gar keine Nachkommen mehr. Über seine Kindheit schweigt die Familientradition, und die zuverlässigen Nachrichten über ihn reichen nur bis zu der denkwürdigen Silvesternacht 1758. Er ging dazumal in die Katechismuslehre und sollte an Palmarum zum ersten Genusse des heiligen Mahles zugelassen werden.

Also Silvesterabend. Meister Andreas hatte mit seinen Eilfen und dem Gesinde den landesüblichen Heringssalat verzehrt, der an keinem heiligen Abend, wie viel weniger am Neujahrsheiligenabend fehlen darf. Denn wer, heute noch wie vor hundert Jahren, am Silvester nicht Hering und am Gründonnerstag nicht etwas Grünes oder mindestens[186] frischen Honig genossen hat, wie dürfte der die Hoffnung hegen, das Jahr über Glück, will sagen Geld, zu haben? Der Abendsegen war verlesen; nach der alltäglichen Hausordnung würde jeder sein Kokellämpchen angesteckt haben und zu Bett gegangen sein. Aber Silvester war ein Ausnahmstag, an welchem keiner rechtzeitig zur Ruhe wollte und auch die Kleinsten sich nur zögernd entfernten, mit dem Vorbehalt, um Mitternacht wieder aufwachen und mitjubeln zu dürfen.

Meister Andreas setzte sich in den tiefen, ledernen Ohrenstuhl am Fenster, in welchem er sein Mittagsschläfchen zu halten pflegte. Er wußte nicht recht, wie er die drei ungewohnten Stunden hinbringen sollte. Wie sonst an Festtagen zu einem Krug Bier in den Ratskeller gehen, das Haus an dem unruhigen Abend mit Mägden und Kindern allein lassen, wagte er nicht; würde in so feierlichen Entscheidungsstunden auch nicht schicklich befunden worden sein; die guten Freunde aber, die sonst, als seine Hausfrau noch lebte, am Silvester vorgesprochen waren, um ein Gläschen Punsch aufs neue Jahr zu leeren, sie blieben heuer aus.

Warum sie eigentlich nicht kamen, der reiche Gerbermeister Hans Adam Vogel, der ein Witmann, und Keller, der Russe, der gar nicht verheiratet war, die also beide keine Abhaltung haben konnten, weiß ich nicht zu berichten, bemerken aber will ich an dieser paßlichen Stelle, warum Keller, der Kürschner, den Namen »der Russe« bekommen hat. Er behauptete nämlich, auf der Wanderschaft bis hinten noch über Moskau hinaus gekommen zu sein, und erzählte die wunderlichsten Schnurren von den Menschen und Bären in dieser pelzreichen Gegend. Mochte dieser[187] und jener auch viele seiner Eis- und Schneeabenteuer bezweifeln, ein jeder hörte sie doch gern, und keiner wurde müde, wenn Keller, der Russe, erzählte.

Meister Andreas blieb demnach zu Haus und allein, und da er just nichts Wichtigeres mehr zu tun wußte, gab er seinen Gedanken Audienz, und über diesem ungewohnten Zeitvertreib nickte er ein. Eine Weile saßen die beiden ältesten Knaben, ohne sich zu rühren, ihm gegenüber; als es aber auf der Straße immer unruhiger ward, duldete es sie nicht länger im Hause; Silvester ist ja der Abend der Freiheit. Ganz leise auf den Zehen schlichen sie zur Tür hinaus.

Es war eine bitterkalte Nacht, ein schneidender Ostwind pfiff; der Fluß und selber die Brunnen waren eingefroren, kein Flöckchen wärmenden Schnees deckte Gärten und Felder. Trotzdem aber waren die Straßen belebt; Hökerinnen, die Feuerkieken zwischen den Füßen, hielten Obst und Heringe feil, auf die Gefahr hin, die unabgesetzten Äpfel erfrieren zu sehn; in manchen Häusern wurde der Christbaum wieder angezündet, in allen brannte Licht; man wachte und saß gesellig beieinander.

Von zehn Uhr ab wird's immer reger und lauter; Knaben und ledige Bursche ziehen straßauf, straßab in Erwartung des Stundenschlags, der zwei Jahre trennt. Die Hallerschen Brüder schließen sich ihnen an; das ungewohnte nächtliche Umherstreifen ist ein Pläsier trotz Sturm und Frost. Sie trampeln mit den Füßen und hauchen sich in die Hände. Auch Singen und Juchheien erwärmt das Blut. Je näher die verhängnisvolle Stunde rückt, um so dichter drängt sich der Menschenknäuel nach dem Markt. Die Stadtpfeifer erscheinen auf dem Rathaussöller.[188] Man öffnet die Fenster, schaut und spannt. Die vorlauten Stimmen, die mit einem Prosit Neujahr! herausplatzen, werden immer häufiger, kaum daß noch einer sie verhöhnt in der Angst, den ersten Glockenschlag zu verpassen.

Da – endlich! – ein einziger, einstimmiger Schrei! Alle Fenster fliegen auf, alle Menschen draußen und drinnen stürzen sich in die Arme. Dann Glockenläuten, vom Turme Posaunenschall: Herr Gott, dich loben wir.

Schweigend, mit gefaltenen Händen lauscht alt und jung dem ersten Vers. Beim zweiten fallen die Stimmen ein, und: Herr Gott, dich loben wir! schallt's durch die kalte Nacht aus tausend Menschenherzen.