Copyright © by Jesper Juul
Übersetzung & Lektorat: Nuka Matthies, Berlin
Verlagsredaktion: Mathias Voelchert GmbH
Umschlaggestaltung: Mathias Voelchert GmbH & Sead Mujić
Typografische Bearbeitung und Satz: Sead Mujić
Herstellung BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-9357-5863-5
Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich
mit der ISBN 978-3-935758-63-5
Hörbuch gesprochen von Claus Vester:
ISBN 978-3-935758-64-2
Copyright für die deutsche Ausgabe 2015
© by Jesper Juul und Mathias Voelchert GmbH Verlag, München, edition + plus
1. Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten. Reproduktion, Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, Wiedergabe auf elektronischen, fotomechanischen oder ähnlichen Wegen, Funk und Vortrag, auch auszugsweise, gerne mit schriftlicher Genehmigung der Copyrightinhaber.
Kontakt: info@familylab.de
www.familylab.de
www.familylabassociation.com
www.jesperjuul.com
Die intuitive Verbindung entfaltet ihre volle konstruktive Macht in dem Moment, in dem sowohl das entsprechende Elternteil als auch das Kind ihre Existenz anerkennen – vor allem dann, wenn das andere Elternteil in der Lage ist, diese Verbindung zu unterstützen.
Jesper Juul
Ich habe diesen Essay geschrieben, weil ich meine normale Sprechstimme verloren habe und weil ich nicht mehr reisen und lehren kann, wie ich das bisher getan habe. Viele Jahre lang habe ich mich gescheut, über dieses Thema zu schreiben – vor allem, weil ich befürchtet habe, dass Eltern in Trennung das beschriebene Phänomen gegeneinander und gegen ihre Kinder benutzen könnten. Ich habe mehrere kleine Vorträge über das Thema gehalten, und ich habe darüber auch ausgiebig mit Eltern und Fachleuten diskutiert. Aber aus verschiedenen Gründen habe ich es immer vorgezogen, meine Gedanken zu dem Thema mündlich mitzuteilen. Ich wusste, dass es für viele eine völlige Überraschung – fast schon eine Enthüllung – bedeutete, und es war mir wohler, wenn ich mir für das Thema so viel Zeit nehmen konnte, wie ich und die Beteiligten brauchten.
Ein weiterer Grund für meine Zurückhaltung war, dass die Vorstellung einer besonderen, existentiellen Verbindung zwischen einem Kind und einem seiner Eltern keine wissenschaftliche Basis hat – zumindest soweit ich weiß. Bisher scheinen sich die Wissenschaftler dieses Phänomens nicht bewusst zu sein, oder sie haben es nicht als wichtig genug erachtet, um es eingehend zu untersuchen.
Alles, was ich beizutragen habe, ist meine lebenslange Erfahrung als Psychotherapeut für Erwachsene, Gruppen und Familien. Ich habe viele Jahre gebraucht, um meine eigene Skepsis zu überwinden, und ich habe mich im Laufe dieses Prozesses immer wieder selbst an das alte Sprichwort erinnert: »Wenn du einen Hammer hast, fangen alle Probleme an, wie Nägel auszusehen.«
Das Anliegen dieses Essays ist es also nicht, Sie davon zu überzeugen, dass ich recht habe. Daran habe ich kein Interesse. Ich habe ein doppeltes Motiv: Ich möchte die Leser dazu anregen, sich und ihre Kinder in einem anderen Licht zu sehen, und ich habe Interesse an der Rückmeldung und der persönlichen Erfahrung, die meine Leser bereit sind, mir mitzuteilen. Und wer weiß, vielleicht lässt sich ja das Interesse des einen oder anderen Wissenschaftlers wachkitzeln.
Vor ein paar Stunden habe ich online ein Elternpaar beraten, das sich Sorgen um seine dreijährige Tochter macht. Die Tochter ist schüchtern, sie will nicht wirklich mit anderen Kindern spielen und so weiter. Beide Elternteile neigen dazu, überfürsorglich zu sein, und ihre echte Empathie hat eine Beziehung entstehen lassen, in der die Gefühle und Meinungen der Tochter inzwischen weit mehr geworden sind als eine Orientierungshilfe für die Eltern – sie sind zum unumstrittenen Anführer geworden. Das ist ein sehr verbreitetes Phänomen in heutigen Familien, und wir können nur dann einen gesünderen Weg für alle Beteiligten finden, wenn wir in den einzelnen Familien die jeweilige Struktur des Phänomens kennen.
Im Laufe unseres Gesprächs stellte sich heraus, dass die Mutter sich in Gegenwart von Fremden oft unwohl fühlt. Ich fragte, ob es zwischen ihr und der Tochter eine besonders enge Beziehung gäbe, und meine Anregung war, dass das wichtig sein könnte für die Versuche der Eltern, auf angemessene Art und Weise für ihre Tochter zu sorgen. Die Mutter tat diesen Vorschlag sofort als »Quatsch« ab. Sie verstand meine Frage als den Versuch, ihr die Schuld für die Schwierigkeiten der Tochter zu geben. Als ich darauf hinwies, dass es darum nicht ging – dass sie nicht schuld an den Schwierigkeiten der Tochter war, sondern dass sie im Gegenteil ein Mittel sein könnte, dem Mädchen zu helfen –, war sie in der Lage, die Angelegenheit zu reflektieren. Am Ende machte der Vorschlag für sie und für ihren Mann Sinn, und die Mutter erkannte das Potential für eine gemeinsame persönliche Entwicklung ihrer Tochter und ihrer selbst.
Wenn ich bei diesem Fall richtig liege, verfügt die Mutter über ein viel größeres Potential, die Tochter zu führen und ihr zu helfen, als der Vater. Ich hoffe, das Folgende macht deutlich, warum das so ist. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Vater seine Frau auf unterschiedliche Arten und Weisen geschützt. Er hat ihre Ängstlichkeit kompensiert, und wann immer sie sich unzulänglich gefühlt hat, hat er übernommen. Da das seine Art zu lieben ist, wird er dieses Muster höchstwahrscheinlich in der Beziehung zu der Tochter wiederholen, und Ängstlichkeit als einzig bekannter Bewältigungsmechanismus wird auf diese Weise weitergegeben.
Wenn auf der anderen Seite die Mutter erkennt, dass ihr bei der Aufgabe, die Entwicklung ihrer Tochter zu unterstützen, die einflussreichere Rolle zukommt, und wenn sie bereit ist, ihrer Tochter zuliebe die eigene Komfortzone zu verlassen, werden beide davon profitieren. Der Vater seinerseits kann dann damit aufhören, »seine Mädchen« zu versorgen und zu beschützen, und stattdessen damit anfangen, Freude an ihnen zu haben.
Dies ist allerdings eine sehr komprimierte Version dessen, was ich in diesem Essay deutlich machen möchte – das enorme Potential einer intuitiven Verbindung, die zwischen einem Kind und nur einem der beiden Elternteile existieren kann. Die Bezeichnung »intuitive Verbindung« wurde von jemand anderem vorgeschlagen, und ich fühle mich nicht ganz wohl mit ihr – mir persönlich klingt das etwas zu sehr nach New Age. Da ich aber bisher noch nicht auf eine bessere Alternative gekommen bin, werde ich vorerst diesen Begriff verwenden.
Die intuitive Verbindung entfaltet ihre volle konstruktive Macht in dem Moment, in dem sowohl das entsprechende Elternteil als auch das Kind ihre Existenz anerkennen – vor allem dann, wenn das andere Elternteil in der Lage ist, diese Verbindung zu unterstützen. Ich habe noch kein Kind (auch kein Kind im Teenageralter) getroffen, das sich dieser Verbindung nicht bewusst gewesen wäre oder das diese Verbindung nicht sofort in meinen Beschreibungen wiedererkannt hätte. Erwachsene brauchen oft mehr Zeit, entweder weil sie skeptisch sind, nicht »besonders« sein wollen oder weil sie von Gefühlen überwältigt werden. Letzteres passiert oft in Familien, in denen die Väter in dem Glauben gelebt haben, ihre Frauen könnten »besser mit den Kindern umgehen«, wie später in Beispiel 2 beschrieben.
Falls der Inhalt dieses Essays für Sie als Privatperson und/oder als professionelle Beraterin oder als professioneller Therapeut Sinn ergibt, dann hoffe ich, dass Sie anderen Menschen auch weiterhin mit einer offenen, interessierten und emphatischen Denkweise begegnen. Versuchen Sie nicht, Beziehungen zwischen anderen zu definieren, sondern teilen Sie den anderen Ihre Wahrnehmung mit und überlassen Sie ihnen dann selbst die Entscheidung, wie sie diese verarbeiten wollen.
Hier eine einfache Grafik, um das Phänomen zu veranschaulichen:
Ganz allgemein gesprochen existieren in beiden Beziehungen gegenseitige Liebe und der Wunsch, wertvoll für den anderen zu sein. Wenn ich von Liebe spreche, meine ich damit allerdings die Liebe in den Herzen und in den Absichten der Beteiligten und nicht die Qualität dessen, was zwischen