Gary Thomas

Die virtuelle Katastrophe

Gary Thomas

Die virtuelle Katastrophe

So führen Sie Teams über Distanz zur Spitzenleistung

Mein Teamwork ‘Thank You’ geht an:

Andrea, Kian & Zoe,
mein ‘Family-Team’

und an das Team von assist International HR –
Das Beste Team der Welt

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von der virtuellen Misere

1 Team-Märchen: Weg damit!

Die Sache mit dem Spinat

Das Eunuchen-Märchen

Das Märchen vom Misstrauen

Das Insel-Märchen

Das Alle-Teams-sind-gleich-Märchen

In aller Kürze: Glaubt nicht an Märchen!

2 The Big Four: Anpacken!

Das sind Ihre Aufgaben

Stiften Sie Identität!

Überwinden Sie Isolation!

Überbrücken Sie Entfernungen!

Influencing: Macht ohne Weisung

In aller Kürze: Das ist Ihr Job!

3 Die Macht der Identität

Das FBI und die unsichtbare Kraft

Ziele statt Cargo-Hosen

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen

Kick-off!

Smarte Ziele

Der S-Booster

Der M-Booster

Der A-Booster

Der R-Booster

Der T-Booster

Bauen Sie einen Leuchtturm!

Fan-Artikel

Seien Sie der große Motivator!

Für Fortgeschrittene: Identität formen

In aller Kürze: Teamgeist!

4 Hol dein Team aus der Isolation!

Das Gefangenen-Dilemma

Fredriks Fall

Horizontale Kommunikation vs. Isolation

In Beziehung setzen

K wie Kick-off oder Kaffeeklatsch

Beißhemmung und andere Rudel-Phänomene

Checkliste: Horizontale Kommunikation für Teamleader

Checkliste: Horizontale Kommunikation für Teammitglieder

Free Your Team!

Es lohnt sich

In aller Kürze: Raus aus der Isolation!

5 Form dein Team!

Muss das sein?

Was sein muss

Virtuelles Risk Management

Gute Argumente für einen Kick-off

Forming: Das Team in Form bringen

Das Tanztee-Syndrom

Spitzenteams machen das ständig

Virtuelles Forming

Kein Klügerer gibt nach

Lassen Sie chatten!

Wie reden wir miteinander?

Virtueller Jour fixe

Regelmäßige Reflexion

Die Angst vor Konflikten

Seien Sie ein echter Teamleader!

Hall of Fame

Conditio sine qua non

In aller Kürze: Das Team formen

6 Influencing: Die heimliche Macht

Die Macht des Projektleiters

Hebeln Sie!

1. Berufen Sie sich auf höhere Instanzen!

2. Tun Sie sich mit anderen zusammen!

3. Betonen Sie die Beziehung!

4. Begründen Sie!

5. Stellen Sie Ja-Fragen!

6. Werten Sie auf!

7. Begeistern Sie!

8. Leben Sie das vor!

9. Bieten Sie einen Tausch an!

10. Sagen Sie, was Sie wollen!

Holzwege der Hausapotheke

Die Wahl der Waffen

In aller Kürze: Beeinflussen Sie!

7 Der Team-Turbo: Vertrauen

Die Misstrauens-Misere

Wem vertrauen Sie?

Soft Factor, Hard Facts

Vertrauensbildung

„Feed the Cat!“

Der oberste Vertrauensbildner

Vertrau keinem, der nie da ist!

Kein Favoritentum!

In aller Kürze: Vertrauen bilden!

8 Stärke im Konflikt

Die meisten Konflikte sind vermeidbar

Triple Z: Ziele, Zielkriterien, Zuständigkeiten

Das Cohn-Prinzip

Werden Sie ein starker Konfliktmanager

Prima, ein Konflikt!

Rauchmelder fürs virtuelle Team

Konflikte: Holschuld, keine Bringschuld

Klären Sie den Sachkonflikt, bevor er persönlich wird!

Bremsen Sie Team-Tyrannen!

Die Ziel-Frage

Audiatur et altera pars

Keine Kompromisse!

Mimosen-Management

Verstehen Sie!

In aller Kürze: Stark im Konflikt

9 Integrier dein Team!

Der Elefant im Wohnzimmer

Ihr Medienplan

Vereinbaren Sie Guidelines!

Der Takt der Integration

Setting the Mood

Desinformation ist Desintegration!

Vermeiden Sie Medien-Monokultur!

Management by flying around

Trigger Management

Der große Integrator

In aller Kürze: Integrieren Sie!

10 Ruf an!

Scheidung per SMS

Cyber Mobbing

Wie der Mensch zu sprechen verlernte

Hör hin!

Achtung, Spontanreaktion!

Wenn es knistert

Marshall B. Rosenberg

In aller Kürze: Sprechen Sie!

11 Die E-Mail-Falle

E-Mail-Guidelines

Schreiben lernen

E-Mail-Grausamkeit

Der Gipfel der Trivialität

In aller Kürze: Mailen Sie richtig!

12 Effektive Video- und Telefonkonferenzen

Telko an der Bahnsteigkante: Kontextgestaltung

Das Trivialitäts-Paradoxon

Wie Sie Konferenzen leiten

Punkt für Punkt: Konferenzen vorbereiten

Punkt für Punkt: Konferenzen leiten

Checkliste: Am Ende der Konferenz

Der Overconfidence Bias

In aller Kürze: Richtig konferieren!

13 Leading across Cultures

Der Babylon-Effekt

Was können wir von ihnen lernen?

Interkulturelle Meta-Kommunikation

Kulturegozentrik

Der Chamäleon-Effekt

Kultur-Patt

Die beste aller Welten

Die Sprachbarriere

Wie direkt dürfen Sie sein?

Tiefstes Mittelalter

Wenn es brennt: Keine Panik!

Für Fortgeschrittene

Make the world a better place

In aller Kürze: Internationale Teams führen

14 In medias res: Chinesen und Briten

Mal schnell hinjetten

Direkt ist zu direkt

Ja heißt Nein

Typisch britisch

Die sachliche Einigung wird überschätzt

Das britische Nein und britischer Humor

The Magic Bullet

Nachwort von der Eleganz der Exzellenz

„Wir leben und arbeiten unser Leben lang in Teams.

Aber wir haben keine Ahnung, wie sie funktionieren.“

frei nach Mintzberg

Vorwort von der virtuellen Misere

Hand aufs Herz: Was regt Sie bei der Arbeit am meisten auf?

Wenn ich beratend oder trainierend in Unternehmen unterwegs war, lautete bis vor wenigen Jahren die Antwort darauf mehrheitlich: „Mein Chef!“ Klar, logisch.

Vor einiger Zeit kippte die Logik. Seit Erfindung der Globalisierung.

Seither höre ich am häufigsten folgende Antworten, in unvollständiger Aufzählung: „Diese verdammten Deutschen!“, „Diese bescheuerten Inder!“, „Diese großmäuligen Amis!“, „Diese ewig beleidigten Briten!“, „Diese lahmarschigen Italiener!“ Wie gesagt: Ich höre sie. Zu lesen ist das nirgendwo. Denn was die Menschen da beklagen, darf man nicht laut aufschreiben. Es ist Tabu. Interkulturelle Kompetenz ist tabu?

Genau da liegt der Irrtum. Wenn ein steifer Brite und ein besserwisserischer Deutscher in einem Management- oder Projektteam aneinandergeraten, dann spielt zwar auch deren Nationalität eine Rolle. Doch wenn sich das Problem auch nach dem zweiten qualitativ hochwertigen Cross Culture Training nicht auflöst, dann sollte man vielleicht mal auf den Gedanken kommen, dass es nicht an dem Briten und dem Deutschen liegt, sondern daran, dass der Brite in Moskau und der Deutsche in Paris sitzt. Das eigentliche, überragende Problem ist oftmals weder Nationalität noch Interkulturalität, sondern schlicht Virtualität: Wer weit voneinander entfernt sitzt, also virtuell vernetzt ist, sich deshalb bloß E-Mails schickt und gelegentlich telefoniert, der produziert Friktionen, Ineffizienz und Konflikte am laufenden Band – egal, wie gut die interkulturelle Kompetenz aller Beteiligten ist. Und das sieht jeder Praktiker, sobald er die Augen aufmacht.

Wenn nämlich in Moskau kein Brite, sondern ein Deutscher sitzt, dann streitet er sich mindestens ebenso so oft mit dem Deutschen in Paris. Obwohl das ein Deutscher ist? Nein, gerade deshalb: Wer nur noch per E-Mail konferiert, der muss sich zwangsläufig eher früher als später in die Haare kriegen! In Zeiten der Globalisierung ist Nationalität als Problem Nr. 1 längst von der Virtualität abgelöst worden. Die interkulturelle Problematik haben gut geführte Unternehmen und ihre Personalvorstände, Personalentwickler, HR’ler, Fachvorgesetzte, Personal- und Weiterbildungsreferenten dank qualitativ hochwertiger Intercultural Trainings inzwischen recht gut im Griff. Für das virtuelle Problem kann das nicht einmal annähernd behauptet werden.

Das beginnt schon damit, dass die meisten Verantwortlichen und Betroffenen das Problem gar nicht erkennen oder es typischer- und fatalerweise mit dem interkulturellen verwechseln. Das ist die eigentliche Katastrophe. Stellen wir uns vor, Sie gehen mit einer anschleichenden Lungenentzündung zum Arzt und dieser diagnostiziert flink eine Sommergrippe. Er spielt mit Ihrem Leben! Es ist sehr leicht, die virtuelle Symptomatik auf das interkulturelle Problem zu schieben. Aber es ist brandgefährlich. Das zeigt die Praxis leider an jedem schönen, neuen, globalisierten Arbeitstag. Zum Beispiel in jenem Konzern, dem eines Tages plötzlich ein indischer Fahrer abhandenkam.

Vor einiger Zeit fiel im indischen Werk des Konzerns eine Maschine aus. Es war eine so seltene Störung, dass kein Ersatzteil am Lager war. Der Hersteller sitzt in Mannheim. Er sagte sofortige Lieferung zu. „Sofort“ bedeutete damals für ein 30 Kilo schweres Teil: eine Woche Transportzeit. Der Konzernvorstand drohte dem Leiter der Instandhaltung: „Das ist indiskutabel! Pro Tag Produktionsausfall verlieren wir mit Indien zwei Millionen Euro!“

Der Leiter der Instandhaltung erschrickt und bildet stante pede mit seinen und den besten Leuten in Indien ein SWAT-Team, unterstützt von einigen Logistik-Spezialisten von der Niederlassung Rotterdam. Der Teamleiter in Deutschland ruft jedem Zollbeamten, jedem LKW-Fahrer, jedem Frachtpiloten und jedem Disponenten an, der das Paket in die Finger bekommen wird und fleht sie an, das Paket mit Vorzug zu behandeln. Auf indischer Seite macht dasselbe sein indischer Counterpart. Unter Einsatz überragender Überredungskünste und großzügiger undokumentierter Griffe in die Schwarze Kasse gelingt es beiden, die Fracht des Paketes auf zwei Tage zu verkürzen. Das Team an den Standorten Düsseldorf, Delhi und Rotterdam isst, trinkt, schläft und atmet zwei Tage lang nicht, weil alle wie gebannt auf ihre Bildschirme starren und per Tracking die Stationen des Paketes verfolgen: Jetzt ist es in Mannheim raus, jetzt ist es am Gate im Flughafen, jetzt landet es in Indien, jetzt ist es am Zoll in Delhi – jetzt endlich kann es der Fahrer in Empfang nehmen! Vom Flughafen zum Standort: „Zwei Stunden, maximal“, sagt der indische Teamleiter, die Mitglieder der Task Force atmen auf, einige rennen mit Hochdruck aufs Klo, andere genehmigen sich einen Jubel-Kaffee.

Nach Ablauf der zwei Stunden werden sie in Deutschland nervös. Nach drei Stunden in Indien. Die Drähte zwischen Indien, Düsseldorf und Rotterdam glühen. Nach fünf Stunden ist klar: Der Fahrer ist verschollen! Vom Erdboden verschluckt. Sein Handy ist tot, was am eben niedergehenden Monsun-Gewitter liegen könnte. Eine Festleitung hat er zu Hause nicht, weil in Indien jeder (der sich das leisten kann) ein Handy hat. Verzweiflung macht sich breit: Am nächsten Tag sind weitere zwei Millionen fällig! Obwohl das Teil eigentlich schon in Indien ist. Der Konzernvorstand hat Schaum vorm Maul.

Am nächsten Tag fehlt um sechs Uhr vom Fahrer jede Spur, um acht und um zehn. Zur Mittagspause erscheint er gut gelaunt in der Kantine. In aller Seelenruhe erklärt er: „Als ich gestern Nachmittag vom Flughafen weg fuhr, kam ich auf halber Strecke in ein Monsun-Gewitter. Der Verkehr brach zusammen. Weil da erfahrungsgemäß auf Stunden nichts mehr geht, bin ich erst mal nach Hause gefahren. Hat ja keinen Sinn, im Verkehr zu stehen. Und heute Morgen musste ich erst mal meine Tochter zum Arzt fahren, das lag sowieso auf dem Weg.“ Zwei Monteure halten den indischen Teamleiter, einen Franzosen, mit äußerster Mühe davon ab, den Fahrer auf der Stelle zu erwürgen. Der Mann ist Inder. Er versteht bis heute nicht, warum „dieser seltsame Mensch sich so aufgeregt hat. Ich habe das Teil doch gebracht wie er es wollte! Es ist doch jetzt da! Was will er denn noch von mir?“

Der Franzose sagt: „Diese … Inder!“ und füllt die Auslassung mit einer beeindruckend langen Auswahl erlesener Adjektive, deren Wiederholung ich mir an dieser Stelle verkneife. Der zuständige Personalentwickler in Düsseldorf zieht den klassischen Fehlschluss: „Interkulturelle Kompetenz! Sag ich schon immer! Der Franzose hätte das dem Inder eben so erklären müssen, dass der Inder das versteht! Lass uns die Leute mal wieder so richtig schulen!“ Was darf’s denn sein? Interkulturelles Training für 20 000 Euro? 30 000? Oder gleich 50000 Euro? Der deutsche Teamleiter der Task Force, der keine 50 Meter weiter östlich im Gebäude sitzt, tappt nicht in diese Falle. Er erkennt den wahren Grund für das 2-Millionen-Desaster.

Er sagt: „Sicher hätte unser Franzose davon profitiert, wenn er die indische Kultur ein wenig besser kennen würde. Aber in diesem Fall hätte das die Katastrophe doch nicht verhindert!“ Virtualität, nicht Interkulturalität war die Bombe, die das Projekt hochgehen ließ. Das weiß der Teamleiter jetzt. Er sagt: „Wäre ich vor Ort gewesen, hätte ich einen anderen Fahrer ausgesucht, wäre ich selber zum Flughafen gefahren oder hätte dem Fahrer bei Anweisungserteilung angesehen, dass er die Dringlichkeit seines Auftrags nicht wirklich erkannt hat.“ Er war aber nicht vor Ort. Er führte kein traditionelles Team vor Ort. Er saß in Düsseldorf. Deshalb kommunizierte und führte er auch nicht vor Ort – er kommunizierte und führte virtuell, per Remote Control, über die Distanz. Er führte ein virtuelles Team unter Einsatz virtueller Kommunikationsinstrumente. Aber er hatte im Gegensatz zu seinen bislang absolvierten fünf Trainings in Cross Culture Competency niemals ein Training erhalten, wie man ein virtuelles Team führt, wie man also beispielsweise von Düsseldorf aus dafür sorgt, dass der Fahrer in Delhi seinen Auftrag richtig versteht.

Diese Kompetenzlücke, die in Wahrheit eine Trainingslücke ist, kostete sein Unternehmen zwei völlig unnötige Millionen, einen ziemlich verärgerten Kunden, den Franzosen fast die Karriere und das indische Werk den Verlust eines Leistungsträgers (der Inder kündigte prompt).

Ein Konzernvorstand, der diese unglaubliche Geschichte gehört hatte, rief mich zu sich und sagte: „So geht das auch bei uns zu.“ Ich versicherte ihm, dass es nach meiner langjährigen Erfahrung nicht nur bei ihm so zuginge, dass er aber einer der wenigen verantwortlichen Manager sei, die daraus die korrekte Schlussfolgerung zögen: „So geht das nicht weiter!“

Die Probleme, die virtuelle Teams aufwerfen, richten weltweit jedes Jahr mehr Schaden an als Lehman, Fukushima und die Dauerkrise der Euro-Zone zusammengenommen. Ihre Probleme verzögern unnötig Projekte, erhöhen die Fehlerquote, bremsen Innovationen aus, vertreiben Kunden, gefährden Managerkarrieren, vernichten Liquidität und bringen Teammitglieder und Teamleiter an den Rand des Nervenzusammenbruchs, der meist mit den Ausruf angekündigt wird: „Diese verdammten … (fügen Sie die entsprechende Nationalität und/oder Werks-/Abteilungszugehörigkeit ein)!“

Wobei das eben kein Problem der Globalisierung, der Kulturen, Nationalitäten oder Standorte ist. Es ist ein Problem der modernen Kommunikationstechnologie. Musste früher ein Team physisch an einem Ort für ein Teammeeting zusammenkommen, kann es sich heute per Telko, Video-Konferenz, Intranet oder einfach per E-Mail abstimmen – eben virtuell. Behaupten die IT-Enthusiasten. Man sollte ihnen den Hosenboden strammziehen. Denn das ist eine dicke, fette Lüge. Virtuelle Teams funktionieren mehrheitlich nicht. Deshalb werde ich wie viele andere Berater für virtuelle Teamentwicklung seit Jahren zu solchen Teams gerufen. „Wir verstehen das nicht!“, sagen mir die Verantwortlichen oft. „In diesem Team sind doch einige unserer besten Leute!“ Wie man das nicht verstehen kann, verstehe ich meinerseits nicht. Denn eigentlich ist es doch offensichtlich, oder? In virtuellen Teams gilt: Die einzelnen Teammitglieder

Und all diese gravierenden Unterschiede sollen keine Auswirkungen auf Teamführung und Teamleistung haben? Wer das glaubt, glaubt auch an den Osterhasen! Tatsächlich sind die Auswirkungen auf die Teamleistung enorm. Und obwohl die meisten Unternehmen schon seit Jahren mit virtuellen Teams arbeiten, wurden ihre Teamleiter nie mit den nötigen Kenntnissen der virtuellen Teamführung ausgestattet. Schlimm? Es kommt schlimmer.

Wenn ich Vorständen, Geschäftsführern und normalen Vorgesetzten von den riesigen Problemen virtueller Teams erzähle, dann sagen mir viele: „Zum Glück habe ich kein virtuelles Team. Ich und vier Kollegen sitzen in Gebäude A, der Rest vom Team in Gebäude D und E!“ Ich habe mir schon lange abgewöhnt, daraufhin fassungslos aus der Wäsche zu schauen. Ich frage dann nur noch: „Und? Wie kommunizieren Sie denn außerhalb von Teammeetings miteinander?“ – „Na, mit E-Mail!“ Aha, und E-Mails sind keine virtuelle Kommunikation? Mit E-Mails schreiben die Teammitglieder nicht permanent aneinander vorbei, produzieren Missverständnisse, latente und offene Konflikte? Auch wenn Sie nur eine Bürotür weit voneinander entfernt sind: Mit nur einer einzigen E-Mail haben Sie die ganze virtuelle Problematik wieder am Hals.

Deshalb arbeiten bereits traditionelle, ortsgebundene Teams häufig heftig aneinander vorbei, „weil wir uns viel zu selten sehen und abstimmen!“, wie mir Projektleiter und Teammitglieder immer wieder klagen – selbst wenn die Teammitglieder bloß durch zwei Stockwerke oder drei Gebäudeteile voneinander getrennt sind. Schon allein diese geringe lokale „Trennung“ durch ein bloßes Stockwerk oder auch nur dreißig Meter Flur infiziert jedes normale Team bereits mit dem dem Triple V – dem virulenten virtuellen Virus. Viele Vorgesetzte und Teamleiter erleben das zwar täglich, können es aber nicht einordnen.

Ihre Stehgreif-Diagnose lautet dann immer irgendwie: „Die stellen sich mal wieder super dämlich an!“ Das heißt, sie schieben das Fehlerbild des virtuellen Kontextes auf die Persönlichkeit der Teammitglieder. Die sind eben schlampig und nicht konfliktkompetent! Anders ausgedrückt: Sie sehen das Haar in der Suppe, aber nicht den Elefanten im Esszimmer. Das Problem ist virtueller und nicht persönlicher Natur!

Virtuell heißen solche Teams ja nicht bloß, weil sie eben nicht an einen Ort gebunden sind. Virtuell heißen sie vor allem, weil der „Ort“ ihrer Zusammenarbeit virtuell ist: Man trifft sich via Internet, Videokonferenz oder anderen Medien im virtuellen Raum. Viele meinen, das sei ein marginaler Unterschied zum traditionellen Team. Natürlich haben beide Teamarten viel gemein. Doch der kleine Unterschied macht den großen Unterschied: Virtuelle Teams sind wegen ihrer Virtualität besonders und brauchen wegen dieser Besonderheit auch eine besondere Art der Führung. Der virtuelle Teamleiter sollte seinen Teamführerschein um die Führerscheinklasse „Virtuell“ erweitern (lassen). Genau zu diesem Zweck treffen Sie und ich uns hier virtuell.

Falls Sie Teamleader sind: Herzlich willkommen! Für Sie ist dieses Buch geschrieben. Sie sind aber bloß „einfaches“ Teammitglied und haben schon nach diesen wenigen Seiten mehrmals gedacht: „Sag das mal meinem Teamleiter!“? Keine Sorge, das mache ich. Aber bis ich das mache, unterschätzen Sie bitte nicht Ihren eigenen Einfluss. Wie Sie vielleicht selbst schon bemerkt haben, ist Ihr Einfluss als „einfaches“ Mitglied auf das Team deutlich, messbar und groß. Klartext: Sie müssen kein Teamleader sein, um Ihr virtuelles Team auf Erfolgskurs zu bringen. Wie Sie das schaffen, das sehen Sie auf den folgenden Seiten. Sie sind aber weder noch?

Das ist fast noch besser. Als Manager, der virtuellen Teams übergeordnet ist, haben Sie den größten Einfluss auf die virtuelle Führung und damit auf die Leistung Ihrer Teams. Wenn Sie wissen, wie man solche Teams steuert. Hier erfahren Sie es.

Was Sie hier erfahren, wird Effektivität und Effizienz Ihrer virtuellen Teams deutlich, oft sogar dramatisch steigern. Ärger, Stress und Konflikte im Team nehmen ab. Die Teammitglieder arbeiten (wieder) gerne miteinander zusammen. Die andauernden Konflikte, Missverständnisse und Fehler gehen zurück. Das Gefühl des permanenten Chaos verschwindet. Sie als Vorgesetzter oder Teamleiter werden (endlich) stärker respektiert. Und das zu Recht: Virtuelle Teamführung ist Teamführung extrem. Wenn Sie das drauf haben, können Sie alles und jeden führen. Bezeichnenderweise berichten mir viele TeamleiterInnen Wochen nach dem Training: „Sogar mit meiner Familie klappt das jetzt besser!“ Das ist logisch. Warum?

Aus einem einfachen Grund: Sie verfügen jetzt über virtuelle Kompetenz. Sie haben den virtuellen Führerschein erworben.

Ihre erste Fahrstunde beginnt hier.

Steigen Sie ein.

„Es ist leicht, Märchen zu glauben.

Aber es ist nicht klug.“

Norman Mailer

1 Team-Märchen: Weg damit!

Die Sache mit dem Spinat

Virtuelle Teams gibt es seit Jahren. Probleme mit virtuellen Teams gibt es ebenso lange. Warum rufen mich die Unternehmen dann immer noch? Warum wurden die Probleme nicht längst beseitigt?

Daran ist der Spinat schuld.

Viele Mütter füttern auch heute noch ihre Kinder mit Spinat: „Da, iss! Ist gesund! Ist viel Eisen drin!“ Ich bin kein Lebensmittelchemiker, aber selbst ich weiß inzwischen, dass das Eisen im Spinat ein Ammenmärchen ist. 1927 vertippte sich ein Forscher um eine Kommastelle und alle anderen schrieben seither von ihm ab. Soweit ich weiß, ist im Spinat weniger Eisen als in Schokolade. Trotzdem glauben viele an das Märchen. Das ist ihre Natur: Sie halten sich hartnäckig. Hartnäckiger jedenfalls als die Wahrheit. Das ist ein Problem – und eine Chance:

Wenn ein virtuelles Team zu langsam vorankommt, fragen Sie sich und das Team doch mal: Welchem Team-Märchen sitzen wir auf?

Ich biete Ihnen vier zur Auswahl an.

Das Eunuchen-Märchen

Ich kenne Verantwortliche in Unternehmen, die sich seit Jahren über die Ineffizienz ihrer virtuellen Teams aufregen – und trotzdem nichts dagegen tun! Typisch Manager? Denkfaul und handlungsschwach?

Ach, Unfug! Weder das eine noch das andere. Ich kenne keine denkfaulen Manager. Aber jede Menge, die noch an Märchen glauben. Die Vertriebsleiterin eines Kosmetikunternehmens spricht für viele, wenn sie sagt: „Ein virtuelles Team kann doch gar nicht so leistungsfähig sein wie eines, dessen Mitglieder sich jeden Tag über den Weg laufen!“ Das virtuelle Team sozusagen als Eunuch unter den Teams: Möchte schon gerne, kann aber nicht. Warum glaubt die Vertriebsleiterin das?

Ganz einfach: Weil das häufig so ist. Das heißt: Die Vertriebsleiterin verwechselt Korrelation mit Kausalität. Sie sieht so viele leistungsschwache virtuelle Teams, dass sie unwillkürlich schlussfolgert: „Alle virtuellen Teams sind Eunuchen! Das muss so sein!“ Muss es aber nicht und ist es auch nicht. Das ist schlicht ein Mythos. Es gilt im Gegenteil:

Gut geführte virtuelle Teams sind oft sogar leistungsfähiger als konventionelle Teams.

Denn wenn ein „normales“ Team um 18 Uhr in Hamburg Feierabend macht, dann fangen die Asiaten eines virtuellen Teams wegen der unterschiedlichen Zeitzonen erst richtig an. Ein virtuelles Team kann also idealerweise rund um die Uhr arbeiten, weil sein Projekt quasi durch die Zeitzonen wandert. Immer der Sonne nach. Deshalb heißt dieses Effizienzprinzip auch „Follow the sun“ oder „Around the clock“. Deshalb kann an einem virtuellen Projekt im Idealfall 24/7 gearbeitet werden: sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Aus diesem Grund können virtuelle Teams sogar „potenter“ sein als normale Teams. Warum sind sie es dann so oft nicht? Weil sie meist „kastriert“ sind.

Die horizontale Kommunikation ist das Geheimnis der Potenzstärke.

Nicht, was Sie jetzt denken! Horizontal bedeutet bei der Teamentwicklung schlicht: Es wird nicht nur von oben nach unten et vice versa kommuniziert (Teamleiter – Teammitglieder), sondern auch auf der Ebene zwischen den Teammitgliedern, also horizontal.

Ein Team funktioniert, wenn beide Kommunikationsarten funktionieren: Der Teamleiter weist einerseits verständlich, konkret, strukturiert und zielorientiert von oben nach unten an und erhält von unten brauchbares Feedback. Andererseits reden die einzelnen Teammitglieder auch untereinander, zum Beispiel um ihre jeweiligen Arbeitspakete aufeinander abzustimmen. Damit keiner am anderen vorbei arbeitet oder zwei oder mehr Kollegen Parallelarbeiten abliefern – was selbst in konventionellen Teams eher Regel als Ausnahme ist. Der Clou ist nun: In einem Team, dessen Teammitglieder sich täglich auf den Gängen und in der Kantine übern Weg laufen, geschieht viel von dieser horizontalen Kommunikation informell, nebenbei, unter Kollegen, im Aufzug, in der Kaffeeküche, auf dem Firmenparkplatz – also quasi automatisch. Die Crux dabei: Läuft man sich nicht ständig übern Weg, ist dieser Automatismus abgeschaltet. Der virtuelle Teamleiter muss dann Abhilfe schaffen. Tut er es nicht, dann haben wir die übliche virtuelle Misere, die überall anzutreffen ist. Tut er es, kann er sein Team zum Erfolg führen. Also tun Sie es! Wie? Das erfahren Sie in diesem Buch.

Das Märchen vom Misstrauen

Vielleicht haben Sie das in Ihren Teams auch schon wenig begeistert wahrgenommen: In vielen virtuellen Teams herrscht ein fast mit Händen greifbares Misstrauen. Jedenfalls deutlich stärker als in herkömmlichen Teams.

Im virtuellen Team bricht normalerweise nach Beendigung einer Telko oder Videokonferenz das Murren aus: „Hast du gehört, was der Spanier sich wieder geleistet hat? Der hat sie doch nicht mehr alle!“ Bis zur nächsten Telko schaukelt sich das Ressentiment wunderbar zu einem ohrenbetäubenden Weißen Rauschen des gegenseitigen Misstrauens auf: Spätestens nach drei Wochen Projektlaufzeit hält jede(r) jede(n) für einen verdammten Intriganten. In einem herkömmlichen Team passiert das nicht.

In einem herkömmlichen Team geht man nach dem Teammeeting kurz beim betreffenden Kollegen und mutmaßlichen Intriganten vorbei und fragt ihn: „Du, was du vorhin gesagt hast – wie hast du denn das gemeint?“ In 99 Prozent der Fälle ist das dann kein Konflikt und schon überhaupt keine Intrige, sondern bloß ein blödes Missverständnis. Die informelle horizontale Kommunikation klärt das ruckzuck. Nicht so im virtuellen Team.

Da klärt sich nichts. Im Gegenteil. Weil die Deutschen „Den Spanier“ jetzt für einen arroganten Idioten halten, kursieren zwischen den Teammitgliedern nun Terrabyte an E-Mails, mit denen die Deutschen sich gegen die angeblichen Intrigen des Spaniers abzusichern versuchen, was seinerseits den Spanier zu virtuellen Gegenschlägen zwingt, was wiederum die Deutschen … Die meisten virtuellen Teams beschäftigen sich mehr mit Cyber-Kriegen als mit Teamarbeit. Endresultat: allseitiges Misstrauen.

Verdecktes Cyber-Mobbing ist Volkssport in virtuellen Teams.

Das Märchen vom Misstrauen behauptet nun: „Virtuelle Teams sind leistungsschwach wegen des grassierenden, produktivitätsvernichtenden Misstrauens!“ Das ist keine Analyse, sondern eine Tautologie wie „Wasser ist nass.“ Natürlich vernichtet Misstrauen Produktivität! Aber daraus darf man doch nicht schlussfolgern, dass virtuelle Teams per se Produktivitätsvernichter sind, weil mit der Virtualität zugleich das Misstrauen kommt! Das Märchen behauptet eine Zwangsläufigkeit, die eben nur in schlecht geführten virtuellen Teams besteht:

Es stimmt: Virtuelle Teams sind besonders anfällig für Misstrauen. Sobald jedoch vertrauensbildende Maßnahmen eingesetzt werden, werden virtuelle Teams oft leistungsstärker als herkömmliche.

Wie diese Vertrauensbildung aussieht, diskutieren wir in den folgenden Kapiteln.

Das Insel-Märchen

Völlig irre wird es, wenn Leiter von virtuellen Teams haarscharf erkennen, dass sich ihr Team wegen des allseits gepflegten Misstrauens (s. o.) gegenseitig behindert, dagegen vorgehen wollen, eine vertrauensbildende Maßnahme beantragen und dann vom Vorgesetzten/Auftraggeber zu hören bekommen: „Wozu brauchen Sie das? Lassen Sie das mal! Virtuelle Teams heißen so, weil es keinen direkten, persönlichen Kontakt zwischen den Teammitgliedern gibt! Das ist auch nicht so wichtig, weil man sich bei diesen großen Entfernungen ohnehin nur um die Sachaufgaben kümmern kann und sollte.“ Ehrlich. Originalton. Irre!

Was der Vorgesetzte da kolportiert, ist 1:1 das Insel-Märchen: „Virtuelle Teammitglieder sind Inseln im Ozean – ohne Verbindung zum Festland. Also belass es dabei!“ Warum fallen Vorgesetzte und Auftraggeber auf so ein Märchen herein?

Erstens, weil sie die vertrauensbildende Maßnahme gegen das Misstrauen im Team bezahlen müssten und das tun viele Menschen nicht gerne, die Ausgaben nicht von Investitionen unterscheiden können. Und zweitens, weil viele Vorgesetzte schon im normalen Arbeitsalltag es nicht gerne sehen, wenn sich Mitarbeiter untereinander austauschen. Extrem zu beobachten in der Kaffeeküche: Drei Kollegen stehen da, trinken Kaffee und tauschen sich aus. Kommt der Chef vorbei und sagt was? Richtig, in allen Ländern der Welt, in vielen (glücklicherweise nicht allen!) Unternehmen und zu jeder Tages- und Nachtzeit: „Hamm’Se nichts Besseres zu tun? Fürs Rumstehen und Kaffeetrinken bezahle ich Sie nicht!“ Das heißt: Die „ganz normale“ Führungskraft abstrahiert heutzutage nicht nur von der produktivitätstragenden Horizontalkommunikation, der Vertrauensbildung und der virtuellen Führung, sie bekämpft sie geradezu! Natürlich unbewusst, unabsichtlich und unreflektiert, aber dafür umso wirksamer.

In konventionellen Teams ist dieser Führungsfehler nicht so gravierend. Da bricht sich die Horizontalkommunikation auch ohne das Placet der Vorgesetzten die Bahn. Der Chef kann schließlich nicht jedes Schwätzchen unterbinden und nicht den ganzen Tag in der Kaffeeküche herumlungern. In virtuellen Teams kann er es. Leider. Und killt damit die eigentliche Teamidee: Inseln sind kein Team, weil Inseln nicht vernetzt sind! Wie Sie trotzdem aus Ihren isolierten Inseln ein funktionierendes Netzwerk formen, auch das diskutieren wir in den folgenden Kapiteln. Falls das noch nötig ist.

Viele virtuelle Führungskräfte legen bereits früher los, sobald sie das Insel-Märchen als solches erkannt haben. Ein Bereichsleiter sagte mal: „Wenn das so ist, dann lade ich zu unserer Vertriebs-Jahrestagung auch gleich die Mitglieder der virtuellen Teams ein. Ob da noch hundert Leute mehr rumstehen und Kaffee trinken, ist kostenmäßig nicht wirklich relevant. Und den virtuellen Teams tut es gut, wenn sie auf so einem Event auch persönlich vernetzt werden.“ Genau das ist es.

Das Alle-Teams-sind-gleich-Märchen

Probleme mit virtuellen Teams gibt es schon lange. Wenn diese Probleme sich häufen, was machen Entscheider dann? Richtig: Sie schicken Projektleiter (manchmal auch Teammitglieder) zu Team- und Projektmanagement-Trainings. Auf dem Hintergrund dessen, was Sie inzwischen über virtuelle Teams gelernt haben: Bringt das was?

Ja, klar, die ersten beiden Male bringt das was. Und selbst danach lernt man als Projektleiter immer wieder gerne dazu. Doch wenn mir auf der Autobahn das Getriebe den Geist aufgibt, dann nützt es herzlich wenig, wenn ich flink wie Vettels Boxen-Crew einen Reifen wechseln kann:

Wer Projektmanagement rück- und vorwärts kann, kann deshalb noch lange nicht virtuelle Teams führen!

Doch genau dieses Märchen glauben Entscheider, denen nichts Anderes oder Besseres einfällt, als ihre Teamleiter immer wieder auf Projektmanagement-Trainings zu schicken. Das Märchen sagt: Virtuelle Teams sind wie konventionelle Teams – nur eben über den ganzen Globus verteilt. Doch genau das ist falsch.

Und es macht die herrschenden Probleme nur noch schlimmer, wenn virtuelle Teams wie normale Teams behandelt werden. Denn virtuelle Teams stoßen auf ganz andere Herausforderungen in ganz anderer Intensität als konventionelle Teams. Wenn Sie diese Herausforderungen erkennen und meistern (können), erwerben Sie sich eine Garantie auf Teamerfolg. Welche Herausforderungen sind das? Sind das viele? Nein. Es sind nur vier. Wie Sie diese Big Four meistern, erfahren Sie in den nächsten fünf Kapiteln.

In aller Kürze: Glaubt nicht an Märchen!