Bruno Frank
Tage des Königs
Drei Erzählungen
Bruno Frank wurde am 13. Juni 1887 in Stuttgart geboren. Seine Eltern waren der jüdische Bankier Sigismund Frank (1848 - 1930) und Lina Frank (1865 - 1960), Tochter des Frucht- und Kohlenhändlers Salomon Rothschild (1835 - 1870) und seiner Frau Jeannette. Die Familie war wohlhabend und engagierte sich im kulturellen Leben der Stadt Stuttgart, Franks Vater war Mitglied der Stuttgarter Museumsgesellschaft, die sich um die „Pflege gehobener Unterhaltung und der Weiterbildung auf literarischem und künstlerischem Gebiet“ kümmerte.
Bruno Frank besuchte zunächst das humanistische Stuttgarter Karls-Gymnasium, wurde jedoch, so Frank, nach einem „unbotmäßigen Vorfall“ 1902 der Schule verwiesen und wechselte daraufhin in das nicht unumstrittene reformpädagogische Landerziehungsheim Haubinda in Thüringen. Im Alter von 16 Jahren musste Frank auch Haubinda verlassen, nachdem er sich auf eine Liaison mit Maria Lessing eingelassen hatte, der ersten Frau seines Philosophielehrers Theodor Lessing. Er wechselte daraufhin zum Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart, wo er im Juni 1905 die Abiturprüfung ablegte.
Frank studierte Rechtswissenschaft in Tübingen, München, Straßburg, Heidelberg, Leipzig und Freiburg, nach eigener Aussage „mit heiligem Eifer, aber äußerst geringer Begabung“, und beschäftigte sich ansonsten intensiv mit Literatur und Philosophie. Bereits während seines Studiums veröffentlichte er Gedichtbände, Erzählungen und Romane, er promovierte schließlich zum Dr. phil. mit einer Dissertation über das lyrische Werk des schwäbischen Dichters Gustav Pfizer.
Nach dem Hitlerputsch im Jahr 1923 kam es zu einer zunehmenden Entfremdung von seiner Heimat. 1924 heiratete er Liesl Pallenberg, die Tochter der Operettendiva Fritzi Massary, und zog mit ihr 1926 nach München-Bogenhausen. Nicht weit entfernt wohnte Thomas Mann, mit dem Frank seit etwa 1910 eine lebenslange, enge Freundschaft verband. Nach dem Reichstagsbrand im Jahr 1933 verließen Frank und seine Frau Deutschland und lebten zunächst in der Schweiz, Frankreich und London, im Oktober 1937 emigrierten sie in die USA.
Nachdem Bruno Frank zunächst mit seinen Gedichtbänden auf sich aufmerksam gemacht hatte, veröffentlichte er ab 1911 zahlreiche Novellen und Erzählungen, Mitte der Zwanziger Jahre erschienen zwei Erzählwerke, die sich mit Friedrich dem Großen befassten, „Tage des Königs“ und „Trenck“. Frank verfasste auch Lust- und Schauspiele, darunter die seinerzeit sehr erfolgreiche Komödie „Sturm im Wasserglas“, die ab 1931 mehrmals verfilmt wurde, 1937 auch in der englischen Version „Storm in a Teacup“ mit Vivien Leigh und Rex Harrison als Hauptdarsteller.
Das bedeutendste Werk Franks ist der Roman „Cervantes“, in dem die wichtigen Stationen im Leben des spanischen Schriftstellers Miguel de Cervantes, des Verfassers von „Don Quichotte“, beschrieben werden. Obwohl Cervantes, verfasst im Exil und erstmals erschienen 1934 in Amsterdam, von der Kritik sehr gut aufgenommen wurde, war es aus wirtschaftlicher Sicht wenig erfolgreich.
Frank, der in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in der literarischen Szene Deutschlands eine wichtige Rolle einnahm, wurde hierzulande erst nach dem Krieg wiederentdeckt, geriet dann aber nach einer kurzen Renaissance zunehmend wieder in Vergessenheit.
Bruno Frank starb am 20. Juni 1945 in Beverly Hills.
„Ja, so verfahren sie mit mir, meine geliebten Brüder und Schwestern, die allerchristlichsten Könige und Kaiser, die Allerkatholischsten, die Allergläubigsten, die Allerapostolischsten – mit mir, dem Allerketzerischsten! Mit mir, so meinen sie, ist alles erlaubt. Mit mir ist alles möglich. Mich wollen sie von meinen Plänen, von meinen notwendigen Schritten abbringen. Mich wollen sie zur Schwäche verleiten lassen – durch wen? Durch einen parfümierten Beau, einen Ganymed. Ich weiß nicht, ist es mehr lächerlich oder mehr traurig oder mehr ekelhaft!“
Mit dem Sammelband „Tage des Königs“ veröffentlichte Bruno Frank im Jahr 1924 drei Erzählungen, in denen er versucht, Einblicke in das Leben des preußischen Königs Friedrichs II. zu geben, einer legendären Figur der deutschen Geschichte. „Friedrich der Große“, wie er auch genannt wird, oder „Der Alte Fritz“, war ab 1740 König von Preußen, später auch Kurfürst von Brandenburg. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter des aufgeklärten Absolutismus, einer Form der Fürstenherrschaft, die stark von den Gedanken der Aufklärung beeinflusst war.
Friedrich II. lebte von 1712 bis 1786 und entstammte dem Fürstenhaus Hohenzollern. Mit seinem tyrannischen Vater Friedrich Wilhelm I., den ausschließlich militärische und ökonomische Angelegenheiten interessierten, hatte er sich bereits früh entzweit. Nach dessen Tod bestieg Friedrich am 31. Mai 1740 den preußischen Thron. Er engagierte sich stark im gesellschaftlichen Bereich, setzte sich unter anderem für Bürgerrechte sowie die persönliche Handlungsfreiheit ein und verstand das Gemeinwohl als Staatspflicht. Zu seinen wichtigen Errungenschaften gehört auch, dass er die Folter abschaffte, die bis dahin zur Erlangung von Geständnissen noch zugelassen und üblich war.
Friedrich der Große, der sich selbst als „ersten Diener des Staates“ bezeichnete, leistete nicht nur viel für die wirtschaftliche Entwicklung seines Landes. Er legte auch die Grundlagen für das später eingeführte Prinzip der allgemeinen Pressefreiheit. Friedrich II. ermöglichte es außerdem, dass sich alle Bürger seines Landes schriftlich oder auch persönlich mit ihren Anliegen an ihn wenden konnten. Zudem bemühte er sich, Auswüchse des Feudalsystems einzudämmen. Seinen Beamten gegenüber war er misstrauisch, stets hegte er den Verdacht, sie seien geneigt, die ärmeren Schichten zu sehr zu benachteiligen. In seiner Erzählung „Der Großkanzler“ spielt Bruno Frank darauf an.
Friedrich führte eine Reihe von Kriegen, darunter den 1756 ausgebrochenen „Siebenjährigen Krieg“, in den praktisch sämtliche europäischen Staaten verwickelt waren. Nachdem 1763 Frieden geschlossen worden war, hatte sich Preußen als neue Großmacht in Europa etabliert. Der Preis dafür war allerdings hoch: Auf preußischer Seite fielen 180.000 Mann, auch die Verluste unter der Zivilbevölkerung waren enorm. Die Strapazen der Feldzüge machten Friedrich II. schwer zu schaffen, die Weltoffenheit, durch die er sich in seinen frühen Regierungsjahren ausgezeichnet hatte, wich im Alter zunehmend Verbitterung und Zynismus. Was blieb war die Liebe zu seinen Hunden, die in der Erzählung „Alkmene“ eines der zentralen Elemente darstellt.
Friedrich II. war ein belesener und sehr gebildeter Mann, der sich gerne mit intellektuell anspruchsvollen Gesprächspartnern umgab. Unter anderem pflegte einen engen Kontakt zu dem französischen Philosophen und Schriftsteller Voltaire (1694 - 1778), einem der wichtigsten Vertreter der Aufklärung. Der Einfluss Voltaires auf Friedrichs Ansichten ist nicht zu unterschätzen. Zu Frauen hatte Friedrich ein recht distanziertes Verhältnis, vermutet wird, dass er eher dem männlichen Geschlecht zugetan war. Darauf bezieht sich Franks Geschichte „Die Narbe“.
Das Bild vom Alten Fritz war im Laufe der Geschichte einem stetigen Wandel unterworfen. Mal galt er als Wegbereiter eines aufgeklärten, protestantischen Deutschlands, dann wieder wurde er als ausgesprochen undeutsch geschmäht. Einige Größen des Dritten Reichs schließlich sahen in ihm einen wichtigen Vorläufer des nationalsozialistischen Geistes, der sich durch Tugenden wie Disziplin, Standhaftigkeit und Vaterlandstreue auszeichnen sollte.
Zur wohlwollenden Sicht der Nationalsozialisten dürfte Friedrichs literarisches Werk beigetragen haben. Unter seinen zahlreichen Schriften findet sich auch der „Antimachiavell“ von 1740, in dem er unter anderem die Berechtigung von Präventivschlägen und Interessenkriegen darlegt. Nach Ansicht von Historikern hatte Friedrich damit vorab bereits die Begründung für die Eroberung Schlesiens 1740 und den Einmarsch in Sachsen 1756 geliefert.
In der vorliegenden Erzählsammlung versucht Bruno Frank, sich Friedrich dem Großen ausdrücklich nicht aus der Sicht eines Historikers zu nähern. Ihn interessierte eher der Mensch, feingeistig, stark an Literatur und Kunst interessiert und in vielerlei Hinsicht ein ausgesprochen ungewöhnlicher Vertreter seiner gesellschaftlichen Klasse und Epoche. So entstanden drei voneinander unabhängige Erzählungen über Episoden aus Friedrichs Leben, in denen Frank versucht, mit literarischer Freiheit, aber sich dennoch an die bekannten Tatsachen haltend, das Seelenleben des „Alten Fritz“ zu ergründen.
Hier liegt „Tage des Königs“ in einer neu bearbeiteten Ausgabe vor. Wie alle Werke der ofd edition wurde die ursprüngliche Druckfassung nicht automatisiert kopiert, sondern sorgfältig neu editiert und der aktuellen Rechtschreibung angepasst – die bessere Lesbarkeit und Gestaltung verhelfen so zu einem ungetrübten Lesegenuss.
Er war eigens von Potsdam zur Stadt gekommen, um die Arnoldsche Angelegenheit zu beenden, und saß nun im schlechtesten Zimmer dieses Schlosses, das er nicht mochte, einem einfenstrigen, schmalen Gelass, kaum ausgestattet, von einem primitiv, in Eile angebrachten Ofen bis zum Ersticken überheizt. Angezogen war er wie immer, nachlässig und ärmlich wie nicht einmal der letzte Fourageoffizier in einer westpreußischen Garnison: Zu abgeschabten Reithosen und klobigen Stiefeln trug er einen blausamtenen Überrock, der ins Grünliche schimmerte, und auf dem Kopf, seltsame Gewohnheit seit den Ahasverus-Jahren des großen Feldzugs, einen alten verbogenen Militärhut; der saß schief, die Generalsfeder war abgerissen, und an der Rissstelle hingen die Fäden herunter. Frisiert war er nicht, kaum recht gewaschen, die Haare waren ihm auf einer Seite des Kopfes schon weiß, auf der anderen noch gräulich, in seinem Mund staken ein paar gelbe Stummel, der Körper war gekrümmt von der Gicht und entsagte jedem Anspruch auf Haltung; der König bot einen hässlichen und verwahrlosten Anblick. Die Augen aber, die großen, sonderbar geschnittenen, bei denen man fast immer auch oberhalb der Iris das Weiße sah, sie strahlten und triumphierten über diesem Verfall, wie die Sonne über einem Tümpel.
So war noch kein König herumgegangen in seinen Zimmern, nicht in diesem Anstand und Repräsentation liebenden Jahrhundert und vielleicht in keinem. Das wusste er. Auch wenn man das Herz und das Hirn seines Staates ist, auch wenn man vierzehn Stunden am Tage sich abschuftet, auch dann noch kann man die Muße aufbringen, sich ein wenig zu pflegen und ordentlich zu kleiden, sofern man es will. Er aber wollte es nicht, aus Verachtung. Aus Verachtung für den Typus des Rokoko-Souveräns, der sich schmückt und amüsiert, aus Verachtung für seine Minister, Funktionäre und Generale, die in Galakleidern vor ihn hintraten, aus Verachtung für seinen Körper, der nicht dauern wollte, der nach dem Grabe neigte, aus Verachtung für das Grab, dem er nichts Rechtes mehr zu rauben lassen wollte, aus Verachtung aber auch für das Leben, das ihm kurz und jämmerlich und jeder Hoffnung bar erschien und dem man nicht die Ehre erweisen durfte, es auch nur durch ein paar kosmetische Handgriffe anzuerkennen. Aber es gab noch einen besonderen Grund, warum er sich selber so verkommen und verfallen ließ und mit geheimer Freude seiner elenden Silhouette sich bewusst blieb. Er wog seine Taten, er sah seine Staaten, er kannte seinen Ruhm, der die Meere und alle Gipfel überflog. Er wusste sich mit Ehrfurcht und Staunen beredet und beflüstert in den Sprachen weißer und gelber und brauner Menschen, er wusste, dass sein traditionelles Porträt vor aller Augen hing in Stuben und Sälen, und es erfüllte ihn mit einer schlimmen und traurigen Lust, sich, das Urbild dieser Überlieferung, zu entstellen und zu verderben.
Ja, es freute ihn, wenn ihm wieder ein Zahn aus dem Munde fiel, es freute ihn, wenn seine Kleidung recht sauer und dumpfig nach Tabak roch, es war schön, so armselig und heruntergekommen in einer Art Weißzeugkammer in der Brutwärme zu sitzen, während einen das ganze Geschlecht der lebenden Menschen über die Wolken versetzte, während man wusste, dass man dort oben durch die Zeiten unverrückbar stehenbleiben würde als ein Sternbild. Das war, in zynischer Greifbarkeit genossen, ein Höchstes, Schönstes, der wahre radikale Triumph des Geistes.
Er saß im Armstuhl, schlief zusammengekauert. Die eine Hand, die fast unerträglich schmerzte, hatte er in einen großen Muff aus schäbigem Pelzwerk stecken, der neben ihm auf einem Tische lag. Auf einem gleichen zur andern Seite stand eine große, achatene Dose, mit Brillanten überreich verziert, der er vielmals Schnupftabak entnahm, und Aktenstücke waren aufgehäuft. Eines hielt er in der freien, halb gesunden Hand. Es begann mit den Worten „Im Namen des Königs“ und war das Urteil. Er kannte die Formel als obligat, wie er alles kannte in seinen Staaten, aber er wollte das vergessen, er wollte in dieser Anrufung seiner Autorität einen besonderen, einmaligen Übergriff sehen; und er brachte es fertig.
„Meinen Namen cruel missbraucht!“, sagte er in die Stube hinein, und die Schläfenadern schwollen an seinem Greisenschädel, „wartet, Kanaillen!“
Es war ein kleiner privater Rechtsfall. Der Graf von Schmettau, ein Magnat im Frankfurter Kreise, beabsichtigt, einem Wassermüller die Mühle zu versteigern, weil der ihm die Pacht nicht bezahlt hat. Der Müller wendet ein, er sei ohne Schuld: Der Landrat von Gersdorff, Schmettaus Verwandter, habe oberhalb am Bache einen Fischteich angelegt, der entziehe seiner Mühle das Wasser und mache ihn arm. Das Küstriner Gericht entscheidet gegen den Müller. Der geht zum König. Der König bemüht sein Kammergericht, er bemüht den Großkanzler, den ersten Ziviljuristen seiner Staaten. Alle entscheiden gegen den Müller. Die Mühle soll versteigert werden, es gibt keine Appellation mehr, der Rechtsweg ist zu Ende.
Seit Monaten ist der König besessen von dieser Sache. Wenn in den Winternächten die Gicht ihn einmal schlafen lässt, jagt ihn ein seelisches Fieber in die Höhe, ein Fieber der verwundeten Gerechtigkeit. Ein Großer kann nicht Recht haben gegen einen Kleinen – es ist eine Maxime jenseits und bar aller Logik und darum desto unerschütterlicher. Oh, warum mussten die Kräfte eines Menschen begrenzt sein! Warum brauchte es zur Verwaltung eines Staates Gerichte und Ämter, warum reichte er selber nicht aus, er ganz allein! Der König, hatte er ausgesprochen, sei der erste Diener seines Landes, aber sein Wunsch, sein marternder Traum war es, nicht der erste zu sein, sondern der einzige. Er misstraute jedermann aus seiner tiefen Kenntnis von der Schlechtigkeit des Herzens, sich selber nur gestand er den Willen zu, gerecht zu sein, zu helfen, zu heilen. Er hätte mögen alles prüfen und entscheiden in seinen Staaten, die Streitigkeiten der Provinzen untereinander, der Gemeinden untereinander, der Familien untereinander, der Brüder gleichen Blutes unter sich. In den Menschen, die er regierte, sah er ein gewiss geringwertiges, aber vor allem ein armes, ein wundes Geschlecht, er hätte die Kräfte eines mythischen Riesen haben wollen, um nur alles selber zu tun. Sein Ekel vor den Inhabern der fremden Throne, die sich schön kleideten und Weiber aushielten und Feste gaben, war unsäglich; er hätte mögen die Weltkugel in den Armen halten, keineswegs mehr aus Herrschgier, denn er war aller Kriege und Eroberungen satt, sondern aus Dienstgier. Er spie zum Himmel; wohl erklärte er ihn für leer, aber er verhöhnte auch noch den Traum von einem Lenker, der dort thronend seinen Königsplatz so jämmerlich ausfüllte, der so viel Elend und Unrecht auf dem beherrschten Planeten zuließ.
Hier aber, hier – und die schwache Hand knitterte am Urteil –, hier hatte er einen Zipfel des allgemeinen Unrechts und der Niedertracht gefasst, den hielt er wie ein Glücksgeschenk. In Preußen wenigstens wachte er und war König und Manns genug, die Frechheit der Großen und der Ämter zu erwürgen. Er las nicht die Urteilsgründe, es konnte keine geben. Er haftete an der Formel „im Namen des Königs“, und das Blut eines empörten und altersstarren Vaters drohte seine Schläfen aufzusprengen.
Die Standuhr schlug eilig und hell die fünfte Stunde, im gleichen Augenblick trat der Heiduck ein und meldete die Richter. Der König stieß mit dem rechten, gesünderen Fuß die kleine, grün bezogene Bank um, die vor ihm stand. „Lass sie herein!“ Er war so zornig, wie er sein wollte.
Es traten ein der Großkanzler Freiherr von Fürst, Rebeur, Präsident des Kammergerichts, und die zwei Räte. Er, statt zu grüßen, zog sich den grotesken Hut noch ein wenig weiter in die Stirn und musterte die Männer, die in einer Reihe vor ihm stehen blieben. Endlich sagte er und raschelte mit dem Urteil:
„Ihr seid also die, die das gemacht haben?“
Die drei Richter verbeugten sich und murmelten etwas, der Großkanzler, eine distinguierte, im Galakleid schöne Erscheinung, wurde fleckigrot und biss die Zähne zusammen.
„Das ist Lumpenwerk und ganz schändlich.“
Der Kanzler hielt sich nicht länger. „Euer Majestät wollen verzeihen ...“
„Gar nichts verzeih' ich. Er hat's bestätigt, ich weiß Bescheid, mir macht Er nichts vor.“
Der Kanzler sah ihm finster ins Gesicht. Er war aus großem Haus und sehr begütert, weitgereist, jeden Erfolg in der Gesellschaft gewohnt, stolz und nicht ohne Grund stolz auf eine untadelige Amtsführung, voller Geringschätzung für die jämmerliche Quisquilie, mit der er hier befasst wurde, dazu unerschütterlich im Bewusstsein, den Fall gründlich untersucht und gerecht entschieden zu haben. Unmutig, beinahe mit Ekel, blickte er auf den verwahrlosten, starrsinnigen, alten Menschen da im Sessel, diese proletarische Karikatur eines Weltruhms.
„Er dort“, sagte Friedrich und wandte sich an den Kammergerichtsrat Graun, einen kleinen dicken Mann, der in seiner gestickten Uniform von allen am subalternsten aussah, „geb Er mir Antwort: was hat Euch der Schmettau bezahlt für Eure Sentenz?“
Dies war seine stete Idee, er hielt jeden Beamten und jeden Richter für bestechlich.
„Bezahlt“, stammelte der dicke Mann, „der Graf von Schmettau hat nichts bezahlt.“
„Euer Majestät mögen doch nicht glauben“, sagte der Präsident Rebeur, ein alter Herr in guter Haltung mit hellen freundlichen Augen, „dass ein preußisches Gericht anders urteile als nach seinem Gewissen.“
Der König murmelte ein Schimpfwort, mit schiefem Blick.
„Der Müller behauptet, jener Karpfenteich entziehe seiner Mühle das Wasser. Nun liegt aber zwischen dem Teich und der Arnoldschen Mühle noch eine andere Mühle, eine Schneidemühle ...“
„Andere Mühle, Schneidemühle“, schrie der König, „will Er sich lustig machen über mich? Bei mir wird nicht divagiert!“ Er schrie, weil er einen sachlichen Einwand kommen fühlte, und er wollte keinen hören.
Aber der Präsident war nicht von seinem Gedankengang abzulenken. „Diese Schneidemühle, Euer Majestät, könnte gleichfalls nicht funktionieren, wenn der Müller Arnold recht hätte. Sie funktioniert aber vortrefflich, und also hat der Müller Arnold unrecht, und der Graf von Schmettau hat recht. Auf diesem Grund ruht das Urteil des Küstriner Gerichts und auch das unsere“, schloss er mit einer Kopfbewegung nach der zerknitterten Rolle, die der König noch immer in Händen hielt.
Friedrich stand auf. An seinem Stock richtete er sich in die Höhe, ächzte kurz und korrigierte das Ächzen durch ein Räuspern. Dann begann er im Zimmer auf und ab zu gehen, hinkend und stampfend. Die drei Richter folgten ihm mit den Augen, nur der Großkanzler verschmähte das und blickte kalt geradeaus.
Friedrichs Phantasie arbeitete lebhafter, wenn sein Körper in Bewegung war; im instinktiven Wunsch, sie solle arbeiten, war er aufgestanden. Er bedurfte jetzt deutlicher Bilder und starker Gefühle, denn logisch schien unangreifbar, was der Präsident vorbrachte. Mit gesammelter Vorstellungskraft führte er sich das Schicksal des verurteilten Müllers vor Augen.
Er sah die königlichen Gerichtsdiener die Bauernstube betreten, mit ihren dreieckigen Hüten und schwarzen Portefeuilles, er sah sie die Siegel mit dem Königswappen anlegen an den kümmerlichen Hausrat, er sah in einer Stubenecke die jammernde Frau und die unwissenden Kinder, denen ihr Erbe genommen wurde. Der Müller stand dabei, verstummt und erledigt, mit dem einen Gedanken in seinem eckigen Kopf, dass also auch der Ruf an den König nichts gefruchtet habe, dass auch der König nichts vermöge gegen die Bedrückung durch einen Großen, dass auch in Preußen der Arme rechtlos und elend sei. Dann ging der Mann fort aus seinem Haus, das ihm nicht mehr gehörte. Er schaute noch einmal auf den Bach, der jetzt so flach und träge daherschlich, damit der Landrat seine Karpfen mästen konnte und sein Cousin billig die Mühle ersteigern.
Er stand mit den Seinen auf der Landstraße, ohne Dach, ohne Brot, ein ungerecht geschlagener und also rebellischer Untertan, unschlüssig, wohin sich wenden, ob links in den Obrabruch, ob rechtshin nach Schwiebus, stumpf gleichgültig auch dagegen, da ja in Preußen doch nirgends Recht zu finden war, nirgends, auch nicht beim König …
Nun hatte der sich dort, wo er sich haben wollte. Er trat dicht vor die Richter hin und zischte ihnen von unten her zu:
„Mich werdet Ihr nicht bête machen. Mich schiert kein Geschwätz. Ihr haftet mir dem Arnold mit Eurem Vermögen, das andere werdet Ihr sehen.“
Der Großkanzler ging einen Schritt zur Seite, von dem wütenden Alten fort.