Inhalt

Auftakt

Ankunft

Am italienischen Hof

Hereinspaziert

Metamorph

Ein Imbiss

Spiegelbildlich

La Signorina

Intermezzo

La Straniera

Gustiöse Ablenkung

Reminiszent

Rückblende

Der Schandfleck

Diebisch

Süße Verlockung

Così fa l’impresario

Konspirativ

Das Komplott

Flucht

Die Übergabe

Sei permessa

Ante portas

Pompös

Exorbitant

Bellini, Bellini!

You’re at home

Ad libitum

Kommentar

Personen

Auftakt

„Italien trauert um Vincenzo Bellini. Der Maestro verstarb im Alter von nur 33 Jahren in den frühen Morgenstunden des 23. September an einem schweren Leiden, das er seit Jahren in sich trug… Norma… I Puritani1… Opernkomponist… Begräbnis in seiner Heimatstadt auf Sizilien… Denkmal setzen…“

Mit dem Daumennagel drückt Lilly einen Falz in die Seite der Illustrierten, in der sie zufällig auf die Nachricht über Bellinis Tod stößt. Ihr Lieblingsmagazin hat sich in letzter Zeit angewöhnt, Bildung zu verbreiten: ‚Historical Facts’ nennt sich jene Rubrik, in der alte Zeitungsausschnitte präsentiert werden. Ach ja, und eine CD-ROM ist auch beigelegt – mit den neuesten Gratis-Downloads und ein paar musikalischen Kostproben zur jeweiligen Ausgabe – sie blättert zurück auf Seite 165… ‚Casta Diva – Aufnahme mit Maria Callas’ steht neben Track acht geschrieben.

„Lilly Moser! Dass man dich auch mal wieder im Markuselli sieht!“

„Dass man ‚euch’ mal wieder sieht, wir sind nämlich jetzt zu zweit.“

Ihre Freundin Ruth hat das schwarze Etwas unter dem Tisch übersehen. Aber nicht lange, denn Lucy schlägt mit mächtigem Bellen an, verheddert sich in der am Tischbein befestigten Leine, strauchelt und reißt das kleine Milchkännchen mit dem glücklicherweise nur noch lauwarmen Kakao in die Tiefe. „Pling“ macht es auf dem Marmorboden, das versilberte Geschirr springt unten auf, dreht sich nochmals kurz und bleibt dann friedlich liegen. „Lucy, du unerzogener Hund!“

Während sich Ruth über die heftige Begrüßung des Vierbeiners nur mäßig freuen kann, ist Lilly dabei, das Chaos zu entwirren.

„Hast du was zum Aufwischen, Ruth?“

„Nein, leider. Nimm doch die Zeitschrift da am Tisch. Seit sie Vanity Flair auf dieses Ökopapier drucken, saugt es fast so stark wie Küchenkrepp – – – Siehst Du“, verkündet Ruth stolz, „… tropft nicht mal.“

Unter den braunen Schlieren kann Lilly Vincenzo Bellini erkennen, der ihr nun weitaus verklärter entgegenschaut als kurz zuvor. Mit einem Blick auf die Uhr fällt ihr der Termin wieder ein.

„Ruth, ich muss leider – dank’ dir für Deine Mühe… Du, übrigens… ich kann doch nicht mit auf den Adventsmarkt gehen. Ein Freund meiner Eltern aus Amerika hat sich für morgen angesagt und ich soll mich unbedingt um ihn kümmern…“

Die letzten Worte Lillys überraschen Ruth ein wenig und sie entgegnet schnippisch: „Ein amerikanischer Freund? Hoffentlich gutaussehend und vermögend. Hast mir wohlweislich nie was davon erzählt, hm? Gibt es sie also doch noch, die reichen Bekannten jenseits des großen Teichs.“

„Pah, reiche Bekannte…“, denkt sich Lilly, nicht ahnend, wie sich ihr Leben durch den Besuch des elterlichen Freundes verändern würde.

Ankunft

Mehr als erschöpft blinzelt Lilly aus dem Bus. Der letzte Schneesturm hat seine Spuren hinterlassen und einige Bäume umgeknickt.

„Flughafen Salzburg, bitte alle aussteigen“, verkündet die klirrende Autobusstimme, „Umsteigen zu den Linien…“

Schlaftrunken stolpert sie in Richtung Gehsteig und versucht, dem Gewirr aus Hinweisschildern und Laufschriften zu entnehmen, wo die Maschine aus Frankfurt eintreffen soll. „Direktflug New York – Frankfurt, Umstieg in Flug 232-300 nach Salzburg“, steht nur mehr schwer lesbar auf dem Fax geschrieben, das sie von ihrer Mutter erhalten hat. Und weiter, „Unser Freund Matthew lebt seit seiner Jugendzeit in den USA, wir haben ihn aber lange nicht mehr gesehen. Pass gut auf ihn auf, er hat schwere Zeiten hinter sich…“

Lilly überfliegt den nächsten Absatz.

„… Sein voller Name ist Matthew BELLINI…“

Bellini, Bellini… War das nicht der Opernkomponist aus den ‚Historical Facts’?

Der Bellini von Mama ist bestimmt klein und dick. Also keiner, mit dem man einfach so Witze reißen kann. Wohl eher einer dieser normalen Amerikaner. Einer, der bestenfalls eine peinliche Mütze trägt, die Videokamera um den Hals geschlungen hat und auch im Winter mit Shorts und Turnschuhen rumrennt – weiße Turnschuhe, dazu weiße Tennissocken mit engem Gummibund und drei farbigen Streifen. Immer Farben, die nicht zusammenpassen…

Lilly zückt ihr Willkommensschild. ‚Mr. Matthew BELLINI’ steht darauf geschrieben, und wie eine Fremdenführerin trägt sie es vor sich her, nicht ohne sich dabei peinlich berührt von Zeit zu Zeit am Kopf zu kratzen. Nachher mit einem unattraktiven, dicken, kleinen Mann gesehen zu werden – darauf hat sie nun wirklich keine Lust.

„Hi! Suchst Du mitsch? Ich bin Matt. Matt Bellini.“

Die Überraschung hätte größer nicht sein können: Wer da vor ihr steht, ist nicht der amerikanische Standard-Tourist. Nein, Matthew Bellini misst weit über 1,80 Meter, er ist groß und schlank. Mit kurzem, graublond glänzendem Haar. Unter einem Trenchcoat aus Sympatex, der ungezwungen offen steht, trägt er einen schwarzen Business-Anzug, dazu schwarz polierte Schuhe. Das Mobiltelefon hat er lässig zwischen Hals und Ohr eingeklemmt.

„No, I said no phone calls till tomorrow evening… Yes, yes, I got the new information from the office…“

Lilly kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„Du musst die Lilly sein, ricktick?“

Bellini streckt ihr die Hand entgegen.

„Ja, ja… ehm, es war… es ist nur, ich dachte nicht, dass Sie…“

Er grinst.

„Ah, ich versteh’ schon – Du dacktest, ick seh aus wie einer von diese typischen Amis, right?“

Verschämt nickt Lilly mit dem Kopf.

„Dann lass uns mal eine Taxi rufen. Mein Hotel heißt ‚Italian Hoff‘. Kennst Du es?“ „Ja, natürlich, der ‚Italienische Hof‘!“ Über ihnen grollt der Lautsprecher.

„… Aufgrund des schlechten Wetters muss mit erheblichen Verzögerungen gerechnet werden. Bitte beachten Sie die elektronischen Anzeigetafeln. Wir bitten um Ihr Verständnis…“

„Der Taxistand ist übrigens in die andere Richtung, Mr. Bellini“, versucht Lilly, den zerstreut Davoneilenden zu stoppen.

„Hey Lilly, nickt so formlick. Nenn mich einfach ‚Matt’, okay?“

„Aber… wir kennen uns ja noch gar nicht und Sie sind doch um einiges älter als ich und…“

„Wir haben ja im Taxi Zeit, uns kennenzulernen. Ich muss jetzt nur flott in die Hotel, weil ich dort am Nackmittag eine wischtige Sitzung mit diese Leuten aus Zurick habe. Und Du weißt ja, Lilly, die Schweizer ticken so wie eine Schwarzwalder Clock. Right? Die sind keine einfachen Business partner. Immer musst Du on time sein, und wenn Du es einmal nicht bist, sagen sie Dir bald bye bye…“

Matt spricht noch eine Weile weiter. Über seine Firma, die ‚Freeland Chips’ heißt und Computerhardware erzeugt, über seine Familie, die zwei Söhne – – von seiner Frau ist allerdings nicht die Rede. Dabei schiebt er den leicht dahinrollenden Gepäckwagen vor sich her und macht von Zeit zu Zeit weit ausschweifende Handbewegungen.

„Matt, wart’ mal, wir sind ja schon da!“, wirft Lilly ein, als auch schon einer der übereifrigen Taxifahrer auf sie zueilt und mit beiden Händen Matts schwarze Koffer packt.

Im Taxi ist es endlich warm. Kein eisiger Dezemberwind mehr, der selbst besten Ohrenschützermützen trotzte und sich nachhaltig in den Gehörgängen vertiefte.

„Zum ‚Italienischen Hof‘ bitte“, wies Lilly den Fahrer, der es sich auf seinem Schafwollüberfell bequem machte, von hinten aus an.

„Sag’ mal, Lilly, muss man im Dezember bei euch immer den Heater dabeihaben? Ich glaub’, meine warmen Boots waren besser… brrr… ‚Schweinekalt’ heißt das, stimmt’s?“

„Ehm, ‚saukalt’, ja, wir nennen das ‚saukalt’. Ab morgen soll der Wind schon wieder etwas nachlassen. Dann wird auch mehr Schnee liegen bleiben.“

„Yeah, White Christmas – in den Staaten kaufen wir uns diese weißen Sprays for die windows.“

Nach detaillierten Ausführungen über Weihnachten in ‚good old USA’ erzählt Matt von seinen Geschäften und dem Treffen mit den Schweizern, das man auf Punkt 15 Uhr angesetzt hat. Der Auslieferungszeitraum neuer Computerchips soll festgelegt werden, und finanzielle Aspekte sind auch noch zu klären. Alles in allem ein guter Grund für Matt, den weiten Weg nach Salzburg nicht zu scheuen. Wie Lilly im Lauf des Gesprächs bemerkt, ist es in seinen Kreisen üblich, sich gegenseitig zu besuchen, weshalb Matt Bellini am darauffolgenden Tag nach Zürich reisen will.

Im Januar erwartet er die Schweizer Delegation dann in New York, und so würde es weitergehen, bis alle Formalitäten unter Dach und Fach gebracht wären.

„Ah!“, fährt Matt ruckartig herum, als das Taxi schon fast da ist, und seine Augen funkeln. „Ick habe noch zwei tickets for uns heute abend for die Oper von meine Namensvetter. The show starts at 8 p.m. Hast Du Lust, Lilly?“

Vielsagend wedelt Matt mit den Eintrittskarten.

Am italienischen Hof

„May I help you, Sir?“ Mit geübtem Griff befördert der Hoteljunge die Gepäckstücke auf das edle Messingwägelchen und stolziert galant in die Hotelhalle.

„Welcome at home, Mr. Bellini“, meint er dann, bevor er den Aufzug ruft und sich mit einer etwas altmodisch wirkenden Verbeugung empfiehlt. „Am schönsten ist es trotzdem immer noch zu Hause“, entgegnet Matthew schlagfertig und gibt dem Pagen zwei Euro. „My home is my castle, mio castello, you know!“

Lilly und Matthew vereinbaren, sich eine Stunde vor Vorstellungsbeginn im Foyer des Hotels zu treffen und von dort aus gemeinsam zum Opernhaus zu schlendern. „Ciao ciao, see you in der Norma, Lilly!“

Matt Bellini steigt in den Aufzug und die Türe schließt sich.

In Windeseile macht sich Lilly auf den Weg nach Hause. Dieser Matt ist wirklich ein Grund, sich etwas ausgiebiger auf den Abend vorzubereiten. Als Erstes ist dazu Ruth nötig. Die aber…

„Hallo, hier ist die Mailbox von Ruth. Hinterlass’ mir eine Nachricht, damit ich nicht leer ausgehe… biiiiiip…“

„Ruth? Hi, ich bin’s, Lilly. Du, ich hab Dir doch vom Freund meiner Eltern erzählt, der Salzburg besuchen kommt. Stell Dir vor, er lädt mich heute Abend in die Oper ein – Du, ich bräuchte Dich ganz dringend als Hundesitter für Lucy. Ist das ok? Du hast ja meinen Schlüssel – ruf ’ mich doch bitte an, sobald Du deine Mailbox abhörst… Du hast was gut bei mir – dank’ Dir, ciao!“

Als der Wasserkessel pfeift, legt sie das Telefon beiseite. Einen Kaffee später steckt sie in ihrem dunklen Abendkleid und fühlt sich auf einmal wie verwandelt. Die Pendeluhr am Gang ermahnt sie, sich auf den Weg zu machen.

In der Hotelhalle des ‚Italienischen Hofs’ herrscht hektische Betriebsamkeit. Fliegende Boten da, eilende Gäste dort.

„Entschuldigen Sie, sind Sie Fräulein Moser?“, fragt die Rezeptionistin. Auf Lillys zustimmendes Nicken gibt sie ihr einen Zettel aus dem Fach, in dem Matts Schlüssel hängt: „Ich habe hier eine Nachricht für Sie von Ihrem italienischen Bekannten.“ Ihre gepflegten Hände überreichen Lilly einen Umschlag, auf den das vornehme Hotel-Emblem gedruckt ist.

„Dear Lilly, das Meeting ist schwierig, but you should visit Norma in any case. Ci vediamo! M. Bellini“

Mit einer edlen Klammer sind zwei dunkelrote Eintrittskarten an Matthews Schreiben geheftet. Bellinis Tinte ist auf dem Büttenpapier verwischt. Es scheint, als sei er in Eile gewesen.

Hereinspaziert

„Reihe 4, Platz 75“, sagt der Platzanweiser mit Blick auf das Papier. „Signorina“, ruft er ihr kurz darauf nach, „Sie haben ja zwei Tickets!“ Lilly hält kurz inne. „Oh, das – das geht schon in Ordnung. Mein Begleiter ist leider verhindert…“

Dumpfes Gemurmel des älteren Billeteurs dringt zu ihr – fast glaubt sie, ein leises „Die ‚Norma’ lässt man doch nicht verfallen!“ vernommen zu haben.

Zuerst aber will sich Lilly erfrischen. Kaum betritt sie die Damentoilette, klingelt ihr Handy. Es ist Ruth, die bestätigt, dass sich mit Lucy alles in bester Ordnung befinde. Endlich kann Lilly das lästige Mobilding getrost abschalten und steckt es in das Innenfach ihrer kleinen Handtasche. Nachdem sie sich etwas zurechtgemacht hat, spendet sie der dankbaren Klofrau noch einen Silbertaler und lässt mit dem Klingeln der Münze den Duft von Seife und Parfum hinter sich.

Voller Vorfreude kuschelt sich Lilly in den gut gepolsterten Sessel der vierten Reihe. Das Programmheft verrät, dass heute Maestro Lunti das Orchester dirigieren wird. Die Namen der Sängerinnen und Sänger allerdings sagen Lilly nichts, sie klingen zudem recht fremd für ihre Ohren. Offensichtlich hat das Salzburger Opernhaus aus Budgetgründen einmal mehr eine italienische Produktion eingekauft.

Arglos blättert sie weiter im Programm – und traut ihren Augen nicht, als sie bei der Biographie des Komponisten abermals dem Vanity Flair-Bild Vincenzo Bellinis entgegenblickt. Erschrocken lässt sie das Heft fallen.

„Darf ich?“ Die nette ältere Dame zu ihrer Rechten, die gerade mit dem Zurechtrücken ihrer Damenstiefeletten beschäftigt ist, reicht ihr das Büchlein entgegen.

„D… danke“, stottert Lilly, „das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen.“

Etwas verdattert sieht sie in die Augen ihrer Nachbarin, die dezent hinter einer altmodisch anmutenden Nickelbrille verborgen sind. Über den wohlförmig gezupften Augenbrauen zeichnen sich leichte Stirnfalten ab, die durch üppig aufgetragenen Puder gerade noch überdeckt werden. Der viel zu weiße Haaransatz gleicht beinahe einer Perücke und lässt die vornehme Erscheinung wie aus dem neunzehnten Jahrhundert wirken. Hinein in Lillys ausgiebige Musterung fragt die Dame flüsternd: „Sind Sie Musikstudentin?“

Sorgfältig geschminkte Lippen verleihen ihrem Gesicht dabei einen äußerst sanften Anschein.

„Ehm – nein, ich habe eher weniger mit Musik zu tun.“

„Ah, ich verstehe… Dann haben Sie die Karte also vermacht bekommen und Ihre Begleitung ist womöglich verhindert?“

„Ja, genau, das stimmt. Woher…“

„… woher ich das weiß?“, neigt die ältere Dame den Kopf, „Nun…“

Ein erstes Aufschwellen der Musik unterbricht die beiden und Lilly beobachtet, wie die reizende Dame mit gespitzten Fingern die Schubertbrille abnimmt.

Nach einer Weile wendet sie sich erneut an Lilly: „Kennen Sie die ‚Norma’? Meiner Meinung nach ist sie die schönste Oper Bellinis… – – Da!“, richtet sie sich auf, „War er nicht wunderschön, Signor Vincenzo?“ Dabei deutet sie auf Bellinis Konterfei.

„Ja, in der Tat“, muss Lilly lächelnd zugeben, als sie zum wiederholten Male mit dem Portrait des Komponisten konfrontiert wird. „Ich nehm’ mal an, die Mädels würden heute noch auf ihn abfahren…“

„Übrigens“, legt ihre Sitznachbarin die Hände übereinander, „wissen Sie, dass heute ein ganz besonderer Tag ist?“

Der Blick der Frauen begegnet sich.

„Heute“, wispert sie, „heute Abend, am 26. Dezember, wird die ‚Norma’ uraufgeführt, und Sie und ich, Lilly, wir beide dürfen dabei sein!“

Lilly? Hatte sie Lilly gesagt? Genau, Matt hatte ihren Namen ja auf den Umschlag mit den Eintrittskarten geschrieben. Aber befand sich der nicht in der Handtasche? Und was sollte das, heute würde die ‚Norma’ uraufgeführt? Im Programmheft stand doch, dass die ‚Norma’ bereits 1831 uraufgeführt worden sei… – – und zwar nicht in Salzburg, sondern in Mailand.

Soviel Ungereimtheiten kann Lilly dem Glas Sekt-Orange beim besten Willen nicht zuschreiben. Gerade will sie sich der älteren Dame zuwenden, um ein paar Fragen zu stellen – als das Licht abgedunkelt wird, der Vorhang sich hebt und Maestro Lunti den Taktstock ergreift, um mit der Ouvertüre zu beginnen…

Metamorph

Eine Weile muss vergangen sein, denn Lillys Bein ist eingeschlafen. Ein wirklich störender Huster lässt sie zusammenzucken. Doch was ist das? Dort, wo Matthew hätte sitzen sollen – sitzt jemand! Bloß ist es nicht Matthew.

„Wie um alles in der Welt kommt denn der da hin?“, überlegt Lilly schlaftrunken. „Vielleicht ist er ja nur um einen Platz weitergerutscht, weil er nicht gut genug sehen konnte?“

Vorsichtig schielt sie hinüber. Der Mann neben ihr sieht aus, als käme er aus dem Biedermeier. Unter dem braunen Sakko trägt er ein beigefarbenes Seidenhemd, dessen Stehkragen von einem weißen Schal ummantelt ist. Das Haar des neuen Sitznachbarn, dessen dunkelbraune, buschige Koteletten viel zu lang und längst unmodern sind, ist gewellt und sorgsam nach hinten gekämmt. Seine kräftigen Augenbrauen geben der Stirnpartie einen gewaltigen Schwung, der nur durch die kantige Nase und den schmalen Mund wieder aufgefangen wird.

Schweißperlen bilden sich auf Lillys Stirn, als sie zudem entdeckt, dass der intensiv gestikulierende Dirigent Maestro Lunti alles andere als ähnelt. Auch er trägt nun plötzlich diese eigenartige Kleidung, ebenso die Musiker, von denen gegen jede Mode mindestens zwei Drittel buschige Koteletten haben. Und – die Beleuchtung der Notenpulte: Kerzenständer?! Ist offenes Feuer im Orchestergraben nicht verboten?

Jemand klatschte in die Hände. Ganz vorne. Aber es war kein Applaus. Als das Orchester beginnen wollte die Sopranistin emporzutragen, als die ersten ruhigen Klänge der ‚Casta Diva’ durch den Raum schwebten – genau da klatschte jemand in die Hände.

„Nein, nein, nein, meine Herren – no, no, no, Signori, so geht das aber nicht! Bitte nochmal da capo.“

Es war die Stimme eines Mannes, der angespannt wirkte.

„Sie müssen auf Giuditta eingehen, nicht ihr davonlaufen. Immerhin handelt es sich bei meiner Musik um keine leichte Musik. Also bitte!“

Seine letzten Worte klangen harsch. So, als wüsste er, wovon er sprach.

Lilly fühlte sich unwohl. Als sie an sich herunterblickte, wusste sie, warum sie so schlecht Luft bekam: Ihr dunkles Kleid war in der Taille so eng geschnürt, dass ihr schwindlig wurde bei dem Gedanken, sich selbst in einem Mieder zu befinden, das für diese Figur verantwortlich war.

Was war geschehen?

Wie konnte es sein, dass sie sich ganz offensichtlich an einem Ort befand, der voller eigenartiger Gestalten war – und wo man augenscheinlich eine Oper probte, anstatt sie zur Aufführung zu bringen?

Von links kamen die vertrauten Huster, und auch Lilly verspürte nun ein Kratzen in ihrer Kehle, das sich in heiserem Hüsteln äußerte.

„Gnädiges Fräulein!“

Der sich räuspernde Nachbar reichte ihr ein Stofftaschentuch, welches er aus der Innentasche seiner Anzughose gezogen hatte.

„Darf ich Ihnen dies hier zur Hilfe anbieten? Glauben Sie mir, es ist gut, sich ein Tüchlein vor den Mund zu halten. Der Husten…“

Ein neuerlicher Anfall unterbrach ihn.

„… Der Husten geht dann schier von ganz allein. Sie werden sehen!“

Überrascht von so viel Hilfsbereitschaft nickte Lilly dankend und streckte ihre Hand aus. Dabei merkte sie, dass die Ärmel ihres Kleides etwas länger waren als zuvor.

„Wissen Sie“, schweifte ihr Sitznachbar aus, „bei mir…“

Er räusperte sich erneut und versuchte, diesen Umstand durch eine Handbewegung zu überspielen.

„… bei mir ist das mit dem Husten keine alltägliche Geschichte.“

So, als wollte er Lilly ein Geheimnis anvertrauen, lehnte er sich zu ihr hinüber.

„Ich bin Bibliothekar am Conservatorio zu Neapel und – nehmen Sie es mir nicht übel, gnädiges Fräulein – aber die jungen Leute von heute, diese Studenten…“

Fast schon verärgert strich er sich eine Locke aus der Stirn.

„… wer kümmert sich heutzutage denn noch wirklich, in welchem Zustand die Noten retourniert werden? Da kommen welche, die haben monatelang eine Partitur entliehen, und der Staub…“

Abermals musste er husten.

„… Sie sehen ja. Mein Beruf ist nicht frei von Nebenwirkungen…“

Während er sprach, studierte Lilly die Gesichtszüge ihres Nachbarn. Sie waren freundlich und so beschloss sie, sich ihm anzuvertrauen.

„Entschuldigung, dürfte ich…“

Lilly wusste nicht, wie sie ihrem Gegenüber die mehr als merkwürdige gegenwärtige Situation erklären sollte.