ISBN: 978-3-95573-716-0
1. Auflage 2017, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2017 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de
Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung von shutterstock Bildern.
Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Nils Hanson hatte ein paar Angewohnheiten, die seinen Kollegen Fenko Ohlsen zunehmend nervten. Nils klopfte nie an, bevor er in Fenkos Büro hereinschneite, nein, der Herr betrat den Raum wie ein Star die Showbühne. Es hätte nur noch gefehlt, dass er unter der Tür stehen blieb, die Arme ausstreckte und "Look, it’s me!" gesungen hätte. Das tat er nun nicht, dafür rief er im sprachgeschulten Bariton:
"Hey, Alder, was ist los? Noch nicht fertig?"
Fenko unterdrückte den Fluch, der ihm auf der Zunge lag, und schaltete den Bildschirm aus. Erst dann blickte er auf und sah seinen Kollegen an. Nils’ Outfit war wie immer total stylish-schick. Perfekter Jogging-Look, wahrscheinlich im Wert eines normalen Arbeiterlohns. Aber Nils war ja kein normaler Arbeiter. Er war der technische Leiter eines großen Unternehmens mit rund hundertsechzigtausend Euro Jahreslohn, Firmenmercedes und inzwischen sechs Eigentumswohnungen in Emden, Norden und Norddeich, von denen er eine selbst bewohnte und die anderen an Feriengäste vermietete.
"Feierabend für heute!", kommandierte er befehlsgewohnt. "Wir haben für diese Woche echt genug Wunder bewirkt und Eisen aus dem Feuer geholt. Jetzt ist Weekend angesagt."
Fenko nickte. Die Woche war wirklich hart gewesen. Was schiefgehen konnte, war schiefgegangen und als Leiter der Produktentwicklung hatte er natürlich mächtig eine auf den Deckel bekommen, obwohl eigentlich andere die Schuld an der Misere trugen. Bis vorgestern hatte er mit seinen besten Mitarbeitern und Leitern anderer Abteilungen an den Problemen gebastelt und vor genau vier Stunden waren die Testläufe beendet worden. Es sah ganz so aus, als ob die Fehler behoben waren und die Produktion nun wieder reibungslos weiterlaufen konnte.
Er warf einen kurzen Blick auf sein Handy, um sich zu vergewissern, dass die Rufumleitung aktiviert war, dann stand er auf und streckte sich, damit seine vom Sitzen verspannte Muskulatur gelockert wurde. Eigentlich bereute Fenko inzwischen seine Zusage, das Wochenende in Norddeich zu verbringen. Viel lieber wäre er in seine Wohnung gefahren, hätte sich in seine bequemen Freizeitklamotten geschmissen, sich auf sein Sofa geworfen und per Streaming-TV dauerberieseln lassen. Aber Nils würde tierisch beleidigt reagieren, wenn Fenko die Verabredung cancelte. Außerdem stand heute Abend die große Firmenparty an und es brachte ja auch nichts, das ganze Wochenende faul irgendwo herumzuliegen. Also riss Fenko sich zusammen und setzte eine Miene auf, von der er hoffte, dass sie Unternehmungslust ausdrückte.
"Super!" Nils schien sie jedenfalls zu überzeugen. "Wo sind deine Sportsachen?"
"Im Auto." Fenko schloss sein Büro ab und gemeinsam liefen sie die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.
"Okay", wandte Nils sich an den Kollegen, als sie den Parkplatz erreicht hatten. "Wir treffen uns in Norddeich auf dem Frisia-Parkplatz. Wer zuerst ankommt, kriegt vom anderen heute Abend ein Bier ausgegeben."
"Gebongt", stimmte Fenko zu, obwohl er null Lust auf diese Wettrennen hatte, die Nils so gerne veranstaltete. Er machte einfach aus allem einen Wettkampf, das nervte Fenko mehr und mehr.
Wurde er alt? Dieser Gedanke wanderte durch seinen Kopf, während er im Waschraum seinen Anzug gegen Laufkleidung tauschte. In der letzten Zeit fühlte er sich jedenfalls immer häufiger wie ein Greis. Irgendwie war ihm der alte Pep abhandengekommen. Er fühlte sich müde, ausgepowert und kraftlos, manchmal so sehr, dass er morgens auf allen vieren aus dem Bett kroch. Aber wenn man eine leitende Position innehatte und noch weitere Sprossen auf der Karriereleiter erklimmen wollte, durfte man keine Schwächen zeigen – weder körperlich noch emotional. Im Management war es wie in einem Rudel wilder Tiere: Wer Schwäche zeigte, wurde gefressen.
Obwohl es inzwischen herbstlich kühl geworden war und der Himmel häufig tristes Grau zeigte, riss der Besucherstrom an den Wochenenden immer noch nicht ab. Besonders die Menschen aus Nordrhein-Westfalen nutzten die freien Tage für einen kurzen Trip an die Küste oder auf die Inseln. Deshalb mied Fenko die Fahrt durch Norden, stattdessen bog er vorher auf die Umgehungsstraße ab, die direkt zu den Parkplätzen und Fähranlegern führte.
Nils und er planten ein "Party-Chill-out-Arbeitswochenende", denn es gab ein paar Produktionsprobleme und zwei Neuerungen, über die sie intensiv beraten wollten. Heute Abend wollten sie dann auf das große Firmenfest gehen und vielleicht am Sonntagmorgen ein wenig im Ocean Wave chillen, damit sie am Montag ausgeruht wieder in das Hamsterrad ‚Job’ zurückkehren konnten. Beginnen sollte das Programm mit einem Jogginglauf über den Deich, der wahrscheinlich ziemlich easy werden würde, weil trotz des herbstlichen Wetters kaum ein Lüftchen wehte.
Wie Fenko es erwartet hatte, stand Nils bereits breit grinsend neben seinem Auto.
"Warst du noch einkaufen?", stichelte er, als Fenko ausstieg.
"Klappe", knurrte dieser, nahm seine Trinkflasche aus der Sporttasche und musterte seinen Kollegen herausfordernd. "Und, noch nicht in Neßmersiel?"
"Angeber", lachte Nils, dann gingen sie los, vollführten auf dem Deich ein paar Aufwärmübungen. Danach liefen sie über die Krone in Richtung Osten, wobei sie hier und da ein paar Schafe trafen, die sich aber keinen Deut um sie kümmerten.
Es herrschte Ebbe, Strandläufer und Austernfischer staksten auf der Suche nach Nahrung im nassen Sand herum. Über ihnen kreisten Möwen, weit draußen in der Fahrrinne nach Norderney schwamm eine Fähre, die Urlauber auf die Insel brachte.
"Meine Güte, du schnaufst ja wie eine Dampflok", stellte Nils fest, als sie etwa zehn Minuten gelaufen waren. "Was ist los? Formtief, zugenommen, die Woche nicht trainiert?"
"Einfach nur schlapp", keuchte Fenko, der immer noch nicht seinen Laufrhythmus gefunden hatte. An seinen Knöcheln schienen Kilogewichte zu hängen.
"Würde ich auch sagen." Nils musterte ihn von der Seite. "Willst du schon in die Wohnung gehen? Ich komme nach, wenn ich mein Pensum geschafft habe."
"Nein", lehnte Fenko ab, doch nach weiteren fünf Minuten konnte er wirklich nicht mehr.
"Ich – muss – mich – hin – set – zen." Mit letzter Kraft wankte er zu der Bank, die am Rand des Deichkronenweges stand.
"Okay." Mit beneidenswerter Fitness trabte Nils weiter. Er schnaufte noch nicht einmal. "Hier!" Er warf Fenko seinen Wohnungsschlüssel zu. "Mach es dir schon mal bequem."
"Danke." Neidisch sah er dem Kollegen hinterher, der locker federnd davonjoggte. Er selbst brauchte glatte zehn Minuten, bis sich sein Herzschlag und seine Atmung wieder normalisierten. Aber es war schön, hier zu sitzen und aufs Watt zu schauen. Über Norderney war der Himmel aufgerissen, es schien sogar die Sonne. Und am Strand spielten drei Kinder Fangen, während ihre Eltern Hand und Hand dahinspazierten. Hinter Fenko blökte ein Schaf.
"Ja, ist ja gut", sagte er zu der Herde, aus der ein paar Tiere zu ihm herübersahen. Der Rest graste unbeeindruckt weiter. "Ich geh ja schon weiter."
"Mäh", kam es zurück, worauf Fenko leise lachen musste. Erholt und gut gelaunt begab er sich auf den Rückweg, im Trab, denn, dass er wie ein Opa im leichten Rentnerschritt zurückschlich, erlaubte seine sportlich-männliche Ehre nicht.
Vor ihm tauchten die ersten Häuser von Norddeich auf. In der Ferne konnte man den Schiffskran erkennen, der zur Werft im Industriehafen gehörte. Fenkos Herz klopfte schon wieder wie ein Dampfhammer, aber er lief verbissen weiter, entschlossen, die Schwäche seines Körpers zu ignorieren. Wie so häufig im Leben, wenn der Mensch hartnäckig bestimmte Signale übersieht, schlug das Schicksal auch hier mit harter Hand zu. In diesem Fall bediente es sich eines "Werkzeugs", und zwar eines kleinen, wuseligen Yorkshire Terriers, der wie aus dem Nichts auftauchte, fröhlich hüpfend Fenkos Weg kreuzte und das so dicht vor dessen Füßen, dass dieser ins Straucheln geriet.
Der Hund winselte erschreckt, rannte konfus zwischen Fenkos Füßen herum, brachte ihn damit gänzlich aus dem Gleichgewicht, sodass dieser sich überhaupt nicht mehr fangen konnte und der Länge nach hinschlug. Leider fiel er auf den Hund, der allerdings mehr vor Schrecken als vor Schmerzen aufjaulte und Fenko empört in die Hüfte biss.
Der schrille Hundeschrei und das anschließende Fiepen und Jammern des Tieres riefen dessen Frauchen auf den Plan, das Fenko bitterböse anfunkelte, während sie ihr Herzblatt unter ihm hervorholte und es an ihren ausladenden Busen presste.
"Können Sie nicht aufpassen?", herrschte sie Fenko an, der benommen auf dem Boden hockte. "Oh mein armes Schätzchen, mein Liebling. Hat dir der böse, böse Mann wehgetan?" Das war an den Winzhund gerichtet, der daraufhin noch herzzerreißender wimmerte. "Mein Puky ist verletzt, ganz schlimm sogar!", wandte sich die Dame nun wieder an Fenko. "Ich werde ihn zum Tierarzt bringen und die Rechnung bezahlen Sie, verstanden?"
Fenko starrte sie nur verblüfft an, dann drehte er sich leicht zur Seite, um aufzustehen, aber allein diese Bewegung reichte aus, um einen solchen Schmerz in Fenkos linkem Bein aufflammen zu lassen, dass nun er aufschrie. Es war, als würden Feuerpfeile durch seinen Knöchel und die Wade rasen. Ja, das Bein tat derartig weh, dass ihm übel wurde und er sich wieder hinlegen musste.
"Auf dieses Schauspiel fallen wir nicht rein!", teilte ihm die Dicke herzlos mit, während sie ihren Puky schützend an sich presste. "Sie meinen wohl, dass Sie sich so vor den Arztkosten drücken können?"
Die Schmerzen waren furchtbar. Sie strahlten jetzt bis in die Hüfte aus, so marternd, dass Fenko sich eine Ohnmacht herbeiwünschte. Das Gezeter der Dicken war eine zusätzliche Pein. Schrill und boshaft hallte es in seinem Kopf und hörte einfach nicht auf zu gellen.
Plötzlich erklang eine männliche Stimme.
"Halten Sie den Mund, Sie dumme Person!"
Verwundert lauschte Fenko den Worten nach. War er damit gemeint? Der nächste Satz klang aus weitaus geringerer Distanz an sein Ohr.
"Ich rufe Hilfe."
Fenko konnte nur mühsam nicken. Die Zähne so fest zusammengepresst, dass die Kieferknochen heraustraten, lag er auf dem schmalen Weg und wartete darauf, dass er endlich ohnmächtig wurde. Irgendjemand deckte ihn mit irgendetwas zu. Das tat gut, genauso wie die weiche Rolle, die ihm jemand unter den Kopf schob. Nur die kreischende, zeternde Stimme der Dicken störte immer noch. Sie tat in den Ohren weh und steigerte die Übelkeit, die in Wellen in ihm auf- und wieder abstieg.
"Lassen Sie …" – "… ist doch …" – "… so was nein …" -"… Tierquäler!" – "Das muss ich mir …"
Die Dicke lamentierte pausenlos weiter.
Aber dann - endlich – ENDLICH! – nach einer scheinbaren Ewigkeit entfernte sich ihre Stimme. Die Umgebung verdunkelte sich, als wären schwarze Gewitterwolken aufgezogen und dann schaltete Fenkos Bewusstsein auf null. Er war ohnmächtig geworden.
Vor den Fenstern der Cafeteria sah das Wetter sommerlich warm aus. Doch das war eine Täuschung, wie die dicken Jacken, Mützen und Schals bewiesen, in die sich die Wochenendler gehüllt hatten, die auf der Deichkrone entlangspazierten. Manche von ihnen hatten von der Kälte so rote Wangen und Nasen, dass man es sogar von hier aus sehen konnte.
Als Sarah heute Morgen aufgestanden war, hatte der erste Raureif die Landschaft überzuckert. Das sah hier an der Küste immer besonders schön aus, weil der Frosthauch wegen der hohen Luftfeuchtigkeit tatsächlich alles überzog. Ob Zäune, Bänke, Bäume, alles war weiß gewesen und hatte im Licht der Frühsonne gefunkelt und geglitzert wie mit Millionen Diamantsplittern bestreut.
"Hallo, Erde an Kollegin Zimmermann."
Sarah zuckte bei dem Zuruf erschreckt zusammen. Rasch wandte sie den Blick vom Fenster und sah Dr. Herbst an, der ihr gegenübersaß. Er lächelte gutmütig. "Träumen Sie schon von Ihrem Urlaub?"
"Ach, der!" Sie winkte ab. "Das dauert ja noch ewig. Erst muss ich noch Weihnachten und Sylvester überstehen." Hier lachte Sarah leise. Es klang ein kleines bisschen schadenfroh. "Aber die Karnevalsflüchtlinge überlasse ich dafür dann den Kollegen Wagner und Sauer."
Die Schadenfreude rührte zum Teil daher, dass Dr. Wagner und Dr. Sauer über Weihnachten und Neujahr Urlaub haben würden, weil sie beide verheiratet waren und die Feiertage gerne mit ihren Familien verleben wollten.
Von den Angehörigen des Klinikpersonals wurde sowieso große Toleranz gefordert, denn von Mai bis Mitte/Ende Oktober herrschte absolute Urlaubssperre. In diesen Monaten wurde wegen der vielen Urlauber jede Hand gebraucht, was bedeutete, dass die Ehe- oder Lebenspartner des medizinischen Personals ohne Papa oder Mama mit den Kindern in die Ferien reisen mussten. Oder man schickte die Kinder mit irgendwelchen Jugendgruppen on Tour. Ein Familienurlaub war erst in den Wintermonaten möglich.
"Und, haben Sie schon gebucht?"
Sarah nickte, während sie gleichzeitig ein langes dunkles Haar aus ihrem Salat fischte.
"Ja, ich treffe mich mit meiner Freundin Yolanda auf Hawaii." Mit angewiderter Miene schob sie die volle Salatschüssel von sich. "Und Sie, wohin geht es bei Ihnen im Urlaub?"
Sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, da hätte sie sich schon am liebsten die Zunge abgebissen, denn Dietmar Herbsts Tochter Sila befand sich seit ungefähr vier Wochen in einer Entzugsklinik. Zudem sollte sie demnächst vor dem Jugendgericht erscheinen. Die Anklage lautete 'Drogenhandel', und so, wie sie sich bisher bei der Polizei, vor dem Jugendamt und in der Klinik verhalten hatte, würde der zuständige Richter mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Grund für ein mildes Urteil sehen. Bei diesen Problemen hatte Dr. Herbst gewiss andere Sorgen als die, wohin er im Urlaub reisen wollte!
"Es tut mir …", hob Sarah deshalb zu einer Entschuldigung an, doch Dietmar kam ihr zuvor.
"Meine Frau und ich werden nach Silas Verhandlung in ein Wellnesshotel an der Mosel fahren", verriet er Sarah zu deren Erstaunen. "Wir brauchen erst mal Abstand, Pause, müssen Luft holen, damit wir die kommende Zeit durchstehen und uns um Sila kümmern können."
"Wie geht es ihr denn inzwischen?" Sarah gab etwas Milch in ihren Kaffee und rührte ihn um.
Dietmar Herbst legte die Gabel auf den Unterteller und schob ihn mitsamt der Salatschüssel genauso angewidert zur Seite, wie es kurz zuvor seine Kollegin getan hatte. Das Grünzeug welkte im Zeitraffertempo und das Dressing dazu schmeckte auch noch fade. Irgendwie wurde er den Verdacht nicht los, dass der Küchenchef das Personal für irgendetwas bestrafen wollte.
"Sila ist immer noch wütend auf uns", beantwortete der Kinderarzt Sarahs Frage durchaus bereitwillig. "Das Mädchen will einfach nicht begreifen, dass wir ihr nur helfen wollen. Was soll denn aus ihr werden, wenn sie so weitermacht?"
Plötzlich schien Dietmar um Jahre gealtert zu sein. Zwei scharfe Linien zogen sich rechts und links neben den Mundwinkeln fast bis zum Kinn, dunkle Schatten unter den Augen zeugten von schlaflosen Nächten, die Wangen waren fahl. Alles Zeichen dafür, wie sehr ihn die familiäre Situation belastete.
"Aber statt endlich Vernunft anzunehmen, wehrt sie sich mit Händen und Füßen gegen die Behandlung", fuhr er kopfschüttelnd fort. Seine Stimme klang belegt. "Ich glaube, andere, nicht privat finanzierte Kliniken hätten sie längst rausgeworfen."
"Benimmt sie sich denn auch dem Personal gegenüber ablehnend?"
Dietmar Herbst stieß einen ärgerlichen Lacher aus.
"Ablehnend?" Es klang beißend. "Das ist wirklich höflich ausgedrückt. Sila benimmt sich, als wäre sie im tiefsten Slum aufgewachsen. Sie beschimpft die Ärzte und das Pflegepersonal, verweigert sich den Gruppenstunden, geht nicht zu den Gesprächen bei den Psychotherapeuten …" Er brach ab und schüttelte erneut den Kopf. "Es ist ganz einfach furchtbar!" Jetzt seufzte er. "Ich rechne eigentlich jeden Tag damit, dass sie durchbrennt und in der Szene untertaucht."
So wie Sarah den renitenten Teenager bisher erlebt und nach dem, was sie von ihm gehört hatte, wunderte sie sich darüber, dass das nicht schon längst passiert war. Sarah hatte eigentlich damit gerechnet, dass Sila gleich am ersten Abend, spätestens aber in den ersten drei Tagen, die Flucht ergreifen würde.
"Das würde die Prognosen für den anstehenden Prozess wirklich ganz erheblich verschlechtern." Sarah zog sich das Schälchen mit roter Grütze heran. "Wann soll der noch mal sein?"
"In drei Monaten." Die tiefen Furchen auf Dietmar Herbsts Stirn verrieten, wie sehr er sich um seine Tochter sorgte. "Das dauert alles viel zu lang …"
Sarahs Diensthandy unterbrach seine Rede. Sie zog es aus der Kitteltasche und meldete sich.
"Jogger verunfallt", meldete der leitende Notarzt. "Patient, zweiunddreißig Jahre, beim Laufen gestolpert. Er war kurzzeitig bewusstlos, ist inzwischen aber ansprechbar. Bisheriger Befund: Verdacht auf Fraktion des linken Wadenbeins. RTW ist unterwegs hierher."
"Okay, ich komme." Sarah beendete die Verbindung und wandte sich Dr. Herbst zu. "Pause zu Ende." Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. "Ich drücke Ihnen ganz fest die Daumen, dass Sila endlich doch Vernunft annimmt."
"Danke." Es klang ziemlich deprimiert. "Schönen Tag, Frau Kollegin."
"Ihnen auch." Damit griff Sarah ihr Tablett und verließ den Tisch. Keine zwei Minuten später betrat sie die Notaufnahme der Deichklinik.