Originalausgabe
© 2021 Schneiderbuch in der
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Dieses Werk wurde vermittelt durch
Paula Peretti Literarische Agentur, Köln
Cover und Illustrationen: Alica Räth
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783505144639
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Für Julius Artemis,
von dem ich an dem Tag erfuhr,
als ich die ersten Worte zu Akademie Fortuna tippte,
und der mich am Erscheinungstag
zu seiner Patentante machte.
Sorry war sich durchaus bewusst, dass nichts fieser war, als jemandem schon vor der ersten Schulstunde eine Falle zu stellen. Noch fieser war es, wenn dieser Jemand eine Traumdeuterin und somit besonders verschlafen war. Aber sie hatte keine Wahl.
Mit ihrer besten Freundin Missy Hap versteckte Sorry sich in einem Seitengang der Akademie Fortuna, der sich ganz in der Nähe der Eingangshalle befand, und spähte um die Ecke. Mara Night schlurfte durch den noch leeren Hauptkorridor. Sie hatte ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen und das Gesicht nach unten gerichtet. Dabei summte sie furchtbar schief vor sich hin. In ihren Händen hielt sie einen Stapel Briefe.
Missy ließ, wie so oft, nervös einen Schraubenschlüssel um einen ihrer Finger kreisen. Sorry sah ihn bereits aus Missys Hand fliegen und stupste ihre Freundin an. Die Hausmeistertochter verstand, steckte den Schraubenschlüssel schuldbewusst zurück in den Werkzeuggürtel, den sie um die Hüfte trug, und zog einen Brief daraus hervor.
Sie hatten sich wirklich Mühe gegeben. Missy hatte ihrer Mutter das schönste Briefpapier, das sie finden konnte, stibitzt, und ihre jüngere Schwester Belle hatte mit ihrer feinsten Schreibschrift abgeschrieben, was Sorry formuliert hatte. Sorrys Handschrift hätte ihre Mutter sofort erkannt, und da Missys Handschrift eher den Spuren eines Storches im Schlamm glich, war die Wahl auf Belle gefallen. Sie war einverstanden gewesen und hatte keine Fragen gestellt.
Die Adresse auf dem Umschlag sah aus wie gemalt. Einen Absender gab es nicht, dafür extra viele Briefmarken und sogar einen Stempel. Der Transport in Missys Gürtel hatte als letzter Schliff dafür gesorgt, dass der Brief etwas ramponiert aussah, so, als sei er wirklich mit der Post verschickt worden.
Missy hielt den Brief in die Höhe, und Sorry nickte. Dann atmete sie tief ein und schloss die Augen. Sie konzentrierte sich auf die summende Mara. Als Sorry die Augen wieder öffnete, vernebelte sich ihre Sicht, als hätte jemand einen pinken Schleier über alles gelegt. Das war das Zeichen dafür, dass Sorry eine Vision hatte – die Wahrsagekraft, die ihrer Familie, den Fortunes, innewohnte.
In ihrer Vision sah Sorry jetzt, wie Mara Night durch den Korridor schlurfte, die Briefe locker in der Hand haltend. Da die Familienoberhäupter der einzelnen Wahrsagerfamilien alles Organisatorische selbst erledigten, hatte die Akademie Fortuna kein Sekretariat. Für manche Aufgaben nahmen sie allerdings die älteren Schüler in die Pflicht. Und so hatte Mara Night die Aufgabe, die Post aus dem großen Briefkasten am Schultor zu holen und den Empfängerinnen und Empfängern zu bringen. Jetzt gerade war sie auf dem direkten Weg ins Büro der Schulleiterin.
In der Vision näherte Mara sich dem Seitengang, in dem Sorry und Missy standen. Sorry musste den perfekten Moment finden – und ihn sich merken. Deshalb versuchte sie, sich den Ton einzuprägen, den Mara beim Summen von sich gab. Das war nicht schwer, denn als Mara an dem Gang vorbeiging, in dem Sorry und Missy sich versteckten, summte sie so schief, dass Sorry sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Dabei hörte sie den Ton nur in ihrer Vision! Schnell hob Sorry die Hand, um die Vision zu verwischen, und war wieder im Hier und Jetzt. Sie spähte um die Ecke. Mara war ganz nah. Ihre Vision würde jede Sekunde wahr werden.
Sie zog den Kopf zurück und gab Missy mit einem Wink zu verstehen, dass sie sich bereit machen sollte. Missy nahm die Position einer Marathonläuferin ein, die auf den Startschuss wartete.
Die Sekunden zogen sich wie eine Ewigkeit hin. Doch dann summte Mara diesen einen, unverwechselbar schrillen Ton. Jetzt!
Missy schoss aus ihrem Versteck und rannte Mara direkt vor die Füße. Diese bemerkte sie zu spät und knallte mit voller Wucht mit Missy zusammen. Die Briefe flogen ihr aus der Hand und verteilten sich auf dem Boden.
»He!«, beschwerte Mara sich, überrumpelt, aber nicht wirklich wütend. Wahrscheinlich war sie dazu einfach viel zu müde.
»Oh, das tut mir so leid!«, quietschte Missy ein wenig zu aufgesetzt und begann, die Briefe einzusammeln. »Ich habe dich gar nicht kommen sehen, und du weißt ja – Unglücksmagnet.« Bei dem letzten Wort deutete sie auf sich selbst und grinste, wobei die Zahnlücke zwischen ihren Schneidezähnen sichtbar wurde. Für Mara war Missys gute Laune so früh am Morgen offenbar zu viel, denn statt zu antworten kniff sie die Augen zusammen und brummte. Missy hob die letzten Briefe auf, und Sorry sah, wie sie ihren unauffällig darunterschob. Dann hielt sie Mara den Stapel hin. »Bitte schön.«
Wieder brummte Mara, diesmal wohl zum Dank, schnappte sich die Briefe, schlurfte weiter den Korridor hinunter und bog am Ende um die Ecke, in Richtung Schulleiterinnenbüro.
»Bei der hätten wir nicht mal eine Vision gebraucht«, sagte Missy zu Sorry, die inzwischen neben ihre Freundin getreten war. »Die weiß wahrscheinlich nicht einmal, dass sie schon wach ist.«
Sorry nickte. Dann zupfte sie Missy am Ärmel. »Komm, wir gucken, ob der Brief ankommt.«
Schnell liefen die beiden Mädchen durch die noch ausgestorbenen Gänge der Akademie, bis sie in einem unscheinbaren Seitengang das Gemälde eines Mannes, der einen Hasen und ein Messer hochhielt, erreichten. Wolf der Opferer war ein Hieromant gewesen, also ein Wahrsager, der die Zukunft aus Innereien von Tieren las. Nach seinem Tod war er für die beiden Mädchen außerdem noch für etwas ganz anderes berühmt geworden: Sein Porträt markierte einen wichtigen Eingang zu den zahlreichen Geheimgängen, die sich durch die Akademie zogen. Schnell schob Sorry das Gemälde von »Wolfi«, wie Missy ihn liebevoll nannte, beiseite und schlüpfte hinter ihrer Freundin hinein. Obwohl die Hausmeistertochter zu den wenigen Menschen in Horror’s Cope gehörte, die nicht wahrsagen konnten, und eine Schule für Nichtseher besuchte, kannte sie sich in der Akademie aus wie keine Zweite. Nachdem sie eine Weile dem Schein von Missys Taschenlampe gefolgt waren, blieb Missy stehen, knipste die Lampe aus und schob eine Holzlatte an der Wand beiseite. Dahinter wurde ein Stück Stoff sichtbar. Sorry kannte diese Stelle. Sie standen direkt hinter dem Porträt von Fatema Fortune, der ersten Schulleiterin, das im Büro der jetzigen Schulleiterin hing. Von hier konnte man unbemerkt beobachten, was darin vor sich ging. Sorry lief ein Schauer über den Rücken, als sie an das Gemälde trat. Erst vor zwei Wochen hatte sie hier gemeinsam mit Missy gestanden und die Familienoberhäupter der unterschiedlichen Wahrsagedisziplinen dabei belauscht, wie sie die außerplanmäßige Prüfung beschlossen hatten, die am Vortag stattgefunden hatte. Taurus Astra, das Familienoberhaupt der Sterndeuter, hatte die Prüfung vorgeschlagen. Oder besser: ehemaliges Familienoberhaupt, denn nachdem Sorry und ihre Freunde aufgedeckt hatten, wie er mit kriminellen Methoden und mit der Hilfe seiner Tochter Estrella versucht hatte, selbst Schulleiter zu werden und Sorrys Freund Ben Dulum von der Akademie zu verweisen, war ihm mit sofortiger Wirkung das Amt entzogen worden. Taurus hatte natürlich vor Wut getobt.
Gerade saß Schulleiterin Euphoria Fortune über ein paar Dokumente gebeugt an ihrem Schreibtisch. Wie immer trug sie ein pinkfarbenes Kostüm, und ihr Rosenparfüm drang bis zu Sorry und Missy. Im Haar der Schulleiterin glänzte eine augenförmige Spange, das Symbol der Visionisten. Sorry erinnerte sich daran, wie Euphoria sie sich heute früh stolz in die Frisur gesteckt und Sorry dazu überredet hatte, es ihr gleichzutun. So war das eben, wenn die Schulleiterin und das Familienoberhaupt der Visionisten gleichzeitig die eigene Mutter war. »Heute ist ein wichtiger Tag für die Fortunes«, hatte sie gesagt. »Wir müssen zeigen, dass wir stolz auf uns sind!« Am Tag zuvor hätte Euphoria um ein Haar die Schulleitung an Taurus Astra verloren und Sorry beinahe den Ruf der Familie zerstört. Kein Wunder, dass Sorrys Mutter nun sichtbar machen wollte, wie sehr sie dieses Amt verdient hatte! Sorry sah von ihrem Versteck aus, wie angespannt sie noch war. Immer wieder strich Euphoria über den Schreibtisch aus dunklem Holz, als müsse sie sich vergewissern, dass er noch da war und ihr nicht jede Sekunde genommen würde.
Das Klopfen an der Tür ließ Sorry zusammenzucken. Euphoria blickte auf. »Herein!«
Mara schlurfte ins Zimmer und hielt die Briefe hoch. »Post!«
»Ah, danke dir, Mara!« Euphoria erhob sich und nahm die Briefe entgegen. Dann musterte sie die Traumdeuterin. »Geht es dir gut? Du siehst ein wenig blass aus. Hast du schlecht geträumt?«
Mara sah Euphoria an, und Sorry war sich nicht sicher, ob sie genervt aussah oder nur versuchte, die Augen aufzuhalten. »Immer«, murmelte sie dann, schlurfte ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Euphoria zog die Augenbrauen hoch und seufzte. »Nun gut.« Sie ging zu ihrem Tisch zurück und ging die Briefe durch.
Sorrys Herz klopfte schneller.
»Hoffentlich klappt es«, murmelte Missy neben ihr und trat aufgeregt von einem Bein aufs andere.
Sorry schaffte es nicht einmal zu nicken. Sie hielt es kaum aus, wie langsam Euphoria Brief für Brief öffnete, las und zur Seite legte. Offensichtlich war nichts Überraschendes dabei. Aber plötzlich hielt sie inne. Sie runzelte die Stirn und hielt den Brief in die Höhe, auf dem Belles Handschrift und die vielen Briefmarken zu sehen waren. Sorry hielt die Luft an.
Was, wenn ihre Mutter den Brief nicht sofort las? Oder den Inhalt auf seine Wahrheit hin überprüfte? Alles würde auffliegen! Sorry schloss die Augen. War die Ausrede, warum Ben vorerst nicht am Unterricht der Akademie teilnehmen konnte, vielleicht zu verrückt, als dass ihre Mutter sie glaubte?
Zumindest ihre erste Sorge war unnötig, denn Sorry hörte, wie Euphoria den Brief öffnete. Sie blinzelte und hielt den Atem an. Ihre Mutter hatte mit interessierter Miene zu lesen begonnen.
»Oh«, sagte Euphoria, und ein Ausdruck des Erstaunens breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie ließ den Brief sinken und schien nachzudenken, was sie mit dem Gelesenen anfangen sollte. Dann griff sie zum Telefon auf ihrem Tisch und drückte ein paar Tasten.
»Karo?«, sagte sie nach ein paar Sekunden. »Ich habe gerade Unglaubliches über Ben Dulum erfahren.«
Sorry fiel ein ganzes Gebirge vom Herzen. Sie lehnte sich an die Wand hinter sich und atmete aus. »Es hat funktioniert.« Erleichtert lächelte sie Missy an. Die runzelte die Stirn. »Woher weißt du das jetzt schon?«
»Karo Pentacle ist nicht nur das Familienoberhaupt der Tarotkartenleger, sondern auch für die Kommunikation zwischen den Familienoberhäuptern zuständig«, erklärte Sorry. »Wenn meine Mutter Karo informiert, wissen es kurz darauf alle. Und das würde sie nicht tun, wenn sie nicht glauben würde, was in dem Brief steht.«
Missy nickte. »Das ergibt Sinn.« Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, sie umarmte Sorry stürmisch. »Wir haben es geschafft!«
Mit dem Zeigefinger auf den Lippen bedeutete Sorry ihr, still zu sein, und Missy presste sich erschrocken die Hand auf den Mund. Doch ein Blick durch das Gemälde zeigte, dass Euphoria Fortuna noch immer telefonierte und sie nicht gehört hatte.
»Das war der einfache Teil«, sagte Sorry. »Das Schwierige kommt jetzt.«
Missy nickte ernst. »Ben finden!«
In Sorrys Hals bildete sich ein Kloß. Ben war entführt worden, und sie mussten ihn finden, ohne dass die Familienoberhäupter sich fragten, wo er war. Deshalb der Brief. Sonst war alles, was sie erreicht hatten, vergebens. Denn gestern hatten sie – Ben, Missy und Sorry – die ganze Akademie davon überzeugt, dass Ben nicht gefährlich war, nur weil er mithilfe eines Pendels in die Zukunft sah.
Das Pendelschwingen gehörte zur Nekromantie. Diese Wahrsagekraft war geächtet, seit der Nekromant Nevil Chievous vor Jahrhunderten versucht hatte, über die anderen Wahrsager zu herrschen. Damals hatte man die meisten Nekromantiewerkzeuge zerstört, und seither waren die Wahrsager davon überzeugt, dass alle Nekromanten böse waren. Und da seit Nevil Chievous’ Niederlage und seinem anschließenden Verschwinden niemand mehr die Nekromantie beherrscht hatte, hielt sich diese Überzeugung hartnäckig.
Aber dann war Ben an der Akademie Fortuna aufgetaucht. Ihm war das alte Vorurteil von allen Seiten entgegengeschlagen, auch wenn er beteuerte, weder böse noch ein Chievous zu sein, sondern nur ein Waisenjunge, der zufällig die Nekromantie beherrschte. Das allerdings war eine Lüge gewesen. Nicht einmal Sorry hatte Ben die Wahrheit über seine Herkunft erzählt.
Sorry schluckte bei dem Gedanken an die Vision, die sie am vergangenen Abend gehabt hatte. Sie hatte gesehen, wie Ben in seinem Zimmer im Wohnheim von niemand anderem als seinem Vater besucht worden war und wie dieser Ben gezwungen hatte, mit ihm zu kommen. Und sie hatte den Namen von Bens Vater gehört: Mal Chievous.
Wenn Sorrys Mutter das herausfand, hätten sie und die anderen Familienoberhäupter keine Wahl, als Ben der Akademie Fortuna zu verweisen.
Missy stieß ihre Freundin an. »Alles okay bei dir?«
Sorry schüttelte die Erinnerung an die Vision ab und nickte. »Ja, alles in Ordnung.« Sie räusperte sich. »Als Nächstes sollten wir wohl Bens Zimmer untersuchen. Vielleicht finden wir dort ja einen Hinweis darauf, wo Mal ihn hingebracht hat.«
Missy nickte. »Gute Idee! Jetzt ist da eh niemand.« Sie knipste die Taschenlampe an und entfernte sich so leise wie möglich in die entgegengesetzte Richtung als die, aus der sie gekommen waren. Sorry wollte ihr gerade folgen, als Euphorias Worte sie aufhorchen ließen. »Ich werde gleich Bens Klasse informieren.« Dann beendete die Schulleiterin das Telefonat. Sorry blieb stehen. Mist! Sie mussten Ben so schnell wie möglich finden! Andererseits war es auch keine gute Idee, am ersten Tag nach der Prüfung nicht zum Unterricht zu erscheinen! Schon gar nicht, wenn ihre Mutter das mitbekam.
Missy drehte sich zu ihr um. »Was ist los?«
Sorry zögerte. Dann seufzte sie. »Ich muss zum Unterricht.«
Missy verschränkte die Arme. »Ben ist doch wohl wichtiger als ein paar Wahrsagelektionen.«
»Klar! Aber alle werden sich fragen, wo ich bin, und Nachforschungen anstellen. Besonders meine Mutter!«
Missy war immer noch nicht überzeugt. »Ich schwänze ständig die Schule und bisher hat sich noch niemand gefragt, warum.«
Sorrys dringlicher Blick überzeugte sie jedoch, umzudrehen und wieder zu ihr zurückzukommen. »Allerdings bin ich auch weder eine Wahrsagerin noch die Tochter der Schulleiterin.« Schnell führte sie Sorry zurück bis zum Gemälde von Wolf dem Opferer.
Sorry fühlte sich unwohl, als sie aus dem Geheimgang kletterte. Wie sollte sie mit ruhigem Gewissen am Unterricht teilnehmen, wenn Ben in so großer Gefahr schwebte? »Ich komme heute Nachmittag so schnell ich kann zu dir«, versprach sie Missy, die noch im Geheimgang stand.
»Ist gut!«
Sorry hatte sich schon halb umgedreht, als Missy fragte: »Was, glaubst du, will er eigentlich von Ben?«
Sorry hielt inne. Darüber hatte sie sich heute Nacht auch schon den Kopf zerbrochen. »In meiner Vision meinte Mal, er wolle den anderen Wahrsagern heimzahlen, was sie den Chievous angetan hätten. Und er will die Akademie erobern. Aber er selbst hat keine Wahrsagekräfte, ich könnte mir also vorstellen, dass er Bens Fähigkeiten nutzen will und dass Ben irgendetwas für ihn erpendeln soll.«
Missy zupfte nachdenklich an einem ihrer beiden Zöpfe, zu denen sie ihr orangenes Haar gebunden hatte.
»Wie hat er dann überhaupt davon erfahren, dass Ben hier ist und dass er wahrsagen kann? Ich meine, so ganz ohne eigene Wahrsagekräfte. Ben hat ihm ja nichts davon erzählt, oder?«
Sorry schüttelte den Kopf. Das war noch so eine Frage. »Keine Ahnung. Vielleicht hat er es sich einfach zusammengereimt, weil Ben mit dem Pendel weg war.« Sie hatte das Gefühl, dass das zu einfach gewesen wäre, aber etwas anderes fiel ihr nicht ein. Missy offenbar auch nicht, denn sie vergrub die Hände in den Taschen. »Vielleicht.« Dann machte sie ein nachdenkliches Gesicht. »Eigentlich verrückt, dass Bens Vater keine Kräfte hat.«
Bens Vater. Das hörte sich so falsch an, und Sorry konnte nicht verhindern, dass das Gefühl, verraten worden zu sein, sich schwer um ihr Herz legte. Selbst vor ihr hatte Ben in den letzten Wochen so getan, als sei er ein Waise und wisse nichts über seine Familie. Sie hingegen hatte ihm alle ihre Geheimnisse anvertraut. Als Sorry ihn gefragt hatte, wo er aufgewachsen war, hatte Ben von einem Mann erzählt, der ihn schlecht behandelt und bei dem er das Pendel gefunden hatte. Sorry wusste nun, dass dieser Mann Mal gewesen war. Warum nur hatte Ben ihr nicht vertraut? Sie waren doch Freunde, zur Fortuna noch mal! Sie hätte ihn doch niemals verraten!
Noch schlimmer war allerdings der Gedanken daran, was Ben ihr noch alles verheimlicht haben könnte. Mal hatte auch Bens Mutter erwähnt und dass sie die Zukunft mithilfe von Hexenbrettern las. Das war ebenfalls eine Nekromantenkraft, vielleicht war Bens Mutter also auch eine Chievous. Wer wusste schon, wie viele von ihnen es noch gab. Und ob die Gerüchte über sie nicht doch stimmten.
Missy legte den Kopf schief und musterte Sorry. »Du willst ihn doch retten, oder?«
Sorry schreckte auf. »Natürlich will ich das!«
Missy kniff die Augen zusammen und sah sie durchdringend an. Sie schien auch ganz ohne Wahrsagerei zu erahnen, was Sorry durch den Kopf ging. »Es ist eine ziemlich große Sache, was Ben uns da verschwiegen hat. Aber ich verstehe ihn auch. Wenn irgendjemand in der Akademie es erfahren hätte, wäre er geliefert gewesen. Da wäre ich auch auf Nummer sicher gegangen. Aber das ist jetzt alles ganz egal. Ben ist unser Freund und braucht unsere Hilfe. Wir müssen ihn finden!« Sie grinste ihr Zahnlückengrinsen. »Und sei es nur, damit ich ihm kräftig gegens Schienbein treten kann.«
Sorry spürte, wie das Gewicht auf ihrem Herzen ein wenig leichter wurde. Ihre Freundin hatte recht: Sie mussten Ben helfen! Zur Rede stellen konnten sie ihn dann immer noch.
Missy winkte ihr zu. »Ich muss auch mal los. Wenn wir nicht nach Ben suchen, kann ich auch zur Schule gehen. Bis heute Nachmittag!« Damit klappte sie das Gemälde hinter sich wieder über den Eingang und war verschwunden.
Sorry machte sich auf den Weg zu ihrem Unterrichtsraum, immer noch in Gedanken versunken. Es gab eine Sache, die sie Missy nicht erzählt hatte und die vielleicht die schlimmste von allen war: Als Ben vor einiger Zeit bei ihr zu Besuch gewesen war, hatte er ihre demente Großtante Agony kennengelernt. Sie hatte Ben für ihren verschwundenen Sohn Malvin gehalten, über den in Sorrys Familie niemand mehr sprach. Sorry verstand nun, warum Ben bei dem Treffen so erschrocken reagiert hatte: Er hatte erkannt, dass es sich bei diesem Malvin um seinen Vater handelte. Damit war Ben ein entfernter Cousin von Sorry – und sie verwandt mit einem Nekromanten. Sorry tippte, dass ihre Mutter davon gewusst und es gegenüber den anderen Wahrsagerfamilien bewusst verheimlicht hatte. Denn wenn dieses Verwandtschaftsverhältnis ans Licht käme, wäre der Ruf der Fortunes möglicherweise endgültig zerstört. Schließlich hatte Sorrys Familie jahrhundertelang versucht wiedergutzumachen, dass sie Nevil Chievous während seiner Intrige gegen die anderen Wahrsagerfamilien für kurze Zeit unterstützt hatte. Und jetzt drohte sich alles zu wiederholen.
Als Sorry beim Unterrichtsraum ankam, warteten ihre Mitschülerinnen und Mitschüler bereits davor. Es war das erste Mal, dass sie hier Unterricht hatten, und der Raum war noch schwieriger zu finden gewesen als alle anderen Räume bisher. Er lag als einziger Unterrichtsraum im Erdgeschoss. Vielleicht lag es daran, dass »Praktische Wahrsagerei« nicht zum regulären Stundenplan gehörte, sondern als Projekt nur ein paarmal im Schuljahr angeboten wurde.
Sorry erspähte Crystal Glass und die Zwillinge Arkana und Baton Pentacle. Schnell stellte sie sich zu ihnen.
»Hey Leute«, begrüßte sie die anderen und versuchte, betont lässig zu wirken. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie schon wieder etwas Geheimes getan hatte.
»Hey, da bist du ja!« Baton fuhr sich durch die Haare, die wie gewohnt überall vom Kopf abstanden. »Wir haben dich gestern auf der Feier gar nicht mehr gesehen. Hast du Ben gefunden?«
Ben. Erneut legte sich dieses Gewicht um Sorrys Herz. Die Zwillinge hatten Ben gestern ebenfalls gesucht. Aber Sorry durfte ihnen auf keinen Fall erzählen, was sie herausgefunden hatte. Niemand durfte erfahren, dass Ben von den Chievous abstammte. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nein.« Dabei merkte sie, dass Arkana sie durchdringend anstarrte. Die junge Tarotkartenlegerin hatte Sorry überhaupt erst auf die Idee gebracht, dass mit Ben etwas nicht stimmte. Sie schob die Hand in die Tasche und fühlte die Karte des Einsiedlers, die Arkana ihr gestern gegeben hatte. Hatte sie Baton von ihrer Unterhaltung mit Sorry erzählt?
Crystal zog die Schultern hoch. »Hier ist er auch nicht.«
Baton sah sich um. »Stimmt. Komisch.« Obwohl Sorry klar gewesen war, dass die anderen Bens Fehlen bemerken würden, klopfte ihr Herz wild. Sie musste unbedingt auch weiterhin die Unwissende spielen. »Vielleicht hat er ja verschlafen«, sagte sie deshalb und lächelte. Hoffentlich wirkte es natürlich.
»Ja, vielleicht«, murmelte Crystal. Ihrer Stimme war nicht anzumerken, ob sie Sorry glaubte oder nicht. Allerdings war das normal für die Kristallkugelleserin. Sie gehörte nicht zu den Menschen, die ihre Emotionen zeigten.
Arkana dagegen blickte Sorry immer noch an, und ihr lief ein Schauer den Rücken hinunter. Wenn jemand bemerkte, dass etwas nicht stimmte, dann Arkana. Sie erkannte sofort, wenn man etwas vor ihr verbarg. An der Mimik, an der Körperhaltung, an den kleinen Gesten. Wahrscheinlich lag es daran, dass Arkana gehörlos war und mehr auf Visuelles achtete als Hörende. Es war nicht auszuschließen, dass sie auch jetzt merkte, dass etwas faul war.
Endlich wandte sie sich von Sorry ab und gebärdete etwas in Richtung ihres Bruders. Sorry wusste nicht, was es bedeutete. Bisher war sie nicht dazu gekommen, sich mit der Gebärdensprache zu beschäftigen, auch wenn sie es sich gestern fest vorgenommen hatte. Sie beschloss, das sehr bald nachzuholen. Zum Glück übersetzte Baton sofort. »Stimmt, Estrella ist auch noch nicht da.«
Jetzt war Sorry ehrlich überrascht. Sie sah sich um. Er hatte recht. Es fehlte jede Spur von Estrella Astra.
»Traut sich wohl nicht mehr her. Würde ich auch nicht«, bemerkte Crystal.
Ihre Worte lenkten Sorry ein bisschen von ihren Sorgen um Ben ab. Bisher hatte sie noch keinen Gedanken daran verschwendet, was nun aus Estrella wurde. Gestern Morgen noch war die Sterndeuterin die beste – und wahrscheinlich auch beliebteste – Schülerin der Klasse gewesen. Doch dann war herausgekommen, was ihr Vater Taurus und sie getan hatten. Unter anderem hatte Estrella Sorrys ältere Schwester Merry eine Treppe hinuntergestoßen, sodass diese sich ein Bein gebrochen und eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Ein Vergehen, das Taurus Ben in die Schuhe hatte schieben wollen. Und auch, wenn Estrella von ihrem Vater dazu gedrängt worden war, änderte es doch nichts an der Tatsache, dass Estrella Merry gestoßen hatte, und es machte sie schuldig.
Als Taurus gestern das Amt des Familienoberhaupts und damit die Aussicht, Schulleiter zu werden, verloren hatte, war er wütend davonmarschiert und seine Tochter mit ihm. Hatte sie vielleicht die Akademie verlassen? Der Gedanke war nicht so abwegig.
Mit einem Mal war die Stimmung in der kleinen Gruppe unerträglich gedrückt, als alle sich daran erinnerten, was passiert war. Sorry räusperte sich. »Und, seid ihr schon aufgeregt auf unsere erste Praxisübung?«, versuchte sie, das Thema zu wechseln.
Baton strahlte sie dankbar an. »Ich freu mich riesig!«, sagte er und reckte angeberisch das Kinn in die Höhe. »Ich habe schon einige Erfahrung darin, Menschen die Zukunft vorherzusagen. Es ist quasi mein Spezialgebiet.« Damit auch seine Schwester ihn verstand, hatte er seine Worte mit Gebärden begleitet. Arkana zog nun die Augenbrauen hoch und lachte so laut, dass es durch den ganzen Gang schallte. Sorry hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, dass Arkana nicht einschätzen konnte, wie laut sie war. Schnell gebärdete sie eine Antwort, und Sorry las aus ihrem Gesicht, dass es wohl eine schnippische Bemerkung war.
Baton machte ein trotziges Gesicht, während er, begleitet von Gebärden, antwortete: »Ich habe die Karten nur ein Mal fallengelassen. Und es war ja wohl nicht meine Schuld, dass dann ›Der Tod‹ ganz oben lag und alle gleich ausgeflippt sind, obwohl das gar nichts Schlimmes ist!«
Sorry musste grinsen, und offensichtlich war sogar Crystal ein wenig belustigt.
In dem Moment schlurfte ein hagerer Mann auf den Unterrichtsraum zu. Er war sehr blass, hatte einen Dreitagebart und war deutlich gemütlicher gekleidet als die anderen Lehrer: Über einem roten T-Shirt und Jeans trug er eine lange, braune Strickjacke. In seiner Hand hielt er eine Tasse mit der Aufschrift »Kaffee, schwarz wie Ihre Zukunft.«
Umständlich und die umstehenden Schülerinnen und Schüler ignorierend, versuchte er, einen Schlüssel ins Schloss der Tür zu stecken. Aber der Schlüssel passte nicht. »Verfluchter Mist«, murmelte der Mann und probierte sich durch die Schlüssel an seinem Bund.
»Oje«, murmelte Sorry.
»Ich habe schon gehört, dass Mr Gelatine ein wenig speziell ist«, flüsterte Crystal.
Etwas, was im Prinzip auf alle ihre Lehrer zutraf, fand Sorry.
»Ich glaube, es ist der hier!«, rief Thea Leaf fröhlich und deutete auf einen Schlüssel an dem Bund. Der Lehrer hörte auf zu suchen und drehte sich zu ihr um. »Nein«, sagte er nur und suchte weiter, wobei er diesen Schlüssel absichtlich nicht ausprobierte.
Thea war offensichtlich überrascht von seiner Antwort. »Doch, sehen Sie, der würde genau passen.«
»Nun, ich bin der Lehrer und ich sage, dass er falsch ist.«
»Aber …«
Mit einer blitzschnellen Bewegung zog Mr Gelatine eine weiße Papiertüte hervor und hielt sie der Teesatzleserin hin. »Nehmen Sie eins.«
Jetzt war Thea noch verwirrter. »Was?«
»Das sind Süßigkeiten. Sehr lecker. Habe ich vorhin am Kiosk gekauft. Nehmen Sie eins.«
Zögerlich griff Thea in die Tüte und zog ein großes grünes Gummibärchen hervor. »Oh, sehr gute Wahl«, sagte Mr Gelatine mit einem sarkastischen Unterton. »Das bedeutet, dass Sie in Zukunft ziemlich große Probleme bekommen werden, wenn Sie nicht respektieren, dass der Lehrer recht hat, auch wenn er falsch liegt. Herzlichen Glückwunsch, Sie dürfen es behalten.«
Thea starrte das Gummibärchen an und schien den Tränen nahe. Anscheinend war ihr vorher nicht klar gewesen, was Mr Gelatine für eine Wahrsagekraft hatte. Denn sonst hätte sie mit Sicherheit nicht in die Tüte gegriffen.
Mr Gelatine war ein Glukomant, ein Süßigkeitenorakel. Er sagte einem die Zukunft voraus anhand der Naschereien, die man aus einer Tüte zog. Eine Fähigkeit, die besonders bei Kindern sehr beliebt war.
»Sind Sie sicher, dass Sie Lehrer sind?«, fragte Rune Smoke skeptisch.
Mr Gelatine hielt nun ihm die Tüte hin. »Wollen Sie auch mal ziehen?«
Rune trat einen Schritt zurück und schüttelte vehement den Kopf.
»Na bitte«, sagte Mr Gelatine. »Da das geklärt ist, können wir ja reingehen.« Er steckte die Tüte weg und schloss die Tür mit dem Schlüssel auf, auf den Thea gedeutet hatte.
»Das ist überhaupt nicht lecker«, jammerte Phil Chlore und starrte auf das angebissene grüne Gummibärchen in seiner Hand. Offensichtlich hatte Thea es ihm überlassen. »Und voll hart.«
»Natürlich ist es das«, sagte Mr Gelatine, ohne sich umzudrehen. »Ich habe gelogen. Ich trage die Tüte schon ewig mit mir rum. Ich esse niemals Zucker.«
Der Unterrichtsraum verfügte wie jeder Raum an der Akademie über holzvertäfelte Wände. Rustikale Tische für jeweils zwei Schüler standen im ganzen Zimmer verteilt. Im Gegensatz zu den anderen Räumen gab es hier nur kleine, längliche Fenster, die sich nicht öffnen ließen. Dementsprechend stickig war die Luft.
Mr Gelatine stellte seine Tasse auf dem Lehrerpult ab, ließ sich auf den Stuhl dahinter fallen und legte die Füße auf den Tisch. »Weil es Ihnen sowieso auffallen wird: Ich weiß, dass meine Kollegen ihre Räume sonst wie dekorieren. Aber ich hab’s nicht so mit dem Gestalten, ist ja auch irgendwie egal. Setzen Sie sich hin, wo Sie wollen, auch neben Ihre Freunde.«
Alle begannen, sich Plätze zu suchen. Sorry setzte sich neben Crystal, während die Zwillinge am Tisch hinter ihnen Platz nahmen.
Mr Gelatine nahm einen Schluck aus seiner Tasse, dann blickte er zur Tür. »Auch Sie bitte.«
Alle drehten sich um. Im Türrahmen stand Estrella Astra und krallte die Hände so fest in ihr Kleid, dass ihre Fingerknöchel hervortraten.
Sorry hätte sie fast nicht erkannt, so anders sah sie aus. Estrellas langes weißes Haar war zu einem Zopf gebunden, jedoch so locker, dass einige Strähnen sich bereits gelöst hatten und ungeordnet an ihrem Gesicht herabhingen. Ihre Kleidung war wie immer weiß, aber im Gegensatz zu sonst erstaunlich schlicht. Nichts glitzerte. Selbst die weißen Teleskopohrringe schienen ihren Glanz verloren zu haben. Hinter der weißen Brille huschten die Augen der Sterndeuterin nervös hin und her. Sie kamen Sorry gerötet vor, als ob Estrella die ganze Nacht geweint hätte.
Dennoch stand sie sehr aufrecht und reckte das Kinn vor, in dem Versuch, ihre gewohnte selbstbewusste Haltung zu wahren. Doch ihre Schritte in den Raum hinein wirkten zögerlicher als sonst. Alle starrten Estrella an, und Sorry sah, wie sehr sie sich anstrengen musste, nicht in sich zusammenzufallen.
Neben Chiara Mantik, ihrer besten Freundin, blieb sie schließlich stehen. Doch bevor sie sich auf den freien Platz neben ihr setzen konnte, legte Chiara ihre Tasche auf den Stuhl und warf Estrella einen vernichtenden Blick zu. Estrellas Mundwinkel zuckten. Trotzdem ging sie schnell, aber ohne ihre Haltung zu verlieren, weiter zu dem leeren Tisch in der Ecke, wo sie sich schließlich kerzengerade hinsetzte. Sorry sah eine Träne auf Estrellas Wange glitzern, die langsam bis zu ihrem Kinn kroch. Sie tat Sorry furchtbar leid. Niemand hatte es verdient, so behandelt zu werden.
Sie blickte sich um. Chiara starrte betont geradeaus, um Estrella bloß nicht anzusehen. Auch die anderen ignorierten Estrella. Selbst Mr Gelatine unternahm nichts. Auch er schien das Geschehene nicht einfach vergessen zu wollen. Noch vor ein paar Tagen hatten die Leute nicht nur Ben, sondern auch Sorry genauso behandelt. So schnell konnte sich alles verändern.
Sorry überlegte kurz, ob sie ihr helfen sollte. Doch wenn sie ehrlich war, fühlte es sich ziemlich gut an, dass es Estrella jetzt auch einmal schlecht ging. Dieses Gefühl erschreckte Sorry so sehr, dass sie hastig den Blick nach vorne richtete.
Mr Gelatine sah sich in der Klasse um, bevor er aufstand. »Gut. Ich betreue Ihre erste Praxisübung. Dazu werden Sie sich in Zweierteams zusammentun, in den nächsten Wochen insgesamt fünf Leute in ihrem Viertel aufsuchen und ihnen die Zukunft vorhersagen. Danach schreiben Sie darüber einen Bericht. Dieser wird benotet.« Er deutete mit dem Finger auf die Schülerinnen und Schüler und schaffte es, dabei so auszusehen, als würde er alle einzeln ansprechen. »Aber Achtung! Ich werde nachprüfen, bei wem Sie waren. Wenn ich herausfinde, dass irgendwer seinen Eltern, Geschwistern oder Onkel Herbert aus Behindthemoon die Zukunft vorhergesagt hat, verdoppele ich die Anzahl der Menschen, denen Sie vorhersagen müssen.«
Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl, legte die Füße auf den Tisch und führte seine Tasse zum Mund. »Also, bilden Sie schon einmal Teams. Allerdings wird eine Person übrig bleiben, schließlich sind Sie ja dreizehn.«
Er nahm einen Schluck aus seiner Tasse. Dann hielt er plötzlich inne, setzte die Tasse ab und sah sich prüfend im Raum um.
»Da fehlt doch jemand!«, stellte er fest. »Ben Dulum! Weiß jemand, wo Ben Dulum ist?«
Sorry zuckte zusammen. Hoffentlich fragte Mr Gelatine nicht sie. Spätestens seit der Prüfung wusste er doch, dass sie befreundet waren. Wollte ihre Mutter nicht eigentlich herkommen und alles erklären?
Als hätte sie es geahnt – und das konnte man nicht mal ausschließen –, flog genau in diesem Moment die Tür auf und Euphoria Fortune stöckelte herein.
»Entschuldige bitte die Störung, Candrew«, flötete sie, was Mr Gelatine mit einem Brummen bedachte. Er nahm noch einen Schluck aus seiner Tasse.
»Ihr habt sicher alle bereits bemerkt, dass euer Mitschüler Ben Dulum fehlt. Nun, ich möchte euch mitteilen, dass er noch eine Weile fort sein wird.« Sie hielt den Brief hoch, den Sorry und Missy ihr hatten zukommen lassen. »Wie ihr wisst, ist Ben Waise und kennt seine Familie nicht. Doch heute früh habe ich einen Brief seiner Tante erhalten, die ihn offenbar ausfindig gemacht hat. Sie hat ihn gestern nach der Prüfung gleich aufgesucht und mitgenommen, damit Ben endlich seine Familie kennenlernen kann.« Euphoria holte tief Luft. »Es ist sehr ungewöhnlich, muss ich sagen, und auch nicht konform mit der Schulordnung, einen Schüler ohne Absprache mit dem Lehrpersonal mitzunehmen, aber angesichts der besonderen Umstände ausnahmsweise verständlich. Auch wenn ich, wenn er zurück ist, ein ernstes Wort mit ihm und seiner Tante sprechen muss.« Sie wandte sich an Mr Gelatine. »Du darfst jetzt weitermachen.«
Mr Gelatine brummte wieder. »Sehr freundlich, Euphoria.«
Sorrys Mutter überhörte wohl absichtlich die Ironie in seiner Stimme und stöckelte hinaus. Sorry atmete tief durch. Ihre Mutter hatte die Lüge tatsächlich geglaubt. Nicht ganz ohne Verwunderung, aber für den Moment reichte es. Dennoch sollten Missy und sie Ben finden, bevor Euphoria die Erklärung doch hinterfragte.
»Hast du das gewusst?«, flüsterte Crystal.
Sorry schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Das ist doch schön für Ben.«
Crystal verengte die Augen. »Bist du nicht ein bisschen enttäuscht, dass er dir nicht Bescheid gesagt hat? Ich dachte, ihr wärt Freunde.«
Oje. Das stimmte natürlich. »Ja, doch. Ich …« Wie sollte sie da wieder herauskommen? Sie holte tief Luft. »Tut mir leid, ich bin noch ziemlich überrumpelt.«
»Hm«, machte Crystal. Es klang, als würde sie Sorry nicht glauben. Aber vielleicht irrte Sorry sich auch, und es war nur eine ganz normale Reaktion der Kristallkugelleserin. Jedenfalls hoffte Sorry das.
Als die letzte Schulstunde vorbei war, wollte Sorry sofort zum Wohnheim laufen, um sich dort mit Missy zu treffen. Zu ihrer Überraschung wartete aber bereits ihre Mutter vor der Tür, als sie aus dem Klassenzimmer für Geschichte der Wahrsagerei trat.
»Was machst du denn hier?«, fragte Sorry überrascht. Euphoria Fortune zog eine Augenbraue nach oben. »Ist das dein Ernst?«
Sorry sackte zusammen. Hatte ihre Mutter die Lüge mit Ben also doch durchschaut und auch, dass Sorry etwas damit zu tun hatte? Sie machte sich auf ein riesiges Donnerwetter gefasst.
»Ich bin hier, um dich und Estrella zu eurer ersten Strafarbeit abzuholen. Sag bloß, es ist dir entfallen!?«