Deutschland, September 1943
Sekunden nachdem sie aufgewacht war, sauste Lotte Klausen die Treppe hinunter und rannte in die Küche. Neben dem Herd standen Tante Lydia und ihre fünf Kinder aufgereiht wie die Orgelpfeifen von der Jüngsten bis zum Ältesten. Gewaschen, gekämmt und hinreißend wie nie zuvor.
Als Lotte hereinstürmte, öffneten sie unisono den Mund und sangen „Zum Geburtstag viel Glück“ mit ihren süßen Kinderstimmen. Lotte war zu Tränen gerührt, obwohl sie eigentlich verärgert darüber war, ihren Geburtstag in diesem gottverlassenen Nest in Oberbayern, weit weg von ihrer Familie in der Hauptstadt, verbringen zu müssen.
„Alles Gute zum siebzehnten Geburtstag“, strahlte Tante Lydia und drückte Lotte gegen ihren dicken Bauch, in dem Kind Nummer sechs heranwuchs. Ihre Kinder taten es ihr nach und Lotte konnte kaum noch atmen, als sie von so vielen Leuten gleichzeitig umarmt wurde.
„Geschenke auf“, verlangte die zweijährige Maria.
„Aber erst die Kerzen auf deinem Kuchen ausblasen“, fügte der zehnjährige Jörg hinzu.
Auf ein Signal von Tante Lydia hin traten Lottes Vettern und Basen gehorsam zur Seite und Lotte starrte mit Ehrfurcht auf die Sahnetorte, die großzügig mit Schlagsahne und frischen Brombeeren dekoriert war. Zwei brennende Kerzen in Form einer Eins und einer Sieben bildeten den krönenden Abschluss.
„Vielen, vielen Dank.“ Lotte blinzelte die Tränen der Rührung weg, blies dann die Kerzen aus, schloss die Augen und machte ihren geheimen Geburtstagwunsch.
Ich will dieses gottverlassene Kaff verlassen.
„Was Wunsch? Was Wunsch?“ Maria hüpfte auf und ab, während sie an Lottes Rock zog.
Lotte drückte einen Finger auf ihre Lippen und schenkte ihr ein geheimnisvolles Lächeln. „Du weißt, dass ich es nicht verraten darf, sonst wird es nicht wahr.“
Die Kinder kicherten, als Lydia auf den Stuhl am Kopf des Tisches zeigte. „Willst du dich nicht setzen?“
„Natürlich, bitte entschuldige, Tante Lydia. Die Torte sieht wunderbar aus.“ Nachdem Lotte sich hingesetzt hatte, griff sie nach ihrem ersten Geschenk. Es war von ihrer Mutter, und als sie es öffnete, überkam sie Heimweh nach ihrer Familie. Sie erinnerte sich an glücklichere Zeiten vor dem Kriege, und bevor sie sie wegblinzeln konnte, rollte eine einzelne Träne über ihre Wange. Zeiten, als sie noch alle zusammengelebt hatten – Mutter, Vater und ihre älteren Geschwister, Ursula, Anna und Richard. Ihr Vater und ihr ein Jahr älterer Bruder hatten beide die gemeinsame Wohnung gegen einen Schützengraben eingetauscht und sie hatte seit Monaten nichts mehr von ihnen gehört.
Sie fügte einen zweiten Geburtstagswunsch hinzu. Bitte, lass Vater und Richard sicher nach Hause kommen.
Tante Lydia gab ihr ein Messer, mit dem sie vorsichtig das Klebeband öffnete. Dann machte sie die Schachtel auf und strich das Packpapier glatt, bevor sie es ihrer Tante gab. Immer sparsam, würde Lydia es aufheben und wiederverwenden.
Ein wunderschönes Sommerkleid lag in der Schachtel. Lotte holte es vorsichtig heraus und hielt es vor sich. Es war aus cremefarbenem Baumwollstoff, der mit leuchtend roten Kirschen und grünen Blättern bedruckt war. Das enganliegende Oberteil und die kurzen, schräg angeschnittenen Ärmel sahen so erwachsen aus, dass Lotte es kaum erwarten konnte, das Kleid anzuziehen.
„Es ist ein wunderschönes Kleid“, sagte Lydia und strich mit den Fingern über den Stoff, während sie ihre Kinder davor warnte, es ihr nachzutun.
„Ja, das ist es. Und schau nur, der weite Rock wird wunderbar schwingen.“ Wenn ich nur eine passende Gelegenheit hätte, es zu tragen. „Es wird so toll an mir aussehen.“
„Öffne deine anderen Geschenke“, sagte ihre Tante.
Lotte nickte und griff nach dem Paket von ihren Schwestern. Wieder packte sie es vorsichtig aus.
„O du meine Güte, schaut euch das an!“, rief sie und hielt ein Paar brandneue Turnschuhe hoch. Sie waren braun und hatten robuste weiße Gummisohlen.
Lydia hätte nicht zufriedener aussehen können. „Deine Schwestern haben ein gutes Geschenk gewählt.“
Lotte blickte auf ihre abgetragenen Schuhe herab: Dort, wo sich die Sohle gelöst hatte, schaute ein rosa Zeh heraus. Im letzten Jahre war sie in die Höhe geschossen und auch ihre Füße waren gewachsen. Sie streifte ihr alten Schuhe ab und zog die neuen an. Dann wackelte sie mit ihren Zehen, während sie vor Begeisterung lachte. „Sie sind eine Wucht!“
Tante Lydia lächelte und gab ihr noch ein weiteres Paket. „Das ist von mir.“
In Kenntnis der Opfer, die ihre Tante hatte erbringen müssen, um ihr ein Geschenk zu machen, nahm sie die Schachtel ehrfürchtig in die Hand. „Danke.“
Kaum hatte sie die Verpackung geöffnet, blickte sie auf eine leuchtend gelbe Schürze, die ihre Tante für sie genäht hatte. „Oh! Sie ist wunderschön.“
„Ich bin froh, dass sie dir gefällt. Du kannst die Schürze während der Arbeit tragen, damit dein neues Kleid nicht schmutzig wird“, sagte Lydia.
Ihre Vettern und Basen, die im Alter von zwei bis zehn Jahren waren, hatten es satt zu warten und hüpften auf ihren Stühlen auf und ab. „Jetzt unsere Geschenke, Lotte. Mach sie auf.“
Lotte grinste und nahm die handgemalten Bilder, die sie ihr entgegenstreckten. Sie bewunderte die Kleinigkeiten gebührend, bis es schließlich Zeit für die Geburtstagstorte war. Maria kletterte auf Lottes Schoß, den Daumen tief in den Mund gesteckt.
„Dein Bild ist wunderschön, Maria“, sagte Lotte und drückte das kleine Mädchen fest an sich.
Maria nickte ernsthaft und kaute weiter auf ihrem Daumen. Lotte gab ihr einen Stups auf die Nase und bedankte sich dann der Reihe nach bei jedem der anderen Kinder. „Eure Bilder sind wirklich klasse.“
Lydia gab ihr das erste Stück Torte und Lotte steckte sich sofort einen Bissen in den Mund. Dann schloss sie die Augen und genoss, wie der süße Leckerbissen in ihrem Mund zerging. „Köstlich.“
Bald hatte jeder ein Stück Torte und das einzige Geräusch, das man in der Küche hören konnte, war das Kauen von sieben Mündern. Die Kinder durften vom Tisch aufstehen, sobald sie fertig gegessen hatten, aber Lotte blieb noch mit ihrer Tante sitzen. „Danke für die Schürze und die Torte. Ich habe schon lange nicht mehr so etwas Leckeres gegessen.“
Lydia seufzte. „Ich hatte Glück, weil ich ein Huhn gegen Honig tauschen konnte. Unsere Zuckerrationen hätten nicht annähernd gereicht.“
Lydia war die jüngste Schwester von Lottes Mutter und vor mehr als einem Jahrzehnt hatte sie den Sohn eines Bauern geheiratet und war zu ihm nach Kleindorf gezogen.
Seit der Knecht und kurz darauf ihr Mann zur Wehrmacht eingezogen worden waren, führte sie den Hof allein, nur mit der Hilfe ihres zehnjährigen Sohnes und zwei seiner Freunde. Darüber hinaus zog sie fünf Kinder groß, trug ein weiteres unter dem Herzen und hatte ihre Nichte bei sich aufgenommen.
Mit dreißig Jahren hatte Lydia die schwieligen Hände und das verwitterte Gesicht einer alten Frau. Sie trug ihr langes, dickes, blondes Haar zu Schnecken über ihren Ohren geflochten, was sie noch strenger aussehen ließ.
„Dieser Krieg kann nicht ewig weitergehen“, sagte Lotte und zog ihre neue Schürze an. Während sie die helle Farbe und die Mühen schätzte, die Lydia für das Geschenk aufgewendet hatte, hasste sie, dass die Schürze sie daran erinnerte, bei ihrer Tante auf dem Dorf leben zu müssen und nicht bei ihrer Mutter in Berlin. Sie wirbelte herum und blickte ihre Tante an. „Es ist höchste Zeit, dass jemand diese Nazis fortjagt.“
„Pst!“, schimpfte Tante Lydia. „Dein loses Mundwerk ist der Grund dafür, dass deine Mutter dich zu mir geschickt hat.“
Lotte zog eine Grimasse, gab aber wohlweislich keine Widerrede. Nach einer Weile fragte sie: „Darf ich bitte meine Mutter und meine Schwestern anrufen?“
„Weil du Geburtstag hast, darfst du, aber du musst bis heute Abend warten, dann ist es billiger.“
„Danke.“ Obwohl sie es geschafft hatte, ruhig zu bleiben, zitterte Lotte innerlich vor Empörung. Anstatt in der aufregenden Hauptstadt zu leben und alle möglichen spannenden Dinge zu unternehmen, war sie von ihrer Mutter aufs Land verbannt worden. Seit zweieinhalb Jahren fristete sie nun schon ihr Dasein in dem verlassenen Nest Kleindorf. Ein Dorf mit wenig mehr als hundert Einwohnern – wenn man die Hunde mitzählte. Und wessen Schuld war das?
„Wenn es diese verdammten Nazis nicht gäbe, müsste ich nicht um Erlaubnis betteln, einen Telefonanruf zu machen. Ich würde glücklich mit meiner Familie in Berlin leben.“ Lotte zitterte am ganzen Leib bei ihrem Gefühlsausbruch und Tränen der Wut erschienen in ihren Augen.
Lydia hielt beim Tisch abräumen inne und starrte sie an. „Charlotte Alexandra Klausen. Ich will kein Wort mehr davon hören! Eines Tages werden deine scharfe Zunge und dein unüberlegtes Handeln dich in echte Schwierigkeiten bringen und ich will nicht diejenige sein, die deiner Mutter die schlechte Nachricht überbringen muss. Hast du mich verstanden?“
Da sie schon oft ähnliche Warnungen erhalten hatte, zuckte Lotte nur mit den Schultern. Was sollte ihr schon passieren? Ernsthaft? In diesem abgrundtief langweiligen Dorf bestand die größte Gefahr darin, versehentlich beim Melken von einer Kuh getreten zu werden.
Später am Abend wählte sie die Nummer ihrer Mutter an und strahlte, als Anna den Anruf beantwortete. Anna war die mittlere Schwester, vier Jahre älter als Lotte, mit glattem blondem Haar, was sie wie einen zarten, demütigen Engel aussehen ließ – obwohl sie nicht dergleichen war.
Lottes Schwester war willensstark, ehrgeizig und unabhängig. Im Alter von zehn Jahren, nachdem sie zwei Jahre lang ihre Freizeit damit verbracht hatte, Frösche, Schnecken und andere Insekten zu sezieren, hatte sie angekündigt, Wissenschaftlerin zu werden, und zwar Humanbiologin. Dieser Berufswunsch hatte ihren Eltern viel Kummer bereitet, da sie es für einen völlig unangemessenen Beruf für eine Frau hielten. Nach Jahren des Kampfes sowohl gegen die konservative Denkweise ihrer Eltern als auch gegen das nationalsozialistische Ideal der zurückhaltenden und gehorsamen Hausfrau hatte Anna widerwillig nachgegeben und eine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen. Lotte vermutete, dass es sich nur um eine vorübergehende Niederlage handelte. Für sie bestand kein Zweifel, dass Anna ihren Traum wieder verfolgen würde, sobald der Krieg vorbei war.
„Alles Gute zum Geburtstag, Schwesterchen“, gratulierte Anna, ihre Stimme klang blechern durch die Leitung.
„Danke. Und vielen Dank für die Turnschuhe. Sie sind umwerfend! Sie passen wie angegossen. Eine Wucht!“
Ein Glucksen kam durch die Leitung. „Schön, dass sie dir so gut gefallen. Wie ist das Leben auf dem Land?“
„Frag‘ nicht“, schmollte Lotte in den Hörer und senkte dann ihre Stimme. „Ich kann gerade nicht reden, aber wenn nicht bald was passiert, sterbe ich hier noch vor Langeweile.“
Anna lachte. „Komm schon, es wird schon nicht so schlimm sein. Abgesehen davon willst du ganz bestimmt nicht in Berlin sein, wo wir praktisch jede Nacht einen Luftangriff haben.“
„Du hast ja keine Ahnung.“ Lotte seufzte und blickte zu ihren Füßen. Wenigstens hatte sie jetzt gut passende Turnschuhe ohne Löcher. Ein deutliches Plus für das nächste Wettrennen gegen ihre Vettern.
„Willst du mit Ursula und Mutter sprechen?“, fragte Anna.
Sie würde am liebsten stundenlang mit ihrer Schwester reden, wusste aber, dass ihre Zeit bereits knapp wurde. „Ja, bitte.“
„Alles Gute zum Geburtstag, Lotte.“ Ursula war die Älteste mit zweiundzwanzig Jahren und war mit den gleichen blonden Haaren gesegnet wie der Rest der Familie, mal abgesehen von Lotte. Lotte hatte feurigrote Haare mit von der Sonne gebleichten goldenen Strähnen. Wenigstens hatte Ursula auch Locken. Aber während Lottes Mähne an guten Tagen kaum zu bändigen war und an schlechten Tagen einem Haufen verknoteter Wolle glich, schaffte es Ursula irgendwie, ihr Haar in elegante Wellen zu kämmen.
„Danke. Es ist so schön, deine Stimme zu hören.“
"Wie geht es unserem Nesthäkchen?“, fragte Ursula. Normalerweise hasste es Lotte, so genannt zu werden, aber heute vermisste sie ihre Schwestern so sehr, dass sie sich nicht darüber aufregte.
„In Anbetracht der Umstände geht es mir gut“, antwortete Lotte mit betrübter Stimme.
„Die Umstände sind völlige Langeweile, nehme ich an?“ Ursula kicherte ins Telefon und Lotte konnte nicht anders, als mit ihr zu lachen. „Kopf hoch, Süße. Lass mich Mutter ans Telefon holen.“
Lotte wartete und einen Moment später hörte sie die Stimme ihrer Mutter. „Charlotte, Liebling! Alles Gute zum Geburtstag, meine Kleine.“
Die Worte waren wie ein warmer Umhang, der sich um ihre Schultern legte. „Danke, Mutter. Das Kleid ist so wunderschön.“
„Ich hoffe, es passt dir.“
„Es passt perfekt.“ Lotte trug bereits das neue Kleid und bewegte ihre Hüften, um den Rock zum Schwingen zu bringen, obwohl ihre Mutter das natürlich nicht sehen konnte. „Und ich liebe es, wie der Rock um meine Knie schwingt. Er ist eine Wucht!“
Das war ihr neues Lieblingswort.
„Eine Wucht?“ Lotte sah, wie ihre Mutter die Augenbraue ob der Wahl ihrer Worte hob. „Benimmst du dich auch anständig und machst Lydia keinen Kummer?“
„Natürlich, Mutter. Aber bitte, wann kann ich wieder nach Hause kommen?“ Zweieinhalb Jahre auf dem Land fühlten sich an wie ein ganzes Leben, und Lotte hatte größere Träume, als Kühe zu melken oder Getreide zu ernten.
„Oh, Liebling. Wir haben das schon so oft besprochen. Du bist zu unverblümt und unvorsichtig. Eine negative Bemerkung über das gegenwärtige Regime, die von der falschen Person aufgeschnappt wird, kann nicht nur dich, sondern unsere ganze Familie gefährden.“
„Ich hasse es hier“, flüsterte Lotte. Tante Lydia war nett, und Lotte liebte ihre Vettern und Basen, aber es war nicht dasselbe, wie bei ihrer eigenen Familie zu sein.
„Ich wünschte auch, du könntest bei uns sein, aber im Moment ist es bei Lydia am sichersten für dich.“
„Wenn’s sein muss. Aber nur, bis der Krieg vorbei ist, ja?“ Lotte fragte sich, was passieren würde, wenn Hitler den Krieg gewann. Müsste sie dann für den Rest ihrer Tage an diesem verlassenen Ort leben? Gott, nein! Das durfte nicht geschehen!
„Wir werden sehen. Kannst du mir bitte kurz Lydia geben?“
„Natürlich. Auf Wiederhören, Mutter.“ Lotte war voller Heimweh, als sie nach ihrer Tante rief.
Lotte übergab ihrer Tante den Hörer und verließ den Raum. Mit feuchten Augen zog sie die neue Schürze über und ging in den Stall, um die Kühe zu melken. Der Arbeit war es egal, dass sie heute Geburtstag hatte.